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XXL-Leseprobe

1

Sich in den besten Freund zu verlieben, ist wirklich schlimm. Jedes Mal, wenn ich unsere Fotos auf meinem Smartphone anschaue, setzt dieses blöde Kopfkino ein und ich stelle mir eine rosarote Welt vor, die höchstwahrscheinlich nie existieren wird. Eine Welt, in der er meine Hand hält und mir zärtliche Liebesbekundungen ins Ohr flüstert, kann es einfach nicht geben. Mein Herz will diese Tatsache jedoch nicht akzeptieren. Natürlich nicht, warum sollte es auch? Dieses pochende Organ in meiner Brust spielt sofort verrückt, sobald dieser Mann in meiner Nähe ist und das macht mich wahnsinnig. Sollte es diesen windeltragenden Amor wirklich geben, dann will ich unbedingt mit seinem Vorgesetzten sprechen. Etwas läuft schief und dieses Problem muss ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden.

Frustriert lege ich den Bleistift beiseite und starre das leere, weiße Blatt Papier an. Ich habe versucht, etwas Sinnvolles zu schreiben, aber der Gedanke an geflügelte Babys hat mich zu sehr aus dem Konzept gebracht. Vielleicht sollte ich einen Beschwerdebrief verfassen und diesen an Hollywood schicken. Diese Filme, in denen die eine Person der anderen ihre Gefühle gesteht und sich plötzlich alles zum Guten wendet, können nicht auf wahren Geschichten beruhen. Selbst in diesen unzähligen Frauenromanen endet alles in einem Happy End und das verkrafte ich einfach nicht. Ich kann nicht zu meinem besten Freund gehen, nervös irgendwelchen Quatsch erzählen, nur um daraufhin die Bombe explodieren zu lassen. Wäre ich in Besitz eines Zeitumkehrers, würde ich mich das trauen, aber kein einziger Online-Shop hat solch einen Gegenstand im Bestand. In was für einer traurigen Welt wir doch leben.

Mit einem tiefen Seufzer richte ich mich auf und gehe zu meinem Doppelbett hinüber, um mich auf die flauschige, himmelblaue Decke zu legen. Ich kann das weiche Material unter meinen Händen fühlen, als ich gedankenverloren darüberstreiche. Wie oft habe ich mir vorgestellt, IHN auf diese Art und Weise zu berühren… Zu oft für meinen Geschmack.

Amor ist ein schlechter Schütze, das steht fest. Jetzt muss ich hier teilnahmslos herumliegen und darauf warten, dass mein Herz einsam verwelkt, während da draußen ein Baby ohne Waffenschein herumfliegen und Fehler begehen darf. Ich sollte unbedingt auf andere Gedanken kommen, ansonsten mache ich mich tatsächlich auf die Suche nach einem Wesen, das bestimmt nicht existiert.

»Evanthia! Kommst du bitte und hilfst mir beim Kochen?«

Als die freundliche Stimme meiner Gastmutter ertönt, setze ich mich auf und fahre mir durch das zerzauste Haar. Ein Blick auf den Radiowecker verrät mir, dass es bereits Abend ist und so stehe ich auf, um in die Küche zu gehen. Das ist besser, als dieser düsteren Stimme in meinem Inneren zu lauschen, die jedes Fünkchen Hoffnung zugrunde richtet.

»Was soll ich machen?«, frage ich Marion, die gerade den panierten Fisch in die brutzelnde Pfanne legt und dabei die Dunstabzugshaube einschaltet. Sie sieht zu mir, schenkt mir ein breites Lächeln und deutet auf das Gemüse. »Mach bitte den Salat, alles andere habe ich schon vorbereitet.«

Nickend mache ich mich sofort an die Arbeit. Es tut gut mit solch einer simplen Tätigkeit auf andere weniger depressiven Gedanken zu kommen. Das Zerstückeln der gewaschenen Tomaten beruhigt mich und der Geruch nach Fisch vertreibt den schweren Kloß in meinem Magen. In Selbstmitleid zu zerfließen, setzt mich immer unter Stress. Körperlichen Stress.

»Hast du deine Mutter heute schon angerufen?«, erkundigt sich Marion, die sich von der Pfanne abwendet, um sich um den kochenden Reis zu kümmern. Kurz schweift ihr Blick zu mir, ehe sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre geschickten Hände lenkt.

Diese Frau hat es geschafft, nach nur einem halben Jahr mein Schweigen richtig zu interpretieren und daraus ihre unglaublich treffenden Schlüsse zu ziehen. Meiner Meinung nach ist das eine überaus gruslige Gabe, die sie als zweifache Mutter erworben hat, wobei es in bestimmten Situationen sehr hilfreich sein kann; besonders in der Erziehung ihrer zwei Töchter, die sich zurzeit irgendwo in der Stadt herumtreiben und ihr monatliches Taschengeld für Kleidung und noch mehr Kleidung ausgeben.

»Nein, habe ich nicht, aber das hole ich später nach. Nicht, dass sie sich unnötig Sorgen um mich macht«, erwidere ich lächelnd, denn ich kann mir sehr gut vorstellen, dass meine Mutter unentwegt auf das Festnetztelefon starrt, um meinen Anruf entgegenzunehmen. »Ich hatte zwar Kontakt mit meinem Bruder, aber ich bezweifle, dass er ihr davon erzählt hat. Für seine siebzehn Jahre ist er ziemlich vergesslich«, füge ich augenrollend hinzu.

Wenn es darum geht, seine eigenen Aufgaben und Ereignisse im Kopf zu behalten, ist mein Bruder Philipp ein wandelnder Terminkalender, aber ihn um etwas zu bitten und sei es auch nur der eigenen Mutter eine Nachricht zu überbringen, gleicht dem Versuch, einen Stein mit reiner Willenskraft zu bewegen.

Da Marion recht gut über meine Familie Bescheid weiß, versteht sie, auf was ich hinauswill. Sie schüttelt kommentarlos den Kopf, füllt einen großen Teller mit dem fertiggekochten Reis und sieht daraufhin zu mir. Die kleinen Grübchen an ihren Wangen habe ich schon bei unserer ersten Begegnung als sehr sympathisch empfunden, aber es sind diese warmen braunen Augen, die mir von Anfang an ein sicheres Gefühl vermittelt haben. Bisher habe ich mich meiner Gastmutter stets öffnen können, aber ich schaffe es nicht, die größte Sorge von allen über die Lippen zu bringen und das frustriert mich zutiefst.

Aus diesem Grund bin ich heilfroh, als plötzlich die Haustür aufgeht und weibliche Stimmen die kurzweilige Stille verdrängen. Julia und Hanna sind zurück und zwar in bester Laune.

»Wir sind wieder da!«, ruft Julia laut, die als erstes die Küche betritt. Ihr blondes Haar zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, grinst sie mich und ihre Mutter an, während an ihren Händen prall gefüllte Einkaufstaschen baumeln. Hanna erscheint direkt hinter ihrer jüngeren Schwester und ihr knallroter Lippenstift sieht frisch aufgetragen aus. Ich wette, dass sie ihn sich erst vor kurzem gekauft hat. Sie liebt es Lippenstifte in allen existierenden Farben zu sammeln, was ich leider nicht nachvollziehen kann. Ihre Mutter ebenso nicht.

»Wo habt ihr euch die ganze Zeit herumgetrieben? Ich habe doch gesagt, dass ihr Punkt sechs Uhr hier sein müsst. Ihr könnt von Glück sprechen, dass Evanthia und ich alles allein erledigt haben«, bringt Marion tadelnd hervor und schwenkt dabei den Holzlöffel unheilvoll hin und her.

Die beiden Schwestern werfen sich einen vielsagenden Blick zu, lassen die Taschen vorsichtig fallen und gehen schmunzelnd auf sie zu, um ihrer verärgerten Mutter einen schmatzenden Kuss auf die Wange zu geben.

»Wir haben uns doch nur um zwanzig Minuten verspätet, so schlimm ist das nicht!« Die Zwillinge wissen ganz genau, wie sie ihre Mitmenschen um den Finger wickeln können, weshalb der aufgesetzte Hundeblick und die zu einer Schnute verzogenen Lippen ihre Wirkung nicht verfehlen. Marion gibt sich schwer seufzend geschlagen, indem sie die Arme um die Taillen ihrer Mädchen schlingt und sie kurz an sich drückt.

»Zwanzig Minuten hin oder her, ich mache mir Sorgen um meine Töchter. So hübsch, wir ihr seid, braucht ihr eigentlich Bodyguards, die ständig auf euch Acht geben.«

»Mama, jetzt übertreibst du aber, auch wenn mir die Vorstellung zwei heißer Sicherheitsmänner im Anzug sehr gefällt. Oh ja, ich hätte sogar einige Kandidaten auf meiner Liste, die infrage kämen.« Hannas blutrote Lippen verziehen sich zu einem verträumten Lächeln, woraufhin Marion den Schwestern einen Klaps auf den Hintern gibt und sie dazu auffordert, den Tisch zu decken.

Anschließend verdreht sie leise lachend die Augen, ein angenehmer Klang in meinen Ohren. Ich liebe ihr heiteres Lachen, welches dem meiner Mutter stark ähnelt.

»Kaum sind sie volljährig, schon kreisen die Gedanken um Männer, Männer und noch mehr Männer. Ich werde dich bald auf Streife schicken müssen, wenn es so weitergeht«, meint sie gespielt ernst und entlockt mir damit ein amüsiertes Schnauben.

Hanna und Julia dabei zu beobachten, wie sie von Jungs umgarnt werden, ist keine angenehme Vorstellung, wenn ich ständig mit meinem Selbstwertgefühl zu kämpfen habe. Umgeben von solchen Schönheiten, ist es schwer genug für mich, den Mut aufzubringen, auf Jungs zuzugehen und sie anzusprechen. Was für eine Ironie, dass ich mich ausgerechnet in meinen besten Freund verliebt habe, denn so erspare ich mir den Stress des ersten Kennenlernens. Natürlich liebe ich ihn, weil er ist, wie er ist, aber meine Angst davor, ihm meine Gefühle zu offenbaren, ist einfach viel zu groß. Zum einen weil ich mich vor einer Zurückweisung fürchte und zum anderen weil mir seine Freundschaft verdammt viel bedeutet.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Du denkst zurzeit viel zu viel nach. Willst du mit mir darüber reden?« Marions sanfte Stimme reißt mich aus meiner verfluchten Traumwelt und ich spüre ihre warme Hand, die sie auf meine versteifte Schulter gelegt hat. Ich schüttle den Kopf, mische den Salat und nehme die volle Schüssel in beide Hände.

»Mir geht es gut, wirklich. Ich habe nur an meine Familie gedacht«, lüge ich ohne mit der Wimper zu zucken. Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht ehrlich zu ihr sein kann, aber ich bin nicht bereit mein Herz zu öffnen. Noch nicht jedenfalls.

»Falls du doch mit mir reden willst...« Sie lässt den Satz unvollendet in der Luft schweben, ehe sie sich umdreht und die restlichen Teller mit gleich großen Portionen befüllt. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen, denn obwohl ich ihr gern von meinen Problemen erzählen würde, die Blockade in meinem Kopf lässt sich einfach nicht brechen.

Deswegen unternehme ich keinen Versuch, mein eigenartiges Verhalten aufzuklären und beschließe zu den anderen ins Wohnzimmer zu gehen, welches gleichzeitig als Esszimmer fungiert. Julia und Hanna haben den Tisch mit einem hübsch verzierten Tuch bedeckt und unterhalten sich über den neuesten Promi-Klatsch – bis sie mich entdecken.

»Evanthia, hättest du Lust morgen Abend mit auf eine Party zu kommen? Einige aus unserer Klasse werden dabei sein und vielleicht möchtest du ja… Naja, du weißt schon wen, einladen.« Es wundert mich nicht, dass die beiden nach den Jungs fragen. Zurzeit wollen viele Mädchen aus aller Welt mit den Newcomern des Jahres etwas unternehmen, jedoch ist den Zwillingen nicht bewusst, dass ich meine Freundschaft auf keinen Fall für Groupie-Bedürfnisse ausnutzen möchte, weil es anstrengend genug ist, mit einer bekannten Persönlichkeit befreundet zu sein. Vor allem wenn man selbst in diesen besonderen Jemand verliebt ist. Diese Welt ist wirklich grausam.

»Ich werde sie fragen, aber versprechen kann ich nichts«, erwidere ich mit einem schwachen Lächeln und stelle die Schüssel Salat in der Mitte des Tisches ab. Dann verteile ich mit den Mädchen das Besteck, als auch schon Marion mit dem herrlich duftenden Essen auftaucht.

Der leckere Anblick bringt meinen leeren Magen zum Knurren. Wann ich das letzte Mal gegessen habe, weiß ich nicht mehr so genau und ich bin froh, dass niemand meinen brummenden Bauch bemerkt hat. Obwohl ich diese Familie erst seit einem halben Jahr kenne, haben sie es sich schon zur Aufgabe gemacht, mir wiederholt zu beteuern, dass ich ein wunderschönes Mädchen bin und keine Diät brauche. Doch ich muss besser auf meine Ernährung achten, wenn ich zufrieden in den Spiegel schauen will. Zwar bin ich nicht zu üppig gebaut, aber hier und dort klebt etwas mehr an mir, als es eigentlich sollte und das will ich ändern. Für mich. Nicht für meinen besten Freund, der sich ständig mit irgendwelchen topmodelähnlichen Mädchen trifft. Nur für mich und mein Wohlbefinden.

»Evanthia, kannst du bitte an die Tür gehen? Es hat geklingelt.« Verwirrt blinzele ich in die Gegend, als mir bewusst wird, dass ich wieder einmal zu tief in mein trübes Gedankenmeer getaucht bin. Ich muss vorsichtiger werden, um jeglichen Verdacht, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, im Keim zu ersticken. Schlimm genug, dass ich Marion habe anlügen müssen.

Wortlos erhebe ich mich von meinem Platz und frage mich, wie ich es geschafft habe, die schrille Türklingel zu überhören. Dieses ohrenbetäubende Geräusch hört man sogar im Tiefschlaf, das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Als ich den Flur entlanglaufe, fahre ich mir kurz durchs Haar, um es ordentlich zu richten und strecke anschließend die Hand nach der Türklinke aus. Allein die Berührung des kühlen Griffs löst etwas Unbeschreibliches in mir aus. Mein Herz beginnt unwillkürlich schneller zu schlagen und ich halte verdutzt inne. Eine Ahnung, wer sich hinter der Tür befinden könnte, macht sich in mir breit. Dieses Gefühl ist mir völlig neu. Entweder ich brauche dringend etwas zu essen oder ich habe ein ausgiebiges Nickerchen bitter nötig.

Kopfschüttelnd drücke ich die Klinke nach unten und ignoriere meinen rasenden Puls, sowie das wilde Flattern in der Brust. Vielleicht sollte ich zum Arzt gehen, um das wirre Chaos in meinem Inneren untersuchen zu lassen. Sicher ist sicher. Doch als ich einen Blick in die hellen, smaragdenen Augen meines Gegenübers werfe, ändere ich schlagartig meine Meinung. Ich muss keinen Arzt aufsuchen, sondern Amor persönlich. Dieser kleine Daumenlutscher muss Einiges wiedergutmachen.

»Na? Habe ich meine schöne Blume überrascht?«

Überrascht? Nein, das ist untertrieben. Seine samtene, raue Stimme hat mich dazu gebracht, hier und jetzt in Tagträume zu verfallen, während der größere Teil in mir einfach nur heulend davonlaufen will. Ich habe diesen Mann schrecklich vermisst, weil seit unserer letzten Begegnung mehr als zehn Tage vergangen sind und nun stehe ich hier und starre ihn sprachlos an. Unentschlossen, ob ich ihn stürmisch umarmen oder ihm mein Herz vor die Füße werfen soll.

»Leander!?«

2

Mein Verstand braucht erstmal eine Weile, um zu begreifen, dass Leander Manning leibhaftig vor mir steht. Sein unwiderstehliches Lächeln mit den Grübchen an beiden Mundwinkeln jagt meinen Puls in die Höhe, während in meinem Bauch lauter Endorphin-Päckchen explodieren. Es kostet mich große Überwindung meine Sprache wiederzufinden.

»Oh ja, und wie überrascht ich bin. Wie hast du es geschafft, mir trotz den vielen Proben und Shootings einen Besuch abzustatten?«, bringe ich erfreut hervor und trete zur Seite, damit er reinkommen kann. Mit einer routinierten Bewegung zieht er seine schwarze Lederjacke aus und hängt sie an den Haken, direkt neben der Tür, auf. Seine Augen sind unverwandt auf die meinen gerichtet und für einen flüchtigen Moment vergesse ich zu atmen. Atmen, Evanthia, vergiss bloß nicht das Atmen, ermahne ich mich.

»Für meine beste Freundin habe ich immer Zeit, das weißt du doch. Die letzten Tage sind geradezu qualvoll gewesen und ich habe mich nach einem entspannten Abend mit dir gesehnt.« Mein dummes Herz schlägt sofort Purzelbäume, als er das sagt. Er hat sich also gefreut, mich zu treffen, was mein von Amor vernebeltes Hirn freudvoll zur Kenntnis nimmt.

»Und was machen die Jungs, während du weg bist? Haben sie auch etwas vor?«, frage ich ganz beiläufig und japse überrascht nach Luft, als er plötzlich seine Arme um meine Taille legt und mich an sich zieht. Instinktiv inhaliere ich seinen maskulinen Duft, der mich wie ein zweites Paar Arme umfängt.

»Keine Ahnung, was die anderen treiben, aber das ist mir egal. Ich möchte viel lieber erfahren, was du in den letzten Tagen unternommen hast. Sind die anderen auch da?«

Warum ist er nur so nett und freundlich? Kann er nicht mal schlecht gelaunt auftauchen, und mich genervt anschnauzen? Mir und der restlichen Welt beweisen, dass auch er negative Seiten hat, die einem den Tag versauen können? Nein, natürlich nicht. Leander hat ein gutes Herz, er ist ganz und gar perfekt im Gegensatz zu mir. Folglich muss ich einsehen, dass es mir nicht gelingen wird, ihm zu widerstehen.

»Julia und Hanna sind erst vor kurzem von ihrem Shoppingtrip zurückgekehrt und wir wollten gerade zu Abend essen. Setz dich einfach zu uns!«

Die drei Frauen hätten sicherlich nichts dagegen einzuwenden, immerhin sind sie alle Fans der Imperial Five und da es nicht das erste Mal ist, dass Leander mich besucht, ist er gewillt mir ins Wohnzimmer zu folgen. Die Reaktion der Schwestern ändert sich jedoch nie. Julia springt wie von der Tarantel gestochen von ihrem Stuhl auf und lässt einen freudigen Schrei los, den Hanna ihr sogleich nachahmt, während Marion sich kein bisschen bewegt. Stattdessen lächelt sie bedeutungsvoll.

»Oh mein Gott, Leander Manning, in unserer Wohnung… Ich kann es kaum glauben. Was, was machst du hier? Besuchst du Evanthia? Oh Gott, kannst du uns ein Autogramm geben?«, plappert Hanna, die ältere Schwester, drauf los und beachtet ihren Zwilling nicht, der um eine regelmäßige Atmung bemüht ist. Ich kann vollkommen nachempfinden, was sie gerade durchmacht, nur dass ich etwas mehr Übung darin habe.

»Kannst du auf meinem Handgelenk unterschreiben? Dann verewige ich deinen Namen als Tattoo!«, schwärmt Julia, aus der das hormongesteuerte Fangirl spricht. So ungern ich es auch zugebe, ich habe ebenfalls mit dem Gedanken gespielt, mir ein Tattoo stechen zu lassen, nur nicht mit seinem Namen.

»Ganz ruhig Mädels, ich beantworte eure Fragen, wenn ihr fertig mit essen seid. Tut mir leid, dass ich unangekündigt hereingeplatzt bin.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen!«, entgegnen wir alle gleichzeitig und brechen daraufhin in schallendes Gelächter aus. Auch Leander muss über unsere einstimmige Meinung zu seinem Überraschungsbesuch lachen und ich genieße den melodischen Klang seiner Stimme. Ich liebe es, wenn er lacht. Da kann von mir aus die Welt untergehen, ich würde dennoch hier sitzen, ihn anstarren und anschmachten.

»Dann bin ich ja erleichtert«, grinst er zufrieden und setzt sich auf den freien Stuhl neben mir. Mit weichen Knien nehme ich ebenfalls Platz, stehe allerdings wieder auf, als sich mein Gastgeber-Gen meldet.

»Willst du was trinken? Oder hast du auch Hunger? Ich könnte schnell was machen«, biete ich ihm an, woraufhin Marion tadelnd den Zeigefinger hebt.

»Evanthia, setz dich wieder hin. Da ich diejenige bin, die die Miete dieser Wohnung bezahlt, muss ich diejenige sein, die ihrem Gast etwas zum Trinken anbietet. Du bist einfach zu gut erzogen.« Sie wirft ihren Töchtern einen vielsagenden Seitenblick zu und erntet genervtes Aufstöhnen. Es ist nicht leicht, das Lachen zu unterdrücken, aber ich meistere diese Schwierigkeit mit Bravour.

»Wenn es keine Umstände macht, dann nehme ich gern ein Glas Orangensaft, falls es welchen gibt.« Leander schenkt der Gastmutter ein freundliches Lächeln und mit einem Nicken richtet sie sich auf, um die gewünschte Bestellung zu bringen.

Nun sitzen wir zu viert am Tisch und keiner sagt ein Wort. Julia und Hanna sind damit beschäftigt, Leander unentwegt anzustarren und ich stochere in meinem Essen herum, um mich von seiner einnehmenden Präsenz abzulenken. Das ist gar nicht so einfach, wenn man deutlich spürt, wie der Nachbar einen eingehend mustert. Als er dann noch in meine Wange kneift, zucke ich unmerklich zusammen und sehe ihn vorwurfsvoll an.

Fataler Fehler!

Seine hellgrünen Augen ziehen mich umgehend in den Bann und führen mich geradewegs in ein Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gibt. Tiefer und tiefer verliere ich mich in dem Farbspektakel, sodass es mir wahnsinnig schwerfällt einen entspannten Gesichtsausdruck beizubehalten. Was mir dann auch leider nicht gelingt.

»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als würde dich etwas Unschönes beschäftigen…«

Das ist das größte Problem unter besten Freunden. Sie wissen und spüren die Sorgen des anderen, ob man das offen zeigt oder nicht. In diesem Fall hat er mich auf frischer Tat ertappt. Ich mache eine wegwerfende Handbewegung und tätschele seine Schulter, was ich immer dann mache, wenn ich ihn vom Gegenteil überzeugen will. Meine sogenannte Hakuna Matata-Geste.

»Hier ist dein Glas Orangensaft. Wenn du noch was brauchst, sing einfach.«

Als Marion auftaucht, atme ich vor Erleichterung geräuschlos aus. Ich bin ihr grenzenlos dankbar für die Unterbrechung, auch wenn Leander nicht entgangen sein kann, dass etwas nicht stimmt. Vor den anderen wird er mich jedenfalls nicht ausfragen, worüber ich sehr froh bin.

Nichtsdestotrotz ist mir die telepathische Kommunikation der Zwillinge ein Dorn im Auge, denn sie haben diesen Irgendwas-ist-im-Busch-Blick aufgesetzt, der mich wahrscheinlich einschüchtern soll. Hoffentlich quetschen sie mich morgen früh nicht aus, wenn Leander wieder verschwindet. So nervenaufreibend das Gefühlschaos dank seiner Anwesenheit ist, ist der Gedanke, ihn nicht mehr zu sehen, ein tonnenschwerer Felsbrocken, der es sich in meinem Magen gemütlich macht. Ich will nicht, dass er geht, aber früher oder später wird er losziehen müssen, um hunderte weibliche Fans zum Kreischen zu bringen.

»Ich habe gehört, dass ihr demnächst eure nächste Single veröffentlichen werdet. Ist das zweite Album denn schon fertig?«, will Hanna neugierig wissen und verzieht dabei ihre roten Lippen zu einem koketten Lächeln. Ihre blendend weißen Zähne kommen zum Vorschein und erneut verfalle ich in Selbstkritik und Unsicherheit. Was ist nur los mit mir?

»Dass unsere erste Single des zweiten Albums demnächst veröffentlicht wird, stimmt. Aber ob es fertig ist, darf ich nicht verraten, sonst köpft mich mein Manager.«

Die Schwestern stöhnen enttäuscht auf, stellen aber keine weiteren Fragen zu diesem Thema. Sie wissen, dass es keinen Sinn hat, ihm auf die Pelle zu rücken, denn sie wollen ihn keinesfalls mit ihrer unstillbaren Neugier verscheuchen. Ungeachtet dessen bin ich mir sicher, dass Leander, sollte ich ihn direkt nach den Plänen seiner Gruppe ausfragen, mir ungezwungen alles erzählen würde. Er vertraut mir einfach alles an und ich hasse mich dafür, dass ich im Gegenzug nicht ehrlich zu ihm sein kann. Natürlich ist Liebe unter Freunden ein heikles Thema, doch es ist mir unangenehm, ihm etwas zu verheimlichen. Normalerweise beichten wir uns alles, wirklich alles.

»Schade… Kannst du wenigstens ein paar Selfies mit uns machen?« Julia sieht ihn hoffnungsvoll an und ich ahne, was Leander momentan durch den Kopf geht. Wenn er ihnen jetzt nicht das gibt, was sie wollen, werden sie ihren gewinnbringenden Hundeblick aufsetzen und sein gutes Herz erweichen. Warum also das Unausweichliche hinausschieben?

Marion ist kurz davor, ihre Töchter für ihr Groupie-Verhalten in ihre Schranken zu weisen, doch mein bester Freund kommt ihr zuvor und willigt ein. Wie erwartet bekommen Julia und Hanna das, was sie wollen. Sie sind daran gewöhnt, weshalb es hin und wieder vorkommt, dass ihre verwöhnte Seite zum Vorschein kommt. Meistens sind sie jedoch alles andere unbescheiden, eher bodenständig und zuvorkommend. Vor allem dann, wenn sie merken, dass es mir nicht gut geht. Eigentlich ist es ja meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern und auf sie aufzupassen, aber in ihrem Fall ist das nicht nötig. Ihre Volljährigkeit haben sie schon vor zwei Monaten erreicht und seitdem tun sie all das, worauf sie Lust haben. Hauptsache ist, dass sie sich nicht bis zum Umfallen betrinken.

»Tut mir aber den Gefallen und postet die Bilder erst, wenn ich über alle Berge bin. Ich möchte nicht noch einmal diese Wohnung verlassen und mich bis zu meinem Auto durchboxen müssen« bittet Leander die Mädchen, die peinlich berührt den Blick senken.

Ich erinnere mich nicht gerne an diese Situation zurück, denn damals ist mir Knall auf Fall bewusst geworden, auf was sich mein bester Freund eingelassen hat. Die kreischenden Pubertierenden und die wilden Blitzlichter… der absolute Horror.

Gedankenverloren fällt mein Blick auf den panierten Fisch und ich fange an, zu essen. Mein brummender Magen braucht dringend Nahrung; nicht dass er sich selbst auffrisst, weil ich nicht gut genug auf ihn aufgepasst habe.

»Können wir auch mal die anderen Jungs treffen?«, durchbricht Hanna mit neugierig funkelnden Augen die kurzweilige Stille, woraufhin mein bester Freund unschuldig dreinblickend die Hände in die Höhe hebt.

»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was als Nächstes auf unserer To-Do-Liste steht. Vielleicht haben wir Glück und schaffen es, in einem angesagten Club feiern zu gehen, ohne am nächsten Tag um fünf Uhr morgens aufstehen zu müssen«, beantwortet er schulterzuckend ihre Frage und setzt sich wieder neben mich. Mein Herz macht einen Satz.

»Morgen Abend findet eine coole Party im Megaro statt. Es wäre wirklich super, wenn ihr da auftauchen könntet. Einige aus unserer Klasse werden dabei sein und natürlich ganz viele andere Leute.«

Ah ja, Menschen, die sich sofort auf die Imperial Five stürzen würden, sobald sie an der Türschwelle des Clubs stehen. Fans haben nämlich ein feines Gespür für prominente Gäste, also halte ich das für gar keine gute Idee. Zwar habe ich den Mädchen gesagt, ich würde die Fünf einladen, aber der Gedanke daran, wie Leander von unzähligen Frauen umgarnt wird, hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.

Julia versucht derweil mit aller Macht, ihre graublauen Augen zum Glänzen zu bringen, damit Leander ihrem Hundeblick gnadenlos verfällt. Er seufzt leise auf. So leise, dass nur ich das mitbekomme.

»Wie gesagt, ich muss erst einmal schauen, was auf unserem Plan steht. Lasst euch überraschen.« Mit diesen Worten dreht sich mein bester Freund zu mir um und seine smaragdgrünen Augen fordern mich bittend auf, ihn aus dieser Situation zu befreien. Leander tut sich oft schwer damit, Fans zurückzuweisen, also liegt es an mir, seine schöne Haut zu retten.

»Wenn es euch nichts ausmacht, entführe ich Leander in mein Zimmer, weil wir noch private Dinge besprechen müssen, die streng geheim sind. Also lauscht lieber nicht an der Tür, sonst verbiete ich ihm, in Zukunft herzukommen und dann seht ihr ihn nie wieder«, warne ich die Zwillinge vor, die mich entrüstet anstarren und schmollend nachgeben. Sie wissen, dass ich mich im Zweifelsfall heftig durchsetzen kann und auch wenn sie alt genug sind, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, respektieren sie doch die Grenzen, die ihnen gesetzt werden. Dank Marion haben sie früh gelernt, ein deutliches Nein zu akzeptieren und dafür bewundere ich die alleinerziehende Mutter. Sie hat wundervolle Arbeit geleistet.

»Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend und Evanthia… Danke, dass du mir beim Essen geholfen hast.«

»Keine Ursache.«

Ich nehme den leeren Teller in die Hand, um ihn in die Küche zu bringen und Leander folgt mir wortlos. Der Presslufthammer in meiner Brust kann einfach nicht aufhören, Löcher in meinen Körper zu bohren und die rosa Schmetterlinge fliegen wild umher, frei und unbesorgt. Doch ich bin alles andere als das. Ich fühle mich eingeengt und nervös, weil mich seine Nähe verrückt macht.

»Evanthia? Ist wirklich alles in Ordnung?« Leanders sanfte Stimme reißt mich aus meinem engen Käfig der Gefühle und ich drehe mich zu ihm um, blicke direkt in sein wunderschönes Gesicht. Wie kann man nur dermaßen makellos sein?

»Ich bin nur müde. Heute musste ich nämlich um sechs Uhr morgens aufstehen und du weißt, dass ich ein schlimmer Fall von Langschläfer bin.«

Es ist nicht gelogen, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Zum zweiten Mal an diesem Tag meldet sich mein schlechtes Gewissen wieder, was ich einzig und allein Amor zu verdanken habe. Er ist schuld an dem ganzen Schlamassel.

»Wenn du meinst… Aber falls was ist, sagst du es mir, oder?«, hakt Leander sicherheitshalber nach, während er sich mit einer Hand durch das wilde, hellblonde Haar fährt. Ich kann deutlich spüren, wie meine mentale Mauer zu bröckeln beginnt, noch bevor ich dazu fähig bin, ein paar Worte aus meinem Mund zu pressen. Er macht es mir nicht einfach, aber ich schaffe es bejahend zu nicken.

»Da bin ich aber froh… Manchmal habe ich nämlich das Gefühl, dass die Distanz unsere Freundschaft belastet«, gesteht er leise.

In dem Moment, als er das sagt, habe ich schrecklich Lust darauf, mir meine Hand in die Brust zu rammen und ihm mein blutiges Herz zu schenken. Er sorgt sich um unsere Freundschaft, weil er nicht ständig bei mir sein kann? Wie rücksichtsvoll ist das denn bitte?

»Ach was, denk das bloß nicht. Wir haben beide nicht gewusst, dass du hier in Hamburg auf vier weitere talentierte Typen treffen wirst, mit denen du gemeinsam eine musikalische Karriere startest. Ich freue mich für dich und das weißt du.«

»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, weil wir ja ursprünglich zusammen hierhergekommen sind, um die Stadt unsicher zu machen«, teilt er mir mit schuldbewusster Stimme mit und vergräbt dabei die Hände in den hinteren Hosentaschen. Ihm ist dieses Gesprächsthema unangenehm, das erkenne ich an seiner unsicheren Haltung. Leander Manning kann sich unwohl fühlen, hast du das gesehen, Welt?

»Schauen wir uns ein paar Folgen unserer neuen Lieblingsserie an«, schlage ich prompt vor. Mein bester Freund sieht mich zunächst ratlos an, braucht aber nicht lang, um zu verstehen, welche Serie ich damit meine. Seine gerunzelte Stirn glättet sich und das freundliche Glitzern kehrt in seine Augen zurück. Wenn ich ihn nicht kenne, wer dann? Ich weiß ganz genau, was ich sagen muss, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Die Titelmelodie hat mich erst vor kurzem zu zwei tollen Songs inspiriert, ich…«

»Reden wir in meinem Zimmer weiter, sonst erwischen dich die Mädels dabei, wie du geheime Informationen offen weitergibst. Das ist nicht gut fürs Image«, unterbreche ich ihn leise lachend und er stimmt amüsiert mit ein. Gemeinsam gehen wir in mein nett eingerichtetes Zimmer, welches ich vor ein paar Stunden glücklicherweise aufgeräumt habe. Ich habe irgendwie geahnt, dass jemand zu Besuch kommen wird, aber mit Leander habe ich keinesfalls gerechnet. Er überrascht mich immer wieder.

3

»Ist es ok, wenn ich heute bei dir schlafe?«

Leander sieht mich fragend an, als er sich auf mein Bett setzt und mit den Fingern über meine weiche Schmusedecke fährt. Seine Frage überrascht mich nicht, da er schon öfters hier übernachtet hat, doch mit jedem Mal wird es immer schwerer für mich, ruhig einzuschlafen, wenn er unmittelbar neben mir liegt. Trotzdem nicke ich lächelnd und räume den Stapel Blätter auf meinem Schreibtisch ab, weil es der einzige Platz im Zimmer ist, der stets unaufgeräumt bleibt.

»Und jetzt erzähl mir… Was hast du in den letzten Tagen gemacht?«, erkundigt sich Leander neugierig und setzt sich in den Schneidersitz, um es sich so gemütlicher zu machen. Dabei rutschen die Hosenbeine seiner dunkelblauen Jeans hoch und entblößen das Kleeblatt-Tattoo auf der Innenseite seines rechten Fußgelenks. Er hat es sich in Irland stechen lassen, als er dort vor drei Monaten ein Radiointerview gegeben hat. Mit seinen Bandkollegen natürlich.

»Naja, eigentlich habe ich nichts Besonderes gemacht. Ich habe die Kurse, die ich gewählt habe, besucht… Dann bin ich auf Shoppingtour gegangen und hab mir einige Oberteile gekauft. Ah, und gestern habe ich mit den Mädels die ersten Folgen der vierten Staffel von Pretty Little Liars angeschaut«, zähle ich auf und schürze nachdenklich die Lippen. Mehr habe ich in der Tat nicht getan, also sind es ohne ihn zehn sehr langweilige Tage gewesen.

»Soll ich dir sagen, was ich in letzter Zeit erlebt habe? Ich habe zwei Auftritte, drei Shootings und ein Interview hinter mich gebracht. Nebenher nehmen wir weitere Songs für das neue Album auf, lernen die neuen Choreographien und trainieren zwei Stunden am Tag!«, erzählt er mir gut gelaunt und lässt sich dabei nach hinten fallen - kuschelt sich in meine unzähligen Plüschkissen hinein. Seine Augen sind an die Decke gerichtet, als ich mich neben ihn lege und meine Finger auf meinem Bauch ineinander verschränke. Nicht, dass ich auf die verführerische Idee komme, seinen göttlichen Körper zu berühren.

»Ist das denn nicht zu viel für dich? Kannst du dir überhaupt noch eine Pause leisten?«, gebe ich meine Bedenken preis und drehe den Kopf in seine Richtung.

Sein Profil lässt mein Herz höher schlagen und ich betrachte seinen markanten Kiefer, der mich zum Träumen verleitet. Meine Fingerspitzen kribbeln vor Verlangen, aber ich unterdrücke den Drang ihn dort anzufassen. Wie soll ich es bloß hinkriegen, mich in seiner Gegenwart ganz natürlich zu verhalten?

»Ich bin zwar erst seit einem halben Jahr in diesem Business, doch eines ist sicher. Die Liebe der Fans und ihr Engagement motivieren mich zu Höchstleistungen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, auf der Bühne zu stehen und zu hören, wie sie jedes einzelne Wort deiner Lieder mitsingen. Das Adrenalin, die jubelnden Rufe der Fans und die vier Jungs, die mir echt ans Herz gewachsen sind… All das ist jede Mühe wert.« Die Leidenschaft in seiner Stimme ist unverkennbar. Er liebt sein neues Leben und ich freue mich sehr für ihn, auch wenn es bedeutet, dass wir uns seltener sehen können.

»Wann findet euer nächster Auftritt statt? Ich will unbedingt dabei sein.«

Nein. ich muss das nächste Mal dabei sein. Es gibt nichts Schöneres, als Leander dabei zuzusehen, wie er mit seiner Stimme und seinem Tanztalent all meine Sinne verzaubert, während um mich herum Frauen kreischen, die nie den Luxus erfahren werden, mit ihm befreundet zu sein. Eine fünfzehnjährige Freundschaft kann man nicht übertrumpfen.

»Nächste Woche Dienstag treten wir bei The Voice of Germany auf. Das wird auf jeden Fall ein cooles Finale und du bist natürlich herzlich eingeladen. Ich organisiere gleich morgen ein Ticket für dich.«

»Kannst du dann auch gleich Tickets für die Zwillinge besorgen? Du weißt, was für große Fans sie sind und ich will sie nicht enttäuschen…«

Leanders Mundwinkel verziehen sich zu einem umwerfenden Lächeln und dreht sich auf die Seite, sodass wir uns genau gegenüberliegen. Er streckt die Hand nach meiner aus, nimmt sie und drückt sie sanft. Das Metall seiner Ringe an Zeige- und Mittelfinger kühlt meine erhitzte Haut, woraufhin mir ein wohliger Seufzer entfährt.

»Schöne Blumen wollen eben jedem gefallen, nicht wahr?« neckt er mich schmunzelnd und mit einem empörten Schnauben kneife ich ihn in die Seite. Auflachend zuckt er zusammen und stürzt sich sogleich auf mich, indem er seinen schweren Körper auf den meinen rollt und mich zu kitzeln beginnt. Er kennt meine empfindlichen Stellen und nutzt dieses Wissen schamlos aus, um mich zum Weinen zu bringen. Vor Lachen.

»Lean, hör auf… sonst beiße ich dich!«, warne ich ihn nach Luft japsend vor und winde mich unter seinen kitzelnden Finger, die sich an meiner Taille zu schaffen machen. Ich presse die Lippen fest zusammen und bemühe mich, ernst zu bleiben. Erfolglos.

»Na gut, ich lass dich in Frieden, aber nur, weil du aussiehst, als müsstest du gleich sterben.« Er grinst mich schief an und lässt von mir ab. Meine Haut prickelt heftig an den Stellen, an denen er mich berührt hat und ich unterdrücke einen verträumten Laut.

»Jetzt tut mein Bauch weh…«, beschwere ich mich und verschränke gespielt beleidigt die Arme vor der Brust. Ich mag es in seiner Nähe zu sein und mit ihm zu blödeln. Er offenbar auch, denn sein atemberaubendes Grübchenlächeln spricht Bände.

»Hast du schon bei dir daheim angerufen?«, fällt ihm plötzlich ein.

Ich reiße erschrocken die Augen auf. Das habe ich voll und ganz vergessen, meine Mutter wird außer sich sein vor Sorge. Wie vom Blitz getroffen springe ich auf, um mein Handy von der Kommode zu nehmen, da leuchtet das Display auf. Wenn man vom Teufel spricht…

»Mom, mir geht es gut, ich lebe. Ich hab bloß vergessen anzurufen, tut mir leid«, komme ich ihr zuvor und atme tief durch, als die aufgedrehte Stimme am anderen Ende der Leitung ihrer Besorgnis Luft macht. Sie gehört zur extrem überfürsorglichen Sorte von Mutter. Daher wundert es mich nicht, dass sie mir eine Standpauke bezüglich des einmaligen Anrufens am Tag hält. Augenrollend sehe ich zu Leander rüber, der sich das Lachen verkneifen muss.

»Was hast du denn gemacht, dass du einfach vergessen hast, deine liebe Mutter anzurufen?« Ihr anklagender Ton ist kaum zu überhören.

»Leander ist überraschenderweise gekommen und jetzt hocken wir in meinem Zimmer und unterhalten uns. Gerade eben hat er mich daran erinnert, dich anzurufen, als das Handy bereits geklingelt hat«, erkläre ich ihr seelenruhig und lausche ihrer aufgeregten Stimme. Sie braucht ein Weilchen, bis sie sich beruhigt und ich gebe ihr die Zeit, die sie benötigt, um sich vom Schock zu erholen. Als sie weiterspricht, klingt sie merklich gelassener.

»Wenn Leander bei dir ist, dann mach ich mir keine Sorgen um dich. Wann muss er wieder los? Vor einer Weile habe ich einen Auftritt von ihm im Fernsehen gesehen. Wir alle sind unglaublich stolz auf ihn.«

Wer ist das nicht aus unserer großen Familie? Jeder, der ihn von klein auf kennt, ist mächtig stolz auf ihn. Ich bin das auch. Er lebt das Leben eines weltweit bekannten Popstars und sieht Orte, von denen ich nur träumen kann. Zugegeben, hin und wieder lädt er mich zu sich ein und lässt mich am Berühmtsein teilhaben, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Man bekommt selten einen Flug nach Paris geschenkt.

»Morgen ist er wieder weg. Die Pflicht ruft«, beantworte ich ihre Frage und setze mich neben Leander, der den DVD-Player unter meinem Bett hervorgeholt hat und ihn nun auf der Kommode platziert. Schmachtend beobachte ich ihn dabei, wie er anschließend zum Wandregal geht und mit den Fingern über die unzähligen DVDs fährt. Kann man auf DVD-Hüllen eifersüchtig sein? Anscheinend schon.

»In Ordnung, ja. Mom, wirklich, ich werde anrufen… ja, versprochen«, versichere ich meiner Mutter, die mir vermutlich die nächsten Tage weiterhin Vorwürfe machen wird. Sie ist eben eine gewöhnungsbedürftige Frau, aber ich liebe jede ihrer Macken. Immerhin ist sie diejenige, die mich neun Monate lang im Bauch herumgetragen und dann rausgepresst hat.

Nachdem ich aufgelegt habe, lege ich das Handy zurück auf die Kommode, wobei ich ein wenig Platz schaffen muss, da der DVD-Player einigermaßen groß ist. Ein silberner Minifernseher mit HD-Bildschirm, den mir Leander ganz am Anfang meines Au Pair-Aufenthalts geschenkt hat.

Warum hat er das getan? Weil wir beide Filmabende lieben.

»Max und Caroline haben es mir letztes Mal wirklich angetan, sollen wir dann mit der zweiten Staffel weitermachen?« Als ich auf dem Cover 2 Broke Girls lese, hebe ich einverstanden den Daumen und grinse meinen besten Freund an. Normalerweise steht er nicht auf solche amerikanischen Sitcoms, die jeden Tag im Fernsehen laufen, doch vor kurzem haben wir diese Ausnahme entdeckt.

Zufrieden mit unserer Wahl kehrt er an seinen Sitzplatz zurück und legt die erste DVD ein, während ich meinen Pyjama aus dem Schrank hole und mich ganz kurz im Spiegel an der Innenseite des Flügels betrachte. Ich habe schon besser ausgesehen, aber vor Leander kann ich mich sowieso nicht verstecken. Er hat mich in allerlei Zuständen gesehen - ungeschminkt, todmüde, krank und ungewaschen. Ihm kann ich nichts mehr vormachen und ich frage mich, ob es das ist, was ihn davon abgehalten hat, sich in mich zu verlieben. Fast muss ich über diesen absurden Gedanken lachen.

»Ich gehe kurz ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Wartest du solange hier?«

Leander sieht vom Display auf und nickt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit stellt er gerade die Sprache auf Deutsch mit englischem Untertitel um, damit wir die deutsche Sprache besser verinnerlichen können. Was er nicht weiß… Ich bin viel zu faul, um beim Zuhören mitzulesen, doch ich beklage mich nicht. Stattdessen bewundere ich ihn für seine Wissbegierde.

Mit einem verliebten Lächeln schließe ich die Badezimmertür hinter mir ab, schlüpfe in meine lockere, hellgraue Sporthose und ziehe mir ein komplett weißes T-Shirt über, welches mir zwei Nummern zu groß ist. Ich bin kein Fan von engen Kleidungsstücken, was an meinem geringen Selbstwertgefühl liegt, aber damit komme ich klar. Meistens jedenfalls.

Unbeeindruckt betrachte ich mein bleiches Gesicht im Spiegel, mustere das goldbraune Augenpaar und fahre mir mit einer Hand durch das pechschwarze Haar. Dann greife ich zum Kamm, um das verstrubbelte Chaos zu beseitigen und beiße mir gedankenverloren auf die volle Unterlippe. Das einzig Gute an mir ist, dass ich kein Opfer von Mitessern bin. Es sei denn, ich bin im Stress oder habe meine Tage. Ein Hoch auf meine Gene.

»Evanthia? Bist du da drin?«

Erschrocken zucke ich zusammen, als es unerwartet an der Tür klopft und Julias klare Stimme ertönt. Ohne lange darüber nachzudenken, schließe ich für sie auf und lasse sie herein, dicht gefolgt von Hanna. Die beiden haben ebenfalls ihre Pyjamas angezogen, nur dass es sich hierbei um ein schickes, kurzes Nachthemd handelt. Sofort schrumpft mein Ego um die Hälfte. Sie sehen hinreißend aus, während ich wie ein gammeliges Kuscheltier wirke.

»Na? Was macht ihr beiden in deinem Zimmer?«, will Hanna neugierig wissen, ihre hellblauen Augen funkeln interessiert. Ich stopfe die Zahnbürste in meinen Mund, schrubbe eine Weile, um sie auf die Folter zu spannen und werfe ihnen durch den Spiegel einen vielversprechenden Blick zu.

»Film ‘ucken«, nuschele ich mit Schaum im Mund, den ich gleich darauf ins Waschbecken spucke.

Julia und Hanna heben ungläubig eine Augenbraue, haken jedoch nicht weiter nach. Stattdessen greifen sie ebenso zu ihren Zahnbürsten und schalten Musik ein; ihr übliches Ritual vor dem Zubettgehen. Anfangs habe ich mich tatsächlich gefragt, was wohl der Grund für ihr Bedürfnis nach musikalischer Begleitung ist, doch ich habe mich relativ schnell an dieses seltsame Ritual gewöhnt.

Die kleine Lautsprecheranlage in dunklem Rot steht erwartungsvoll auf dem Regal unterhalb des Spiegels und als Julia ihr Handy mit dem Gerät verbindet, erschallt sogleich das erste Lied auf ihrer Megahits-Playlist - Confident von Demi Lovato. Ein Song über das Selbstbewusstsein. Das Universum macht sich wirklich gern über mich lustig…

Obwohl die Anlage recht klein ist, schafft sie es, den ganzen Raum mit dem deftigen Beat des Lieds zu erfüllen und ich verliere mich im Rhythmus der Melodie. Die Zwillinge hampeln inzwischen neben mir herum, singen lautstark mit und benutzen ihre mit Schaum besetzten Zahnbürsten als Mikrofon. Dieser äußerst amüsante Anblick weckt meine Lust, mich passend zur Musik zu bewegen und dabei unbefangen mit dem Hintern zu wackeln. Hier, mit den beiden Mädchen, fällt es mir ausnahmsweise leicht, selbstbewusst aufzutreten. Hier fühle ich mich wohl und kann jemand sein, der ich da draußen nicht sein kann, weil mir dazu der Mut fehlt. Hier habe ich Spaß.

»Soso, das machen also Mädchen, wenn sie meinen, sie müssten nur kurz ins Bad, um sich fürs Schlafen fertig zu machen. Hab ich euch erwischt.«

Die Zwillinge und ich halten ertappt inne, als wir Leander am Türrahmen erblicken, der uns mit einem verschmitzten Lächeln mustert. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und lehnt mit überkreuzten Füßen am Türrahmen, während er auf eine Reaktion von uns dreien wartet. Hanna ist die erste, die ihre Sprache wiederfindet.

»Nun ja, nicht alle Mädchen tun das, was wir machen, aber wir sind eben topmodern und ein klein wenig durchgeknallt. Außerdem ist es verboten die Tür zu öffnen, wenn man vorher nicht angeklopft hat.« Letzteres ist eine fiese Lüge, denn es sind meist die Zwillinge selbst, die das Anklopfen vorm Eintreten vergessen. Aber das behalte ich für mich, weil es unpassend wäre, die beiden darauf hinzuweisen.

Leanders blonde Augenbrauen schießen in die Höhe. »Verboten ist es, mich warten zu lassen!«

Diese Worte richten sich wohl an mich.

»Oh, entschuldigen Sie, Mr. Manning, ich habe Sie gewiss nicht warten lassen wollen. Julia, Hanna, es war schön mit Ihnen, aber ich muss Sie nun verlassen. Mein Meister ruft mich.« Nach einem höfischen Knicks kehre ich den kichernden Schwestern den Rücken zu und folge meinem besten Freund ins Zimmer. Dabei fällt mein Blick auf seinen knackigen Hintern, der sich im Gehen an der Jeans abzeichnet und mich dazu verleitet ihn ungeniert anzustarren. Er hat einen unfassbar schönen Körper, das Ebenbild einer antiken griechischen Statue.

»Ist es für dich in Ordnung, in deinen Alltagsklamotten zu schlafen?«, frage ich ihn, als wir wieder allein sind und uns aufs Bett setzen. Sein vertraulicher Duft steigt mir in die Nase und mein Herz spielt auf der Stelle verrückt.

»Ja, das ist kein Problem. Ich muss ohnehin früh raus.«

Daran möchte ich gar nicht denken. Ohne ihn aufzuwachen gehört zu den Dingen, die ich absolut nicht ausstehen kann, aber ich vermute, dass er morgen Einiges zu erledigen hat. Darum überwinde ich den stechenden Kummer in meiner Brust und schenke ihm ein kleines Lächeln. Ich muss jede einzelne Sekunde mit ihm genießen, denn die Zeit, in der wir mehrmals in der Woche in einem Bett geschlafen und dabei auf das kleine Display gestarrt haben, ist seit der Gründung von Imperial Five vorbei.

»Worüber denkst du nach?« Leander beugt sich im selben Moment über mich und drückt auf die Play-Taste. Sein Geruch umgibt mich wie eine dichte Wolke, benebelt meine Sinne. Unbewusst atme ich tief ein.

»Mir ist gerade wieder klar geworden, wie lieb ich dich hab«, gestehe ich ohne nachzudenken und halte schlagartig die Luft an. Eigentlich sollte es mich nicht schockieren, das zu sagen, doch ständig verfolgt mich die Angst vor der unbeabsichtigten Liebeserklärung. Was, wenn er mich in einem schwachen Moment erwischt und ich ihm versehentlich alles beichte? Das darf nicht passieren.

»Stell dir vor, mir ist gerade dasselbe durch den Kopf gegangen«, zwinkert er mir gut gelaunt zu und gibt mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Eine Explosion der Gefühle bricht in mir aus. Er schafft es immer wieder, mich aufs Neue zu erobern.

Mit wild kribbelndem Magen drehe ich mich zum DVD-Player um, bette mein Kopf auf das weiche Kissen und vergrabe eine Hand unter der kühlen Seite des Bezugs. Ich spüre, wie die Matratze unter seinem Gewicht nachgibt, als er es sich ebenfalls gemütlich macht und einen zufriedenen Laut von sich gibt. Beruhigende Stille tritt zwischen uns ein, bis die Stimmen der Protagonistinnen der Serie diese Ruhe durchbrechen.

Kurze Zeit später liegen wir dann lachend, aufseufzend, tuschelnd und letztendlich schlafend nebeneinander. Zusammen in einem Bett. Eine Inspiration für meine Träume.

4

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Leander nicht mehr da. Er ist fort, hat jedoch seinen unwiderstehlichen Duft hinterlassen, der mir sodann den Kopf verdreht. Selig lächelnd rolle ich mich auf die Seite, auf der er die ganze Nacht gelegen hat und kuschele mich in die vielen Plüschkissen, die nun nach ihm riechen. Am liebsten will ich diesen Geruch in einem Parfümfläschchen verewigen und ihn jeden Tag auftragen.

»Evanthia, bist du wach? Es ist elf Uhr morgens und ich erinnere mich, dass du um zwölf Uhr einen Termin hast.« Kaum dringen diese Worte durch die Tür und erreichen meinen benebelten Geist, reiße ich die Augen auf und springe aus dem Bett. Oh nein, den Termin habe ich total vergessen.

»Ich bin wach, komme gleich!«, rufe ich und ziehe in Sekundenschnelle meine Schlafsachen aus, um in eine schwarze Jeans und ein weinrotes One-Schoulder-Shirt zu schlüpfen. Anschließend kämme ich mein zerzaustes Haar, binde es zusammen und verlasse das Zimmer. Marion finde ich, wie sonst auch, in der Küche vor, wo sie gerade frisch gebackene Waffeln auf einen Teller stapelt. Sie weiß am besten, was ich früh am Morgen gut gebrauchen kann.

»Ich habe Leander gerade noch erwischt, als er die Wohnung verlassen hat. Der arme Junge ist ziemlich früh aufgestanden«, erzählt sie mir in einem mitfühlenden Ton, während sie die Packung Puderzucker auf den Tresen stellt.

»Um wie viel Uhr ist er denn gegangen? Ich habe überhaupt nichts gemerkt…«

»Etwa um sechs. Da bin ich aufgewacht, um ins Bad zu gehen. Leider hat er nicht bis zum Frühstück warten wollen, aber er hat etwas für dich dagelassen.«

Sie wischt sich die nassen Hände an einem Lappen ab, ehe sie in die vordere Tasche ihrer bunt verzierten Schürze greift, um daraus einen zusammengefalteten Zettel hervorzuholen. Diesen überreicht sie mir mit einem neugierigen Funkeln in den Augen und ich nehme ihn mit zittrigen Händen entgegen. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen? Schriftlich? Für gewöhnlich tut er sowas nicht, weshalb ich umso aufgeregter bin, als ich den Zettel auseinanderfalte und seine Schrift wiedererkenne. Selbst seine Handschrift ist ansprechend.

 

Guten Morgen schöne Blume,

tut mir leid, dass ich so früh gegangen bin, aber ich muss mit den Jungs zu einem wichtigen Team-Meeting. Du bist echt zuckersüß, wenn du schläfst, deshalb habe ich dich auch nicht geweckt. Vielen Dank für den schönen Abend, ich habe es wirklich vermisst, Zeit mit dir zu verbringen. Natürlich wiederholen wir das!

Ich wünsche dir heute viel Spaß und solltest du je wieder vorm Spiegel tanzen, mach bloß ein Video davon und schick es mir. Es sah sehr unterhaltsam aus.

 

Leander

 

Mehrmals lese ich mir diese Nachricht durch, um zu realisieren, dass er mich tatsächlich als „zuckersüß“ bezeichnet hat. Sofort muss ich lächeln und schaue auf, direkt in Marions freundliches Gesicht. Ihr ist anzusehen, dass sie erfahren will, was auf dem Zettel steht und so gebe ich ihn ihr zurück. Er hat ja nichts Geheimes niedergeschrieben, also ist es kein Verbrechen, wenn sie es liest.

»Ich hoffe, dass er in Zukunft dieser brave, bodenständige Junge bleibt. Bedauerlicherweise verwandeln sich viele junge Menschen, die im Rampenlicht stehen, in rebellische Zombies des Showbiz, aber Leander scheint ein kluger Mann zu sein.«

Das ist er in der Tat. Er ist außerordentlich schlau und weiß ganz genau, was er tun muss, um jeden in seinem Umfeld, um den Finger zu wickeln. Folglich ist es verständlich, dass ihn seine weiblichen Fans geradezu vergöttern und auf seinen Social-Media-Kanälen ständig mit ihm in Kontakt treten.

Allein der Gedanke an die zahllosen Liebesbekundungen seiner Fans sorgt dafür, dass meine Laune schwankt. Deswegen setze ich mich hin und schnappe mir zum Trost eine mit Puderzucker bestreute Waffel, in die ich dann genüsslich hineinbeiße.

»Das schmeckt einfach köstlich!«, nuschele ich mit vollem Mund und verdrehe entzückt die Augen. Marion ist wahrlich ein Engel in der Küche und somit eine Heilige für meinen Geschmackssinn.

Erfreut über das Kompliment, klatscht sie in die Hände und setzt sich mir gegenüber hin. Der kleine Holztisch zwischen uns bietet so gut wie keine Beinfreiheit, doch das stört mich überhaupt nicht. Zwar ist der Hocker, auf dem ich sitze, alles andere als gemütlich, aber daran habe ich mich längst gewöhnt. Meine Gastmutter muss für drei junge Erwachsene sorgen, indem sie sowohl die Miete als auch unser Taschengeld zahlt, also wagt es niemand sich zu beschweren, wenn hier und dort Platzmangel herrscht.

»Willst du mir nicht erzählen, wohin du nachher gehen musst?« Interesse blitzt in den Augen meines Gegenübers auf und ich schlucke den Bissen hinunter, ehe ich bereit bin über diesen besonderen Termin zu sprechen. Unsicher beiße ich mir auf die volle Unterlippe, während ich nach den richtigen Worten suche.

»Naja… also, es ist so… Ich habe einen Schnuppertermin in einem Pole Dance Kurs. Meine Mutter würde mich umbringen, wenn sie erfahren würde, dass ich zu so einem Kurs gehen möchte, deswegen mach ich das hier in Hamburg. Ganz weit weg, wo mich kaum einer kennt«, antworte ich wahrheitsgemäß und spüre, wie Röte in meine Wangen kriecht. Pole Dance ist eigentlich das Letzte, was man bei mir erwarten würde, doch ich habe lange darüber nachgedacht und festgestellt, dass das ein guter Weg sein könnte, mein ramponiertes Selbstwertgefühl zu stärken.

Marion sieht mich zunächst überrascht an, reißt sich jedoch schnell zusammen. »Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich ohne weiteres mitkommen. Pole Dance ist eine tolle Sportart.« Sie zwinkert mir verschwörerisch zu, woraufhin ich erleichtert aufatme. Keine Entrüstung, kein Ekel und keine Vorwürfe. Mehr habe ich nicht gebraucht, um die Sache nun richtig anzupacken.

»Erzähl aber Julia und Hanna nichts davon. Sollte es mir tatsächlich gefallen, werde ich es ihnen selbst sagen«, bitte ich sie lächelnd und sie nickt einverstanden.

»Hast du es Leander gesagt? Gestern Nacht?«

Kaum ist sein Name gefallen, reagiert mein Körper instinktiv. Milde Wärme breitet sich in meiner Magengegend aus und ein angenehmes Kribbeln macht sich in meiner Brust bemerkbar. Ich winke lässig ab, auch wenn es in meinem Inneren ganz anders aussieht, wenn ich mir vorstelle, Leander könne mich dabei erwischen, wie ich mich an einer Stange räkele.

»Oh Gott, nein. Er würde es bestimmt falsch auffassen, wenn ich ihm verrate, dass ich Pole Dancing ausprobiere. Du weißt ja, wie Männer sind«, erwidere ich betreten und bekräftige meine Worte mit einem Augenrollen. Marions Mundwinkel zucken in die Höhe, als sie meine lahme Erklärung hört, sagt aber nichts mehr dazu. Zum Glück.

»Dann wünsche ich dir auf jeden Fall viel Spaß dabei. Ich nehme an, dass du dich jetzt schleunigst beeilen musst, wenn du rechtzeitig dort sein willst, oder?«

Als ich meinen Blick auf die hellrot gerahmte Uhr an der Wand richte, stöhne ich genervt über mich selbst auf. Was ist nur los mit mir? Andauernd verliere ich mein Zeitgefühl und das dank Leander. Sein Besuch gestern Abend hat mich aus dem Konzept gebracht.

»Wann bist du wieder da?«, ruft Marion mir hinterher, als ich bereits im Flur bin und meine schwarzen Boots anziehe. Das sind mit Abstand meine besten Schuhe, denn sie haben bisher jedem Wetter getrotzt. Heute soll es angeblich regnen, aber ich hoffe, dass es bewölkt bleibt, weil es in meiner Handtasche keinen Platz für einen Schirm gibt.

»In anderthalb Stunden bin ich zurück.«

Mit diesen Worten reiße ich die Jeansjacke vom Haken, öffne die Haustür und eile hinaus. Die vielen Treppen bringen mich jedes Mal aufs Neue um, da der Aufzug immer noch nicht repariert worden ist und so erreiche ich schnaufend den Haupteingang des Gebäudes. Als ich ins Freie trete, begrüßt mich das alltagbekannte Autorauschen, das Klackern von Absätzen und das Hundebellen aus der Nachbarschaft. Die Normalität in meinem Leben lässt grüßen.

Schnellen Schrittes überquere ich die Straße, nachdem ich mich vergewissert habe, dass alles frei ist und ich nicht Gefahr laufe, von einem Irren überfahren zu werden. Im Gehen betrachte ich die Ladenfenster. Wie gut, dass ich wenig Geld bei mir habe, sonst wäre ich höchstwahrscheinlich shoppen gegangen. Keine Kleidung, sondern vielmehr diese reizenden Dekorationsartikel, die mich magisch anziehen. Ich liebe es, mein Zimmer nach Lust und Laune neu zu gestalten, denn es gibt mir ein Gefühl von Freiheit, selbst zu bestimmen, wo was hinkommt und welche Farben am besten zum Gesamtbild passen. Aus diesem Grund beschleunige ich meinen Gang, um ja nicht in Versuchung zu kommen und folge der ewig langen Straße, ehe ich nach rechts abbiege, weil sich dort laut meiner Smartphone-Navigation das Studio für den Pole Dance Kurs befindet. Ich lege den Kopf in den Nacken, um das Schild an der Gebäudemauer besser erkennen zu können und atme erleichtert auf. Ich bin rechtzeitig angekommen.

Als ich vor der verglasten Eingangstür stehen bleibe, kommt blöderweise die Nervosität in mir hoch. Es stresst mich ungemein, ein neues Terrain zu betreten, ohne zu wissen, was mich hinter einer Tür erwartet. Natürlich habe ich mich zuvor gründlich informiert, um keinem Betrüger zum Opfer zu fallen, da man heutzutage leicht getäuscht werden kann, aber die Bedenken bleiben. Infolgedessen klammere ich mich an das bisschen Mut, das ich besitze und drücke die Tür auf.

Zuerst begrüßt mich der Geruch nach frisch gewischten Treppen, was ich als gutes Zeichen deute, denn ein vorbildlich geputztes Treppenhaus weist darauf hin, dass die Betreiber großen Wert auf ein sauberes Image legen. Hoffe ich zumindest.

Gespannt und nervös zugleich erklimme ich die Stufen bis in das zweite Stockwerk und verharre erneut vor einer Tür. Über der Klingel prangt ein kleines Schild mit dem Aufdruck Dance in Heaven. Anfangs habe ich nicht verstanden, warum der Inhaber eines Pole Dance Studios ausgerechnet diesen Namen gewählt hat, aber im Nachhinein ist es doch einleuchtend. „Tanz im Himmel“ klingt irgendwie poetisch.

Ich schüttele diesen Gedanken fort und hebe die Hand, um den kleinen runden Klingelknopf zu drücken. Eine glockenhelle Melodie ertönt, dicht gefolgt von eiligen Schritten, die sich der Tür nähern. Prompt setze ich mein schönstes Lächeln auf und erstarre im nächsten Augenblick, als ich die Person erblicke. Das ist ja ein Kerl!? Auf sehr, sehr hohen Schuhen.

»Ah, da ist ja unser nächster Neuankömmling. Es freut mich, dass du gekommen bist. Komm rein, Mäuschen, die anderen werden sich freuen, dich kennenzulernen!«

Mit einem breiten Grinsen bittet er mich sein Reich zu betreten, da ich mich noch kein Stück fortbewegt habe. Ganz langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. Wieso habe ich das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein?

Ich folge dem stolzierenden bunten Papagei auf Stelzen, der mir mit wilden Gesten erklärt, wie toll es sei, dass immer mehr Frauen den Mut finden, Pole Dance Kurse zu belegen. Zudem freue er sich, für die Verwandlung seiner Schülerinnen in umwerfende Göttinnen verantwortlich zu sein. Göttinnen!? Dass dieser Mann schwul ist, ist mir sofort aufgefallen, denn seine Kleidung spricht für sich. Sein mit silbernen Pailletten besetztes Oberteil und die kurze, schwarze Hose, welche für meinen Geschmack zu eng anliegt, wäre für einen heterosexuellen Typen keine Option.

»So Mäuschen, da wären wir. Dort hinten in der Ecke legen wir immer unsere Sachen ab und solltest du mal schnell im Bad verschwinden wollen, die Toiletten befinden sich direkt dort drüben«, zählt er die wichtigsten Punkte auf und deutet auf einen dunkelblau lackierten Zugang, hinter dem sich ein schmaler Flur mit zwei Türen befindet.

Aufmerksam sehe ich mich um und entdecke verspätet die Gruppe Frauen, die in der Nähe der perlweißen Wand auf dem Boden hocken und sich angeregt unterhalten. Die meisten unter ihnen sind ungefähr in meinem Alter, aber einige sind auch weitaus älter. Als ich an ihnen vorbeigehe, um meine Tasche in der vorgesehenen Ecke abzulegen, sieht ein Mädchen neugierig auf und schenkt mir ein offenes Lächeln, wofür ich sie hätte küssen können. Den ersten Schritt zu wagen, traue ich mir nicht zu, aber nun weiß ich, neben wen ich mich setzen werde, ohne etwas Peinliches brabbeln zu müssen. Dennoch spüre ich die nagende Unsicherheit in mir, wenn ich daran denke, dass ich eine lausige Anfängerin bin, während die anderen den Eindruck vermitteln, als seien sie nicht zum ersten Mal hier.

Seufzend lege ich meine Tasche in der Nähe der Heizung ab und tapse zu dem Mädchen hinüber, um mich im Schneidersitz neben ihr niederzulassen. Kaum mache ich es mir richtig bequem, klatscht der Lehrer in die Hände und sieht dabei in meine Richtung. Oh nein, ich ahne Schlimmes…

»Ach, meine Engel, ich freue mich euch zu sehen. Wie immer schaut ihr alle fabelhaft aus und wie ihr bereits bemerkt habt, befindet sich ein neuer Engel unter uns. Steh auf, Mäuschen und stell dich den anderen ganz kurz vor. Wir sind alle super lieb.« Er zwinkert mir aufmunternd zu und ich spüre jeden einzelnen Blick auf mir ruhen. Nein, nein, diese ungeteilte Aufmerksamkeit möchte ich nicht haben. Das ist eher Leanders Ding, nicht meins.

Widerwillig stehe ich wieder auf, zwinge mich zu einem selbstsicheren Lächeln und wende mich der Gruppe zu, die mich sensationslüstern mustert. Sofort macht sich mein Unwohlsein bemerkbar, mein Blick gleitet fluchtartig zu den Toiletten. Evanthia, reiß dich zusammen. Das sind ganz normale Menschen und keine hungrigen Zombies!

»Ha-Hallo, ich bin Evanthia Evans, 21 Jahre alt und komme u-ursprünglich aus Australien. Ich b-bin als Au Pair-Mädchen hier in Hamburg…«, stammele ich piepsig und bete insgeheim, dass man mir keine weiteren Fragen stellen wird. Meine Lebensgeschichte ist keinesfalls aufregend, die meines besten Freundes jedoch schon. Mist, jetzt muss ich schon wieder an ihn denken.

»Evanthia, das ist ein wunderschöner Name. Hat er auch eine Bedeutung?«, meldet sich der Lehrer wissbegierig zu Wort, während die anderen mich weiterhin beobachten. Warum interessiert es ihn, welche Bedeutung mein Name hat? Das spielt doch keine Rolle, oder?

»Schöne Blume«, antworte ich knapp und senke verlegen den Blick. Warum mir meine Mutter diesen Namen gegeben hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich bin keine Schönheit, erst recht kein Laufstegmodel und habe auch kein Million-Dollar-Gesicht. Danke für die aufbauenden Gedanken, mitleiderregendes Ich…

»Schöne Blume? Das passt hervorragend zu dir. Es freut mich, dass du zu uns gefunden hast und ich bin sehr gespannt, wie du dich heute in deiner ersten Stunde schlagen wirst. Aber ich habe ein gutes Gefühl, was dich betrifft«, meint er zuversichtlich und richtet dann den Zeigefinger auf sich selbst. »Mein Name ist Pablo.«

Seine unübersehbar gute Laune schwappt in Wellen über mich hinweg und ertränkt mich in einem Meer aus Optimismus, von dem ich einiges gebrauchen werde. Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande, als ich mich wieder setze und dabei jeglichen Blickkontakt vermeide. Stattdessen starre ich den Spiegel mir gegenüber an und versuche herauszufinden, was mich dazu gebracht hat, hier aufzutauchen und Teil einer Gruppe zu werden, die mich irgendwie verunsichert. Nebenbei verstehe ich nicht, woher dieser Papagei den Mut schöpft, in solch einer Verkleidung vor mehreren Leuten aufzutreten. Das muss wohl eine gesunde Portion Selbstbewusstsein sein, die er mit sich herumträgt.

»Nun, meine Engel, steht auf und lasst uns erst einmal unsere Muskeln dehnen. Das ist sehr wichtig, um schmerzhafte Zerrungen zu verhindern. Eure hübschen Körper sollen bloß keine Schmerzen erleiden, nur weil ich euch nicht gut genug vorbereitet habe.« Zugegeben, seine besondere Aussprache ist wirklich witzig, auch wenn ich den Sinn seiner blumigen Sprache nicht begreife.

Mit leicht verspannter Haltung richte ich mich zum gefühlt tausendsten Mal auf, ahme seine Dehnbewegungen nach und spüre die ersten Grenzen, die mein Körper nicht zu überwinden schafft. Den Spagat kriege ich dank jahrelanger Hobby-Tanzerfahrung zwar hin, aber den Kopf zwischen die leicht geöffneten Beine zu klemmen, erscheint mir unmöglich. Pablo hingegen macht das Unmögliche möglich. Er verbiegt sich, als wäre er aus Gummi, was in diesem Outfit äußerst seltsam aussieht.

Zwanzig Minuten später komme ich zu dem Schluss, dass ich diesen Raum nicht ohne Zerrungen verlassen werde. Wir lernen ein paar äußerst merkwürdige Stellungen, die ich nicht ansatzweise packe, doch so leicht gebe ich nicht auf. Mich hat erfreulicherweise der Ehrgeiz gepackt. Nur etwas zu spät.

»Jetzt machen wir eine zehnminütige Pause meine Hübschen. Trinkt viel und quasselt mir ja nicht zu lange«, unterbricht Pablo die Übungen und stöckelt zur Stereoanlage hinüber, die uns während des Aufwärmtrainings mit peppiger Musik beschallt hat und schaltet sie aus. Eine junge Frau in hautengen Leggings und einem bauchfreien Top gesellt sich daraufhin zu ihm, die mit ihrer begehrenswerten Figur den Neid in mir bis zur Überfülle füttert. Vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen.

»Evanthia war dein Name, richtig?« Beim lieblichen Klang der fremden Stimme zucke ich zusammen und lasse beinahe meine Flasche Wasser fallen. Räuspernd stopfe ich mein Getränk zurück in meine beigefarbene Tasche und wende mich an die Person, die mich angesprochen hat. Es ist das Mädchen, das mich zu Beginn freundlich angelächelt hat.

»Ja, genau. Und du bist…?«

»Ich bin Lucia. Ich bin auch erst vor kurzem Mitglied geworden, also sind wir beide die Frischlinge der Gruppe. Aber die Leute hier sind echt nett und man gewöhnt sich sehr schnell an sie.« Trotz der Tatsache, dass ich diese Person erst einige Sekunden lang kenne, ist sie mir auf der Stelle sympathisch. Zum einen weil sie ebenfalls neu ist und zum anderen weil sie mich direkt angesprochen hat, anstatt mich in meiner Zurückgezogenheit schmoren zu lassen.

»Anfangs bin ich immer etwas schüchtern… Aber ich glaube auch, dass es hier ganz spaßig werden kann. Bisher hat mir das Programm sehr gut gefallen und das ist schon mal was Gutes« erwidere ich weitaus gelassener, woraufhin meine neue Bekanntschaft zufrieden den Daumen hebt.

»Pablo ist echt cool. Er bringt uns in jeder Stunde zum Lachen, scherzt mit uns und unterstützt uns bei allen Problemen. Auch privat hatten wir uns mal getroffen und einen sehr netten und lustigen Abend verbracht. Solltest du dich also fürs Anmelden entscheiden, gehen wir alle was trinken. Das ist unser Aufnahmeritual«, erzählt sie mir offenherzig, während mein Hirn nebenbei eine animierte Version der gesamten Gruppe erstellt und diese in einem angesagten Club tanzen lässt. Allein die Vorstellung, wie 3D-Pablo auf der Tanzfläche abgeht, entlockt mir ein Schmunzeln.

»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, es mit Pole Dance zu versuchen?«, erkundigt sich Lucia neugierig und hebt entschuldigend eine Hand. »Wenn ich fragen darf…«, fügt sie netterweise hinzu und ergattert damit einen weiteren Pluspunkt.

Warum habe ich nicht schon früher diesen dämlichen Flyer entdeckt? Dann hätte ich Lucia in ihrer ersten Stunde kennengelernt und wir wären jetzt gute Freundinnen. Freundinnen, die es kaum fassen können, dass ein Mann höhere Absätze tragen kann als wir selbst.

»Ich beneide die durchtrainierten Frauen an der Stange, vor allem wie elegant sie sich bewegen. Genau das möchte ich auch können.« Ich will sexy sein!

5

Ich habe zwar erwartet, dass mich die Pole Dance Stunde körperlich stark beanspruchen wird, aber mit so einem starken Muskelkater habe ich nicht gerechnet. Eine Stunde hat gereicht, um jede Muskelfaser in mir zu aktivieren und jetzt verspüre ich ein ziehendes Stechen in meinen Armen und Beinen. Lucia ist es nicht anders ergangen, auch wenn sie einige Stunden hinter sich hat. Wir beide haben letztendlich wie zwei ausgepowerte Rennpferde geschnauft.

»Und? Hast du dich schon entschieden oder musst du erst einmal deinen Muskelkater loswerden, um einen klaren Gedanken fassen zu können?« fragt Lucia amüsiert, während sie ihre kniehohen Lederstiefel über ihre schlanken Waden zieht. Ich wende den Blick ab, um nicht gelb vor Neid anzulaufen und denke über ihre Frage nach. Hm, hat mich diese Stunde überzeugt? Habe ich die Motivation für die Art von sportlicher Aktivität? Wenn ich ehrlich bin, hat es mir sehr gefallen, an meine Grenzen zu stoßen und mein Bestes zu versuchen. Pablo hat ein Händchen für Problemkinder wie mich, weswegen ich mich nicht bloßgestellt gefühlt habe.

»Ich tendiere zu einem Ja«, gebe ich wohlgelaunt zu und ziehe mir meine Jeansjacke an, die mir knapp über die Hüften reicht. Dann hebe ich meine Tasche auf und sehe Pablo auf mich zukommen, der sich grinsend durch das dunkle, stachelig frisierte Haar fährt. Er ist ein waschechter Gute-Laune-Typ.

»Na? Wie hat dir die Schnupperstunde gefallen? Könntest du dir vorstellen, ein Engel an der Stange zu werden? Ich sehe nämlich viel Potential in dir, Mäuschen.« Erneut breitet sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, sodass mir nichts Anderes bleibt, als zu bejahen. Diese haselnussbraunen Hundeaugen erinnern mich stark an zwei Blondinen, die ebenfalls wissen, wie sie ihre Vorzüge konkret einsetzen müssen, um ihr Ziel zu erreichen.

»Wunderbar! Ich freue mich, dass du dich so schnell entschieden hast. Wenn du willst, kann ich dir sofort deine Anmeldeformulare mitgeben. Beim nächsten Mal bringst du sie dann mit und schon bist du ein vollwertiges Mitglied meines Imperiums.« Ehe ich etwas erwidern kann, entfernt er sich mit seinen glitzernden High Heels und verschwindet im Flur, durch den die anderen das Studio verlassen haben. Lucia bleibt neben mir stehen.

»Ich werde das nicht bereuen, oder?« Ich richte den Blick auf meine neue Bekanntschaft mit den graublauen Augen, die leise lachend den Kopf schüttelt.

»Du wirst es bestimmt nicht bereuen. Die Frauen sind alle unglaublich nett und wenn du den ersten Einweihungsabend hinter dir hast, wird dich jeder kennen und du wirst leichter Anschluss finden«, versichert sie mir vertrauensvoll, woraufhin sich meine Unsicherheit zum größten Teil verflüchtigt. Neue Freunde zu finden, schadet ja nicht, denn ohne Leander fühle ich mich in dieser Stadt schrecklich allein.

Kaum denke ich an ihn, macht sich unstillbare Sehnsucht in mir bemerkbar, die ich nicht unterdrücken kann. Erst gestern ist er bei mir gewesen und trotzdem verzehre ich mich nach seiner Nähe. Sein vertrauter Duft, sein atemberaubendes Lächeln und seine wunderschönen Augen verfolgen mich in meinen Tagträumen. Daher bemerke ich Pablo erst, als er mit den Unterlagen in den Händen zurückkehrt, immer noch putzmunter.

»So Mäuschen, hier ist das Anmeldeformular. Der Kurs findet freitags um vierzehn Uhr statt und samstags um Zwölf. Die Dauer des Kurses beträgt anderthalb Stunden, genau wie heute. Bring alles unterschrieben mit, um mehr brauchst du dich nicht zu kümmern.« Er drückt mir die Papiere in die Hand, die ich rasch in meiner Tasche verstaue und bedanke mich aufrichtig lächelnd für die sehr unterhaltsame Zeit.

»Bleibt so hübsch, wie ihr seid, meine Engel!«, ruft er uns beiden hinterher, als wir die Hand zum Abschied heben und den kleinen Saal verlassen. Lucia drückt sich mit dem Rücken gegen die Tür, um mich als Erste rauszulassen und ich danke ihr mit einem knappen Nicken.

Im Treppenhaus schwebt nach wie vor der Geruch nach Reinigungsmittel in der Luft, aber nun schwingen unterschiedliche Deo-Düfte mit, die eine süße Note hinterlassen.

»Wenn du willst, begleite ich dich ein Stück«, schlägt die brünette Schönheit vor. Da ich kein Problem damit habe, ihre angenehme Gesellschaft länger in Anspruch zu nehmen, willige ich ein. Ich bin ehrlich gesagt froh darüber, dass sie es mir angeboten hat. Ein Spaziergang zu zweit ist weitaus besser als allein nach Hause gehen zu müssen.

»Und wo wohnst du? Ich will nicht, dass du extra für mich einen Umweg machst«, merke ich an, doch sie macht bloß eine wegwerfende Handbewegung und sieht mich direkt an.

»Nein, nein, dein Zuhause liegt sogar auf dem Weg. Ich mache keinen Umweg und wenn, dann ist das absolut kein Problem. Vielleicht gehe ich spontan shoppen, das wäre nicht das erste Mal.«

Ich muss leise lachen, als sie das sagt, denn damit beschreibt sie das allzu bekannte Problem jeder Frau, die ein Fan von Shopping ist. Man wandert umher, hat deutlich das Ziel vor Augen und zack, schon befindet man sich in einem Laden voller Verführungen. Neben Leander zu schlafen gehört beispielsweise zur unwiderstehlichen Sorte der Verführung; das ist sogar noch schlimmer als ein Kleid nicht kaufen zu können, weil einem das Geld dazu fehlt. Und wieder einmal kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken. Es ist wie verhext.

»Wie lange bist du schon in Deutschland? Du beherrscht die deutsche Sprache ziemlich gut, dafür dass du als Au-Pair nur ein Jahr Zeit hast, um die ganzen Basics zu lernen.«

Überrascht sehe ich Lucia an, denn bisher hat mich noch keiner dafür gelobt. Umso glücklicher macht es mich, dass ihr das aufgefallen ist und dabei kenne ich sie erst seit einer Stunde.

»Inzwischen bin ich seit einem halben Jahr in Hamburg. Bevor ich hergekommen bin, habe ich allerdings an Deutschkursen teilgenommen, um mich nicht völlig zu blamieren. Die deutsche Sprache ist wirklich schwierig« erwidere ich seufzend, woraufhin Lucia ein zustimmendes Geräusch von sich gibt.

»Wem sagst du das… Als meine Familie vor fünfzehn Jahren hierher gezogen ist, habe ich erst einmal die Sprache lernen müssen, bis ich mich endlich getraut habe, irgendjemanden anzusprechen. Anfangs hat man mich ständig aufgezogen, weil man mir meine italienische Herkunft deutlich angemerkt hat, aber mit der Zeit hat sich das gelegt. Jetzt beherrsche ich die Sprache perfekt, weswegen ich oft die Dolmetscherin für meine Eltern spiele. Sie haben immer noch einige Probleme damit«, erzählt sie mir offen und ehrlich, während ich die neuen Informationen über ihre Person sorgfältig abspeichere. Lucia ist also Italienerin, was mich nicht sonderlich überrascht, denn sie hat eine anziehende südländische Aura, die sie ganz natürlich umgibt. Ihre blaugrauen Augen, das seidige dunkelbraune Haar und die leicht gebräunte Haut verleihen ihr ein erfrischendes Auftreten, worum ich sie stark beneide.

»Eltern brauchen sowieso länger, um etwas auf Dauer zu verstehen. Meine Mutter hat immer noch nicht kapiert, dass ich es hasse, wenn sie früh morgens staubsaugt, nachdem ich viel zu spät nach Hause gekommen bin«, kommentiere ich ihre Aussage, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde nicht zuhören. Denn das tue ich. Ich schweife nur schnell mit den Gedanken ab und tauche in die kunterbunte Leander-Welt ein.

Lucia muss bei meinen Worten lachen. »Zum Glück muss ich mir das nicht mehr antun, seitdem ich mit meinem Freund zusammenlebe. Wir wissen genau, was den anderen auf die Palme bringt, deswegen klappt es zwischen uns reibungslos.«

Mich wundert es kein bisschen, dass sie in einer festen Beziehung ist, aber dass sie jetzt schon eine Wohnung mit ihrem Freund teilt… Ist es nicht zu früh dafür?

»Wie lange seid ihr schon ein Paar? Haben deine Eltern nicht protestiert? Mein Vater würde alles tun, um mich stets im Auge zu behalten. Für ihn wäre es die ideale Lösung, mich in ein Kloster zu stecken, damit mich ja kein Mann findet«, teile ich ihr schulterzuckend mit. Für ihn bin ich sein kleiner Engel, den kein Mann auf der Welt verdient hat. Wobei… Was würde er wohl zu Leander sagen? Immerhin ist er mein bester Freund seit vielen, vielen Jahren.

»Sechs Jahre ist es her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Wir haben uns in der Schule kennengelernt, uns sofort angefreundet und mit unserer Clique sehr viel Zeit verbracht. Tja, vor anderthalb Jahren haben wir dann beide gemerkt, dass wir nicht nur Freundschaft füreinander empfinden und so sind wir ein Paar geworden.«

»Du bist also mit deinem besten Freund zusammen?« Ich weiß nicht, ob das Amors Wiedergutmachung für seinen fehlgeschossenen Pfeil sein soll, doch ihre Beziehung gibt mir komischerweise Hoffnung.

»Ja, so ist es. Durch die Höhen und Tiefen, die wir während unserer Freundschaft erlebt haben, ist das Vertrauen zwischen uns stärker geworden. Kein anderer kennt mich besser als er und genau aus diesem Grund passen wir perfekt zusammen«, gesteht sie errötend und in ihren Augen erkenne ich die Verliebtheit. Sieht man das bei mir auch, wenn ich an Leander denke?

»Und wer von euch beiden hat zuerst gemerkt, dass da Liebe im Spiel ist?«, hake ich interessiert nach und hebe entschuldigend eine Hand. »Wenn ich fragen darf…«, füge ich hinzu, damit ich nicht allzu neugierig wirke.

Lucia lacht leise und wendet verträumt aufseufzend den Blick ab.

»Er hat mir seine Gefühle gestanden, als wir an meinem Geburtstag allein waren. Wir sind zu unserem Lieblingsort gegangen, haben uns ganz normal unterhalten und dann hat er mich plötzlich geküsst. Einfach so, ohne ein Wort zu sagen.« Sie verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Du musst wissen… Georg war damals ein schüchterner Junge, obwohl er ein hübscher Kerl ist. Und das sage ich nicht nur, weil ich seine Freundin bin. Er hat nicht viele Beziehungen gehabt, weil die meisten Mädchen ihn als zu nett abgestempelt haben, aber weil ich ihn seit vielen Jahren kenne, weiß ich, was für ein toller Fang er ist. Er bringt mich immer zu Lachen und das liebe ich an ihm.«

Normalerweise bin ich kein Fan von Neid, aber die süße Kurzfassung ihrer erblühten Liebe verursacht einen schmerzvollen Stich in meiner Brust. Wie eine spitze Nadel sticht dieses ekelhafte Gefühl mehrmals in mein hoffnungslos verliebtes Herz, wogegen ich mich nicht wehren kann. Das ist einfach nicht fair. Ihr bester Freund verliebt sich in sie, gesteht ihr seine Liebe und alles ist gut. Er überwindet sogar seine Schüchternheit und setzt alles auf eine Karte, Ängste hin oder her.

Plötzlich macht es Klick in meinem Kopf. Was, wenn dieser Georg die Parallele zu mir ist? Er ist schüchtern, hatte nur sehr wenige feste Freundinnen gehabt und hat dennoch das Mädchen seiner Träume erobert. Soll ich seinem guten Beispiel folgen? Soll ich Leander meine wahren Gefühle offenbaren? Schaffe ich das überhaupt?

»Jetzt hab ich aber genug von mir erzählt, ich will mehr über dich erfahren. Woher kommst du genau? Studierst du? Hast du Geschwister? Hast du auch einen Freund?« Lucia rattert ihre Fragen runter, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie scheint im Gegensatz zu mir ein sehr extrovertierter, selbstbewusster Mensch zu sein.

»Also, nun ja, ich komme aus Brisbane, studiere Crossmedia Design, habe einen jüngeren Bruder namens Philipp und bin Single«, fasse ich mich kurz, wobei ich darauf achte, nicht allzu enttäuscht zu klingen. Leander hat einen immensen Einfluss auf meine Gefühlswelt, was mir langsam auf die Nerven geht. Kann ich nicht an etwas denken, ohne gleich an seinen wundervollen Charakter und an sein attraktives Aussehen erinnert zu werden?

»Crossmedia Design? Das klingt sehr interessant, was lernt man in dem Studiengang?«

Ich bin erleichtert darüber, dass sie nicht auf das Thema Beziehung eingeht, denn das wäre mir unangenehm gewesen. Für sie mag es zwar kein Hindernis zu sein, offen über ihren Freund zu sprechen, aber bei mir ist das eine sensible Ader, die geradewegs durch mein Herz fließt. Die leandrische Ader, wie ich sie gern nenne.

»In Crossmedia Design beschäftigt man sich mit den neuesten technischen Entwicklungen, beispielsweise betreibt man bestimmte Trendforschungen. Außerdem lernt man einiges über mobile Formate, Unternehmenskommunikation und Social Media. Wie muss ein Flyer aussehen, um so viele Menschen wie möglich anzusprechen? Mit solchen Fragen wird man in diesem Studiengang konfrontiert und es macht wahnsinnig viel Spaß der eigenen Fantasie freien Lauf zu lassen. Natürlich befindet man sich in direkter Konkurrenz mit den Mitstudenten, weil man die besseren Ideen haben möchte, aber mit der Zeit gewöhnt man sich an diese Art von Druck«, erkläre ich ihr begeistert, denn es bereitet mir Freude, wenn Menschen Interesse an meinem Studium zeigen.

Lucia merkt mir meine Leidenschaft für dieses Gebiet sofort an.

»Ich finde es super, dass du etwas gefunden hast, was dich brennend interessiert und auch Spaß macht. Heutzutage wissen viele nicht, was sie aus ihrem Leben machen sollen und das ist echt traurig. Auch ich habe mit Eventmanagement die richtige Wahl getroffen.«

Ich an ihrer Stelle hätte dieses Gebiet nie in Erwägung gezogen, weil das für meinen Geschmack zu viel Organisation und Menschenkontakt bedeutet. Demnach passt dieser Studiengang perfekt zu ihr, weil sie bisher einen besonders aufgeschlossenen und geselligen Eindruck gemacht hat. Außerdem kann ich mir sehr gut vorstellen, wie unnachgiebig Lucia werden kann, sollte mal etwas nicht nach Plan ablaufen. Hinter diesen unschuldigen, blaugrauen Augen verbirgt sich ein durchsetzungsfähiger Charakter, davon bin ich überzeugt.

»Und was willst du machen, nachdem du…« Der Klingelton meines Smartphones unterbricht mich in meiner Frage und ich werfe meiner neuen Bekanntschaft einen entschuldigenden Blick zu. »Mein Bruder«, informiere ich sie, kurz bevor ich das Gespräch annehme, indem ich mit dem Daumen über das Display streiche.

»Schämst du dich eigentlich nicht? Ich warte seit Stunden darauf, dass du mir endlich auf Whats App antwortest, aber bisher habe ich kein Lebenszeichen erhalten. Vermisst du deinen kleinen Bruder nicht? Ich bin bestürzt…«, ertönt sogleich Philipps Stimme, der den strengen Tonfall unserer Mutter nachahmt.

Ich pruste los. »Du wirst ja immer besser darin, Mom nachzuäffen. Lass dich aber bloß nicht dabei erwischen, sonst erlaubt sie dir nicht mehr, deine ach so geliebte PS4 zu benutzen«, necke ich meinen Bruder, der mehrmals nach Luft schnappt. Mein Blick fällt auf Lucia, die ebenfalls ihr Handy hervorgeholt hat und schnell etwas eintippt. Sie sieht kurz auf, schenkt mir ein breites Lächeln und widmet sich wieder dem Verfassen von Nachrichten.

»Mom weiß, wie abhängig ich von meiner Konsole bin. Sie wird es nicht wagen, meinen einzigen Lebenssinn zu stehlen. Das würde mich umbringen und das weißt du.« Ich verdrehe die Augen, als er dermaßen übertreibt, aber so kenne ich ihn eben. Er zockt sein Leben lang und es gibt kein Spiel, welches er nicht bis zum Ende durchgespielt hat. Manchmal mache ich mir Sorgen um seinen übermäßigen Spielkonsum, jedoch haben seine Noten bisher nicht darunter gelitten, was jeden in unserer Familie beruhigt.

»Jaja, wir alle wissen, wie sehr du deine PS4 liebst. Also, warum rufst du an? Sicherlich nicht, um mir zu sagen, dass du mich vermisst. Mom hat mir letztens erzählt, dass sie dich in meinem Zimmer erwischt hat. Was hast du mit meiner Schminke vorgehabt? Wehe, du hast sie an deine weiblichen Bekanntschaften verschenkt, dann bringe ich dich um.« Fast hätte ich das Gespräch mit meiner Mutter vergessen, aber zum Glück sind mir ihre Worte in diesem Moment eingefallen. Philipp stößt frustriert Luft aus.

»Hey, was ist bloß los mit euch Frauen? Ich habe extra mein Zimmer aufgeräumt, damit Mom den Mund hält, aber nein… Sie verpfeift mich hinter meinem Rücken. Schade, dass Dad mich nicht erwischt hat. Er hätte sich an den Deal gehalten«, beschwert er sich schnaubend. Ich kann hören, wie eine weibliche Stimme im Hintergrund laut wird und ich weiß sofort, dass es sich hierbei um unsere Mutter handelt.

»Ja, es ist Evanthia und nein, ich gebe sie dir nicht. Du hast mich eiskalt verpetzt, obwohl ich ganz brav mein Zimmer aufgeräumt habe. Ich habe sogar meine Unterwäsche gefaltet!«

Also das reißt mich wahrhaftig vom Hocker. Ich bin kurz davor in bellendes Gelächter auszubrechen, schaffe es jedoch mich zusammenzureißen. Mitten in der Stadt einen Lachanfall zu bekommen, erregt Aufmerksamkeit und das möchte ich nicht.

Als Lucia mich am Arm berührt, sehe ich sie überrascht an. „Ich muss gehen“ formt sie mit den Lippen, winkt dabei mit dem Handy in der Hand. Augenblicklich macht sich Enttäuschung in mir breit, denn hätte mich gerne noch länger mit ihr unterhalten. Dennoch akzeptiere ich die natürlich, dass sie keine Zeit mehr hat und so erwidere ich ihre Umarmung, ehe sie mir ein Küsschen auf beide Wangen gibt. Mit solch einer Verabschiedung habe ich nicht gerechnet, aber der Gedanke daran, eine potenzielle Freundin gefunden zu haben, stimmt mich heiter. Hoffentlich hält sie mich nicht für unhöflich, weil ich den Anruf angenommen habe.

»Vanny, hörst du mir zu? Hallo?« Philipps Stimme dringt lautstark in mein Ohr und ich entschuldige mich für meine Unaufmerksamkeit, während ich mich in Bewegung setze. »Sorry, ich habe mich gerade von einer Bekannten verabschiedet. Was wolltest du sagen?«

»Eine Bekannte? Welche Bekannte? Nicht die heißen Zwillinge, oder?«

War ja klar, dass mein Bruder sofort an die beiden Blondinen denkt. Seitdem ich ihm ein Bild von uns dreien in Kleidern geschickt habe, kann er nicht aufhören, mich über sie auszufragen. Auf Dauer ist das nervtötend, weshalb ich nicht auf seine Anspielung eingehe, um ihm keinen Grund zum Schmachten zu geben.

»Ihr Name ist Lucia und ich habe sie in einem Kurs kennengelernt. Mehr brauchst du nicht zu wissen und nein, ich schicke dir kein Bild von ihr. Sie hat schon einen Freund und ist viel zu reif für dich«, stelle ich klar.

Auch wenn ich meinen Bruder über alles liebe, dulde ich seine unersättliche Libido nicht, die sich jedes Mal bemerkbar macht, sobald ich eine neue Freundin finde. Zwar begehrt er Frauen nicht annähernd so sehr, wie seine heißgeliebte PS4, doch manchmal kann er den Reizen einer Frau nicht widerstehen – meistens leiden dann zu meinem Missfallen meine Freundinnen darunter.

»Na gut, ich sag nichts mehr dazu. Sowieso wollte ich dich nur um einen Rat bitten, weil ich dringend Hilfe benötige. Lilian hat übermorgen Geburtstag und ich habe keine Ahnung, was ich ihr schenken soll. Ihr Frauen seid mir einfach zu kompliziert und mir fällt einfach nichts Gutes ein«, beschwert er sich verdrossen.

Soso, mein Bruder braucht also Hilfe beim Aussuchen eines Geschenks für seine aktuelle Freundin, die ich nicht einmal kenne, weil er sie erst vor kurzem kennengelernt hat. Unwillkürlich verspüre ich den Drang, ihm eins auszuwischen und ihn mit seinem Problem allein zu lassen, weil er meistens damit prahlt, er könnte Frauen nach nur einem Treffen locker durchschauen. Allerdings gelingt ihm das nicht immer, so wie jetzt.

»Wie du weißt, kostet dich dieser Rat etwas, Brüderchen. Nichts ist umsonst.«

6

Nachdem ich meinem Bruder bei der Auswahl des Geschenks geholfen habe, beende ich das Gespräch und lasse mein Handy in meine Tasche gleiten. Die Fußgängerampel springt sogleich auf Grün und ich überquere eilig die Straße, ohne die Menschen um mich herum zu beachten. Ich will einfach nur nach Hause, mich unter die Dusche stellen und lauwarmes Wasser über meine Haut prasseln lassen. Ich sehne mich nach einer Dusche, denn sollte ich erneut überraschenden Besuch bekommen, will ich nicht unangenehm stinken.

Als ich wenig später die Wohnung betrete, fällt mir zuerst auf, dass niemand da ist. Keine Marion, keine Zwillinge. Ein Glücksfall. So kann ich in Ruhe etwas essen und anschließend ins Bad gehen, ohne dass mich die Mädchen mit ihrer Ungeduld nerven, weil ich angeblich zu lange dusche. Ich hab das Badezimmer ganz allein für mich, worüber ich mich sehr freue.

Gut gelaunt schlurfe ich in mein Zimmer, stelle die Tasche neben dem Bett ab und begebe mich hinterher in die Küche, in der es nach Marions frisch zubereiteter Lasagne duftet. Ich vergöttere ihre Kochkünste, schmachte sie für ihr Können regelrecht an. Wohlig seufzend inhaliere ich den herrlichen Geruch, nachdem ich ein Stück auf einen flachen Teller platziert und diesen mit knurrendem Magen ins Esszimmer getragen habe. Dann setze ich mich hin und schalte den Fernseher ein, um nebenher etwas Musik zu hören.

»Was für ein Zufall…«, murmele ich kopfschüttelnd, als der Hit der Imperial Five durch die Lautsprecher dringt. Ein Ohrwurm, den man schwer loswird.

Der Song heißt Everybody wants somebody und ist einer der Tracks, die die Gruppe vor kurzem veröffentlicht hat. Automatisch summe ich die Melodie des Liedes mit, während ich Bissen für Bissen die Lasagne verputze. In diesem Moment fühle ich mich besser als zuvor. Leckeres Essen, verdammt gute Musik und Tagträume, die nur von Leander handeln. Was sonst?

Geistesabwesend betrachte ich den leeren Teller und lausche der kraftvollen Stimme meines besten Freundes. Jedes Mal, wenn sein Part kommt, bleibt die Zeit stehen. Meine Welt kommt zum Stillstand, nur um diesen kurzweiligen besonderen Moment genießen zu können. Ich schließe die Augen, stelle mir sein engelsgleiches Gesicht vor und sehe ihm in meiner Fantasie dabei zu, wie er jedes Wort mit voller Inbrunst singt. Er ist ein hervorragender Sänger mit einer gottesgleichen Stimme, der man nur verfallen kann. Daher bin ich ein klein wenig enttäuscht, als Sireno weitersingt und mir damit meinen Tagtraum zerstört.

Ich öffne die Augen wieder, nehme den leeren Teller in die Hand und schalte den Fernseher kurzerhand aus. Genug gehört. Ich muss jetzt duschen, bevor die Zwillinge auftauchen und meine Ruhe stören. Denn das werden sie, weil sie immer etwas Wichtiges zu sagen haben.

Letztens haben sie mich stundenlang über Markenklamotten und Sonderangebote im Einkaufszentrum bequatscht, was mich absolut nicht interessiert hat. Natürlich habe ich ihnen zugehört und brav genickt, aber letztendlich bin ich eingeschlafen. Auf meinem Bett, in meine Decke eingekuschelt, die nach Leander gerochen hat.

Es ist beinahe schockierend, dass mich fast alles in meiner Umgebung an meinen besten Freund erinnert. Selbst als ich den Wandschrank öffne, um frische Kleidung auszusuchen, frage ich mich, was er wohl zu dem Kleid sagen würde, welches ich heute auf der Party tragen werde. Offenbar kommt er nicht mit, weil er mir heute noch kein einziges Mal geschrieben hat. Noch eine Sache, die mich stört. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Funkstille zwischen uns herrscht, wenngleich mir sein voller Stundenplan leider bestens bekannt ist. Hör endlich auf dauernd an ihn zu denken, Evanthia!

Frustriert verlagere ich die Kleidung auf meinen linken Arm, damit ich mit der freien Hand mein Handy aus der Tasche fischen und anschließend ins Bad gehen kann. Bevor mich die Zwillinge dazu gebracht haben, Musik während des Zähneputzens zu hören, hatte ich bereits den Tick, unter der Dusche zu den Songs auf meiner Playlist zu singen. Manchmal tanze ich sogar dazu, aber nur, wenn ich gute Laune habe. Weil das nicht der Fall ist, entscheide ich mich für ein Lied mit langsamem Beat und angemessenem Rhythmus. Bird Set Free von Sia ist der ideale Track, um sich in fremden Welten zu verlieren.

Leise summend entkleide ich mich und platziere meine Klamotten auf einem niedrigen Hocker neben der Duschkabine. Dort lege ich auch mein Handy hin, um im Notfall danach greifen zu können, falls mich jemand anruft. Erst dann gehe unter die Dusche, drehe das Wasser auf und atme entspannt aus, als mich das lauwarme Nass einhüllt. Ich spüre, wie sich meine angespannte Muskulatur lockert. Nach den anderthalb Stunden Pole Dance habe ich geglaubt, keinen Finger mehr krümmen zu können, aber ob ich schlimmeren Muskelkater bekommen werde, wird sich morgen zeigen. Hoffentlich bleibt mir das erspart.

Nach fünfzehnminütiger Träumerei drehe ich das Wasser wieder ab, trockne mich mit einem flauschigen Handtuch ab und schlüpfe in ein knielanges Oberteil, welches Leander mir kurz nach seinem ersten durschlagenden Erfolg geschenkt hat. Er weiß, dass ich eine Schwäche für lange Pullover habe, in die ich mich einkuscheln kann, wenn ich mir einen gemütlichen Abend machen will. Dieses Mal habe ich es angezogen, weil ich seinen vertrauten Duft vermisst habe, der schwach im Stoff verwoben ist.

»Evanthia? Bist du da?«, höre ich plötzlich Julia rufen, die mich aus meiner Leander-Welt reißt.

Ernüchtert schalte ich die Musik aus und öffne die Badezimmertür, um meinen Kopf in den Flur zu strecken. »Ja, ich bin da. Ich habe gerade geduscht. Wo seid ihr die ganze Zeit gewesen?«

Selbstverständlich ist es unnötig das zu fragen, denn die offensichtliche Antwort steckt in den Einkaufstaschen der beiden. Sie grinsen mich breit an, heben die Arme hoch und schwenken ihre Beute freudestrahlend hin und her, ehe sie in ihr Zimmer verschwinden, um womöglich alles auszupacken. Manchmal frage ich mich, wie sie es schaffen, dermaßen viel einzukaufen, wenn sie nicht einmal einen Nebenjob haben, um die vielen Ausgaben auszugleichen. Marions Geldbeutel tut mir in dieser Hinsicht leid. Alleinerziehung ist kein Zuckerschlecken.

»Hast du irgendwas von den Jungs erfahren? Kommen sie zu der Party heute Abend?« Diesmal ist es Hanna, die das Wort ergreift, doch ich tue so, als hätte ich ihre Frage nicht gehört und schalte stattdessen den Föhn ein. Leander hat mir nach wie vor nicht geschrieben, was mich ein bisschen stutzig macht. Hat er es vergessen oder hat er Wichtigeres zu erledigen? Einerseits will ich, dass er mitkommt, weil ich seine Gesellschaft liebe, andererseits fürchte ich mich jedoch vor der Eifersucht, die explosionsartig entflammen wird, sobald sich die Weiber ihm an den Hals schmeißen. Denn das wird passieren, hundertprozentig.

So langsam bin ich es satt, ständig an ihn zu denken, aber ich kann leider nichts dagegen tun. Somit verfluche ich Amor zum tausendsten Mal, als ich den Föhn beiseitelege und mich um mein pechschwarzes Haar kümmere. Ich kann von Glück sprechen, dass die finstere Schwärze nach dem Duschen leicht zu kämmen ist. Die Zwillinge haben es da wesentlich schwieriger. Ihr dünnes Haar braucht viel mehr Pflege als meines, weshalb es ausnahmsweise Mal etwas gibt, was ich nicht an mir zu bemängeln habe.

»Evanthia? Hast du mich gehört?« Hanna klingt definitiv ungeduldig, also antworte ich lieber schnell, um zu verhindern, dass sie sich zu einem zickigen Drachen verwandelt. Sie verabscheut es, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit schenkt. Julia hingegen sieht einige Dinge viel lockerer als ihre ältere Schwester. Eine Viertelstunde kann wohl doch so Einiges bewirken.

»Ja, ich habe dich gehört und nein, die Jungs werden nicht kommen. Jedenfalls hat Leander mir nicht geschrieben und meistens heißt das, dass sie keine Zeit haben«, rufe ich zurück, während ich nach dem Lockenstab greife und mit der ersten Strähne beginne. Es ist eine spontane Entscheidung. Stehen mir Locken überhaupt? Naja, einen Versuch ist es wert. Hanna und Julia werden sowieso besser aussehen.

»Meistens?«, hakt Hanna neugierig nach, woraufhin ich die Augen verdrehe. Jetzt muss ich schon auf meine Wortwahl achten…

»Ich meine immer, immer wollte ich sagen«, korrigiere ich mich und hoffe, dass sich das Thema Imperial Five somit erledigt hat. Warum schreibt Leander nicht? Hat er ernsthaft so viel zu tun, dass er nicht einmal seiner besten Freundin ein wenig Zeit widmen kann? Allmählich klinge ich wirklich weinerlich, schießt es mir durch den Kopf, als ich zum wiederholten Mal auf mein Handy schiele. Es bleibt stumm.

 

Zehn Minuten später vergesse ich meinen Frust, denn ich muss mit den Zwillingen den Badezimmerspiegel teilen, während sie ununterbrochen plappern. Julia auf der einen Seite, Hanna auf der anderen. Zunächst haben sie mich auf den neuesten Stand gebracht, was Promiklatsch und Musikneuerscheinungen betrifft, nur um mich daraufhin mit Schminktipps zu belehren. An sich habe ich alles Wichtige, was eine Frau braucht, um sich hübsch zu machen, aber die Schwestern scheinen da ganz anderer Meinung zu sein.

Nachdem sie mit sich selbst fertig geworden sind, drehen sie sich zu mir um, sodass ich zwischen ihnen gefangen bin. An Flucht ist nicht zu denken.

»Du hast zwar ein Händchen dafür, gerade Linien mit dem Eyeliner zu ziehen, aber was deine Augenbrauen betrifft, da müssen einige Härchen dran glauben.« Ehe ich protestieren kann, schnappt sich Hanna die kleine silberne Pinzette und beginnt mit der schmerzhaften Prozedur. Eine kleine Träne, die sich in meinen Augenwinkel stiehlt, kann ich mir dabei nicht verkneifen. Was für ein Schmerz! Warum tun wir Frauen uns das bloß an? Was haben wir davon?

Augenblicklich erscheint Leander vor meinem inneren Auge und ich seufze leise auf. Natürlich, wie habe ich das vergessen können? Wir machen uns den ganzen Stress nur, um den Männern zu gefallen. In meinem Fall ist das Leander, das heißeste Mitglied der Überflieger-Boygroup.

»Der letzte Schliff und voilà, beide Augenbrauen sehen perfekt aus.« Abwechselnd schauen sich die beiden meine gezupften Brauen an und nicken zufrieden.

Wenigstens lassen sie mich jetzt in Ruhe, damit ich meine Locken einsprühen kann, um sie in ihrem Halt zu unterstützen. Zwar bin ich kein Fan von Sprayprodukten, da ich das meiste über die Luft verschlucke, jedoch lässt sich das nicht vermeiden, wenn man ein ideales Bild nach außen abgeben will.

»Mädchen, seid ihr alle da?«, ertönt Marions Stimme, die den Schlüssel aus dem Schloss zieht und die Wohnungstür schließt. Wir bejahen gleichzeitig.

»Warum seid ihr im Bad? Geht ihr heute Abend aus?« Mit vor Neugier funkelnden Augen taucht meine Gastmutter im Türrahmen auf und mustert uns von oben bis unten. »Ihr habt euch ja noch gar nicht umgezogen, das ist aber schade. Trotzdem seht ihr alle fabelhaft aus. Oh, Evanthia, dir stehen die Locken ausgezeichnet.«

Sofort heben sich meine Mundwinkel zu einem verlegenen Lächeln und ich bedanke mich kleinlaut für das Kompliment. Es freut mich, dass meine neue Frisur gut ankommt, obwohl ich weiß, dass Marion nie an Liebenswürdigkeiten spart. Sie gehört zu den Menschen, die stets das Gute suchen und mit buntem Konfetti um sich schmeißen.

»Und was ist mit uns?«, meldet sich Julia empört zu Wort, die sich zuvor die Augen geschminkt hat und nun die Hände in die Hüften stemmt.

»Ihr wisst ganz genau, was ich von euch halte. Ihr seid die schönsten Mädchen der Welt und ich liebe euch über alles. Deswegen passt mir ja auf, wenn ihr in den Club geht und den Jungs den Kopf verdreht. Immerhin ist Evanthia da, um ein Auge auf euch zu haben.« Marion zwinkert mir verschwörerisch zu, woraufhin die Zwillinge schnaubend die Augen verdrehen. Die Überfürsorge ihrer Mutter geht ihnen gehörig auf die Nerven, doch sie beschweren sich nicht. Eine Mutter hört nie auf, sich um ihre Kinder zu sorgen, also behalten sie ihre pubertären Kommentare für sich.

»Ist es ok, wenn ich dein Auto nehme, um uns zum Club zu fahren?«, frage ich die Chefin um Erlaubnis.

»Klar, kein Problem. Mir reicht es, wenn ihr vorsichtig fahrt, keinen Alkohol im Auto trinkt und verrückte Fahrmanöver unterlasst.«

Ich hebe einverstanden den Daumen und verlasse als Erste das Bad, um endlich mein Kleid anzuziehen. Vor einer Woche habe ich es einsam und verlassen im Schaufenster hängen sehen und zack, hat es sich in meinem Kleiderschrank wiedergefunden.

Es ist ein wunderschönes, knielanges Kleid in einem nachtblauen Farbton, der meiner blassen Haut schmeichelt. Da ich bedauerlicherweise dank des schlechten Wetters in Hamburg meine Sommerbräune verloren habe, muss ich auf auffallende Farben verzichten, was mich aber nicht allzu sehr enttäuscht. So oder so sind die meisten Menschen hier im Norden Deutschlands sehr hellhäutig, beispielsweise Marion und die Zwillinge. Blass, blond und blauäugig. Noch heller geht es kaum.

Vorsichtig schlüpfe ich in den anschmiegsamen Stoff und zupfe an den Stellen, die noch nicht perfekt auf meiner Haut sitzen. Erst als ich vollkommen zufrieden bin, wage ich es, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Im ersten Augenblick bin ich verblüfft, da mich das Kleid relativ schlank erscheinen lässt. Ich drehe mich zur Seite, mustere meinen Hintern und fahre mit der Hand nachdenklich drüber. Hm, sieht gar nicht übel aus. Was mein Hinterteil betrifft, bin ich immer recht skeptisch, aber in diesem Kleid kommt er sogar positiv zur Geltung. Erneut drehe ich mich zum Spiegel hin, begutachte mein Äußeres und setze ein fröhliches Lächeln auf.

»Evanthia, wow, das Kleid steht dir super. Wann hast du dir das denn gekauft? Das hast du uns gar nicht gezeigt.« Als Julia die Schranktür schließt, sodass mir der Blick in den Spiegel verwehrt bleibt, zucke ich überrumpelt zusammen. Ich habe sie nicht kommen gehört.

»Ich habe es mir erst vor einer Woche gekauft. Ist nichts Besonderes…«, murmele ich betreten, während ich mit den Fingern einige Fussel vom Stoff löse. Julia hebt ungläubig eine Augenbraue, verschränkt die Arme vor der Brust und ruft nach ihrer Schwester. Es dauert nicht lange, da betritt eine perfekt gestylte Hanna mein Zimmer, die mich von oben bis unten kritisch in Augenschein nimmt.

»Du siehst verdammt sexy aus. Dreh dich mal um!« fordert mich der ältere Zwilling auf. Widerstandslos drehe ich mich langsam um meine eigene Achse, damit ihnen kein Detail entgeht. Sie haben ziemlich hohe Ansprüche, wenn es darum geht, für eine Party hübsch und verführerisch zugleich auszusehen und obwohl ich einige Jahre älter bin als sie, höre ich mir dennoch ihre besserwisserischen Kommentare an.

»Mama, bringst du mir mal die goldene Kette mit den rechteckigen blauen Steinen, die ich vorgestern gekauft habe? Evanthia braucht sie für ihr Outfit«, ruft Hanna laut, woraufhin ich das Gesicht verziehe.

Diesen Halsschmuck hat sie mir am selben Tag gezeigt, aber mich hat dieses übertrieben auffällige Schmuckstück ganz und gar nicht angesprochen. »Eine Kette ist nicht nötig, meine Ohrringe sind Dekoration genug.«

»Doch, du ziehst sie an. Das Blau passt hervorragend zu dem Farbton deines Kleides, also wird es nicht too much sein. Vertrau uns.«

Gerade will ich etwas erwidern, da taucht Marion mit der golden schimmernden Halskette in der rechten Hand auf. Sie kommt auf mich zu, schiebt mein Haar zur Seite und legt sie mir in aller Ruhe um. Als das kühle Material meine Haut berührt, ziehe ich unwillig die Brauen zusammen.

»Jetzt gibt es nichts mehr zu bemängeln«, sagen die Zwillinge gleichzeitig.

Marion stellt sich neben ihre triumphierend grinsenden Töchter und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Trotz ihrer Hilfe, für die ich ihnen sehr dankbar bin, muss ich mich selbst vergewissern, ob mir die Kette tatsächlich steht. Ansonsten setze ich keinen Fuß vor die Tür.

 

Eine Viertelstunde später hocke ich auf dem Fahrersitz und schalte die Heizung ein, um die Kälte im Inneren des Autos zu vertreiben. Gleich nachdem ich festgestellt habe, dass der Halsschmuck zu mir passt, haben sich die Schwestern in ihr Zimmer verzogen und ihre wichtigen Habseligkeiten in ihren Handtaschen verstaut. Marion hat nebenbei ein Kompliment nach dem anderen ausgesprochen, uns regelrecht mit schönen Worten überhäuft und uns hinterher viel Spaß gewünscht.

Nun sind wir drei jungen Frauen auf dem Weg zum Megaro, dem angesagtesten Club Hamburgs, der erst vor vier Monaten eröffnet worden ist. Bisher sind wir drei Mal dort gewesen; einmal, um den achtzehnten Geburtstag der Schwestern zu feiern und die anderen beiden Male, um einen unvergesslichen Abend zu dritt zu verbringen. Der Club an sich ist modern gehalten, bietet viele Unterhaltungsmöglichkeiten und betreibt zudem einen kleinen Imbiss, der nach Mitternacht gut besucht wird.

»Wir treffen uns mit den Mädels direkt vor dem Eingang. Einige sind schon da, aber wir werden auf jeden Fall nicht als letztes auftauchen. Immerhin befindet sich das Megaro ganz in der Nähe«, teilt Julia uns mit, den Blick auf ihr Handydisplay gerichtet.

Hanna sitzt derweil auf dem Beifahrersitz, übernimmt die Rolle des DJ und dreht den Kopf zu ihrer jüngeren Schwester um. »Dann schreib ihnen, dass wir gleich da sind.«

»Habe ich schon gemacht. Fiona und Selina sind da, es fehlen also nur noch Maria und Anna.« Die beiden kommen immer zu spät. Daher wundert es mich nicht, dass wir alle auf sie warten müssen. Pünktlich zum abgemachten Treffpunkt zu erscheinen, gehört nicht zu ihren Stärken, aber mit der Zeit hat sich die Clique daran gewöhnt. Eine Gruppe bestehend aus sechs Mädels, da ich erst später hinzugekommen bin. Demnach sind wir nun sieben junge Frauen, die diesen Club unsicher machen werden.

»Hoffentlich finden wir einen guten Parkplatz, ich will nicht ohne meine Jacke anstehen müssen. Es ist echt frostig draußen «, beklagt sich Hanna, kurz nachdem ich die Hauptstraße verlassen habe, um eine ewig lange Seitenstraße entlangzufahren.

Rechts und links befinden sich Internetcafés, Imbissbuden, Friseursalons und zwei Shisha-Bars, die noch geöffnet sind. Hier und dort entdecken wir kleine Gruppen, die in diesen Bars verschwinden, während der Großteil der Jugendlichen auf dem Weg zum Club ist. Dabei fallen mir zwei Frauen auf, die extrem hohe Schuhe tragen und keinerlei Schwierigkeiten haben das Gleichgewicht beizubehalten. An ihrer Stelle wäre ich längst auf die Schnauze gefallen, denn die Stiefeletten, die ich trage, sind gerade mal halb so hoch und das will was heißen. Selbst die Zwillinge können auf so hohen Schuhen nicht laufen.

»Puh, da haben wir aber Glück gehabt. Das lange Anstehen können wir uns sparen, da steht kaum einer vor dem Eingang. Dann können wir unsere Jacken im Auto lassen und müssen sie nicht extra zur Garderobe bringen.« Julia beugt sich nach vorne, sodass ihr Kopf mir die Sicht auf Hanna nimmt und ein breites Grinsen umspielt ihre Lippen. Beide Schwestern fiebern der bevorstehenden Party entgegen, weil es lange gedauert hat, einen Termin zu finden, an dem all ihre Freundinnen Zeit haben. Heute ist es so weit.

»Ah, und gleich da vorn gibt es einen freien Parkplatz«, stelle ich erleichtert fest und passiere die Sicherheitsmänner, die einen prüfenden Blick ins Wageninnere werfen. Da kein Mann unter uns ist, dürfen wir die Frauenparkplätze besetzen, was wieder einmal verdeutlicht, dass das Dasein als Frau viele Vorteile mit sich bringt.

»Der eine Security-Kerl hat verdammt heiß ausgesehen, findet ihr nicht auch?« Julia sieht uns abwechselnd an und gemeinsam prusten wir los.

7

» Zuallererst muss ich aufs Klo, dann können wir uns was zum Trinken holen«, schlägt Fiona vor, die in ihrem aufreizenden schwarzen Kleid eine sehr gute Figur macht. Ihre langen, schlanken Beine ziehen so einige Männerblicke auf sich, jedoch scheint sie davon keine Notiz zu nehmen.

»Wir können uns auch aufteilen. Der eine Teil bestellt die Getränke, während die anderen zu den Toiletten gehen.« Fragend sehe ich die anderen Mädels an, die die wenigen Stufen hinaufgehen, während Fiona bereits an der Kasse steht und ihren Eintritt bezahlt.

»Gute Idee, so machen wir es«, stimmt Maria zu, die lächelnd die Hand ihrer Freundin Anna hält. Jedes Mal, wenn ich die beiden treffe, fühle ich mich beklommen, da ich noch nie zuvor einem lesbischen Paar begegnet bin und aus diesem Grund weiß ich nicht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll. Mögen sie bestimmte Dinge nicht? Manchmal frage ich mich, warum ich mir solche Gedanken macheKopfschüttelnd erklimme ich die letzte Stufe, ohne mit den Absätzen über meine eigenen Füße zu stolpern. Jetzt kann es losgehen.

»Oh, oh, für meinen Geschmack sind hier viel zu viele gutaussehende Typen«, bemerkt Julia und folgt mir zu Kasse, damit ich für uns drei zahlen kann. Da sie in letzter Zeit übermäßig Geld für Klamotten ausgegeben haben, haben sie mich regelrecht angefleht, die Kosten für den Eintritt zu übernehmen. Mit diesen Hundeaugen, denen man nicht widerstehen kann.

»Wir sind nicht einmal richtig drinnen und schon fängst du mit der Schwärmerei an. Schalt mal einen Gang runter, Jule«, meint Selina augenrollend, ihre Mundwinkel zu einem frechen Lächeln verzogen.

Von all den sieben Mädchen, die gemeinsam diese interessante Clique bilden, mag ich Selina am liebsten. Sie ist frech, selbstbewusst und reißt hin und wieder verdammt gute Witze. Im Gegensatz zu mir steht sie voll und ganz zu ihrem Körper, auch wenn sie einige Kilos mehr auf den Rippen hat. Sie weiß, wie sie sich zu präsentieren hat und kümmert sich nicht um die Meinung anderer. Ich kann das leider nicht.

Kaum betreten wir den Eingangsbereich, der rappelvoll ist, fühle ich mich beengt und klein. Ich leide zwar nicht an Klaustrophobie, jedoch stört es mich gewaltig, wenn mich fremde Menschen berühren. Vor allem diejenigen, die entweder stark schwitzen oder eine Weile nicht mehr geduscht haben. Das passiert nicht selten, nicht in einem Club, in dem getanzt wird.

»Sollen wir die Getränke holen? Die anderen sind schon verschwunden.« Ich habe nicht gemerkt, dass sich die Gruppe in weniger als einer Minute aufgeteilt hat, weswegen ich Maria zunächst irritiert ansehe. Dabei muss ich den Kopf leicht in den Nacken legen, weil sie mit ihrer Größe sogar einige Männer in unserer Umgebung überragt.

»Ja, lass uns bestellen. Bis die Getränke fertig sind, ist der Rest wieder da«, erwidere ich und begleite sie zur Bar. Anna stößt sogleich zu uns, nachdem sie ihre Handtasche an der Garderobe abgegeben hat, um jeglichen Ballast loszuwerden.

»Und? Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, erkundigt sich Anna interessiert und stellt sich hinter ihre Partnerin, die es problemlos schafft, den Barkeeper trotz lauter Geräuschkulisse zu sich rufen.

»Mir geht es gut, der übliche Alltag eben. Kaum zu glauben, dass bereits ein halbes Jahr vorbei ist. Die Zeit vergeht wie im Flug.« Demnach bleibt mir ein weiteres halbes Jahr als Au-Pair und irgendwie macht mich das traurig und glücklich zugleich. Ich werde zwar meine Familie wiedersehen und die Sonne in vollen Zügen genießen können, aber trotzdem meine neuen Freunde aus Hamburg sehr vermissen. Wäre Brisbane doch nur um die Ecke…

»Da hast du Recht. Es ist schade, dass du uns dann wieder verlassen musst, aber deswegen treffen wir uns ja regelmäßig, um ganz viele tolle Erinnerungen zu schaffen. Also…« Anna unterbricht ihre rührenden Worte, um Maria mit den Bestellungen zu helfen und reicht zwei mit Wasser gefüllte Gläser an mich weiter, »…trinken wir jetzt auf einen schönen gemeinsamen Abend. Die anderen kommen gerade.«

Augenblicklich drehe ich mich zum Rest der Gruppe um, drücke Selina ihr Glas Wasser in die Hand und hebe meines in die Höhe. Die anderen machen es mir nach.

»Dann lasst uns mal den Club gehörig auf den Kopf stellen. Auf einen unvergesslichen Abend!« Fiona, die eine Art Anführerin der Gruppe ist, grinst in die Runde und stößt mit uns allen an. Die gute Laune ist deutlich zu spüren, das beklemmende Gefühl ist verschwunden.

Ich nehme einen Schluck von meinem kühlen Wasser und folge den anderen, die es kaum erwarten können, das Tanzbein zu schwingen. Dafür müssen wir an der Bar im Eingangsbereich vorbeigehen, uns zwischen kleinen Menschenmengen durchquetschen und durch eine geöffnete Doppeltür treten. Der Bass der Soundanlagen vibriert in meiner Brust, sobald wir den DJ-Bereich umrunden und ich umklammere das Glas Wasser fester, um es nicht versehentlich über jemanden zu schütten.

»Die Musik ist mal wieder top!« ruft Selina laut, die direkt hinter mir steht. Ihre weißen Sneakers leuchten bunt auf, als die verschiedenfarbigen Scheinwerfer umherschwenken und ich nicke zustimmend. Die Besitzer dieses Clubs haben mehrmals bewiesen, dass sie ein Händchen für die Auswahl ihrer DJs haben. Denn die sorgen mit ihrer Musik stets für eine anregende Stimmung. So auch heute.

Unwillkürlich beginnen meine Finger im Takt der Musik auf das Glas zu trommeln, während ich leise mitsinge. Fiona hat inzwischen einen geeigneten Platz für unsere große Gruppe gefunden; zwischen den Treppen, die hinauf zur Bar führen und dem DJ-Bereich, der auf einer dunkelrot erleuchteten Erhöhung steht. Über uns befinden sich flache Glasplatten, die wie ein Schachbrett die schwarze Decke schmücken und die verschiedenfarbigen Lichteffekte reflektieren.

Genau zu diesem Zeitpunkt trifft mich das helle, flackernde Licht, das mich kurzerhand blendet. Ich kneife instinktiv die Augen zu, gehe einen Schritt zur Seite und schaue zu Selina, die genervt dreinblickt. Hinter ihr wackeln zwei Mädchen betont anzüglich mit den Hintern und prallen dabei wiederholte Male gegen sie. Ich schenke ihr einen mitfühlenden Blick, den sie mit einem schwachen Lächeln erwidert. Maria und Anna sind mittlerweile in ihrer eigenen Welt. Sie tanzen eng umschlungen miteinander, was den einen oder anderen Mann völlig aus dem Konzept bringt. Ein kleiner Haufen testosterongesteuerter Kerle beobachtet die beiden von den Treppen aus, ihr dreckiges Grinsen ist bis hundert Meter gegen das Licht zu erkennen. Ich unterdrücke ein empörtes Schnauben.

»Lächeln nicht vergessen!«, höre ich Hannas Stimme nah an meinem Ohr, woraufhin meine Mundwinkel nach oben zucken.

Schon wieder bin ich mit den Gedanken in eine unangenehme Richtung abgedriftet. Ich schüttle den Kopf, um mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und lasse die Musik auf mich wirken. Der Bass, der quer durch den großen Raum vibriert, erfüllt mich und bringt mich dazu, frei und gedankenlos zu tanzen. Hin und wieder nippe ich an meinem Glas Wasser, um meine trockene Kehle zu erfrischen – bis Selina es mir einfach aus der Hand nimmt.

»Ich bringe die Gläser zur Bar, möchtest du noch was haben? Das nächste Getränk geht auf mich.« Dankbar lächelnd lehne ich ab und sehe zu, wie sie sich einen Weg zur Bar erkämpft, indem sie unverfroren ihre Ellbogen einsetzt.

Der Raum füllt sich mit noch mehr Menschen und so steigt die Temperatur mit jeder verstreichenden Minute an. Mit der rechten Hand fächele ich mir Luft zu, tanze weiter und lasse meinen Blick umherschweifen. Der schicke VIP-Bereich sticht mir dabei als Erstes ins Auge. Insgesamt gibt es drei private Lounges, die über vier Treppenstufen zu erreichen sind und sich hinter einer auffälligen, modern gehaltenen Getränkeinsel befinden. Als Absperrung dienen zwei in schwarz gekleidete Bodyguards und hüfthohe silberne Ständer, zwischen denen ein kirschrotes Segeltuch gespannt ist.

Plötzlich entdecke ich eine vertraute Gestalt, die hinter einem schwarzen Vorhang verschwindet. Manche VIPs wollen verständlicherweise ihre Ruhe haben, jedoch frage ich mich, wer wohl diese Person war. Irgendwie habe ich das Gefühl diesen dunklen Schopf schon einmal gesehen zu haben. Mir will nur nicht einfallen, wo und wann.

»Sorry Evanthia, ich muss kurz vorbei«, höre ich Fiona dicht an meinem Ohr sagen, als sie sich daraufhin in ihrem hautengen Kleid an mir vorbeischiebt, damit sie zu ihrem neuen Verehrer eilen kann. Der Typ wirft ihr einen anzüglichen Blick zu, die Lippen zu einem wölfischen Grinsen verzogen. Ich verziehe angewidert das Gesicht und lasse Fiona das tun, worauf sie Lust hat. Für mich ist die Art von Körperkontakt mit einem Fremden tabu. Ja, als Frau will man begehrt werden, aber meiner Meinung nach gehört etwas Anstand dazu.

Gleichgültig wende ich das Gesicht ab, drehe mich zur Seite und schnappe empört nach Luft, als mich jemand von hinten packt und meine Handgelenke umfasst. Instinktiv will ich die Flucht ergreifen, komme aber nicht dazu, weil ich schwungvoll herumgewirbelt werde. Als ich dann in zwei helle Smaragde blicke, bleiben mir die wüsten Flüche im Hals stecken. »Leander?«

Vor Überraschung weiten sich meine Augen und meine Pulsfrequenz schnellt in den roten Bereich. Leander ist tatsächlich aufgetaucht und das obwohl er mir den ganzen Tag nicht geschrieben hat.

»Na? Da bist du baff, was?« Sein schiefes Grinsen und die tiefen Grübchen an seinen Wangen versetzen mich in Trance. Baff ist untertrieben, ich bin wie paralysiert.

»Was… Was machst du hier?«, bringe ich heiser hervor, unfähig mehr Worte über die Lippen zu bringen.

Er löst den Griff um meine Handgelenke, fährt sich lässig durchs zerzauste Haar und zuckt unschuldig dreinblickend mit den Schultern. »Ich habe das mit der Party nicht vergessen und da wir Jungs heute früher fertig geworden sind, habe ich beschlossen, dich hier zu suchen und zu überraschen. Das ist mir wohl gelungen.«

»Bist du also allein hier?«

Leander runzelt die Stirn, beugt sich zu mir vor und deutet mit dem Finger auf sein Ohr. »Was hast du gesagt?« Sein Atem, der meinen Nacken streift, verstärkt das Kribbeln in meinem Bauch. Ich wiederhole die Frage etwas lauter und bedanke mich innerlich beim DJ, der die Lautstärke aufgedreht hat. So kann ich den vertrauten Duft inhalieren, der mir sofort in die Nase steigt, als Leander eine ausholende Handbewegung macht und auf etwas hinter mir zeigt.

Ich folge seiner ausgestreckten Hand und erblicke Sireno, der sich mit Aidan unterhält. Die beiden schenken uns keinerlei Beachtung, da sie in ihr Gespräch vertieft sind und ich stelle fest, dass sich an ihrem atemberaubenden Aussehen seit unserem letzten Treffen nichts verändert hat. Sireno, der charismatische Italiener und Aidan, der unterhaltsame Isländer.

»Wo sind die anderen zwei?«, will ich interessiert wissen, als ich mich wieder zu Leander drehe, der mich sanft zur Seite schiebt, damit zwei grölende Typen an mir vorbeigehen können.

»Anderweitig beschäftigt.«

Dann sind sie also zu dritt hier, was beinahe schon zu viel Promiausstrahlung für die Frauen in diesem Club ist. Sobald sich herumspricht, dass ein Teil der Imperial Five hier ist, werden sich die Jungs kaum noch retten können.

»Oh mein Gott, Leander bist du das?«

Julias Stimme reißt mich aus meinen unschönen Gedanken. Sie quietscht neben mir auf, macht ihre Schwester auf uns aufmerksam und bereits nach fünf Sekunden ist mein bester Freund von schmachtenden Frauen umgeben. Das, was ich befürchtet habe, ist hiermit eingetroffen. Lustlos sacken meine Schultern nach unten. Ich habe nur ein paar Worte mit ihm wechseln können, ehe sich jemand zwischen uns gedrängt hat. Mehrere Jemands.

»Evanthia?«

Wieder einmal werde ich von hinten überrumpelt, was mir erneut einen Schrecken einjagt. Ist es zu viel verlangt, mir frontal gegenüberzutreten? Als ich mich genervt an den Übeltäter wende, schlucke ich einen bissigen Kommentar hinunter. Es ist Sireno. Sein freundliches Lächeln, welches jedes Mädchen seiner Wahl in die Knie zwingen könnte, vertreibt meine anfängliche Gereiztheit und ich verdränge den Gedanken an den anderen Mann, der zurzeit nicht verfügbar ist.

»Sireno, ja, lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?« Ich versuche so gelassen wie möglich zu klingen, doch dem Lockenkopf mit den nebelgrauen Augen kann man nichts vormachen. Er legt eine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich zu den Stufen, die zur überfüllten Bar führen.

»Mir geht es hervorragend. Du machst allerdings den Eindruck, als wärst du lieber ganz wo anders. Keine Lust mehr Party zu machen?« Mist, er hat mir meine miese Laune angemerkt. Leander hat mich mehrmals vor seinen guten Menschenkenntnissen gewarnt und doch stehe ich hier, unschlüssig darüber, was ich auf seine Frage erwidern soll.

»Wen haben wir denn da? Die beste Freundin von Leander.« Aidan ist der einzige Mensch, der anscheinend weiß, wie man sich einer Frau nähern soll. Nicht von hinten, sondern von vorne. »Wo ist denn Lenny? Ich sehe ihn nirgends«, fügt der Isländer hinzu, während er nach seinem Kollege Ausschau hält.

Sireno und ich deuten gleichzeitig auf die Gruppe Mädchen, die sich um meinen besten Freund geschart hat. Hanna und Julia stehen dicht an seiner Seite, schmachten ihn regelrecht mit ihren verträumten Blicken an.

»Der kleine Mistkerl… Wie schafft er es, ungewollt bemerkt zu werden? Ich komme einfach nicht dahinter«, flucht Aidan kopfschüttelnd, kann sich das fette Grinsen jedoch nicht verkneifen.

Sireno stößt ein amüsiertes Lachen aus, ein melodiöser Klang in meinen Ohren. Von den fünf Sängern ist der dunkelhaarige Italiener der Talentierteste. Ihm kann keiner das Wasser reichen. Mit dem Namen, den man ihm gegeben hat, hat man ihm zudem den Gesang einer Sirene geschenkt. Trotzdem bin ich Leanders Fan, seine rauchige Singstimme betört mich.

»Sei nicht neidisch, Aidan. Das sind Evanthias Freundinnen, also ist es kein Wunder, dass sie ihn schnell erkannt haben«, meint Sireno schulterzuckend und ich seufze innerlich auf. Meine Freundinnen… Sie sind es, die einer trauten Zweisamkeit mit Leander im Weg stehen. Warum muss mein Leben derart kompliziert sein? Warum können sie ihn nicht wie einen normalen Mensch begrüßen und ihn anschließend in Ruhe lassen? Warum kann ich nicht länger als fünf Minuten in der Öffentlichkeit mit ihm reden, ohne dass uns jemand dazwischenfunkt? Ist das zu viel verlangt?

Da ich zum wiederholten Male ein emotionales Tief durchlebe, merke ich nicht, wie mich die Jungs zur Bar dirigieren und mir etwas zu trinken bestellen. Erst als mich das kühle Glas am Oberarm streift, registriere ich meine Umgebung. »Oh, danke! Das wäre nicht nötig gewesen.«

Aidan macht bloß eine wegwerfende Handbewegung und nickt in Richtung Tanzfläche. »Sobald der DJ den Song spielt, den ich mir gewünscht habe, gehen wir tanzen. Wir werden richtig abgehen«, verspricht er mir.

Sein hellbraunes, kurz geschnittenes Haar schimmert bronzefarben, als rotes Licht auf ihn trifft und er wirft mir einen vielversprechenden Blick zu. Wenn es darum geht, gute Laune zu verbreiten, dann ist er ein Meister darin. Also vertraue ich seinen Worten.

»Was hast du dir denn gewünscht?« Fragend sieht Sireno seinen Freund an.

»Das wirst du gleich erfahren…«

Gerade als ich dabei bin einen Schluck Wasser zu nehmen, ergreift Aidan mein Handgelenk und zieht mich wortlos mit sich. Der lachende Italiener folgt mir. Er scheint zu ahnen, was jetzt kommt.

»Na endlich!«, jubelt der Isländer.

Seine Augen wandern zum DJ hinüber, der rhythmisch den Kopf vor und zurück wiegt. Candy Shop von 50 Cent ertönt und die Menge flippt völlig aus. Wie auf Knopfdruck verändert sich die Stimmung, Frauen geben sich mit ihrem Hüftschwung mehr Mühe und Männer wissen gar nicht mehr, wohin sie schauen sollen. Sireno und Aidan haben mich inzwischen in ihre Mitte genommen, nur um mich mit ihren anzüglichen Bewegungen aus der Reserve zu locken. Zugegeben, meine Körpertemperatur steigt drastisch an, je näher sie mir kommen und mein Verstand verabschiedet sich kapitulierend. Der tiefe Bass, die angeheizte Atmosphäre und die beiden durchtrainierten Männer machen mich verrückt. Ich bin gefangen zwischen zwei Ausnahmetalenten. Meine Hand umklammert das Glas so fest, dass ich befürchte, es könnte in der nächsten Sekunde zerspringen.

»Entspann dich und hab einfach Spaß«, sagt Sireno, dessen Atem den Bereich unterhalb meines Ohres streift. Mir ist bewusst, dass sie keinesfalls aufdringlich sein wollen, jedoch scheint mein Körper das nicht kapiert zu haben. Zwei gutaussehende Typen, die einen mit ihren verlockenden Bewegungen durcheinanderbringen, ist zu viel für ein schwaches Mädchenherz. Dennoch bemühe ich mich um eine lässige Haltung, versuche locker und ungezwungen zu sein.

Der Rhythmus des Liedes dringt in jede Pore meines Körpers ein, erfüllt mich mit Euphorie und beflügelt meine Schritte. Automatisch schließen sich meine Augen, als mich der Rausch der Musik erfasst. Ich vergesse die Welt um mich herum, vergesse die Jungs neben mir und die Mädchen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch bei meinem besten Freund sind. Es gibt nur mich allein.

»Da verliere ich dich einmal aus den Augen und schon wirst du von anderen Typen belagert.« Seine Stimme so nahe an meinem Ohr zu hören, jagt mir einen prickelnden Schauer über den Rücken. Das Glas Wasser fällt mir fast aus der Hand. Ich drehe mich mit wild klopfendem Herzen zu Leander um, der mich mit einem frechen Funkeln in den Augen mustert.

»Dein Pech! Während du dich mit den Ladys abgegeben hast, haben wir uns um deine beste Freundin gekümmert. Also stör uns nicht, wir sind noch nicht fertig mit ihr«, mischt sich Aidan ein und schlingt provokant einen Arm um meine Taille. Irgendwie fühlt sich das nicht richtig an, obwohl ich ihn gut leiden kann.

Leander verdreht unbeeindruckt die Augen. Er drückt uns beide auseinander, ersetzt Aidans Arm durch seinen eigenen und wirft seinem Kollegen einen warnenden Blick zu. »Oh doch, jetzt übernehme ich. Evanthia ist für euch tabu«, stellt er klar, woraufhin die beiden Jungs in schallendes Gelächter ausbrechen. Mir hingegen klopft das Herz bis zum Hals. Die Art und Weise, wie er mich hält und eng an sich drückt, überreizt mein Nervensystem.

»Bleib mal locker Lenny, wir haben nur Spaß gemacht.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, tätschelt Sireno Leanders Schulter, die sich unter der Berührung merklich entspannt.

»Ich weiß, ich weiß…«, murmelt mein bester Freund, sodass nur ich das Gesagte hören kann. Ich frage mich, was ihm gerade durch den Kopf geht, denn die Falte zwischen seinen Augenbrauen bedeutet meist, dass er verärgert ist.

»Alles in Ordnung?«

Als er mir sein Gesicht zuwendet, leuchtet seine sonst so hellgrüne Iris in einem intensiven dunklen Grün. Mein Sprachvermögen versagt kläglich.

»Hörst du das? Du erinnerst dich noch an die Tanzschritte, oder?« Anstatt auf meine Frage einzugehen, lenkt er das Thema auf das nächste Lied. Get Ugly von Jason Derulo. Selbstverständlich kann ich mich an die einzelnen Schritte erinnern. Ich habe sie vor einigen Monaten mit ihm einstudiert, als das Musikvideo veröffentlicht worden ist.

»Zeit für ein Dance Battle, was?« Euphorie durchflutet mich, als wir uns gegenüberstehen und zu tanzen beginnen. Endlich habe ich ihn ganz für mich allein.

Impressum

Texte: Dimitra D.P.
Bildmaterialien: Depositphotos.com
Lektorat: Nadine Bruer
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2016

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