Es ist verdammt schwer ein Auto zu lenken, wenn einem die Tränen ständig in die Augen treten und die Sicht beeinträchtigen. Wie durch einen glitzernden Schleier nehme ich die Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge wahr, während ein Schluchzer nach dem anderen meine Lippen verlässt.
Erinnerungen, so meint man, seien wertvoll für das ganze Leben. Man lerne aus ihnen und wachse mit jeder Erfahrung. Das kann ich aus meinem jetzigen Standpunkt aus nicht unterstützen. Früher ja, jetzt nicht mehr.
Die Zeit hat es mir einfach nicht ermöglicht genug Erinnerungen zu sammeln, um in den dunkelsten Nächten ein Licht in mir zu entfachen. Also tapse ich bereits mein halbes Leben lang im Dunkeln herum, ohne diese eine Hand ergreifen zu können.
Diese eine Hand, die mir schon einmal den richtigen Weg gezeigt hat. Diese eine Hand, die mir beigebracht hat, dass selbst im kleinsten Wesen ein Licht steckt. Diese eine Hand, die es als einzige geschafft hat, durch meine Brust hindurch mein Herz zu berühren und und zu halten.
Und diese eine Hand werde ich nie wieder halten können.
Mit meiner Hand schaffe ich es bloß die unaufhörlich fließenden Tränen aus meinen Augen fortzuwischen, nur um im nächsten Moment in gleißendes Licht eingetaucht zu werden. Ein Ruck geht durch meinen Körper und in meinen Ohren rauscht es.
Bin ich wieder dort? Werde ich diese eine Hand vielleicht doch noch wieder halten können?
Es war das Jahr 1867. Anfang Frühling. Die Blumen sprossen aus dem neuen fruchtbaren Boden und die Blätter an den Zweigen der Bäume nahmen die Farbe des frischen Grüns an. Die Sonne schien hell am Himmel und kleine weiße Wolken zogen am majestätischen Himmelskörper vorbei, ohne dessen warme Sonnenstrahlen den Weg zu versperren. Vögel zwitscherten das Lied des Frühlings und flogen verspielt in der angenehmen Brise, während die Bienen ihre Arbeit als Schöpfer neuen Lebens wieder aufnahmen.
Ich, im Alter von ganzen zweiundzwanzig Jahren, war auf dem Weg zum Hafen, denn es war der Tag meiner Abreise und der Beginn meines neuen Lebens. Ich würde das weltbekannte Gesicht von Amerika sehen und bei meiner Großmutter Glenda neu beginnen. Als Kellnerin in einem Café, welches mein Großvater vor drei Jahren eröffnet hatte.
Mit dem Koffer in der einen Hand und einem Schirm in der anderen ging ich die menschendurchfluteten Straßen entlang, während meine Blicke zum letzten Mal die Gebäude und die Menschenmassen streiften. Diesen Ort würde ich nie wieder sehen. Ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte? Ja, es erschien mir der richtige Entschluss zu sein und ich würde es auch nicht bereuen. Zu lange hatte ich schon in meiner Heimat darauf gewartet die Flügel zu spreizen und das Nest zu verlassen. Und heute war der Tag meiner ersten freien Handlung gekommen, was der hereinbrechende Frühling mir willkommen hieß. Meine Eltern hätten es auch so gewollt, aber sie waren nicht mehr hier, um mir zu sagen, wie stolz sie seien oder wie froh sie waren, dass ich es endlich geschafft hatte auf eigenen Beinen zu stehen. Sie waren vor fünf Jahren gestorben und seitdem hatte ich alleine leben müssen.
Doch das sollte ab heute geändert werden. Ich wollte nicht mehr alleine sein und ich wollte aus diesem Ort der guten und schlechten Erinnerungen ausbrechen. Für diese Entscheidung hatte ich drei Jahre gebraucht.Meine Füße bewegten sich in einem Rhythmus, der meinen Atembewegungen gleichkam und mein Arm pochte durch die Last, die ich in meinem Koffer trug. Nur ein paar Klamotten, Schuhe und andere Habseligkeiten befanden sich im alten ledernen Koffer, der früher meinem Vater gehört hatte. An meinem Hals trug ich die Goldkette mit dem Kreuz aus vergoldetem Silber meiner Mutter und an meinem Handgelenk klimperte das Armband, das ich seit meiner Geburt trug. Es war ebenfalls golden und verschiedene Anhänger hingen daran, die mich im Kampf durch das Leben symbolisch unterstützen sollten.
Insgesamt waren es fünf Anhänger, die eine wertvolle Bedeutung in sich trugen. Denn sie erinnerten mich an bestimmte Ereignisse aus meiner Vergangenheit und aus Gewohnheit spielte ich immer damit, wenn ich vor allem nervös war. Genau wie zu dem Zeitpunkt, als ich am großen Hafen ankam und die leichte Meeresbrise meine empfindliche Nase kitzelte.
Ich sah mich interessiert und etwas aufgeregt um und mein Blick folgte der einen oder anderen Person, die auf das große Passagierschiff zusteuerte, um sich schon mal einen Platz zu besorgen. Vielleicht sollte ich mich auch beeilen, sonst bekam ich zum Schluss nur einen Platz an der Reling. Und ich wollte nicht während der langen Seefahrt stehen und das Meer beobachten. Ich brauchte eine erholende Pause.
Aus diesem Grund ging ich den gepflasterten, von Fischresten übersäten, Weg entlang und stellte mich hinter einem älteren Paar hin, das im langsamen Tempo die hölzerne Rampe erklomm. Eigentlich war ich nicht sehr geduldig, aber bei diesem nett wirkenden Paar konnte ich warten. Sie erinnerten mich zum Teil an meine glücklichen Eltern, aber ich schob den Gedanken wieder beiseite und sah zur Ablenkung in den Himmel. Möwen flogen in Kreisen über dem Schiff herum und kündigten die baldige Abfahrt an. Die Sonne versteckte sich für einen kurzen Moment hinter einer vorbeiziehenden grauen Wolke. Kleine Wellen schlugen gegen das Schiff und den von Algen bedeckten Steinwänden und bei genauerer Betrachtung konnte man kleine silberglänzende Fische sehen.
„Miss, Ihr Ticket, bitte!“, hörte ich eine tiefe männliche Stimme sagen. Ich drehte meinen Kopf zu dem Mann, der mich unter einer Baskenmütze musterte, um und gab ihm daraufhin das handgroße Ticket, während ich zusah, wie er es kurz mit hochgezogener Augenbraue betrachtete und es mir dann wieder in die Hand drückte. „Eine angenehme Reise, Miss Price.“ Ich dankte dem Mann und ging mit schnellen Schritten um das Deck herum, um einen guten schattigen Platz zu finden. Zu schade, dass aber alles schon belegt war, denn hier und dort lagen Kinder oder ältere Leute auf lumpigen Decken, um die Kühle des Schattens zu genießen.
Mit geringen Schmerzen in der Schulter, verließ ich die schattige Seite und betrat den hell beleuchteten Teil des Decks. Dort hatten sich schon ein paar Passagiere niedergelassen und nur mit Glück entdeckte ich einen Platz in der Nähe des Hecks. Es war zwar nicht schattig, aber der Meereswind war erfrischend genug für mich. Dabei genoss ich die Einsamkeit in diesem Teil des Schiffes, auch wenn die Sitzbank zu hart für meinen Hintern war.
Daher öffnete ich meinen Koffer und holte eine warme aus dunklen und hellen Stofffetzen genähte Decke hervor, um sie mir auf den Schoß zu legen. Das Kleid, das ich trug, glättete ich mit ein paar Handstrichen und zufrieden legte ich die Hände auf die weiche Decke. Daraufhin ließ ich meinen Blick über das glitzernde Meer schweifen. Es war wirklich ein wunderschöner Tag und ich hoffte, dass die Reise nicht so anstrengend und gefährlich verlaufen würde, wie ich es schon mal in Gesprächen aufgenommen hatte. Ich wollte Amerika sehen und ein neues Leben beginnen.
Meine Augen waren konzentriert auf das Meer gerichtet und ich atmete tief die frische Brise, die mir der Ozean zufuhr, ein. Es war ein recht warmer Tag und der Sand schimmerte golden, harmonierte dabei mit dem Glanz der Wellen. Über mir ragten die Palmenblätter in sommerlichem Grün in die Höhe und die frischen Kokosnüsse hingen reif an den Wurzeln der Blätter. Eine davon löste sich und mit einem dumpfen Knall landete sie im Sand. Ich ging darauf zu und nahm die schwere Nuss in die Hand. Während ich sie mir genau ansah und leicht schüttelte, konnte ich das vertraute Plätschern der Milch darin hören. Zwar hatte ich keinen so großen Durst, aber mit bloßer Hand zerdrückte ich die Kokosnuss und der kalte Saft tropfte auf meine Handfläche. Aus den verschiedenen Löchern, die dabei entstanden waren, sog ich den leckeren Saft heraus und warf dann die leere Nussschalen weg. Ich hatte schon genug Schalen in meinem Versteck und mehr brauchte ich nicht.
Erneut ließ ich den Blick über das weite Meer schweifen und ein vorahnendes Gefühl machte sich in mir breit. An diesem Tag würde ein Schiff den Ozean auf dem Weg nach Amerika überqueren. Und diese Insel, auf der ich lebte, lag auf der Route dieses Schiffes. Ein bösartiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen und zufrieden verschränkte ich die Hände hinter dem Kopf. Ich hatte schon lange nicht mehr Frischfleisch gehabt und heute würde ich wieder zuschlagen. Zu lange hatte ich damit verbracht immer wieder die gleichen Menschen zu foltern und zu quälen und zwei waren schon gestern gestorben. Nur fünf waren mir übrig geblieben und drei davon waren auch dem Tode nahe. Menschen waren wirklich jämmerlich, aber wenn man so geschaffen war wie ich, dann war es normal so herablassend zu sein, auch wenn diese sterblichen Seelen meine Quelle der ewigen Jugend waren.
Kopfschüttelnd drehte ich mich um und ging den schmalen Pfad aus zertretenen Grashalmen und feuchtem Laub entlang, während mein Blick wachsam umherglitt. Eigentlich musste ich nicht so vorsichtig sein, weil ich selbst das gefährlichste Wesen auf dieser einsamen Insel war, aber es war schon einmal passiert, dass sich Schiffbrüchige zusammengetan hatten, um mich zu jagen. Schon seit zwei Jahren bestand solch eine Gefahr nicht mehr, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Ein lautes Zwitschern zog meine Aufmerksamkeit auf sich und ich hob den Kopf, um den wunderschönen Vogel, der nur auf dieser Insel existierte, auf einem breiten Ast sitzen zu sehen. Er hatte einen königsblauen Kopf, der an die Tiefen des Ozeans erinnerte und zwei überaus klug wirkende Knopfaugen. Der orangene Schnabel, der an der Spitze etwas rötlich verfärbt war, glich den Farben des Sonnenaufgangs sowie des Sonnenuntergangs. Das Gefieder selbst strahlte in allen möglichen Farben. In verschiedenen Grüntönen, wie das Pflanzenwerk des Dschungels, in einem dunklen Violett der Blumen, die hier recht selten blühten und sogar in hellen Gelbtönen... Somit sah es aus, als hätte man die Sonne selbst auf das Gefieder des Vogels gebrannt.
Es war faszinierend, was die Natur hervorbrachte, auch wenn ich eher zur dunklen Seite des göttlichen Werks zählte. Deswegen lebte ich auf dieser verlassenen Insel, denn hier war ich der Löwe in der Savanne oder in diesem Fall der Tiger im Dschungel.
Ich fuhr mir seufzend durchs dunkle Haar und machte einen großen Schritt über einen Tierkadaver, den ich wahrscheinlich vor ein paar Tagen hier gelassen hatte. Manchmal sah ich es einfach nicht ein aufzuräumen, wenn die Natur allein dafür sorgte die toten Körper, die sie erschaffen hatte, wieder in sich aufzunehmen. Natürlich war der Gestank unangenehm für meine empfindliche Nase, aber ich hatte mich schon daran gewöhnt. Immerhin lebte ich schon seit fünfzig Jahren an diesem Ort. Ein Rascheln im dichten Buschwerk ließ mich kurz zusammenzucken und gespannt starrte ich auf die Stelle, aus der dieses Geräusch gekommen war. Meine Hände hatte ich zu Fäusten geballt und die Pupillen meiner Augen weiteten sich, während mein Gehör auf jedes Geräusch reagierte, das um mich herum ertönte. Ich war in geduckter Haltung und mein Puls verlangsamte sein Tempo, sodass ich dieses störende Rauschen in den Ohren nicht hatte. Dann sprang ein Tier aus dem Gebüsch. Fast hätte ich dieses Lebewesen in weniger als fünf Sekunden zerfetzt, aber ich als ich erkannte, dass es Shadow war, ging ich wieder in die Ausgangsposition und straffte meine Schultern. Ich sah den großen Puma vorwurfsvoll an und knurrte leise.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich nicht an mich ran schleichen sollst!? Immerhin kann ich dich locker töten…“, murmelte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und Shadow sah mich entschuldigend mit seinen golden glänzenden Augen an. Ich schüttelte seufzend den Kopf und legte eine Hand auf sein weiches schwarzes Fell, das leicht bläulich schimmerte. Shadow schnurrte genüsslich und dann ließ ich von ihm ab.
Ich ging einfach weiter, während mein Puma mir nicht von der Seite wich. Es war gut solch einen Gefährten zu haben, sonst hätte mich die Einsamkeit schon längst mit ihren schwarzen Schatten verschlungen.
Langsam und leise bahnte ich mir einen Weg durch das feuchte Gras und den Blättern der Bäume, die sich mir entgegenstreckten und Shadow folgte mir brav, wobei seine Pfoten kein einziges Geräusch von sich gaben. Es war, als würde das Tier über dem Boden schweben. Kurzerhand blieb ich dann mitten im Gehen stehen und sah mich nachdenklich um. Sollte ich nun direkt zurück zu meinen Gefangenen gehen oder sollte ich für weitere Fallen sorgen? Immerhin wurde es allmählich Abend und ich wollte sicherlich nicht unvorbereitet sein. „Na, was glaubst du? Soll ich arbeiten oder mich vergnügen?“, fragte ich Shadow am Kopf kraulend, als dieser ein lautes Schnurren von sich gab und mit der Pfote ins Leere kratzte. Also war er der Meinung, ich solle jagen gehen. Nun denn, dann würde ich das machen. So eine schlechte Idee schien es nämlich nicht zu sein. Demnach schlug ich einen anderen Weg ein und suchte nach geeigneten Stellen, um Fallen für meine Opfer aufzustellen. An einem verlassenen Steinbruch sah ich mich prüfend um und beschloss an den hohen Bäumen, die einen perfekten Blick auf den Felsen boten, Pfeile anzubringen. Von dort aus könnte ich jederzeit auf Freiwild schießen.Dazu kletterte ich mit Leichtigkeit am dicken Stamm entlang, bis ich an einem prallen, moosbedeckten Ast ankam und mich flach mit dem Bauch darauf legte. Ich spähte nach unten und schätzte ungefähr die Entfernung ab, ehe ich dann wieder aufstand und aus meinem Hosenbund drei Pfeile hervorholte. Ich hatte sie selbst geschnitzt und mit den Metall-Überresten der versunkenen Schiffe bestückt, sodass diese scharf genug waren, um ins Fleisch einzudringen. Deswegen hatte ich auch bis dato viel Erfolg damit gehabt. Still machte ich mich an die Arbeit die Pfeile an eine geeignete Stelle anzubringen, damit ich, falls hier ein paar Menschen vorbeilaufen sollten, bereit war sie anzuschießen. Einen Bogen hatte ich sowieso immer bei mir, den ich mit einem Lederbund um meine Schulter befestigt hatte. Als ich dann mit dem Ergebnis zufrieden war, sah ich kurz zu Shadow runter, der seine Schnauze in die Höhe streckte und schnupperte. Auch ich entspannte meinen ganzen Körper, um mich vollkommen auf meine Hör- und Riechfunktion zu konzentrieren, als ich einen bekannten Duft wahrnahm. Es war der Duft nach leichter Beute. Anscheinend ein verirrter, einsamer Mensch, der sich in diesem Dschungel zu orientieren versuchte. Ich konnte deutlich seine Angst riechen und auch sein Herzschlag war ein leises Flattern im Wind, der mir das Gesicht streichelte. „Los Shadow, mach dich auf den Weg und bring mir den Menschen! Dann habe ich wenigstens etwas Frisches zu Hause…“, brachte ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen hervor. Shadow knurrte zustimmend und mit einem Satz war er schon im Gebüsch verschwunden.
Zufrieden kletterte ich wieder runter und hob den Kopf, um mir die Stelle einzuprägen, damit ich dann meinen Fallen-Gang fortführen konnte. Dazu stieg ich auf die Felsen und drehte mich um die eigene Achse, als ich mich für Norden entschied. Mit einem Satz sprang ich wieder herunter und nach einer Weile kam ich an zwei parallel stehenden Bäumen an, die perfekt für eine weitere Falle waren. Um meine Hüfte hatte ich ein Seil gebunden, das ich nun in die Hand nahm und an den einen und dann an den anderen Stamm festband. Natürlich straffte ich das Seil, sodass es ein Leichtes war einen nichtsahnenden Menschen zum Stolpern zu bringen. Außerdem hatte das Seil die Farbe des dreckigen, dunkelbraunen mit Grünzeug übersäten Bodens, damit es nicht gleich zu erkennen war und triumphierend betrachtete ich mein Ergebnis.Nur noch ein paar Orte und dann konnte ich endlich richtig Spaß haben, ging mir in dem Moment durch den Kopf und voller Energie setzte ich meinen Weg fort. An drei weiteren Stellen stellte ich Fallen auf und als ich dann wieder am Strand war, um die frische Meeresbrise in mich aufzunehmen, stemmte ich stolz die Hände in die Hüften und stellte mir schon meine grausamen Taten vor. Wie ein kleines Kind freute ich mich darauf das Schiff im offenen Ozean zu versenken, mein Hunger wuchs mit jedem verschwindenden Sonnenstrahl. Meine Kräfte mussten wieder mit Energie gefüttert werden und dafür brauchte ich frisches Fleisch, frische Ängste.
Mein Blick fiel gedankenversunken auf eine kleine Felsinsel in der Nähe des Strandes. Eilig hastete ich durchs Wasser und sprang wie eine Raubkatze auf das rutschige Gestein, um es mir dann dort gemütlich zu machen. Die Hände faltete ich auf meinem Schoß zusammen und die Beine breitete ich in lässiger Haltung aus, während ich das stille Rauschen des Meeres in mich aufnahm. Es wurde eins mit mir und trieb mich fort von dieser Insel, zu dem Schiff, das in wenigen Stunden mein Gebiet durchqueren würde. Allein der Gedanke erfüllte mich mit großer Freude und mein Gesichtsausdruck erhellte sich.
Wieder lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf das klare hellblaue Wasser, durch das man leicht den Grund des Meeres sehen konnte, wobei ich deutlich mehrere kleine silberglänzende Fische erkennen konnte. Sie schwammen alle in ihrem eigenen kleinen Schwarm und schlugen ruckartig neue Wege ein, wenn ich meinen Fuß in das kühle Nass eintauchte. Irgendwie machte es sogar Spaß sie zu dabei zu beobachten und ich beschloss etwas ins Wasser zu steigen, da ich sowieso in der sengenden Hitze schnell wieder trocknen würde. Langsam tauchte ich zunächst meine Beine ein und dann fiel ich mit einem kleinen Plumps in das ruhige Gewässer. Ich wedelte leicht vergnügt mit den Armen, während mein Blick immer noch an den kleinen Fischen haften blieb. Als ich dann aufhörte mich zu bewegen, kamen diese kleinen neugierigen Wesen auf mich zu und umkreisten mich, sodass mich manche sogar leicht berührten. Eine Weile beobachtete ich dieses Schauspiel, bis ich ein lautes, raues Miauen hinter meinem Rücken wahrnahm.
Ich drehte den Kopf in die Richtung um und entdeckte Shadow, wie er auf mich unter einer Palme wartete und sich die Vorderpfoten leckte. Anscheinend hatte er den Menschen schnell gefunden und ins Versteck gebracht. Braver Puma!
Noch ein kurzer Blick auf das weite Meer und leicht wie ein Delfin sprang ich aus dem Wasser wieder heraus und landete sanft wie eine Feder auf dem halb durchnässten Felsen, um dann zu Shadow zu rennen, der mich schnurrend begrüßte. Nachdem ich ihm den Kopf gestreichelt hatte, machte ich mich sofort auf den Weg zu meinem Versteck, der sich tief in einem großen Hügel aus einzelnen Felsen befand. Es hatte lange gedauert das Ganze zu stabilisieren, aber letztendlich hatte ich eine reife Leistung erbracht und war sehr zufrieden mit meiner Behausung.
Dort angekommen musste ich mich zunächst durch einen schmalen Felsschlitz hindurchzwängen, ehe ich mich dann in einen langen, teils durch Sonnenlicht beleuchteten Gang wiederfand. Für Shadow war es nicht so schwer hierher zu gelangen, weil er einen geschickten Körperbau besaß, der es ihm ermöglichte sich leicht zu verbiegen. Manchmal wünschte ich, ich hätte auch diese besondere Fähigkeit, doch ich war vollkommen zufrieden mit mir. Die Talente, die ich besaß, waren schon göttlich genug. „Führ mich nun zu unserem neuen Gast, Shadow! Ich habe schon sehr großen Hunger…“, flüsterte ich mit rauer Stimme in die Dunkelheit hinein und mit einem kurzen Miauen schritt Shadow voran und führte mich durch das Tunnelsystem zu einem der unzähligen Kerker. Und dieser war speziell für neue Gäste gedacht, da es hier viel dunkler war, als in den anderen Gefängnissen, die sich die sehr Schwachen teilten. Die Neuen sollten sich nämlich an ihre dunkle Zeit an diesem Ort eingewöhnen, sodass ich mich länger von ihnen ernähren konnte.
Langsam trat ich dichter an die Stäbe heran, die ich selbst in den Felsen eingemeißelt hatte und entdeckte einen jungen Mann, zusammengekauert in einer Ecke. Er zitterte am ganzen Leib und trug schon eine Weile die gleichen Klamotten, weil sie in Dreck und Feuchtigkeit gebadet waren und auch dementsprechend danach stanken. Ich rümpfte die Nase und trommelte mit den Fingern leicht an einem Stab, um auf mich aufmerksam zu machen. Der Gefangene drehte sich erschrocken zu mir um und betrachtete mich mit großen Augen. Viel konnte er zwar nicht sehen, da es hier stockfinster war, aber er konnte die Gefahr aus mir ausströmen sehen, was sein Herz noch schneller schlagen ließ. Zufrieden wandte ich mich kurz an Shadow und befiel ihm nach den anderen Gefangenen zu schauen und als dieser in der Dunkelheit verschwand, widmete ich mich wieder meinem neuen Opfer.
„Sag mir deinen Namen!“, sprach ich mit fester Stimme und durchbohrte den Mann mit meinem feurigen Blick, sodass diesem zunächst der Atem stockte, bevor er mir seine Antwort gab. „William, Sir… Wa, was wollen Sie von mir? Wo bin ich überhaupt?“, fragte der junge Mann mit zittriger Stimme und ich schüttelte daraufhin lächelnd den Kopf. Es waren doch immer dieselben Fragen.Was haben Sie mit mir vor? Warum halten Sie mich gefangen? Wer sind Sie überhaupt? Von diesen Fragen würde ich mich wohl nie erholen können, also antwortete ich ihm kurz angebunden: „Du befindest dich in einer Art Höhle und wirst meine nächste Mahlzeit werden. Hast du nun Angst?“.
Den inneren Gemütszustand konnte ich an diesem Mann riechen. Er verströmte den Duft der Angst und Schweiß brach ihm aus allen Poren, weswegen ich auch leicht einen schimmernden Glanz auf seiner Stirn erkennen konnte. Selbst seine Pupillen hatten sich stark vergrößert und es sah stark danach aus, dass er in jedem Augenblick aus Angst ohnmächtig werden könnte. Er war wahrlich ein Schwächling für seine jungen Jahre. Dennoch sog ich seinen Geruch in mich auf und spürte, wie seine Angst meine Energie stärkte und mich fütterte. Genussvoll schloss ich dabei die Augen und wie benebelt umfasste ich eine Stange und blähte meine Nasenflügel auf, um noch mehr seines panikgeschwängerten Duftes in mich aufzunehmen. Es war wie ein Rausch und ich wollte mehr, viel mehr. Doch ich musste mich gedulden.
Die Angst der Menschen war nämlich am größten, wenn ihre Hoffnung endgültig starb und das würde erst kurz vor dem Tod geschehen. Ein langer Prozess, für den ich so einiges in Kauf nahm und selbst meine kostbare Zeit dafür aufopferte. Immerhin war ich auf diese Menschen angewiesen, denn sie waren es, die mich mit ihrer Angst am Leben erhielten. Eine leichte Sache. „Sie sind ein Monster! Lassen, lassen Sie mich in Ruhe…“, murmelte William, wobei er kläglich versuchte bestimmt zu klingen, um mich wahrscheinlich einzuschüchtern. So etwas hatte man nicht alle Tage, also schnaubte ich verächtlich zur Antwort und verzichtete diesmal darauf ihm wieder Angst einzujagen. Damit drehte ich mich wieder um und schlenderte den langen dunklen Flur entlang, als ich die Rufe einer Frau hörte. Es war eine meiner Gefangenen, das war mir sofort bewusst, da ich ihre Stimmen bereits in und auswendig kannte. Leichtfüßig beschleunigte ich meinen Schritt und kam dann nach mehreren Abzweigungen bei meinen hoffnungslosen Fällen an. Die Frau, die geschrien hatte, hatte die Hände zitternd um die Gitter geschlungen und Tränen rannen ihre Wangen herunter. Diese fielen mit einem lauten Platschen auf den kalten, glatten Felsboden. Ihr Gesichtsausdruck war zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen und sie starrte die Zelle ihr gegenüber an.Neugierig ging ich noch einen Schritt vorwärts, um einen Blick in das kleine Gefängnis zu werfen, als ich bei dem Anblick die Schultern enttäuscht hängen ließ. Nun war schon wieder ein Gefangener gestorben und somit hatte ich eine Nahrungsquelle weniger. Dabei hatte ich mich doch so gut um sie gekümmert und ihnen sogar Essen gebracht, damit sie mir nicht gleich verhungerten und verstarben.
Mein Blick glitt wieder zu der Frau und hasserfüllt starrte sie mich an, ehe sie laut fluchte: „Sie werden für diese Taten in die Hölle kommen… Ich hoffe, dass Ihnen der Teufel höchstpersönlich die Haut abziehen wird und dass Sie ewige Qualen erleiden werden!“ – „Jemand, der schon solch genaue Vorstellungen von der Hölle hat, kann nur eine schwarze Seele haben“, meinte ich ernst und sah ihr dabei tief in die Augen. Diese Frau bildete sich viel ein, aber wie es in der Hölle aussah, das konnte nur ich mit einer sicheren Gewissheit beschreiben. Immerhin durchlebte ich sie Tag und Nacht. Stunde und Minute.
Seufzend fuhr ich mir durch das dichte schwarze Haar und öffnete die Zelle, indem ich mit meiner übernatürlichen Kraft drei Gitterstäbe aus deren Löchern entfernte und beiseite legte. Abwertend betrachtete ich dann den dreckigen, stinkenden Leichnam vor meinen Füßen und beugte mich runter, als der tote Mann plötzlich die Augen aufriss und mir eine Art Holzpfahl in den Magen stieß. „Stirb Satan, stirb an deinem eigenen Blut!“, brüllte der Mann und wollte mich zur Seite stoßen, als ich mich ihm in den Weg stellte und angespannt atmete. Wie in Zeitlupe holte ich die Waffe langsam aus der Wunde heraus und warf diese zur Seite, während mein Kopf vom Boden zu seinem Gesicht wanderte, das mich wie erstarrt mit offenem Mund ansah. Er holte mit seiner Faust aus, doch ich blockte sie mit meiner eigenen ab und brach ihm ohne viel Kraftaufwand das Handgelenk. Der Totgeglaubte schrie schmerzerfüllt auf und zeitgleich auch die Frau, die mit ihm zu leiden schien. Als ich genug von dem ganzen Theater hatte, brach ich dem Kerl kurzerhand das Genick, bevor dieser auch nur hatte blinzeln können. Diesmal lag wirklich ein Leichnam vor meinen Füßen und diesmal waren die Tränen der Frau echt.
Mit einem bösen Grinsen drehte ich mich zu ihr um und ein teuflisches Funkeln lag in meinem Blick. „Dass du mich getäuscht hast, wirst du mit deinem Leben bezahlen. Doch nicht heute und nicht morgen, sondern dann, wenn dein Schmerz am größten ist!“, sprach ich mit fester Stimme und die Frau spuckte nur verächtlich auf den Boden. „Du hast meinen Mann getötet, welcher Schmerz soll denn größer sein?“, schluchzte das Weib unter Tränen und ich lachte nur bitterkalt auf. „Es ist ein Geschenk der Götter, dass ich genau heute eurem Sohn begegnet bin. Er riecht genauso wie ihr…“, ich atmete tief ein und aus „und William ist wahrlich ein schöner Name für einen jungen Mann wie ihn!“ Im nächsten Moment hatten sich die Tränen der Frauen verflüchtigt und nun starrte sie mich entgeistert an. Sie schien meinen Worten zunächst nicht zu glauben, aber man sah ihr an, dass sie mich nicht für einen Lügner halten könnte. Die Wahrheit zu sagen, war viel grausamer und augenblicklich wurde sie aschfahl im Gesicht, während ihr Blick wie hypnotisiert auf den Boden glitt.
Leise wiederholte sie murmelnd den Namen ihres Sohnes und ihre Augen wurden dabei immer größer. Größer vor Angst um das Leben von William. Und wie betörend es doch war, dass genau die Angst einer Mutter um ihr Kind, die energiereichste war, die ich bekommen konnte. Es war wie ein Aphrodisiakum, als ich ihre nackten Gefühle in mich aufnahm und selbst Shadow wurde durch diese Energie hergelockt und schnurrte mich an, während er seinen Kopf an meinen Oberschenkel stieß. Anscheinend hatte er Hunger bekommen und wollte den Leichnam in der Zelle verspeisen, was ich ihm dann auch gewährte. Sollte die Frau doch dabei zusehen, wie ihr eigener Mann aufgefressen wurde. Dann würde sich ihre Angst mit purem Hass mischen und das wäre genug Energie für mich, um heute mal nicht jagen zu gehen. Was für ein entspannter Tag!
Die Sonne verschwand allmählich hinterm Horizont und goldene Streifen gemischt mit dunkelvioletten Flecken zierten den Himmel. Ein paar langgezogene kleine Wolken nahmen diese Farben in sich auf und schimmerten prächtig orangerot, während das Wasser golden glänzte und den Einbruch der Nachtdämmerung ankündigte. Ich saß während des ganzen Naturspektakels mittig auf dem Hals einer Palme und in mir kribbelte schon alles. Bald würde das Schiff in einen tosenden Sturm hineinfahren und versinken. Dann endlich würde ich weitere Nahrung zu mir nehmen können. Außerdem könnte ich die Materialien in diesem Schiff gut dazu nutzen, um weitere Waffen zu schmieden, da mir die Elemente knapp wurden.
Ein lautes, raues Miauen ertönte unter mir und nur mein Kopf wanderte nach unten, als ich Shadow entdeckte, der ebenfalls die endlosen Weiten betrachtete und seine Krallen in den goldenen Sand hineingrub. Ich lächelte leicht und mein Blick schweifte weiterhin über den weiten Horizont, während ich die kommende Dunkelheit auf meiner Zunge schmecken konnte. Doch ich musste so lange warten, bis der letzte Sonnenstrahl diesen Ort berührte und dann würde ich mein großes Werk beginnen. Die nötige Kraft dazu hatte ich ja nun durch den Hass und der Angst der Frau bekommen.
„Nicht mehr lange Shadow, dann kannst du endlich mal wieder jagen gehen“, kündigte ich mit einem triumphierenden Lächeln an und sprang schwungvoll von der Palme herunter, sodass der Aufprall nur einen leisen dumpfen Klang von sich gab. Gedankenverloren streichelte ich das weiche, schwarze Fell von meinem Puma, der sofort ein angenehmes Schnurren anstimmte. Ich lächelte leicht und atmete erleichtert aus, als sich auch der letzte Sonnenschein verflüchtigte und die Nacht hereinbrach. Über das weite Meer breitete sich ein langer dunkler Schatten aus und überfiel die Insel. Alles wurde in tiefe Dunkelheit eingetaucht und das Leben verstummte für einen kleinen Moment, um dann nur ganz leise zu atmen, im Rhythmus des schlagenden Herzens der Nacht. Shadow verschmolz regelrecht mit den Schatten der Bäume und ich war ebenso ein Teil dieser Welt.
Meine Atmung passte sich den leisen Geräuschen an und mein Gehör verschärfte sich wie das eines Jägers. Ich wandte meinen Kopf zu beiden Seiten, um sicherzustellen, dass niemand und nichts vor Ort war, um mich bei meiner Arbeit zu behindern. Als ich zufrieden feststellte, dass dem so war, schritt ich anmutig über den noch warmen Sand und blieb kurz vor den leicht schlagenden Wellen stehen. Hier war der Sand viel kälter und härter. Von hier aus würde ich die Verbindung zu meiner Natur aufnehmen und mir die Leben auf diesem Schiff da draußen holen. Fest entschlossen suchte mein Blick den von Shadow und seine goldenen Augen trafen sofort die meinen. Er wusste, was er nun zu tun hatte und schnell wie eine Schlange hob er seine Pranke und fügte mir einen tiefen Kratzer an meinem rechten Arm zu. Heißes Blut, das in dunklen feinen Linien meinen Arm hinabrann, tropfte schwer auf den Sand und tauchte in diesen ein, um mit den Wellen des Meeres zu verschmelzen, die über die Stelle hereinbrachen.
Trotz der Dunkelheit konnte ich dank meines scharfen Sehsinns nebelartige Blutschleier im Wasser erkennen, welches die rote Flüssigkeit in sich aufnahm, als wäre es sein Eigentum. Das war es sogar zum größten Teil, denn Blut war die Verbindung von Erde und Wasser. Zum einen aus der Quelle Wasser und zum anderen aus der Quelle Erde geboren und geführt vom Gesang des Windes. Ich konnte diesen Gesang nun deutlich hören, als mein Blut sich mit dem dunklen Meer verband und das Rauschen wurde immer lauter in meinen Ohren. Für einen langen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch, um die Verbindung endgültig zu festigen. Dafür musste ich mich stark auf den immer lauter werdenden Gesang konzentrieren und mich von diesem führen lassen, sodass ich mit meinem Geist über das Meer schwebte, um zu dem Schiff zu gelangen.
Mein Schiff, mein Ziel.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich langsam die Augen öffnete, brannte kein helles Sonnenlicht mehr, sondern das zarte Licht des wunderschönen Mondes am Nachthimmel. Mein Kopf drehte sich nach rechts und links und es schien, als wäre alles immer noch so, wie ich es vor meinem plötzlichen Schlaf in Erinnerung hatte. Die Menschen, die sich gegenseitig Wärme spendeten, da nun das Licht der Sonne verschwunden war und das leise Rauschen der Meeresmassen, die das große Boot trugen.
Seufzend richtete ich mich auf und streckte meine Arme gen Himmel, um meine Verspannung in den Schultern loszuwerden. Dabei glitt mein Blick über das weite Meer und fasziniert beobachtete ich das Lichtspiel auf der Meeresoberfläche. Es war faszinierend, wie schön die Natur sein konnte.Diese war einfach durch und durch harmonisch aufgebaut, weswegen es auch kein Wunder war, dass sie jeden in ihren Bann ziehen konnte. Schon immer hatte ich mich nämlich zu der Natur hingezogen gefühlt und nur zu gerne erinnerte ich mich an die vielen Tage, die ich auf den Feldern meiner Heimat verbracht hatte. Alleine im Kreis drehend und in das weiche, hohe Gras der Wiesen fallend. Das waren die Momente, an die ich mich gerne erinnerte. Und sogar die vielen Ausflüge in den Wald, die ich fast jedes Wochenende mit meinen Eltern gemacht hatte, waren Erinnerungen, die ich nicht zu verdrängen versuchte. Immerhin handelte es sich hierbei um positive Gedanken, die ich sicherlich auf ewig im Gedächtnis behalten würde.
Dabei fiel mir vor allem eine junge Frau auf, die wunderschönes, kurzes, lockiges Haar besaß und das in einem leicht erkennbaren dunkelbraunen Farbton im sachten Wind wehte. Sie war ziemlich kleinwüchsig, wenn ich sie mit meiner schlanken Größe verglich, aber dafür hatte sie eine sehr ansehnliche Figur, die jedem Mann den Kopf verdrehen könnte. Zugegeben, ich hatte ebenfalls die weiblichen Kurven an den richtigen Stellen und das dank den vielen Reitstunden, die mir mein Vater auf dem Hofe eines Freundes ermöglicht hatte. Möge er mit meiner Mutter in ewiger Ruhe im Jenseits unserer Welt leben.
Da ich nicht den Blick von dieser jungen Frau abwenden konnte, beschloss ich mich ihr zu nähern und sie vielleicht in ein anregendes Gespräch zu verwickeln. Es behagte mir nicht diese lange Reise alleine mit meinen Gedanken zu verbringen und so stellte ich mich stumm neben sie hin, während ich weiterhin das glitzernde Wasser im Auge behielt.Der Wind versuchte meine Haare zu zerzausen, aber ich versteckte mein kastanienbraunes Haar unter meinen Sonnenhut, selbst wenn die Sonne nicht mehr am Himmel stand. So fühlte ich mich irgendwie sicherer, denn der weite dunkle und dennoch leicht erhellte Ozean bereitete mir Unbehagen, was ich mir nicht erklären konnte.
Eigentlich war es sehr schwer mir Angst einzuflößen, da mein Vater mich stets gelehrt hatte, dass Mut der richtige Weg zum Erfolg sei, aber ich hatte nie meine Angst vor dem Schicksal selbst überwinden können. Das war das einzige, was mich ständig in Unsicherheit schwelgen ließ.Was erwartet das Leben von mir und welchen Weg soll ich gehen? Das war auch einer der Gründe, warum ich nach Amerika zu meinen Großeltern zog. Ich wollte das Schicksal herausfordern und schauen, wie weit mich das bringen würde.
„Ich liebe dieses leise Flüstern des Meeres… Es beruhigt einen ungemein!“ Beim Klang dieser sanften, weiblichen Stimme fiel mein Blick sofort auf die junge Frau neben mir. Ihr Blick war immer noch auf den Ozean gerichtet, aber ihre Mundwinkel waren zu einem Lächeln erhoben. Hatte sie da gerade zu mir gesprochen oder eher zu sich selbst? Vielleicht hatte ich mich ja auch verhört!Seufzend schüttelte ich den Kopf und wollte mich wieder dem Beobachten der anderen Menschen zuwenden, als ich mit einem Seitenblick erkannte, dass sich die Frau mit dem Gesicht zu mir gewandt hatte. Mit einer verwirrten Miene drehte ich meinen Kopf ebenfalls zu ihr um und ich sah deutlich das warme Lächeln auf ihren Lippen.
„Finden Sie das Meer nicht wunderbar?“, flüsterte die junge Frau und sah mich dabei durchdringend an. Es war komisch, dass sie mich ansprach ohne zu wissen, wer ich war, aber sie hatte etwas Interessantes an sich, was mich neugierig machte.„In der Nacht ist das Meer etwas unheimlich… So leise und dennoch so unruhig. Ich liebe eher den Tag, denn dann habe ich mehr Vertrauen in dieses Element!“ Ich wusste nicht woher diese Worte aus meinem Mund kamen, aber in meinen Ohren klang das nachvollziehbar.„Das ist sehr interessant. Wollen Sie damit sagen, dass am helllichten Tage nichts passieren kann? Dass das Meer erst in der Nacht unbarmherzig wird?“ Diese Fragen stellte sie mit einem unverkennbaren, ironischen Ton in der Stimme, doch ich verdrängte diese Tatsache und lächelte höflich. „In der Tat. Tagsüber kann man sehen, wenn das Meer sich gegen einen wendet, aber nicht nachts. Die Nacht ist etwas, was klare Dinge undurchsichtig macht“, murmelte ich leise vor mich hin und schon wieder wunderte ich mich über meine eigenen Worte. Seit wann war ich denn so tiefgründig geworden?
Meine Gesprächspartnerin kicherte bei meiner Antwort leise, sodass ihre Locken leicht auf und ab wippten. Erst jetzt wurde mir im Mondeslicht, das ihr Gesicht beleuchtete, bewusst, dass ihre Augen die Farbe des Meeres hatten. Königsblau. Genau diese Farbe hatten ihre Augen.„Sie sind wirklich eine sehr interessante Person und ich mag die Art Ihres Denkens!“ entgegnete die Frau, immer noch am Lächeln. Also das verwunderte mich. Diese Person machte mich mehr als nur neugierig, denn sie schien ein sehr kluges Geschöpf zu sein.„Dürfte ich erfahren, wie Ihr Name lautet?“, fragte ich sie höflich und behielt diese leise Tonstärke bei. Es war fast so, als würden wir über etwas Geheimes reden, obwohl das nicht der Fall war und ich fragte mich, wieso wir das taten. Kurz sah ich zu den anderen Passagieren und stellte fest, dass die meisten tief schliefen, was meine Frage schnell beantwortete.
„Mein Name ist Claire Lovelyn Connor“, sprach meine neue Bekannte leise aus „und wie ist Ihr Name?“. Dabei sah mich Claire mit vor Neugier glitzernden Augen an, was mich unwillkürlich lächeln ließ. „Ich bin Chanelle, Chanelle Price!“Mein Lächeln wurde breiter und aufmerksam sah ich Claire an, die angestrengt nachzudenken schien. Vielleicht fragte sie sich, ob sie meinen Namen schon mal gehört hatte, aber ich war mir sicher, dass ihr niemand einfallen würde. Vielleicht hatte mein Vater gut gelebt und einen guten Namen in meiner Heimat gehabt, aber das war es auch. Mehr nicht.
„Was hat dich dazu gebracht nach Amerika zu reisen, Claire?“ fragte ich interessiert und erntete einen traurigen Blick ihrerseits.„Mein Bruder ist vor vier Jahren nach Amerika ausgewandert und hat dort geheiratet. Eine sehr nette Frau namens Lora…“, Claire holte tief Luft und fuhr mit einer traurig gestimmten Stimme fort: „Aber durch einen Brief von ihr, letzten Monat, habe ich erfahren, dass er schwer krank geworden ist. Und es besteht die Möglichkeit, dass er es nicht überlebt. Deswegen habe ich so lange gespart, bis ich genug Geld hatte, um mir ein Ticket nach Amerika zu kaufen!“ Ihr Blick wurde bei den letzten Worten etwas glasig, was nur bedeuten konnte, dass sie den Tränen nahe war. Ich wusste genau, wie sie sich fühlen musste, da ich bereits beide Elternteile verloren hatte und somit entwickelte sich in mir eine gewisse Verbundenheit zu ihr. Claire war dabei ihren Bruder zu verlieren und ich hatte bereits zwei wichtige Personen verloren.
„Und was ist mit deinen Eltern?“ Diese Frage hatte ich mir sofort gestellt, weil es für mich eigenartig war, dass sie auf dem Weg nach Amerika war und ihre Eltern nicht anwesend waren. Zwar konnte ich mir denken, woran das liegen könnte, doch als Claire mich mit einem niedergeschlagenen Blick bedachte, wusste ich, dass dem nicht so war.„Mein Vater ist bereits seit meinem vierten Lebensjahr verstorben und meine Mutter ist zu schwach, um solch eine lange Reise zu unternehmen… Sie ist schwer krank und in diesem Moment kümmert sich ihre Schwester um sie“, erklärte Claire mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Wahrscheinlich war die Schwester ihrer Mutter eine sehr liebevolle Frau und das erinnerte mich wiederum an meine herzlichen Großeltern.Allein der Gedanke an die beiden erwärmte mein Herz und somit meinen ganzen Körper. Claire schien auch kurz in ihren Gedanken vertieft zu sein. Noch eine Sache, die sie sympathischer machte.
Wir standen noch eine Weile stumm nebeneinander und sahen gedankenverloren den ruhigen Ozean an, bis ich beschloss mich wieder an meinen Platz zu begeben. Ich verabschiedete mich freundlich von Claire, die mir ebenfalls eine gute Nacht wünschte und kehrte an mein Plätzchen zurück. Den Koffer stellte ich wie zuvor zwischen meine Beine und die dünne und dennoch Wärme spendende Decke legte ich auf meinen Schoß. Mit geschlossenen Augen lehnte ich meinen Kopf träge gegen die kalte Wand und faltete entspannt die Hände zusammen, um sie gegenseitig zu wärmen.Die frische Meeresluft jagte mir zunehmend kalte Schauer über die nackte Haut meiner Arme, sodass ich mich für meine dünne Jacke, die im Koffer glücklicherweise ganz oben lag, zum Anziehen entschied.Gesagt, getan. Nachdem ich den Koffer geöffnet, das hellviolette Jäckchen herausgeholt und den Koffer wieder geschlossen hatte, zog ich mir schnell das Kleidungsstück an und schon breitete sich eine angenehme Wärme an meinen Armen aus. Die Gänsehaut war nun nicht mehr so schlimm und so konnte ich wieder entspannt die Augen schließen und dem wunderschönen Klang des rauschenden Meeres zuhören.
Eine tiefe Ruhe breitete sich in meinen ganzen Körper aus und erreichte schließlich meinen aktiven Kopf, der zunehmend an Gewicht gewann und teils zur Seite kippte, sodass ich wieder leicht aufwachte. Wie sehr wünschte ich mir nun, ich läge in meinem warmen, kuschligen Bett, mit dem Kopf im gemütlichen Kissen versunken.Doch wie es aussah, würde ich hier noch Tage verharren müssen, bis ich wieder ein Bett unter mir haben würde, aber das war es wert. Ich gehörte zu den Leuten, die auch mit wenig Schlaf auskamen, was nun für diese Reise sehr vorteilhaft sein konnte. Wie sollte ich außerdem mit dem lauten, knurrenden Motor einschlafen, der nun, da die Wellen etwas stärker geworden waren, noch lauter als zuvor war und gegen die Kraft des Meeres ankämpfte? Gar nicht. Vielleicht sollte ich einfach noch etwas spazieren gehen, um noch müder zu werden…
Die Idee gefiel mir und so richtete ich mich wieder auf, glättete die Falten meines Kleides und sah mich prüfend um. Die meisten Menschen waren immer noch am Schlafen und ich fragte mich, wie viel Uhr es wohl sein mochte. Der Mond prangte hell am dunklen Nachtzelt, aber er verriet mir dennoch nicht die genaue Nachtzeit.
Also vergaß ich wieder schnell meine Frage und begann an der Reling entlang zu laufen, während ich darauf achtete nicht zu laut mit meinen kleinen Absätzen auf dem Holzboden zu sein. Das leise Klackern wurde sowieso durch das laute Rumoren der Kraftanlage des Bootes übertönt und mit einem neugierigen Gesichtsausdruck führte ich meinen Spaziergang langsam fort. An manchen Stellen blieb ich stehen und beobachtete sowohl Mensch als auch Ozean und stellte rasch fest, dass beide tief und fest schliefen. Obwohl ich eher den Eindruck gehabt hatte, die Wellen seien etwas ungestümer geworden, so herrschte nun Stille. Es war beinahe bedrückend.
Meinem Bauch wurde es dabei etwas mulmig zumute und ich hoffte, dass ich nicht seekrank wurde, da es mich sonst sehr überraschen würde. Ich hätte doch wohl von den anderen Schiffsreisen, die ich schon mal erlebt hatte, wissen müssen, ob ich leicht seekrank wurde oder nicht. Deswegen verdrängte ich dieses Gefühl einfach und straffte die Schultern.„Oh, Chanelle… Ich habe gedacht, dass Sie schlafen wollten?“, erklang die Stimme von Claire, die neben mich getreten war und mich nun schief musterte. Ich lächelte bei ihrem Anblick und zuckte unschuldig mit den Schultern.„Ich hatte doch nicht den Schlaf finden können und so habe ich beschlossen einen ermüdenden Spaziergang zu machen!“, erklärte ich ihr leise und sie nickte aufmerksam.„Ja, so geht es mir auch gerade… Scheint wohl die Unsicherheit zu sein, die auf diesem Boot herrscht.“ Claire deutete auf die ganze schlafende Menschenmenge im Vordeck und dann zum dunklen Meer.
„Immerhin ist es nicht für alle das zweite Mal, dass sie sich auf einem so großen Boot inmitten des weiten, großen Ozeans befinden.“, meinte Claire mit einem verträumten Lächeln, weswegen ich mir sofort die Frage stellte, an was sie wohl dabei dachte. Für sie war es doch die erste Schiffsfahrt, oder? Doch ich wollte ihr nicht zu nahe treten und beließ es bei der Stille, die sich wieder zwischen uns legte.
„Würde es dir was ausmachen, wenn ich dich bei deinem Spaziergang begleiten würde?“, fragte Claire mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht und schob sich eine lose, lockige Haarsträhne hinter das Ohr. Natürlich nahm ich ihr Angebot an und zusammen schritten wir entlang des Bootes und sprachen über dies und jenes. Sie erzählte mir von ihrer Heimatstadt, die nur einige Stunden von meiner entfernt war und berichtete mir von ihrem Leben, das sie dort als Verkäuferin in ihrem eigenen Laden führte. Dieses Geschäft gehörte schon seit vielen Jahren ihrer Familie an und sie verkauften hauptsächlich Getreide und Futter für das Vieh der Bauern, weswegen sie auch monatlich ein sehr nettes Einkommen verdienten. Außerdem erwähnte sie wenige Erinnerungen, die sie mit ihrer ganzen Familie erlebt hatte und schließlich kam sie zu dem Punkt, an dem sie erfahren hatte, dass ihr Bruder schwer krank geworden war.Es freute mich irgendwie, dass diese junge Frau nicht allzu viel Kummer hatte erleben müssen, aber ihre jetzige Situation betreffend konnte man nur als kummerreich bezeichnen. Ihr Vater war schon seit Langem tot, ihre Mutter schwer krank und nun auch ihr Bruder, der ihr sehr nahe zu sein schien.
Während ich selbst über mein eigenes Leben nachdachte, fiel mein Blick auf ein schwarzes Armband, das ihr schlankes Handgelenk zierte und fragend deutete ich mit dem Finger darauf. „Was ist das?“Claire schien zuerst über die Frage verwirrt zu sein, aber als sie selbst ihr Handgelenk ansah, breitete sich ein fröhliches Lächeln in ihrem Gesicht aus. „Das hat mir mein Bruder geschenkt, bevor er nach Amerika ausgewandert ist. Seitdem trage ich es und habe es nie ausgezogen. Es ist wie ein Glücksbringer für mich!“, murmelte sie leise vor sich hin und drehte das schwarze Stück an ihrem Handgelenk, wobei ihre Augen kindlich funkelten. Das musste also eine sehr schöne Erinnerung sein, die sich bestimmt momentan in ihrem Kopf abspielte.
„Du scheinst aber auch einen sehr schönen Glücksbringer zu haben.“, meinte Claire mit Neugier in der Stimme und zeigte auf das glänzende Schmuckstück an meiner Hand. Ich nickte leicht und hob die Hand hoch, damit sie es sich näher anschauen konnte. Die verschiedenen Anhänger begannen im Licht des Mondes abwechselnd zu glänzen, sodass ich dem Lichtspiel fasziniert zusehen musste. Auch sie war vollkommen von der Schönheit des Erbstückes gefangen und leise erzählte ich, welcher Anhänger welche Bedeutung für mich hatte. Letztendlich war es ja auch nur ein Glücksbringer, wie das von Claire.
„Es ist wunderschön!“, flüsterte diese ehrfurchtsvoll und ich dankte ihr lächelnd für das Kompliment. Anschließend unterhielten wir uns über unsere Pläne in Amerika und als ich langsam spürte, wie träge meine Augenlider wurden und wie schwer es mir nun fiel auf beiden Beinen zu stehen, beschloss ich nun wirklich schlafen zu gehen. Claire war genauso erschöpft wie ich, da ihr Lächeln müder wirkte als zuvor und nachdem wir uns höflich voneinander verabschiedet hatten, kehrte ich zu meinem Rastplatz zurück.Dieses war zum Glück nicht von einem Fremden besetzt worden und meinem Koffer war auch nichts passiert, was mich erleichtert aufseufzen ließ. Normalerweise ließ ich meine Sachen nie unbeaufsichtigt stehen, aber da alle zu schliefen schienen, hatte ich mir keinen Kopf darüber gemacht.
Leise setzte ich mich auf meinen kalten Platz hin und sofort nahm ich meine Decke an mich und lehnte mich müde gegen die kühle Bootswand. Meine Augen fielen automatisch zu und mittlerweile hatte mein Kopf aufgehört an irgendetwas zu denken, sodass ich sehr schnell einschlief.
Zunächst schien ich nichts zu träumen, aber allmählich wurde das Dunkel in meinem Kopf durch ein immer größer werdendes Licht verdrängt, bis ich mich urplötzlich mitten auf dem Meer befand. Ich war alleine und nur der starke Wind zerzauste mein langes Haar und flüsterte unverständliche Worte in mein Ohr, was mich zunehmend verwirrte.Wo bin ich? Und warum schwebe ich über dem Wasser? Ist das etwa eine Offenbarung Gottes? Aber das war theoretisch und praktisch unmöglich. Ich war noch nie sehr gläubig gewesen und dieser Traum würde das auch nicht ändern.
Zwar war mir der Sinn des Traumes immer noch nicht ganz klar, doch in mir keimte kalte Angst auf, als ich das klare blaue Wasser betrachtete und rote Schlieren darin erkennen konnte. Ich beugte mich etwas weiter nach vorne, um besser sehen zu können, als ich auf einmal in die Tiefe gezogen wurde und erschrocken nach Luft schnappte. Wellen schlugen von allen Seiten auf mich ein und diese roten Fäden schienen sich wie Schlangen um mich zu winden, verletzten mich jedoch nicht. Es war ein irritierendes Gefühl, was mich in diesem Moment erfasste und ich konnte mich zunächst vor Schreck nicht bewegen.Zudem war es nicht mehr hell, sondern pechschwarz von der Nacht, die das Meer einhüllte und mich mittendrin in tiefe Dunkelheit eintauchte. Auch das Rot war wieder verschwunden und es war als würde ich in schwarzer Tinte baden. Meine Bewegungen waren quälend langsam und der Mangel an Luft schnürte mir die Kehle zu und ließ meine Lungen brennen. Ich versuchte einen Weg aus dieser Dunkelheit zu finden, aber kein Licht war zu sehen, welches mir als Hoffnungsschimmer dienen konnte. Somit wurde ich immer tiefer in den Abgrund gezogen, allein und hilflos.
Bevor ich jedoch das Bewusstsein vollkommen verlor, blitzte etwas neben mir auf und mein Kopf fuhr sofort zu der Stelle herum. Ich schaffte es meine Hand zu sehen, die schwach in den leichten Wellen hin und her schwankte und dann blendete mich wieder ein Licht. Die einzelnen Anhänger meines Armbandes leuchteten in einem blassen Weiß, was ich mir absolut nicht erklären konnte. Aber dieses merkwürdige Licht war stark genug, um meine Umgebung nicht mehr so düster erscheinen zu lassen.Ich begann mit letzter Kraft mit den Beinen und Armen zu strampeln, in die Richtung, in die mich mein Armband führte und als ich dann glaubte keine Luft mehr zu bekommen, tauchte ich auf und mein Mund klappte sofort auf, um gierig Luft in meine schmerzenden Lungen zu pumpen.
Ich riss die Augen auf und mit schnell klopfendem Herzen stellte ich fest, dass ich wirklich im Meer war und dass es immer noch Nacht war. Nur der Mond am Himmel belächelte mich und die restlichen Passagiere, die um ihr Leben schwammen und verzweifelt um ihr Leben bettelten. Was war nur passiert? Was hatte ich verpasst?Ein knarrendes Geräusch zog meine Aufmerksamkeit auf sich und erschrocken sah ich zu, wie das Boot vom Sog des Meeres in den Grund gezogen wurde. Leider hatte ich im Dunkeln nicht erkennen können, was genau passiert war, dass das Boot zum Sinken gebracht hatte, doch in diesem Moment musste ich mir zunächst Gedanken machen, wie ich das hier überleben sollte. Verzweifelt fuhr mein Kopf hin und her, um etwas zu finden, an dem ich mich festklammern konnte, denn die ganze Zeit zu strampeln war keine Lösung. Ich spürte jetzt schon, dass die Kälte mir mehr als die Schwimmbewegungen zusetzte und so beschloss ich kurzerhand ein Holzbrett oder Ähnliches zu finden.
Doch das stellte sich als ein schweres Vorhaben heraus, da die Menschen um mich herum den einen oder anderen Passagier vor Panik ins Wasser tunkten, um ihre eigene Haut zu retten. Wie erbärmlich man werden konnte, wenn der Tod an der eigenen Tür klopfte.Nie im Leben würde ich ein anderes Menschenleben gefährden, um mein eigenes zu retten und mit diesem Hintergedanken schwamm ich weiter und wünschte, dass es bloß nichts Gefährliches Unterwasser gab, was uns töten könnte. Und genau diese Situation bestätigte meine instinktive Angst vor dem Schicksal. Dass das hier passiert, hätte ich nämlich nicht für möglich gehalten und doch war es geschehen.
Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und versuchte mich mit regelmäßigen Atemzügen zu beruhigen, als mich plötzlich jemand von hinten packte und mich in die Tiefe des Meeres tunkte. Das war solch eine Schrecksekunde für mich gewesen, dass ich nicht hatte reagieren können, aber dann schaltete sich mein Überlebensinstinkt ein und entschlossen riss ich meine Arme nach oben, um den Menschen zu packen und ebenfalls in die Tiefe zu ziehen.Und genau diesen Moment nutzte ich aus, um nach Luft zu schnappen und dann so schnell wie möglich davon zu schwimmen, um nicht noch einmal Opfer von solchen Verrückten zu werden. Mein Herz hatte mittlerweile das Tempo einer Nähmaschine angenommen und mein Atmen war alles andere als entspannt und regelmäßig. Es waren zittrige und hechelnde Atemzüge, die meinen ganzen Körper erschütterten und mir leichten Schwindel bereiteten. Zudem fiel mir das Strampeln mit den Beinen zunehmend schwerer, da mir die Kraft langsam versagte.
Das bedeutete, dass ich so schnell wie möglich einen Ausweg finden musste und obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich mich befand, begann ich einfach in eine selbst ausgewählte Richtung zu schwimmen. Das war besser als gar nichts zu tun und jämmerlich zu ertrinken, wie es manche hinter mir taten. Ich hörte ihre nach Luft japsenden Münder und dann das verräterische Blubbern, welches nach kurzer Zeit verstummte. Aber um mich nicht davon beirren zu lassen oder schlimmstenfalls die Hoffnung zu verlieren, schaltete ich meinen Kopf ab und besann mich nur auf das Schwimmen. Zuerst Arme, dann Beine, Arme, Beine, Arme und Beine.
So ging es die ganze Nacht lang und nur schwach nahm ich die Umgebung wahr, bestehend aus meinem eigenen Herzschlag und den Rhythmus meines Atmens. Ich war noch am Leben, das wurde mir in einer kleinen, dunklen Ecke meines Bewusstseins klar. Doch wie lange noch? Diese Frage plagte mich den ganzen Weg lang und erlaubte es mir nicht an irgendwas anderes Erheiterndes zu denken. Es quälte mich, folterte mich und raubte mir teils den Atem.Meine Augenlider fielen zu, wenn ich es nicht mal bemerkte, doch immer blitzte etwas neben mir auf und wiederholt musste ich erleichtert feststellen, dass es mein Armband war, welches das starke Mondlicht reflektierte, sobald ich eine Armbewegung vollführte. Es war wahrlich ein Glücksbringer.
Allmählich spürte ich die Müdigkeit mich übermannen, aber am Rande meines Bewusstseins nahm ich noch wahr, wie ich Boden unter den Füßen zu spüren bekam. Feuchten, sandigen Boden, der in meine Schuhe eindrang und ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen verursachte. Ich schaffte es jedoch nicht die Augen zu öffnen, um nachzusehen wo ich war und fiel einfach schwach kopfüber. Der Aufprall war alles andere als schmerzlos und ich hustete, als Wasser in meine Lungen kam und heiß brannte. Noch mit letzter Kraft krallte ich mich mit meinen Fingern in den kalten Sand und zog mich mit aller Mühe aus dem Meer heraus.Dann blieb ich reglos liegen. Ich spürte und fühlte nichts mehr, sondern wurde einfach in die Dunkelheit meines eigenen Unterbewusstseins gezogen.
Warme Sonnenstrahlen brannten sich durch meine Augenlider und flatternd öffneten sich meine Augen. Daraufhin überfiel mich ein Hustenanfall und Wasser drang aus meinem Mund, welches ich wahrscheinlich geschluckt, aber nicht ausgespuckt hatte. Na toll, meine Lungen taten weh, fühlten sich an wie ausgetrocknete Pflaumen und auch mein ganzer Körper schwächelte. Dennoch versuchte ich mich mit beiden Händen aufzustützen und mit aller Anstrengung schaffte ich mich wenigstens gerade zu setzen, wobei ich mich mit einer Hand am Boden abstützen musste.Meine Haare klebten an mir wie stinkende Algen und das Kleid war in einem miserablen Zustand. Überall Sand und ekliges Pflanzenzeug aus dem Meer. Selbst eine Muschel fand ich in meinem Ausschnitt und angewidert schmiss ich diese weg. Ich hatte überlebt, kaum zu glauben. Doch was war mit den anderen geschehen? Hatte überhaupt noch jemand diese Insel erreicht?
Meine Gedanken kreisten urplötzlich um Claire und ich hoffte sehnlichst, dass sie es überlebt hatte. Immerhin erwartete sie ihr kranker Bruder und es wäre eine Schande, wenn sie ihn nie zu Gesicht bekommen würde. Das durfte einfach nicht sein.
Seufzend strich ich meine nassen Strähnen aus meinem Gesicht und beschloss aufzustehen, um zu sehen, wo ich genau gelandet war. Immer noch etwas aus dem Gleichgewicht richtete ich mich ganz auf und leichte Übelkeit erfasste mich, sodass ich mir gleich an den Bauch fasste, um mich nicht zu übergeben. Hinzu kam noch das Gefühl von verzehrendem Hunger. Wie ich den wohl auf dieser Insel stillen könnte?Neugierig drehte ich mich einmal um die eigene Achse und erkannte, dass ich mich wirklich auf einer Insel befand, die genauso aussah, wie in diesen Abenteuerbüchern, die ich als kleines Kind immer gerne gelesen hatte. Große, majestätische Palmen, die in einem saftigen Grün strahlten, lauter Büsche, die dem Ganzen etwas Mystik verliehen und hinzu kam noch dieser wundervolle, golden schimmernde Sand. Derselbe, der nun auch in meinen Schuhen klebte, die ich sofort auszog und in die Hand nahm. Meine Füße vergruben sich sogleich in den feuchten Boden und ich legte eine Hand über meine Augen, um besser sehen zu können. Wo war ich hier nur gelandet?
Schon wieder entfuhr mir ein langer gedehnter Seufzer und obwohl ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, so begann ich einfach rein aus Gefühl zu gehen. Vielleicht traf ich ja jemanden auf den Weg entlang der Küste und an diesen Gedanken klammerte ich mich fest. Jemand musste überlebt haben.
Ich liebte es einfach. Diese verstummten Schreie, die kalte Angst, die in den Adern jedes einzelnen floss und vor allem der Geruch nach Unsicherheit. Mein Plan war bestens verlaufen und ich hatte das erreicht, was ich hatte erreichen wollen. Einen prächtigen Nachschlag an neuer Energie, von dem nun auch Shadow profitierte.
Er vergnügte sich mit einer Menschenleiche eines jungen Mannes, der ertrunken war und da ich sonst nicht wusste, wohin ich dessen Leiche verlagern sollte, hatte ich mich entschieden ihn zum Fraß vorzuwerfen. Deswegen waren die Kau- und Schmatzgeräusche von Shadow deutlich zu hören und obwohl ich ihn aufgefordert hatte dies wo anders zu tun, so hatte sich dieser eher von seinen Trieben leiten lassen.
Seufzend schleppte ich auch noch den letzten ohnmächtigen Passagier in einen meiner dunklen Kerker und allmählich spürte ich, dass einige wach wurden. Langsam und benommen öffnete eine junge Frau die Augen und das erste, was sie sah, war Shadows Festmahl. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, rappelte sich auf und drückte sich ganz eng an den glatten Felsen, während ihre Augen den Puma nicht aus dem Blickfeld verloren.
Nun trat ich selbst in ihr Visier und ihre Augen huschten sofort zu mir rüber, als sie sich plötzlich von der Wand löste und auf mich zuging. „ Oh Gott, bitte retten Sie mich… Da, da ist ein Raubtier hinter Ihnen und ich möchte nicht sterben! Bitte retten Sie mich!“, flehte mich diese Frau mit zittriger Stimme an und ich musste leicht lächeln, was sie zu verwirren schien.
„Gnädigste, machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden ganz bestimmt nicht die Mahlzeit des Pumas werden… Machen Sie sich eher Sorgen darum, dass Sie hier nie wieder wegkommen werden.“, antwortete ich kalten Blickes und kehrte ihr daraufhin den Rücken zu. Ich hörte genau, wie die Gefangene scharf Luft einsog und dann zu stottern begann: „Aber, aber, was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie?“.
„Nennen Sie mich wie Sie wollen, aber Ihr Retter bin ich sicherlich nicht!“, entgegnete ich noch zum Schluss und verließ diesen Bereich meines Heims. Hinter mir ertönten die Schreie und Rufe der Frau und es war nur eine Frage der Zeit, wann die anderen durch diese nervigen Ausrufe wach werden würden.
Am hell beleuchteten Flur angekommen, lehnte ich mich erschöpft gegen die kalte Felsenwand und mein Blick richtete sich nach oben, wo ich durch einen feinen Riss in der Decke den klaren Himmel betrachten konnte. Heute würde es keinen Sturm geben, das erkannte ich am Fehlen der Wolken. Zufrieden stieß ich Luft aus.
Meine Gedanken schweiften sogleich ab und Erinnerungen an die gestrige Nacht spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Ab dem Moment, in dem ich mich mit dem Wasser verbunden hatte, hatte ich gewusst, wo sich das Schiff befinden musste und so hatte ich mich auf dem Weg dorthin gemacht. Der Mond war hell und klar am Nachthimmel zu sehen gewesen und das Meer war trotz meines Vorhabens sehr ruhig gewesen. Schnell hatte ich das leise Boot im Lichte des Mondes entdeckt und ohne lange drüber nachzudenken, hatte ich mich in Form einer riesigen, verschlingenden Welle darauf gestürzt und das Boot in die Tiefe gezogen.
Die Menschen vom Deck waren sofort auseinandergespült worden, sodass es nicht schwer gewesen war sie wie mit einem Fliegengitter einzufangen und an Strand zu spülen und die restlichen Passagiere waren wie von selbst aus dem Inneren des Bootes geschwommen, um dann auch von mir in Gefangenschaft genommen zu werden. Hier und da hatte ich natürlich ein paar verloren, aber das war für mich keinerlei Verlust. Ich hatte meinen Vorrat wieder aufgestockt und das würde mir für die nächsten Monate reichen. Vielleicht sogar für ein halbes Jahr!
Ein Fauchen riss mich aus meinen Gedanken und seufzend blickte ich Shadow an, der sich über die Schnauze leckte und mich erwartungsvoll musterte. „Hast du genug gegessen und willst jetzt um Erlaubnis fragen, ob du gehen kannst?“, stellte ich die Frage, die auf Shadows Gesicht klar zu erkennen war und die große Raubkatze schnurrte lieblich.
Ich verdrehte die Augen und nickte stumm, sodass der Kater im nächsten Moment schon in den Schatten der Höhle verschwand. Nun war ich wieder alleine und ich überlegte, ob ich vielleicht nach anderen Überlebenden suchen sollte, da es manchmal vorkam, dass mir manche davonkamen. Zwar bezweifelte ich diese Tatsache, doch sicher war sicher.
Langsam und lautlos schlenderte ich durch die Gänge und achtete auf jedes Geräusch, das von den angrenzenden Fluren ertönte. Sollte nämlich ein Mensch den Versuch starten auf irgendeine Weise zu flüchten, so würde er sich zunächst in den dunklen Fluren verirren und dann würde er mir oder meinem Puma zum Opfer fallen. Denn den Weg aus diesem Labyrinth zu finden, erforderte ein cleveres Hirn, was ich aber bei diesen Bauern bezweifelte.
Diese Menschen kümmerten sich nur um genügend Geld, um ein angemessenes Leben führen zu können und es war ihnen egal dabei die Natur zu zerstören. Die ganzen Fabriken, der stickende Geruch nach Ruß und verbranntem Holz, die chemiegetränkten Flüsse und nicht zu vergessen die Ignoranz dieser Leute. Niemand kümmerte sich mehr um die Natur und so besaß der Mensch nicht mehr die Fähigkeit eins mit der Umwelt zu werden. Er war schon lange kein Teil der Natur mehr, hatte sich wie ein verräterisches Kind von der Mutter abgewendet und nutzte all die Gaben, die diese selbstlose Mutter ihren Kindern darbot, aus. Für seine eigenen Vorteile. Was für eine Schande!
Schnaubend verließ ich den sicheren Bau. Warmes Sonnenlicht traf auf meine Haut und löste ein angenehmes Gefühl in mir aus. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und blähte die Nasenflügel auf, um den frischen Duft der blühenden Natur aufzunehmen. Die Orchideen, die Hyazinthen und die Lilien schienen bald reif zu sein und in der Ferne ertönte das Zuschnappen einer Venusfliegenfalle. Ich lächelte.
Anscheinend war die Natur schon wach und ging ihrer üblichen Tätigkeit nach, was mir das Zeichen gab, dass ich mich auf eine ausreichende Ernte freuen könnte. Mal sehen, ob die Früchte der Bäume inmitten der Insel schon ausgereift waren, denn dann könnte ich diese endlich pflücken und daraus meine Tränke zusammenbrauen.
Gesagt, getan. Ich drehte mich um meine eigene Achse und bewunderte die ertragreichen Bäume und deren Früchte, die in vielen verschiedenen bunten Farben leuchteten. Es war wie das Paradies auf Erden und ich genoss den intensiven Duft der offenen Blüten und der saftigen Früchte. Langsam und ehrfürchtig näherte ich mich einem großen, stämmigen Baum und ging auf die Zehenspitzen, um einen knallroten Apfel zu pflücken. Kurz wog ich ihn in meiner Hand und stellte zufrieden fest, dass dieser das perfekte Gewicht und auch die ausgezeichnete Festigkeit hatte, die ein Apfel haben musste.
Ich konnte dem Drang nicht widerstehen und biss hinein, sodass ich kurzerhand den frischen, süßen Geschmack im Mund spürte, der meine Sinne betäubte. Wie ein Verhungernder sammelte sich Speichel in meinem Mund und ich biss nochmal hinein und hörte gar nicht auf, bis ich nur noch die Kerne in meiner Hand liegen hatte.
Seufzend scharrte ich mit dem Fuß in den leicht feuchten Boden, damit eine kleine Grube entstand und mit einem dumpfen Plumpsen landeten die Samen darin und ich schüttete mit der Hand Erde darüber. Wenn die Natur es so wollte, dann würde hier ein prächtiger Apfelbaum wachsen, genau wie die anderen sieben, die hier auf dem kleinen Hügel thronten.
Doch es gab nicht nur Apfelbäume, sondern auch Orangen-, Pflaumen- und sogar Zitronenbäume, die auch prächtig ihre Früchte präsentierten und meinen Magen zum Knurren brachten. Obwohl ich mich ja durch die Energie der Menschen nährte, so brauchte ich auch die Produkte der Natur, um zu überleben. Ich war ja auch eigentlich ein Mensch, ein besonderer Mensch.
Ein Rascheln riss mich aus meinen Gedanken und ich fuhr sofort zu der Stelle herum, als ich erleichtert feststellte, dass es der Vogel dieser Insel gewesen war, der es sich nun auf einem raschelnden Zweig gemütlich machte. Sein dunkelblauer Kopf mit den kleinen Augen ruhte auf mir und ich spürte die Seele, die aus diesem Vogel ausging. Respektvoll machte ich eine kleine Verbeugung und dann widmete ich mich wieder den Bäumen und ihren Früchten.
In aller Ruhe umkreiste ich jeden Baum und hielt Ausschau nach den reifsten Exemplaren, bis ich dann eine Hand voll frischer Früchte gesammelt hatte, die ich nun in einen mitgebrachten Sack stopfte, um noch mehr pflücken zu können. Währenddessen beobachtete ich den Sonnengang, weil ich zu einer bestimmten Zeit wieder zurück sein wollte, da die Gefangenen wie so oft zu flüchten versuchten. Natürlich immer erfolglos!
Da bis dahin jedoch alle wach sein würden, würde ich für Ruhe sorgen müssen, da die meisten ziemlich hysterisch werden würden, sollten sie allmählich verstehen, dass sie Gefangene waren. Außerdem wurden sie ja obendrauf von einem schwarzen Puma bewacht, der alles andere als satt war und dieser Anblick erschreckte vor allem das weibliche Geschlecht. Das schwächste der beiden Geschlechter, was ich sehr oft erlebt hatte. Eigentlich immer bei meinen Opfern.
Schon wieder ertönte ein Rascheln, doch diesmal war ich etwas ruhiger und mit einem Seitenblick nahm ich wahr, wie der Vogel wegflog. Anscheinend suchte sich dieser einen neuen Platz zum Beobachten und für mich bedeutete dies das Ende der Ernte und somit meine Rückkehr zu meinem Bau. Die Sonne stand schon schräg am Himmel, was mir noch genügend Stunden gab, um noch am Strand spazieren zu gehen und nach weiteren Passagieren zu suchen. Zwar glaubte ich nicht, dass ich heute noch viel finden würde, doch ein Rundgang würde nicht schaden. Dann konnte ich mir dabei auch etwas die Beine vertreten und in Ruhe meinen Gedanken nachhängen.
Zufrieden breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus und beschwingten Schrittes trat ich den Heimweg an und kam auch schon nach kurzer Zeit an. Wie erwartet, ertönten Schreie und verzweifelte Rufe aus den Gängen und brummend steuerte ich auf die Gefangenen zu.
Die Geräusche wurden immer lauter, sodass ich mich anstrengen musste all das Gesagte zu verdauen, bis ich dann endlich in der Geräuschkulisse ankam. Hier und da weinten die Jüngeren und Frauen schrien um Hilfe, während die Männer an den Stangen rüttelten und nach einem Ausweg suchten.
Ich stellte mich so, dass mich fast jeder sehen konnte und nachdem ich mit der bloßen Faust gegen die Felsmauer haute, wurde alles still. Alles schien immer noch zu vibrieren, als hätte ich ein Erdbeben hervorgerufen und böse grinsend schaute ich mich um. Angst spiegelte sich in den Augen meiner Gefangenen und nur eine leise Frage ertönte hinter meinem Rücken. „Wer sind Sie? Und was machen wir alle hier?“.
Ganz langsam drehte ich mich zu der Stimme um und erkannte einen jungen Mann, der am ganzen Körper zitterte, als er mich direkt ansah. War auch kein Wunder, da mein Anblick jedem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich machte nämlich keinen netten Eindruck, sondern einen mörderisch bösen und das genoss ich.
„Ich verrate niemandem meinen Namen… Namen haben Macht und ihr seid es nicht wert Macht zu besitzen. Deswegen seid ihr hier. Ihr, ihr werdet es sein, die mir Macht geben werdet und hier soll euer Ende sein. Euer jämmerliches Menschenleben wird hier enden!“ Meine Stimme war schneidend kalt und man glaubte die Luft würde um mich vibrieren. So viel Macht strahlte ich aus und den meisten schien das einzuschüchtern. Den meisten.
„Sie sind doch krank. Wenn Sie schon mal in den Spiegel geschaut haben, dann müssen Sie doch wissen, dass Sie auch ein Mensch wie wir sind!“, ertönte eine raue Stimme und mit blitzenden Augen drehte ich mich zu der Person um.
Es war mal wieder typisch, dass ein tollkühner Mann im mittleren Alter den Mut besaß in solch einer beklemmenden Situation einen kühlen Kopf zu bewahren, doch das würde sich schnell ändern. In einer Sekunde war ich schon bei ihm und fest packte ich ihn am Kragen und zog ihn eng an die Gitter. Kurz erklangen erstickte Schreie der Frauen und die Männer verströmten einen angespannten Duft aus, den ich gierig in mich inhalierte, während mein Blick sich tief in die Augen meines Gegenübers bohrte, der nicht mehr so mutig wirkte, wie zuvor. Ich spürte die Anspannung in seinen Muskeln und die unterdrückte Angst. Angst vor der Angst, die ihn überwältigen könnte.
Ein bösartiges Grinsen umspielte meine Lippen und ich zog ihn noch enger zu mir, sodass mein Atem seine schmutzige Haut strich. Nun waren wir im Angesicht zu Angesicht und mein Lächeln wurde breiter, als dieser fest schluckte. „Spiegel zeigen nicht dein wahres Ich! Sie spiegeln nur das Äußere wider… Und du wirst schnell lernen, dass ich kein Mensch wie du bin.“, flüsterte ich in heiserem Ton und leckte mir vorfreudig über die Lippen. Der Mann begann leicht zu zittern und mein Lächeln wurde noch breiter. Mit Nachdruck ließ ich ihn los, sodass dieser wie ein gehetztes Tier nach hinten auf sein Gesäß fiel und keinen Mucks mehr von sich gab. Braver Junge!
Mit einer Haltung, die gnadenlosen Respekt forderte, drehte ich mich wieder zu den anderen Gefangenen um und sah mir jeden einzelnen genau an. Nicht, dass sich auch unter denen ein mutwilliger Passagier versteckte, dem ich auch noch Manieren beibringen musste, was aber bei näherer Betrachtung nicht der Fall war.
Anscheinend hatte ich mich klar und deutlich ausgedrückt und mit einem zufriedenen Gefühl im Bauch schritt ich an jedem Gefängnis vorbei, ohne auch einen Blick auf die Frauen und Männer zu werfen. Diese schienen mich ebenfalls nicht ansehen zu wollen, da ich keine feurigen Blicke in meinem Rücken zu spüren bekam und so verließ ich den Gefangenentrakt und beschloss zu meinen Früchten in meinem Lagerraum zu gehen. Dort würde ich dann Nahrung für die Menschen herstellen, damit sie mir nicht verhungerten und anschließend würde ich ein paar Tränke zusammenbrauen, die mir im weiteren Überleben auf dieser Insel helfen würden.
Mittlerweile hatte der Himmel an dunkler Farbe gewonnen, was nur bedeutete, dass der Abend bald hereinbrechen würde. So schnell war der Tag vergangen und dabei hatte ich nicht viel erreicht. Zeit, dies zu ändern.
Ich beschleunigte meinen Schritt und schlenderte durch Gang für Gang, bis ich an einer Art Treppe ankam, die zu meinem Lagerraum führte. Einem Lagerraum, der nur durch eine kreisförmige Öffnung in der Mitte dieser Höhle beleuchtet wurde. Genug Licht, damit ich arbeiten konnte, auch wenn es langsam dunkel wurde.
Ein raues Miauen riss mich aus meinen Gedanken und langsam drehte ich mich zu Shadow um, der mich mit seinen goldenen Augen schief musterte. „Hast du nichts anderes zu tun, als mich zu verfolgen?“, murmelte ich leicht genervt und der schwarze Puma wedelte aufgeregt mit dem Schwanz hin und her.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und ging auf meinen Gefährten zu, kniete mich vor diesen hin und blickte ihm tief in die Augen. Immer wenn Shadow aufgeregt war, hatte er etwas Wichtiges entdeckt und sanft streichelte ich sein Fell, während ich meinen Geist öffnete und seinen in meinen hineinließ.
Es war wie beim ersten Mal, als ich mich mit diesem Tier verbunden hatte, ein berauschendes Gefühl voller Energie und Macht. Und doch musste man selbst genug Kraft aufbringen, um das Gleichgewicht zwischen den sich zwei verbindenden Geistern zu halten. Denn sonst könnte es dazu kommen, dass der eine Geist den anderen verschlang und das wäre katastrophal. Eine Missgeburt der Natur würde somit entstehen, böser als ich es schon war.
Wie in Trance nahm ich wahr, wie sich mein Geist mit seinem verschmolz und wie Bilder in meinem Kopf auftauchten, die ich nie zuvor gesehen hatte. Es waren die Bilder, die Shadow mir vermitteln wollte und als ich diese zu deuten begann, brummte ich frustriert.
Also hatten auch andere Passagiere meinen Überfall überlebt und versammelten sich nun auf der anderen Seite der Insel, um Pläne zu schmieden. Es schien nicht, als wüssten sie von meiner Existenz und das stimmte mich wieder heiter. Noch mehr Beute, die darauf wartete von mir gefangen genommen zu werden.
Ich öffnete langsam meine Augen, trennte unsere verbundenen Geister und klopfte stolz mit der Hand auf Shadows Seitenmuskel. Dieser schnurrte vergnügt und schmiegte seinen Kopf an meine Brust, was mich leise lachen ließ. Obwohl diese Raubkatze egoistisch und kaltherzig sein musste, so war Shadow das komplette Gegenteil. Es war, als hätte dieser die positiven Eigenschaften meines Charakters vor sehr vielen Jahrzehnten in sich aufgenommen, um diese in Sicherheit zu wahren. Etwas, zu was nur Gefährten fähig waren. „Das hast du gut gemacht Shadow!“, murmelte ich in sein weiches Fell am Nacken und richtete mich wieder vollkommen auf, weil ich mich nun entscheiden musste, was ich als Nächstes tun sollte. Entweder ich ließ die freien Passagiere fürs erste auf der Insel umherirren oder ich kümmerte mich um dessen Gefangennahme, sodass sie nicht über Nacht eine mentale Kraft entwickelten, die mir zum Verhängnis werden könnte.
Nachdenklich richtete ich meinen Blick auf das Proviant und überlegte fieberhaft, was ich tun könnte. Ich wog die Argumente fürs Handeln und Nichthandeln ab und kam zu dem Schluss, dass ich genug Zeit haben würde, um mich mit dem Rest der Flüchtigen am nächsten Tag zu beschäftigen. „Halt mich auf dem Laufenden, Shadow. Und pass auf dich auf!“, forderte ich den Puma auf und dieser verschwand mit einem einverstandenen Knurren.
Wieder fiel mein Blick auf die Lebensmittel und mit zwei Schritten war ich auch schon bei den Früchten, die ich ein paar Tage zuvor gepflückt hatte. Die frischen Neuen holte ich aus meinem Sack, der über meiner Schulter hing, heraus und legte sie zu den anderen, wobei ich darauf achtete, dass sie nach Intensität der Färbung und Art der Frucht geordnet waren. So fiel es mir leichter die richtigen Zutaten für einen bestimmten Trank zu finden.
Während ich die Ernte ordnete, stellte ich schon mal die Zutaten, die ich brauchte, auf die Seite und als ich dann mit dem Einräumen fertig war, setzte ich mich auf den kalten, steinigen Boden und reihte die verschiedenen Früchte vor meinen Füßen auf. Mit der rechten Hand griff ich nach einer leeren Kokosnussschale, in die ich den Saft einer Zitrone hineinpresste und anschließend die Haut eines Apfels mithilfe eines scharfen Messers hinzufügte.
Dies begann ich mit einem runden, trockenen Stein zu mahlen, bis die Haut des Apfels sich mit dem Saft der Zitrone zu einer Masse vermischte. Anschließend spaltete ich mit bloßer Hand die knackige Form einer Mango und schnitt das saftige Fleisch der einen Hälfte aus, welches ich dann auch in die Schale fallen ließ. Zu guter Letzt holte ich ein kleines Säckchen aus Palmblättern und Sehnen eines Inselfisches aus meiner Hosentasche heraus und öffnete diesen. Darin befand sich das Salz des Meeres, was ich brauchte um den Saft der Mango aus ihrem Fruchtfleisch zu befreien.
Vorsichtig schüttete ich dieses über die Brühe. Dann stand ich mit der Schale in der Hand auf und stellte diese auf einen kleinen Tisch, der genau unter der Lichtöffnung stand, hin. Dort würde sie die ganze Nacht verweilen.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nichts vergessen hatte, verließ ich den Lagerraum und beschloss nun den geplanten Spaziergang zu machen. Dabei kam ich an den Gefängniszellen vorbei und schon wieder ertönten die aufgeregten Stimmen meiner Opfer. Ich blieb abrupt stehen, stellte mich nah an die Wand und konzentrierte mich auf mein Gehör, sodass ich bis zum Ende des Flures jedes Wort hören konnte.
„Wir müssen hier unbedingt raus!“
„Dieser Mann muss doch ein kranker Psychopath, ein Serienmörder sein“
„Es muss doch einen Ausweg aus dieser Höhle geben.“
„Wir müssen zusammenhalten und dann schaffen wir alles!“
All das drang in mein Gehör ein und ich biss fest die Zähne zusammen, um diesen Leuten nicht nacheinander Manieren und Ruhe beizubringen. Ich spürte die Wut, die in mir aufkeimte, als jemand mich als ‚verrückt‘ bezeichnete und ich lechzte nach dessen Blut, der das gesagt hatte. Eine zierliche weibliche Stimme, die danach trachtete mein erstes Opfer zu sein.
Mit geballten Fäusten drückte ich mich von der Wand ab und ging in Richtung Ausgang, welcher sich nur ein paar Meter von mir entfernt befand. Tief luftholend verließ ich meinen Bau und mein Blick schweifte aufmerksam hin und her. Ein kühler Lufthauch fuhr mir durchs Haar und ich schloss genussvoll die Augen, bevor ich dann den ersten Schritt tat und zum Strand ging. Ich mochte den Strand sehr, bei Tag und bei Nacht, aber vor allem bei Nacht. Denn dann leuchtete das Meer in seinen dunklen Farben, während die Schatten der Dunkelheit erwachten und ihren Tanz der trüben Melodien tanzten.
Am Strand angekommen, drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen und stellte zufrieden fest, dass niemand da war. Allein die Sonne schien warm auf meine Haut und verabschiedete sich von den Bewohnern der Insel, um sich auszuruhen und ihren Zwilling, den Mond, die Bühne zu überlassen. Verträumt sah ich in den Himmel hinauf und meine Augen tauchten in das sich verdunkelnde Blau ein, das mich an das Meer erinnerte. Der Himmel, der Spiegel des Meeres und das Meer, der Spiegel des Himmels. Verbanden sich diese zwei Elemente eröffnete sich eine Welt, die nur ein Auserwählter sehen konnte. Eine Welt, in der ich nun lebte.
Gedankenverloren fuhr ich mir durchs dichte dunkle Haar und sah mich prüfend um. Wohin sollte ich nun gehen? Frischer Wind traf mich von rechts und ich wandte den Kopf in die Richtung, in die mich der Lufthauch wehte. Also ging ich nach links und der weiche Sand knirschte dumpf unter meinen Füßen. In der Ferne sah ich zu, wie die Sonne allmählich ins Meer tauchte und dabei ihre vielen fröhlichen Farben in den Himmel schickte. Orange, helllila und rot. Die Farben, die auch der Inselvogel trug, der gerade über meinem Kopf flog und einen spitzen Schrei ausstieß.
Ich hielt inne und hob fragend eine Augenbraue. Normalerweise gab dieser Vogel keinen Ton von sich... Womöglich befand sich etwas oder jemand auf der Insel, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und das reizte meine neugierige Ader. Endlich mal wieder was Interessantes auf dieser Insel.
Da es langsam dunkler wurde, spürte ich die wachsende Unruhe in mir und ich begann auch heftig zu frieren. Das Salzwasser hatte dazu geführt, dass meine Haut sich nicht mehr so geschmeidig anfühlte und das frustrierte mich. Dieses dreckige Gefühl gefiel mir überhaupt nicht und ich musste außerdem schnell einen Unterschlupf finden, um nicht elendig von irgendwelchen Inselbewohnern abgeschlachtet zu werden. Immerhin hatte ich keine Ahnung, wo genau ich mich befand und somit wusste ich auch nicht, was für Lebewesen auf dieser Insel existieren könnten.
Seufzend hob ich leicht den Saum meines Kleides an, um diesen nicht noch dreckiger zu machen und stolzierte den Strand entlang, um mit Glück vielleicht etwas zu finden, was vom Boot hierher gespült worden war. Möglich war es, aber die Realität war da anderer Meinung. Ich fand einfach nichts. Nur ein paar Kokosnussschalen und die waren schon längst ausgetrocknet, was mich noch mehr frustrierte.
„Ich werde sicherlich nicht auf dieser Insel verenden… Nur über meine Leiche!“, murmelte ich trotzig vor mich hin und beschloss nun das Innere des Waldes auszukundschaften, welches von außen keinen so einladenden Eindruck machte. Dennoch ging ich achtsam meinen Weg weiter und trat schon auf die ersten Zweige und Blätter, die in einer matschigen Masse am Boden hafteten.
Mittlerweile war die Sonne nur noch am Horizont zu sehen und der Wald wurde immer dunkler, je tiefer ich in diesen eindrang. Jedes Geräusch, was ertönte, brachte mich zum Zucken und teilweise hielt ich sogar die Luft an, aus Angst etwas oder jemand könnte mich hören. Meine Augen huschten ständig hin und her, immer auf der Hut und meine Füße versuchten stets so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Das klappte auch und allmählich beruhigte sich mein Herz, welches zuvor so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris geschlagen hatte.
An das leise Rascheln der Bäume, das leise Knacken der Zweige unter meinen Füßen, das Flattern von Vögeln in den Kronen der Bäume und das leise entfernte Plätschern eines Flusses oder Bachs hatte ich mich schon gewöhnt. Das waren die einzigen Geräusche in diesem Wald, wobei ich darauf bedacht war dem Plätschern zu folgen. Immerhin hatte ich großen Durst, vor allem weil mir das Salzwasser jegliche Flüssigkeit aus dem Körper gezogen hatte, weswegen mein Mund sehr trocken war und sogar schon wehtat, wenn ich schluckte.
Kurz hielt ich inne, als ich an einer Weggabelung ankam und skeptisch sah ich hin und her, unentschlossen welchen Weg ich gehen sollte. Außerdem wurde ich immer müder und das Denken fiel mir umso schwerer, sodass ich einfach den linken Weg nahm und weiter voranschritt.
Durch die Dunkelheit, ohne jegliches Licht, welches meinen Weg weisen könnte.
Allein das sekundenlange Aufleuchten meines Armbands ermöglichte mir überhaupt etwas sehen zu können.
Ich wusste nicht wie weit und wie lange ich schon gelaufen war, doch irgendwann landete mein Fuß in etwas Nassem und ich fiel überrascht nach vorne. Nicht mal Zeit hatte ich, um aufzuschreien, da war ich schon im Wasser und strampelte schockiert mit Armen und Beinen, bis ich wusste, wo oben war, um tief Luft zu holen. Ich hustete aus Leibeskräften, da ich dabei Wasser geschluckt hatte und verwirrt blinzelte ich, um zu erkennen, wo ich gelandet war.
Nur schwach erkannte ich die Umrisse eines Ufers und mit einer halben Drehung entdeckte ich zusätzlich Pflanzen, die aus dem Wasser ragten und mich teils an den Seiten piksten. Ich machte kleine Brustbewegungen, um voran zu schwimmen, wobei ich das eklige Gefühl in meinem Bauch nicht loswurde. Immerhin wusste ich nicht, in was ich da gerade schwamm und vor allem welche Gefahren in diesem Gewässer auf mich lauern konnten.
Ein Aufschrei eines Vogels ließ mich zusammenfahren und ich blieb abrupt stehen. Die Kälte des Wassers drang in all meine Poren ein und meine Zähne begannen unwillkürlich zu klappern. Ich musste schnell hier raus, die Angst war einfach zu groß und der Schrei des Vogels hallte immer noch schmerzhaft in meinem Kopf wider.
Aus diesem Grund schwamm ich einfach zur Seite, kämpfte mit ein paar Pflanzen, rutschte auf dem matschigen Ufer aus und kroch erbärmlich auf allen Vieren aus dem Wasser heraus. Als ich das dann geschafft hatte, setzte ich mich auf den Hintern hin und diesmal spürte ich, wie das Zittern meiner Zähne sich auf den ganzen Körper übertrug. Nun war ich vollkommen ein wandelndes, klapperndes Skelett.
Meine Arme umschlangen meinen Oberkörper und in der Haltung führte ich meine Wanderung fort. Ich würde so lange nicht Rast machen, bis ich einen sicheren Unterschlupf fand, auch wenn mein Körper und meine Augen nicht gehorchen wollten. Ich hatte nichts gegessen, nichts getrunken und vor allem wenig geschlafen und diese drei Faktoren pochten in meinem Kopf und forderten Aufmerksamkeit.
Schon wieder ertönte dieser Schrei desselben Vogels und ich blieb wieder stehen, um zu horchen. Diesmal nahm ich nichts wahr außer das Pochen meines Herzens und mein leises Zähneklappern, weil ich immer noch fror. Ich war durchnässt und meine Schuhe, die sich nun anfühlten, als wären sie aus festem Matsch, klebten an meinen kalten Füßen. Alles in allem fühlte ich mich einfach ekelhaft und ich wünschte mir, ich wäre noch zu Hause oder schon in Amerika, wobei mein Reiseziel ein gutes Stück weiter entfernt war.
Seufzend vergewisserte ich mich, dass nicht noch etwas in den Gebüschen auf mich lauerte und anschließend ging ich voran, bis ich schon nach kurzer Zeit an einem sehr großen Baum ankam. Das sah ich, weil plötzlich vor mir ein riesiger Schatten aufgetaucht war, der nur ein Baum hätte sein können.
Mit offenem Mund betrachtete ich diesen Riesen und sah ihn mir genauer an, soweit das wenige Licht, das durch die Kronen hereinbrach, reichte. Es hatte riesige, stämmige Wurzeln, von denen ein paar aus der Erde ragten und an manchen Stellen wuchs Moos, was ich mit meiner flachen Hand spüren konnte. Zudem gingen viele unterschiedlich große und weite Zweige beziehungsweise Äste von dem dicken Stamm aus und da kam mir eine wunderbare Idee.
Vorsichtig legte ich eine Hand auf den rechten Ast neben mir und den linken Fuß auf einen gegenüberliegenden Ast, sodass ich mich langsam und mit aller Kraft hochziehen konnte. Wäre ich satt und hätte geschlafen, so wäre mir diese Aktion viel leichter gefallen, stellte ich seufzend fest und kletterte weiter nach oben.
Ast für Ast, sehr vorsichtig und langsam, um bloß nicht auszurutschen. Nicht zu vergessen, dass ich gar nicht mal wusste, wie hoch ich eigentlich kletterte, da alles unter mir in Finsternis getaucht wurde, was zusätzlich Unbehagen in mir ausbreitete. Hoffentlich endete ich nicht im Himmel!
Keuchend vor Anstrengung kam ich dann endlich an einen Platz an, wo ich mich hinlegen konnte, bestehend aus mehreren Ästen, die nebeneinander aus dem Stamm hervortraten. Es war wie eine Art hölzernes Bett, nur ohne Matratze oder Stroh, denn selbst die Blätter würden zusammen keinen weichen Untergrund ergeben. Aus diesem Grund nahm ich einfach das, was man mir bot und völlig erschöpft ließ ich mich sanft niederfallen und versuchte es mir etwas gemütlich zu machen, indem ich verschiedene Stellungen ausprobierte. Als ich dann die angenehmste gefunden hatte, blickte ich nach oben und überraschenderweise erkannte ich zum Teil den nachtblauen Himmel mit ein paar hellen Sternen, die mich anlachten.
Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht und kaum hatte ich die Augen geschlossen, schlief ich ein und tauchte in ein tiefes Nichts.
Mitten in der Nacht wurde ich durch ein fürchterliches Fauchen oder Knurren aufgeweckt. Ich riss erschrocken die Augen auf und legte mich auf den Bauch, um nach unten zu spähen, als ich enttäuscht erkannte, dass ich ja zu dieser Tageszeit nichts sehen konnte. Also lag alles an meinem Gehör und erneut erklang das laute Fauchen, das nur einer Raubkatze zugeordnet werden konnte. Also existierten hier doch gefährliche Raubtiere und das schnürte mir die Kehle zu.
Ich musste schnell einen Weg finden mich zu bewaffnen, um mich dann der Flucht von dieser Insel zu widmen. Hoffentlich traf ich diese Raubkatze nicht am morgigen Tag, denn dann wäre ich geliefert und ich wollte nicht sterben. Noch nicht.
Schon wieder kam das Knurren von unten und hallte bis nach oben, woraufhin ich mich fragte, ob das umgekehrt auch der Fall war. Denn sollte ich hier oben Krach machen, würde man das auch am Grund hören? Ernüchtert von dieser Annahme hörte ich auf zu atmen und hoffte, dass das Tier mich nicht bemerkt hatte.
Wäre ich doch höher geklettert! Denn stelle man sich vor, dass mich nur ein paar Meter von diesem Raubtier fernhielten, so wäre ich geliefert. Immerhin hatten Raubkatzen einen besseren Hör- und Geruchssinn als Menschen.
Schnell, aber lautlos, rutschte ich langsam näher an den Stamm, bis mein Rücken den harten Hintergrund spürte und ich mich wieder traute leise zu atmen. Mein Herz, das zuvor gerast hatte, beruhigte sich, sobald ich mich auf eine regelmäßige Atmung konzentriert hatte und ich schloss erneut die Augen. Mir wird schon nichts passieren, ich bin auf einem Baum und diese Katze ist unten. Sie ist bestimmt mit einem anderen Opfer beschäftigt und wird kein Interesse haben nach weiterer Beute Ausschau zu halten!
Dennoch hielt ich meine Ohren spitz und wartete auf das nächste Geräusch, doch es kam nichts. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte oder eher verängstigt, aber die Müdigkeit übermannte mich erneut und ich schlief in Sekundenschnelle wieder ein. Mit dem Kopf am Stamm angelehnt und die Hände auf den Knien der angezogenen Beine.
Der nächste Morgen brach an und dieser machte sich durch die warmen, hellen Sonnenstrahlen bemerkbar. Ich kniff die Augen zusammen, bevor ich diese flatternd öffnete und gähnte herzhaft, während ich meine Arme ausstreckte, um meine Verspannungen im Schulterbereich zu lösen. Nun spürte ich auch noch den Schmerz im Rücken, sodass ich erstmals schwankend aufstand, eine Hand an den Stamm legte und die andere an die Hüfte, um mich dann ganz zu dehnen. Ein leises Knacken ertönte und mir entfuhr ein leises Aufstöhnen. Herrlich, diese Erlösung!
Der Baum war doch nicht so gemütlich gewesen, wie angenommen. Mein Blick fuhr herum und nun erkannte ich deutlich meine Umgebung. Überall saftig grüne Bäume in allen Größen und die belebte Tierwelt, angefangen von Vogelgezwitscher bis zum Summen von Insekten.
Außerdem verströmte der Tag nicht mehr diese düstere Atmosphäre wie die Nacht, die ich verängstigt hatte miterleben müssen. Zuerst der einschüchternde Fluss und dann die Raubkatze, die jagen gewesen war und nun war das schlimmste, was mir passieren könnte, der Fall vom Baum. Apropos, in welcher Höhe war ich denn eigentlich?
Vorsichtig und auf allen Vieren krabbelte ich zu einer Gabelung der Äste und spähte nach unten, als mir bei dem Anblick kurz schwindlig wurde. Wie hoch war das denn? Mehr als das Doppelte von meinem Haus! Vielleicht zwanzig Meter, so viel würde ich schätzen, obwohl ich eigentlich kein Können im Entfernung schätzen besaß. Demnach könnte also meine Schätzung auch vollkommen falsch sein, selbst wenn der Anblick was anderes darbot.
An diese nicht vollständig beantwortete Frage folgte nun aber die zweite. Wie kam ich hier wieder runter? Immerhin wusste ich jetzt, in was für einer schwindelerregenden Höhe ich mich befand, sodass sogar mein Mut mich langsam verließ. Wäre ich in einem müden Zustand gewesen, dann wäre ich ohne lange zu überlegen heruntergeklettert. So als ob mir die Höhe nichts ausgemacht hätte.
Seufzend fuhr ich mir durchs spröde Haar und ließ mich auf meinen Hintern fallen. Ich musste da runter, weil ich Essen, Trinken und ganz dringend ein Bad brauchte. Doch wie sollte ich das anstellen? Einfach herunterklettern? Ast für Ast, so wie gestern Nacht?
Da mir sowieso keine andere Wahl blieb, sammelte ich den Rest Mut, den ich noch parat hatte und ließ einen Fuß nach unten baumeln, bis ich einen festen, nicht schwankenden Ast, spüren konnte, auf den ich dann auftreten konnte. Meine Hände funktionierten hierbei wie Klammern und nie machte ich einen Schritt nach unten, wenn nicht beide Hände was zu packen hatten.
So vergingen viele Meter und als dann die etwas schwächeren Äste an der Reihe waren, verharrte ich für einen Moment. Mein Blick huschte kurz nach unten und tief holte ich Luft ehe ich mutig weiter kletterte. Nur noch ein paar Meter und freudig ließ ich los, sodass ich leichtfüßig auf dem weichen Boden landete.
Unwillkürlich drehte ich den Kopf in alle Richtungen, um sicher zu sein, dass mich niemand und nichts entdeckt hatte und erst dann begann ich nach etwas zum Essen zu suchen. Vielleicht essbare Früchte oder ein kleiner See, in denen Fische schwammen…
Rechts und links musste ich mich an dichten Büschen und großen Bäumen vorbeizwängen, sodass ich mich fragte, wie ich das in der Nacht geschafft hatte bis hierher anzukommen, ohne je einmal gegen einen Baum gelaufen zu sein. Vielleicht hatte ich das ja getan, nur machten sich die blauen Flecke noch nicht bemerkbar, dachte ich amüsiert und blieb am Ufer des Flusses stehen.
Also war es doch ein Fluss gewesen, voll von Pflanzen wie Schilf, die aus dem Wasser ragten und im Strom schwankten. Doch was mich am meisten schockierte, war etwas länglich Grünes, welches durch das Wasser sich zu schlängeln schien. Außerdem schimmerte es in verschiedenen Grüntönen und je näher ich mich nach vorne beugte, desto größer wurden meine Augen. Um Himmels Willen, das war ja eine Schlange!
Erschrocken wich ich zurück und fasste mir an die Brust. Diese Schlange hätte mich beißen können und wer wusste, wie giftig diese war. Was für ein Glück, das ich schnell aus dem Fluss gestiegen war, auch wenn der Dank dem Vogel diente, der mich dazu verleitet hatte das Wasser zu verlassen.
Da ich nun wusste, was in diesem Fluss wohnte, beschloss ich einen großen Bogen darum zu machen und ging in eine Richtung, aus der ich sicherlich nicht gekommen war. Das sah man an den nicht vorhandenen Fußspuren im feuchten Boden.
Leise vor mich hin summend schritt ich vorsichtig und achtsam durch den riesigen Wald, während mein Magen immer wieder Protestrufe ausstieß und mich fast in den Wahnsinn trieb, als ich plötzlich an eine Lichtung ankam und mir die Kinnlade aufklappte.
Ein kleiner Hügel in frischem, sommerlichem Grün erstreckte sich vor mir und darauf wuchsen Bäume unterschiedlichster Art. Hungrig stürzte ich mich auf die herrliche Auswahl an Früchten und nahm mir zuerst einen saftig roten Apfel, in den ich genussvoll hineinbiss. Stöhnend schloss ich die Augen.
Solch einen leckeren Apfel hatte ich noch nie zuvor gegessen und es war die reinste Erlösung für meinen Magen. Ein Geschenk, besser ausgedrückt.
Nachdem ich den Apfel im Eiltempo verschlungen hatte, widmete ich mich nun den Pflaumen zu, die wunderbar knackig waren und auch sehr saftig. Was waren denn das für Wunderbäume? Jede einzelne Frucht schmeckte wie verzaubert und selbst der Ort hatte etwas Magisches an sich, was man nicht in Worte fassen konnte.
Ich schlang alles hinunter, was ich konnte und legte letztlich eine Hand auf meinen Bauch, der endlich nicht mehr protestierte. Nun konnte ich mich auf der Suche nach Wasser begeben, selbst wenn ich keinen Durst verspürte, da der Saft der Früchte vollkommen zur Erfrischung beigetragen hatte.
Wasser konnte man immer gebrauchen und deswegen brauchte ich eine geeignete Quelle, in der es aber keine Schlangen oder andere giftige Tiere gab. Sonst würde ich hier elendig verdursten!
Zu schade aber, dass meine Beine schon anfingen weh zu tun, vor allem weil das Kleid immer noch etwas nass war und somit eine Last mehr war. Aus diesem Grund packte ich den Rand des Kleides und begann mit aller Kraft zu ziehen, was aber nicht half. Der Stoff blieb unberührt und ich atmete angestrengt aus. Ich brauchte dringend etwas Scharfes, sonst würde ich nie das Kleid zum Reißen bringen, aber woher sollte ich so einen Gegenstand auf einer verlassenen Insel finden?
Vielleicht einen spitzen Stein, so wie die Urmenschen es früher getan hatten, aber hier war weit und breit kein Stein zu sehen, der eine scharfe Kante aufwies.
Frustriert stampfte ich mit dem Fuß kurz auf, hob meine Kleider an und mit aufgeblähten Wangen stolzierte ich in eine Richtung, die hinter die Bäume führte. Wenn hier schon solche prächtigen Früchte reiften, so musste eine wundersame Quelle ganz in der Nähe sein, die für dieses Werk zuständig war.
Ich folgte einem schmalen Pfad, der nur von Blättern in verschiedenen Größen bedeckt war und betrachtete die Vielfalt der Natur, die sich meinem Auge bot. Jeder Busch hatte etwas Besonderes an sich, was ich mir jedoch nicht erklären konnte, weil es eben nur Büsche waren. Kleine, große, dichte, früchtetragende, teils auch stachelige Büsche. Abgesehen davon gab es auch wunderschöne Blumen, die den Weg zierten und besonders vor einer schönen Pflanze blieb ich stehen.
Sie bestand aus hellgelben Blütenblättern und an dessen Spitzen waren sie in einem starken Rotton, fast so als würde sie bluten. Strich man die Blüte zum Kern entlang, so wurde der Gelbton viel dunkler und mündete in einem hell- bis dunkelblauem Ton, der einen violetten Kern wie einen Ring umschloss. Aus diesem violetten Pollenkern sprossen kleine grüne Stängel mit ebenfalls violetten Pollenkugeln an ihrem Ende. Bereit um von Bienen bestäubt zu werden, sodass diese wunderschöne Blume verbreitet werden konnte.
Dabei stellte ich fest, dass ich bis jetzt keine einzige Biene entdeckt hatte. Und das obwohl ich an vielen Blumen vorbeigegangen war. Gab es denn hier solche Insekten nicht?
Mein Blick fiel wieder auf die Blume und ich beugte mich vor, um daran zu riechen, als mich ein süßlicher Geruch traf. Dieser Duft betäubte für einen kurzen Moment meine Sinne und mit einem verträumten Lächeln lehnte ich mich wieder zurück und strich sanft über ein Blütenblatt. Hoffentlich fand ich mehr davon, denn dann würde ich mir sicherlich eine pflücken und ins Haar stecken.
Nach diesem überaus attraktiven Fund setzte ich meinen Weg fort und hörte aus einer kurzen Distanz das Rauschen von Wasser. Es klang wie ein Wasserfall und Hoffnung keimte in mir auf, die sich wie eine Blume in meinem Inneren öffnete.
Ich beschleunigte meinen Schritt, folgte dem Klang nach Nassem und riss überrascht die Augen auf, als ich hinter einem sehr großen, prächtigen Felsen einen Wasserfall und einen kleinen, kristallklaren See entdeckte. Es war einfach bezaubernd dieser Ort, fast wie im Märchen. Überall sprossen Blumen in verschiedenen Farben entlang dieses Sees und das Wasser war so klar, wie lauter kleiner, geschliffener Diamanten, die das Sonnenlicht in all seinen Farben teilte. Ehrfürchtig umrundete ich langsam den See, um mir ein genaueres Bild von diesem Ort zu machen und ohne lange nachzudenken, entkleidete ich mich in Windeseile und stieg in das angenehm kalte Wasser.
Noch konnte ich am Rande des Ufers auftreten, doch eine Schwimmbewegung weiter reichte aus, dass ich auf mich allein gestellt war. Allerdings machte mir dieser Fakt nichts aus, ich hatte klares Wasser gefunden und konnte nun endlich meinen Körper von all dem Dreck befreien.
Ich fühlte mich, übertrieben ausgedrückt, wie eine Prinzessin in einem jungfräulichen Brunnen, wo ich am liebsten die Ewigkeit verbringen wollte. Das Wasser umschmeichelte meine verspannte, teils verwundete Haut und umhüllte mich in eine Art Heilmantel.
Darauf kam mir prompt die Idee, ob ich nicht unter den Wasserfall schwimmen sollte, um meine Haare besser waschen zu können. Vielleicht würde ich sogar einen Platz finden, wo ich auftreten konnte und mit ein paar Brustbewegungen kam ich auch schon an, tauchte unter dem Wasserfall durch und holte kurz darauf wieder Luft. Diesmal blendete mich kein Sonnenlicht, sondern die schimmernde Dunkelheit der Felsen, die vor mir wie eine Mauer in die Höhe ragten.
Tief in mir drin hatte ich gehofft hier sei eine Art Höhle, doch leider war dem nicht so. Nur eine graue Felsenwand, dessen Nässe das wenige Licht, welches durch den Schleier des Wasserfalls hereinbrach, reflektierte. Keine Höhle, aber immerhin war es schön.
Ich drehte mich wieder zu dem niederprasselnden Wasser um und schwamm so weit voran, dass ich mit dem Kopf unter dem Wasserschleier schlüpfen konnte und mit dem Waschen beginnen konnte. Angeekelt hielt ich nun etwas Grünes in meiner Hand, welches sich aus meinen zerzausten Haaren gelöst hatte und sofort schmiss ich es zur Seite. Zudem spürte ich beim Kraulen meines Kopfes, dass das Jucken, was ich den ganzen Tag schon verspürt hatte, vom Meersalz und Sand vom Strand stammte. Das alles wurde vom Wasser weggespült und als mein Haar wieder weich und nass über meine Schultern fiel, atmete ich erleichtert aus und lehnte mich an den Felsen.
Da bemerkte ich etwas Glänzendes in einem Felsspalt und mit zusammengekniffenen Augen näherte ich mich dem Spalt und riss freudig die Augen auf. Das war Wasser, trinkbares Wasser, das sah ich sofort. In meiner Heimat hatten wir auch im angrenzenden Waldgebiet einen Bach, der von den Bergen in einen größeren Fluss mündete und von dort hatte ich mir meistens frisches Wasser geholt, wenn wir welches gebraucht hatten.
Wie eine Verdurstete legte ich die Hände in einer Bettelgeste aneinander und als genug Wasser sich in der Kuhle gesammelt hatte, trank ich aus. Das frische Wasser glitt meine raue Kehle hinunter und wohlig seufzend nahm ich mir noch mehr, bis ich keinen Durst mehr verspürte. Dieses kleine Wasserrinnsal war bis jetzt die einzige Quelle, die ich nun hatte, aus der ich trinken konnte und deswegen brauchte ich unbedingt eine Flasche oder einfach nur ein geeignetes Transportmittel, um das Wasser überallhin mitzunehmen.
Suchend sah ich mich um, aber was sollte ich auch schon hier finden? Eine perfekt geformte Schale auf samten, roten Kissen? Wohl kaum.
In Gedanken versunken schwamm ich wieder auf den kleinen See hinaus und entdeckte mein Kleid, welches ausgebreitet auf dem Gras lag und von der Sonne beleuchtet wurde. Genau daneben lagen meine Strümpfe und da kam mir die Idee. Ich kletterte aus dem See hinaus, ging in gebückter Haltung zu meinen Sachen und nahm einen Strumpf in die Hand, den ich mit beiden Händen öffnete und ungefähr schätzte, wie viel Wasser hineinpassen könnte. Genug, um den Tag zu überstehen, meiner Meinung nach.
Nur brauchte ich etwas, um den Stoff abzudichten, sodass kein Wasser hindurchsickern konnte. Diesmal fiel es mir nicht schwer eine Lösung für das Problem zu finden, denn die Blätter der Bäume waren dicht genug und würden genug Platz in meinem Strumpf finden. So packte ich so viele wie möglich hinein und zum Verschließen des Strumpfes nutzte ich den anderen Strumpf, den ich um das Ende binden konnte. Doch zuvor musste ich meinen trinkschlauchartigen Behälter mit dem Wasser auffüllen und kurzerhand hielt ich dann den vollen Strumpf zufrieden in der Hand.
Diesen legte ich unter einen Baum, damit die Sonne nicht darauf scheinen konnte und das Kleid legte ich auf einen Ast, damit es trocknen konnte. Wie praktisch es doch wäre, wenn ich Seife dabei hätte, denn dann hätte ich die schmutzigen Stellen meines Kleides säubern können. Natürlich wären mehr Klamotten eine bessere Lösung gewesen, aber ich hatte nur ein Kleidungsstück am Leib zu tragen und das musste ich pflegen.
Ich werde mich dennoch aber lieber noch etwas im Wasser entspannen, so etwas muss man einfach genießen!
Die Zeit verging glücklicherweise ziemlich langsam, auch wenn ich das nicht beurteilen konnte, weil ich keine Uhr zur Verfügung hatte. Ich genoss deswegen die Ruhe, soweit die Sonne noch durch die Kronendecke der Bäume hindurchscheinen konnte und schloss seufzend die Augen, während ich im See entspannt umhertrieb.
Ab und zu fiel mein Blick wiederholt zum Himmel, der durch ein paar Lochflecken in der Blätterschicht zu erkennen war und verträumt verfiel ich in alte Erinnerungen, von denen die meisten von meinen Eltern handelten.
Zuerst erinnerte ich mich an das erste Mal, wo ich schwimmen gelernt hatte und das in einem Fluss in der Nähe unseres Hauses. Damals war das Wetter sehr schön gewesen und die Sonne hatte hell am Himmel geschienen, sodass mein Vater beschlossen hatte mir mit meinen neun Jahren das Schwimmen beizubringen. Ich war sehr aufgeregt gewesen, da ich keinerlei Ahnung hatte, was da auf mich zukam, doch schon nach den ersten Bewegungen im Wasser hatte ich mich sehr wohl gefühlt.
Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass mein Vater dabei gewesen war, der stets darauf geachtet hatte, dass mir bloß nichts geschah.
Als nächstes fiel mir die Situation ein, in der es um einen Mord in meiner Heimat ging, was mich zu der Zeit ziemlich verängstigt hatte. Ich war erst dreizehn gewesen, als man uns mitgeteilt hatte, dass eine junge Frau in einer Gasse tot aufgefunden worden war und seitdem hatte ich immer Angst gehabt alleine in den Gassen zu verkehren. Allzu gut erinnerte ich mich an das Gesicht meiner Mutter, welches vor Entsetzen starr geworden war. Sie hatte mir dringend verboten alleine irgendwohin zu gehen und das war das erste Mal gewesen, wo ich mit einem Verbot meiner Eltern einverstanden gewesen war.
Später hatte man zum Glück den Täter gefasst und ab dann hatte ich wieder meine Angst alleine spazieren zu gehen wieder besiegen können, auch wenn nachts etwas davon übrig geblieben war.
Passend zu meinem nun knurrenden Magen dachte ich an das leckere Essen meiner Mutter zurück, sodass die bloße Erinnerung meinen Speichelfluss erhöhte. All die schmackhaften Kuchen, die köstlichen Reisgerichte, die deliziösen Suppen und vor allem das exzellent schmeckende Brot regten meinen Hunger noch mehr an und leicht frustriert stieß ich Luft aus. Wenn ich doch nur noch eine Weile zu Hause geblieben wäre, vielleicht wäre ich zu einem späteren Zeitpunkt nicht in so einen Schlamassel geraten. Auf einer verlassenen Insel, dessen Entfernung bis nach Amerika mir total unbekannt war.
Meine armen Großeltern, die mich in aller Freude erwarteten. Sie würden nun sicherlich die Nachricht erhalten, dass mein Boot im weiten Meer gesunken war und dass niemand wusste, ob es noch Überlebende gab. Ich hoffte, dass ich bald von dieser Insel, egal wie, flüchten konnte, denn ich gehörte nach Amerika und nicht hierher. Aber wie ich das anstellen würde, war die Frage des Jahrhunderts.
Plötzlich riss mich ein lautes Knacksen aus meinen Gedanken und erschrocken sah ich in die Richtung aus der das Geräusch ertönt war. Dort bewegte sich etwas in den Gebüschen und so schnell ich konnte, schwamm ich hinter den Wasserfall und versteckte mich hinter dem Schleier. Irgendwie hatte ich sogar das Bedürfnis die Luft anzuhalten, doch weil das Rauschen des Wassers laut genug war, gewährte ich mir selbst das Atmen.
Aber ganz leise und regelmäßig.
Gespannt verfolgte ich das Geschehen vor dem Schleier des Wasserfalls und machte große Augen, als ich eine große, schwarze Raubkatze entdeckte, die aus den Gebüschen trat und die Schnauze in die Luft hob. Hoffentlich roch ich nicht so stark, dass sie mich bemerkte, obwohl das Kleid, welches auf dem Ast eines Baumes trocknete, viel auffälliger war. Dennoch wäre es von Vorteil, wenn dieses Tier gar nichts davon mitbekam, weil ich brauchte mein Kleid, sonst müsste ich nackt durch den Urwald laufen und das war das letzte, was ich gebrauchen könnte.
Lieber würde ich dann hier auf ewig verweilen.
Die große Katze blickte umher und schien nach etwas zu suchen, weil sie ständig an irgendwelchen Bäumen schnupperte und auch das Gras betrachtete, als würde es die kleinen Ameisen beobachten. Ab und zu erhaschte ich sogar das schimmernde Gold ihrer Augen und war total hingerissen von der Intensität dieser Farbe. Wie zwei Goldjuwelen, für die jeder Dieb gestorben wäre, um sie in Besitz zu haben.
Dennoch, abgesehen von der Schönheit und Eleganz dieses Raubtiers, musste ich auf der Hut sein, weil ich nun sicher sein konnte, dass es auch solche Art von Tieren auf dieser Insel gab. Ein nicht ganz so schönes Gefühl das zu wissen, weil ich nun eigentlich eine Gejagte war. Aus diesem Grund würde ich sofort nach dem Bad mich auf der Suche nach Waffen machen und zwar am Strand. Denn dort müsste es doch Teile vom Boot geben, die an den Strand gespült worden waren. Ich hoffte es jedenfalls.
Das knurrende Miauen der Katze ließ mich hochfahren und mit angespannten Muskeln verfolgte ich jede ihrer Bewegungen. Hatte sie etwas gefunden? Möglicherweise meinen Duft? Ich spürte wie mein Herz bei diesen Fragen immer heftiger schlug und konzentrierte mich darauf wieder ruhiger zu werden. Angst würde mich hier nicht weit bringen, ich brauchte Fassung und Kühle im Kopf.
So wie Dad es damals immer zu mir gesagt hatte, wenn ich mal etwas in die Hand nehmen wollte und zwar auf eigene Faust. Ach Vater…
Seufzend wandte ich den Blick kurz von dem Tier ab und legte den Kopf in den Nacken, um die Augen zu schließen und die Frische der Tropfen, die auf mein Gesicht prasselten, zu genießen. Das war das einzige, was mich in dieser Situation beruhigen konnte. Das Wasser, welches mich auch nun vor dieser Raubkatze beschützte, die komischerweise verschwunden war. Wie? Sie war weg?
Verwirrt ließ ich den Kopf etwas durch den Wasserfall hindurchschlüpfen und riss erstaunt die Augen auf. Tatsächlich, das Raubtier war weg. Selbst mein Kleid hatte es nicht entdeckt, was mich umso fröhlicher stimmte. Also hatte ich doch Hoffnung auf dieser Insel zu überleben, denn das war Beweis genug.
Mit neu geschöpftem Mut stützte ich mich an den Felsen ab, um mich abzustoßen, als ich plötzlich einen scharfen Schmerz an meiner Hand verspürte. Hastig nahm ich die Hand wieder weg und schaute mir sie erschrocken an. Ein feines, rotes Rinnsal floss aus einer Schnittwunde mitten in meiner Handfläche mein Handgelenk entlang und ratlos sah ich zu der Stelle, an der ich mich wahrscheinlich geschnitten hatte. Dort lugte eine scharfe Kante einer Muschel aus dem Felsen heraus und erst jetzt erblickte ich die vielen weiteren glänzenden Schalen unter dem Wasser.
Wieder fiel mein Blick auf die Hand, die ich sofort im kühlen, klaren Wasser säuberte, während sich in meinem Kopf Ideen bildeten, die zum Überleben auf dieser Insel lebensnotwendig waren.
Ich könnte ja die scharfen Kanten dieser Muscheln dazu nutzen Pflanzen und weiteres zu schneiden, denn dann könnte ich auch endlich mein Kleid der Umgebung passend zurechtstutzen. Sofort war ich begeistert von der Idee und ich war mir sicher, dass meine Eltern sehr stolz auf mich gewesen wären, wenn sie mich nur jetzt sehen konnten.
Um aber diese Schale mitnehmen zu können, musste ich diese zunächst mit einem Stein von dem Felsen losschlagen, weil mir sonst keine Option blieb und glücklicherweise befand ich mich in einer steinigen Höhle, die auch Steine zur Verfügung hatte. Ich nahm mir einen handgroßen und leicht haltbaren Brocken und haute damit gegen die Ränder der Muschel, um diese vom Felsen zu lösen. Leider splitterten ein paar Teile der Muschel ab, aber der wichtigste Rest blieb dran. Nach ein paar Schlägen schaffte ich es nun einen Teil mit bloßen Händen von der Wand zu lösen und triumphierend hielt ich mein naturgetreues Messer in der nicht verwundeten Hand.
Angetrieben von dieser neuen Entdeckung und meinem neuen Gut schwamm ich durch den Wasserfall und atmete erleichtert aus, weil ich nun ganz sicher alleine war. Vorsichtig kletterte ich dann aus dem See heraus, darauf bedacht die frische Wunde nicht mit Dreck zu besudeln und schritt zu meinem Kleid, welches schon längst wieder trocken war.
Dieses nahm ich vom Ast runter und legte es ausgebreitet auf den Boden, um mit dem ‚Messer‘ den unteren Teil des Kleidungsstückes abzuschneiden.
Zu Anfang war das nicht so ein leichtes Vorhaben, aber allmählich schaffte ich es einen kleinen Riss in den Stoff zu schneiden und von da an war es ein Leichtes den Unterrock bis zur Hälfte vom Rest des Kleides zu trennen. Glücklich sah ich mir das Ergebnis an.
Gar nicht schlecht!
Infolgedessen schnitt ich noch die Ärmel ab, von denen ich einen dazu nutzte meine Wunde zu verbinden, die immer noch etwas blutete. Zum Glück aber nicht sehr stark.
Als dann auch das vollbracht war, hob ich das Kleid an und zog es mir über, da ich schon ziemlich fror und mir keine Erkältung holen wollte. Hier im Wald gab es ja leider keine Pharmazie.
Seufzend bückte ich mich nach vorne, um auch noch den Trinkschlauch aufzuheben, der wunderbar das Wasser in sich gehalten hatte, welches zusätzlich noch recht kühl war. Perfekt! Damit konnte ich nun an den Strand gehen und dort nach Wrackteilen des Bootes Ausschau halten. Es wäre nämlich undenkbar nicht ein paar Überbleibsel zu finden, die vom Wrack des kleinen Schiffes vom Meer an den Strand gespült worden waren.
Aus diesem Grund verließ ich diesen zauberhaften Ort und schlug einen Weg ein, von dem ich nicht mal wusste, wohin mich dieser führen würde. Doch daran würde ich mich wohl oder übel gewöhnen müssen solange ich auf dieser Insel festsaß. Einer verdammt großen Insel soweit ich das beurteilen konnte.
Mein Kopf tat weh, meine Füße brannten und meine Schultern schmerzten, auch wenn die Dinge, die ich mit mir trug, weniger als eine Kokosnuss wogen. Die Hitze in diesem Dschungel machte mich träge und schlapp, sodass es mir sehr schwerfiel auf den Beinen zu bleiben und auch das Wasser im Trinkschlauch wurde immer weniger. Natürlich achtete ich darauf, dass ich nicht in einen Durstrausch verfiel, aber leicht war es für mich nicht.
Die kühle Flüssigkeit wartete nämlich darauf getrunken zu werden und meinen hitzigen Körper zu erfrischen, doch ich musste dieser Vorstellung widerstehen, egal wie sehr mein Hals beim Schlucken wehtat. Nur schleppend setzte ich meinen Weg in den unbekannten Wäldern dieser Insel fort, immer noch auf der Suche nach einer Lichtung, die mich zum Meer führen würde. Allerdings war mir nichts dergleichen widerfahren.
Mit halb geöffneten Augen und einem leicht geöffneten Mund schweifte ich mit meinem Blick umher und wäre beinahe über einen Ast gestolpert, der sich kurz vor meinen Füßen befand. Erleichtert atmete ich aus, weil mir der Schmutz auf der Kleidung dadurch erspart blieb und mit dem gluckernden Wasser im Trinkschlauch folgte ich einem schmalen Pfad, der meiner Meinung nach zum Meer führen könnte. Könnte…
Ein Glitzern aus meinem Augenwinkel riss meine Aufmerksamkeit auf sich und meine Augen folgten dem Schimmern und landeten bei meinem Armband, welches hell im leichten Schein der Sonne glänzte. Verwirrt hob ich meine Hand an und sah mir die verschiedenen Anhänger genauer an, wobei ich unwillkürlich den Engelsflügel deutlich intensiver betrachtete. Dieser schwang leicht hin und her, als wäre es die Nadel eines Kompasses und als ich meine Hand ruhiger hielt, blieb der Engelsflügel ruhig stehen und deutete in die Richtung, in die ich ging. Eigentlich war ich nicht sehr gläubig, aber diese Fantasien waren das einzige, was mir auf dieser einsamen Insel blieb.
Und weil es das Armband meiner Eltern war, nahm ich dieses Symbol der Orientierung sehr ernst und ging einfach weiter. An Kreuzungen oder Weggabelungen ließ ich den Flügel entscheiden und so verbrachte ich die weitere Zeit mit Wandern, bis ich schließlich an den Ort gelangte, den ich gesucht hatte. Den Strand. Ich war wirklich da, das war keine Halluzination, sondern wahre Realität.
Kaum zu glauben, dass ich das wegen dem Anhänger geschafft habe… Verrückt oder nicht, ich bin endlich angekommen!
Mit großen Augen ließ ich meinen Blick über das in der Sonne schimmernde Meer schweifen und fasste mir ans Herz. Plötzliche Trauer schnürte meine Kehle und mein Herz zu und ich musste die Tränen der aufkeimenden Einsamkeit zurückhalten. Normalerweise weinte ich nicht, eigentlich nie. Aber seit dem Tod meiner Eltern wurde ich eines Besseren belehrt und nun befand ich mich erneut in einer ausweglosen Situation. Würde ich wieder nach Hause finden?
Ein verzweifelter Schluchzer entfuhr meinen Lippen und kurz darauf zuckte ich zusammen, als ich auf etwas Hartes auftraf. Ich sah nach unten und entdeckte meine Rettung. Einen Schirm, einen Sonnenschirm um genauer zu sagen. Das konnte nur bedeuten, dass es doch überlebte Teile des gesunkenen Bootes gab und vielleicht war das Wrack gar nicht so weit vom Strand entfernt. Schwimmen konnte ich ja, das hatte die Nacht des Untergangs gezeigt.
Die gestrige Nacht war die reinste Verschwendung meiner kostbaren Zeit gewesen. Ich wusste nicht, warum ich diesem Vogel gefolgt war, um daraufhin auf Fußspuren im Sand zu stoßen, doch es hatte sich zum Teil ausgezahlt. Nicht nur die Gruppe am anderen Ende der Insel befand sich in meinem Territorium, sondern noch jemand. Eine einzelne Person.
Das war zwar eine hilfreiche Entdeckung gewesen, dennoch hatten mich diese Spuren nicht zu der einzelnen Person geführt. Spuren im Sand waren einfach zu verfolgen, aber diese anschließend in einem Dschungel voller Blätter und Äste zu finden, war umso schwerer. Natürlich beherrschte ich die Kunst des Spurenlesens ausgezeichnet, aber es war, als hätte die Person über dem Boden geschwebt. Nur leichte Konturen der Schritte waren zu erkennen gewesen, doch weit war ich nicht damit gekommen.
Allzu gut erinnerte ich mich an das Gefühl der Frustration, das mich durchflossen hatte, nachdem ich nicht mehr weitergekommen war und so hatte ich Shadow gerufen, der eine viel feinere Nase besaß als ich. Selbst dieser hatte mich nur bis zu einem Fluss führen können, denn dann hatten wir wieder die Spur des Menschen verloren und nie wieder gefunden.
Entweder es handelte sich um einen ausgezeichneten Schleicher oder es war jemand meiner Abstammung, was ich aber stark bezweifelte. Die meisten meiner Art lebten nämlich in sehr kleiner Zahl verstreut auf der Welt und die Rückkehr einer meiner Leute hätte ich sofort bemerkt. Und Shadow.
Und genau nach dieser Niederlage hatte ich mich einfach nur müde und irritiert gefühlt, hatte aber fest beschlossen der Sache am morgigen Tag nachzugehen. Immerhin war das mein Revier und es war mein absolutes Recht zu erfahren, wer alles auf meiner Insel seine Rundgänge machte.
Allein die Tatsache, dass diese Person nie wieder nach Hause finden würde, beruhigte mich, denn sollte dieser Mensch anfangen ein Floß zu bauen, wäre ich der erste, der davon erfahren würde. Ich war hier das Raubtier und meine Beute fand ich immer.
Vom Hunger nach neuer Energie getrieben, zog ich die Frau an den langen Haaren aus ihrer kleinen Zelle und ergatterte Rufe und Schreie der anderen Gefangenen. „Sie unbarmherziger, kranker Mann! Lassen Sie die Frau in Ruhe!“, schrie mich eine andere Gefangene an und zerrte an den Stäben, die sie von der Rettung der Frau in meiner Gewalt trennte.
Selbst die Männer schmissen sich gegen die Stangen und hofften darauf, dass diese nachgaben, doch für wie blöd hielten sie mich instabile Gefängnisse zu erbauen…
Unbeirrt zog ich die Frau wieder an den Haaren und zischte ihr zu, sie solle endlich die Klappe halten. Doch daran dachte sie nicht. Sie begann hemmungslos zu weinen und bettelte um ihr Leben, sodass das Geschrei und die Rufe nur noch lauter wurden. Kindertheater!
Normalerweise würde ich jedem einzelnen die Zunge herausreißen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich noch belohnt werden würde, weswegen ich einfach mit der Frau im Schlepptau den Gefangenenbereich verließ. Hinter mir wurden die Schreie immer leiser, bis sie ganz verstummten und das war der Moment, in dem mein Opfer wieder zu wimmern begann.
„Bitte lassen Sie mich gehen… Ich, ich will nicht sterben. Warum tun Sie mir das an? Was habe ich Ihnen getan?“. Ihr ganzer Körper zitterte, als herrschten hier Temperaturen weit unter Null und mir kam nichts über die Lippen außer ein ‚Hm‘.
„Sie müssen das nicht tun, ich, ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, aber bitte bringen Sie mich nicht um! Verstehen Sie mich?“, bohrte die Frau weiter nach und ich verdrehte seufzend die Augen. Warum mussten Frauen nur so viel reden? Konnten sie nicht einfach akzeptieren, dass sie auf meinem Speiseplan als Lieblingsgericht eingestuft waren? Und wie dumm konnten sie sein zu glauben, ich würde ein Gewissen besitzen? Reichte allein die Gefangenschaft nicht aus, um zu zeigen, dass ich jemand war, mit dem man nicht handeln konnte?
Anscheinend nicht, denn der nervige Mensch über meiner Schulter hörte nicht auf zu strampeln und zu schreien, was mich nur noch mehr aufregte. Wenn sie jetzt nicht aufhörte laut zu sein, würde ich ihr wirklich als erstes die Zunge herausschneiden. Und als hätte sie meine Gedanken erhört, verstummte sie und begann wieder zu weinen. Himmel der Hölle, womit hatte ich das verdient?
Das Schluchzen und das Beben des zierlichen Körpers berührten mich überhaupt nicht und entschlossen setzte ich meinen Weg fort, der in mein Schlafgemach führte. Dabei ging ich am Gang, der in den Lagerkeller mündete, vorbei und mir fiel blitzartig ein, dass ich noch meine Salbe abholen musste. Dies würde ich jedoch erst nach meinem Opfer erledigen, da meine Energiezufuhr viel wichtiger war.
Erneut hatte das Weib aufgehört zu weinen und war nun ganz still, als wir endlich in meinem Zimmer angelangt waren. „Nein, nein. Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie mir so wehtun wollen? Bitte nicht!“, sprach sie mit erstickter Stimme und klammerte sich in mein Oberteil. Mir entrann daraufhin nur ein böses, kehliges Lachen, welches der Frau eine kalte Gänsehaut verpasste. Nun hatte ich ihr vollkommen die Sprache verschlagen, was mich für diesen Moment munter stimmte.
Ohne viel Kraftaufwand schmiss ich meine Gefangene auf das breite Bett, welches ich wie alles andere selbst gebaut hatte. Die Matratze bestand aus gewaschenen Klamotten verpackt in zusammengenähten Leinentüchern und die Kissen ebenso. Allein das Gestell des Bettes hatte ich aus Palmenholz und den Lianen aus dem dunklen Wald der Insel zusammengebaut und das Ergebnis hatte bis jetzt bestens gehalten. Um genauer zu sagen, etwa zwanzig Jahre. Und genau hier fanden meine Nahrungsaufnahme und die Befriedigung meiner anderen Triebbedürfnisse statt.
Mit einem bösartigen Grinsen legte ich die Hände auf das Bettende, dort wo die Füße der Frau waren, die sie nun mit panisch verzerrter Grimasse an sich zog und mich wie ein verschrecktes Kaninchen in der Falle anblickte. „B, bitte… T, t, tun Sie m, mir nichts. Ich, ich, ich will d, das nicht.“, flüsterte sie leise mit zittriger Stimme, was mein kaltes Grinsen nur noch breiter machte.
Wie eine Raubkatze kam ich ihr näher, legte ein Knie auf das Bett, dann das andere und krabbelte auf sie zu, während mein Blick sich in ihre Augen bohrte. Ich kettete sie mit ihrer Angst an dieses Bett und ließ sie in diesem Gefühl einfrieren, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Atmung wurde flacher, ihre Augen wurden immer größer und das Beben in ihrem Körper nahm zu.
All das befriedigte mich zutiefst und ich spürte allmählich die Energie in mir wachsen, je größer ihre Angst und ihre Panik wurde. Ich liebte das Gefühl der Überlegenheit und der Macht und schnell packte ich sie an den Beinen und zog sie unter mich. Ihr entfuhr ein erstickter Schrei und sie begann mit ihren Fäusten gegen meinen Brustkorb zu schlagen, was mich eher amüsierte, anstatt nervte. Wieder lachte ich leise und rau, nahm ihre Hände von meiner Brust und zog sie bis über ihren Kopf, wo ich diese mit einem festen Seil am Bettrand fesselte.
Erschrocken klappte ihr der Mund auf und sie wand sich quälend unter mir, darauf bedacht mich mit ihren Beinen von sich zu stoßen. Natürlich gelang ihr das nicht, da ich das schon oft genug durchgemacht hatte, um zu wissen wie ich handeln musste. Da ihre Hände gefesselt waren, blieben nur ihre Beine übrig und diese drückte ich einfach auseinander, um mich mit einem kalten Funkeln in den Augen dazwischen zu legen. Ihre Augen wurden dabei immer größer und ein Schluchzen entrang ihren Lippen. „Hören Sie auf! Gehen Sie runter, sie kranker Mistkerl… Sie sind doch verrückt!“, spuckte die Frau mit Hass in der Stimme aus und zappelte weiter.
Hatte sich mich da gerade als ‚verrückt‘ bezeichnet? Bei diesem Wort begann meine Brust wütend zu beben und ich schlug der Frau so fest ins Gesicht, dass sie vor Schmerzen aufkeuchte.
„Niemand hat das Recht mich als verrückt zu bezeichnen! Ich tue das, was mir gefällt und wenn du ein Problem damit hast, dann kann ich dich vertrösten… Es wird lang, schmerzvoll und aufregend.“, raunte ich heiser an ihrem Ohr und spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten und die Angst sie fast ertränkte.
Dies war der perfekte Zeitpunkt, um mit meinem Ritual zu beginnen. Ich schnappte mir das Taschenmesser von der Kommode, den heiligsten Gegenstand in meinem Besitz und fuhr mit der scharfen Klinge sanft über ihren Ausschnitt. Ihr Zittern wurde immer schlimmer und es war, als wäre sie nicht mehr fähig zu sprechen. Konnte sie auch nicht, sie war mir ausgeliefert und je früher sie das einsah, desto besser für uns beide.
Die Klinge blitzte an ihrem Schlüsselbein kurz auf und das Hungergefühl breitete sich in meinem Körper explosionsartig aus. Ich fügte ihr einen feinen Schnitt zu und sah gierig das Blut an, welches aus der frischen Wunde austrat und sich mit dem Geruch der salzigen Tränen mischte.
Mein Opfer schrie unter jeder Wunde, die ich ihr zufügte, auf und voller Verlangen machte ich sorglos weiter und genoss die Energie, die sie mir dadurch bereitstellte und die ich wie ein Durstiger in mich aufnahm. Und als diese Energie gestillt war, legte ich das Messer beiseite und musterte die Frau eingehend.
Sie war vollkommen paralysiert und nahm nichts mehr um sich wahr. Das geschah mit jeder Frau, aber es hatte mich nie aufgehalten das Ritual vollends zu beenden, weswegen ich ihr das Kleid hochschob und mir unwillkürlich über die Lippen leckte.
Jungfrauen waren meine Spezialität und mit dem triebhaften Verlangen eines hungrigen Löwen überfiel ich sie mit aller Gewalt und nahm mir alles, was ich brauchte.
Es fühlte sich genauso wie beim ersten Mal an und obwohl es immer das Gleiche war, so hatte jedes Opfer einen Reiz auf mich, der im Grunde unterschiedlich war. Eine nie langweilig werdende Quelle meines langen Lebens.
Warme Sonnenstrahlen brannten sich durch meine Augenlider und flatternd öffneten sich meine Augen. Daraufhin überfiel mich ein Hustenanfall und Wasser drang aus meinem Mund, welches ich wahrscheinlich geschluckt, aber nicht ausgespuckt hatte. Na toll, meine Lungen taten weh, fühlten sich an wie ausgetrocknete Pflaumen und auch mein ganzer Körper schwächelte. Dennoch versuchte ich mich mit beiden Händen aufzustützen und mit aller Anstrengung schaffte ich mich wenigstens gerade zu setzen, wobei ich mich mit einer Hand am Boden abstützen musste.
Meine Haare klebten an mir wie stinkende Algen und das Kleid war in einem miserablen Zustand. Überall Sand und ekliges Pflanzenzeug aus dem Meer. Selbst eine Muschel fand ich in meinem Ausschnitt und angewidert schmiss ich diese weg. Ich hatte überlebt, kaum zu glauben. Doch was war mit den anderen geschehen? Hatte überhaupt noch jemand diese Insel erreicht?
Meine Gedanken kreisten urplötzlich um Claire und ich hoffte sehnlichst, dass sie es überlebt hatte. Immerhin erwartete sie ihr kranker Bruder und es wäre eine Schande, wenn sie ihn nie zu Gesicht bekommen würde. Das durfte einfach nicht sein.
Seufzend strich ich meine nassen Strähnen aus meinem Gesicht und beschloss aufzustehen, um zu sehen, wo ich genau gelandet war. Immer noch etwas aus dem Gleichgewicht richtete ich mich ganz auf und leichte Übelkeit erfasste mich, sodass ich mir gleich an den Bauch fasste, um mich nicht zu übergeben. Hinzu kam noch das Gefühl von verzehrendem Hunger. Wie ich den wohl auf dieser Insel stillen könnte?
Neugierig drehte ich mich einmal um die eigene Achse und erkannte, dass ich mich wirklich auf einer Insel befand, die genauso aussah, wie in diesen Abenteuerbüchern, die ich als kleines Kind immer gerne gelesen hatte. Große, majestätische Palmen, die in einem saftigen Grün strahlten, lauter Büsche, die dem Ganzen etwas Mystik verliehen und hinzu kam noch dieser wundervolle, golden schimmernde Sand. Derselbe, der nun auch in meinen Schuhen klebte, die ich sofort auszog und in die Hand nahm. Meine Füße vergruben sich sogleich in den feuchten Boden und ich legte eine Hand über meine Augen, um besser sehen zu können. Wo war ich hier nur gelandet?
Schon wieder entfuhr mir ein langer gedehnter Seufzer und obwohl ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, so begann ich einfach rein aus Gefühl zu gehen. Vielleicht traf ich ja jemanden auf den Weg entlang der Küste und an diesen Gedanken klammerte ich mich fest. Jemand musste überlebt haben.
Ich liebte es einfach. Diese verstummten Schreie, die kalte Angst, die in den Adern jedes Einzelnen floss und vor allem der Geruch nach Unsicherheit. Mein Plan war bestens verlaufen und ich hatte das erreicht, was ich hatte erreichen wollen. Einen prächtigen Nachschlag an neuer Energie, von dem nun auch Shadow profitierte.
Er vergnügte sich mit einer Menschenleiche eines jungen Mannes, der ertrunken war und da ich sonst nicht wusste, wohin ich dessen Leiche verlagern sollte, hatte ich mich entschieden ihn zum Fraß vorzuwerfen. Deswegen waren die Kau- und Schmatzgeräusche von Shadow deutlich zu hören und obwohl ich ihn aufgefordert hatte dies wo anders zu tun, so hatte sich dieser eher von seinen Trieben leiten lassen.
Seufzend schleppte ich auch noch den letzten ohnmächtigen Passagier in einen meiner dunklen Kerker und allmählich spürte ich, dass einige wach wurden. Langsam und benommen öffnete eine junge Frau die Augen und das erste, was sie sah, war Shadows Festmahl. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, rappelte sich auf und drückte sich ganz eng an den glatten Felsen, während ihre Augen den Puma nicht aus dem Blickfeld verloren.
Nun trat ich selbst in ihr Visier und ihre Augen huschten sofort zu mir rüber, als sie sich plötzlich von der Wand löste und auf mich zuging. „Oh Gott, bitte retten Sie mich… Da, da ist ein Raubtier hinter Ihnen und ich möchte nicht sterben! Bitte retten Sie mich!“, flehte mich diese Frau mit zittriger Stimme an und ich musste leicht lächeln, was sie zu verwirren schien.
„Gnädigste, machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden ganz bestimmt nicht die Mahlzeit des Pumas werden… Machen Sie sich eher Sorgen darum, dass Sie hier nie wieder wegkommen werden.“, antwortete ich mit einem kalten Blick und kehrte ihr daraufhin den Rücken zu. Ich hörte genau, wie die Gefangene scharf Luft einsog und dann zu stottern begann: „Aber, aber, was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie?“.
„Nennen Sie mich wie Sie wollen, aber Ihr Retter bin ich sicherlich nicht!“, entgegnete ich noch zum Schluss und verließ diesen Bereich meines Heims. Hinter mir ertönten die Schreie und Rufe der Frau und es war nur eine Frage der Zeit, wann die anderen durch diese nervigen Ausrufe wach werden würden.
Im hell beleuchteten Flur angekommen, lehnte ich mich erschöpft gegen die kalte Felsenwand und mein Blick richtete sich nach oben, wo ich durch einen feinen Riss in der Decke den klaren Himmel betrachten konnte. Heute würde es keinen Sturm geben, das erkannte ich am Fehlen der Wolken. Zufrieden stieß ich Luft aus.
Meine Gedanken schweiften sogleich ab und Erinnerungen an die gestrige Nacht spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Ab dem Moment, in dem ich mich mit dem Wasser verbunden hatte, hatte ich gewusst, wo sich das Schiff befinden musste und so hatte ich mich auf den Weg dorthin gemacht. Der Mond war hell und klar am Nachthimmel zu sehen gewesen und das Meer war trotz meines Vorhabens sehr ruhig geblieben. Schnell hatte ich das leise Boot im Lichte des Mondes entdeckt und ohne lange drüber nachzudenken, hatte ich mich in Form einer riesigen, verschlingenden Welle darauf gestürzt und das Boot in die Tiefe gezogen.
Die Menschen an Deck waren sofort auseinandergespült worden, sodass es nicht schwer gewesen war, sie wie mit einem Fliegengitter einzufangen und an Strand zu spülen. Die restlichen Passagiere waren wie von selbst aus dem Inneren des Bootes geschwommen, um dann auch von mir in Gefangenschaft genommen zu werden. Hier und da hatte ich natürlich ein paar verloren, aber das war für mich keinerlei Verlust. Ich hatte meinen Vorrat wieder aufgestockt und das würde mir für die nächsten Monate reichen. Vielleicht sogar für ein halbes Jahr!
Ein Fauchen riss mich aus meinen Gedanken und seufzend blickte ich Shadow an, der sich über die Schnauze leckte und mich erwartungsvoll musterte. „Hast du genug gegessen und willst jetzt um Erlaubnis fragen, ob du gehen kannst?“, stellte ich die Frage, die auf Shadows Gesicht klar zu erkennen war und die große Raubkatze schnurrte lieblich.
Ich verdrehte die Augen und nickte stumm, sodass der großgewachsene Kater im nächsten Moment schon in den Schatten der Höhle verschwand. Nun war ich wieder alleine und ich überlegte, ob ich vielleicht nach anderen Überlebenden suchen sollte, da es manchmal vorkam, dass mir manche davonkamen. Zwar bezweifelte ich das, doch Vorsicht war immer geboten.
Langsam und lautlos schlenderte ich durch die Gänge und achtete auf jedes Geräusch, das von den angrenzenden Fluren ertönte. Sollte nämlich ein Mensch den Versuch wagen auf irgendeine Weise zu flüchten, so würde er sich zunächst in den dunklen Fluren verirren und dann würde er mir oder meinem Puma zum Opfer fallen. Denn den Weg aus diesem Labyrinth zu finden, erforderte ein cleveres Hirn, was ich aber bei diesen Bauern bezweifelte.
Diese Menschen kümmerten sich nur um genügend Geld, um ein angemessenes Leben führen zu können und es war ihnen egal dabei die Natur zu zerstören. Die ganzen Fabriken, der stickige Geruch nach Ruß und verbranntem Holz, die verschmutzten Flüsse und nicht zu vergessen die Ignoranz dieser Leute. Niemand kümmerte sich mehr um die Natur und so besaß der Mensch nicht mehr die Fähigkeit eins mit der Umwelt zu werden. Er war schon lange kein Teil der Natur mehr Er hatte sich stattdessen wie ein verräterisches Kind von der Mutter abgewendet und nutzte all die Gaben, die diese selbstlose Mutter ihren Kindern darbot, aus. Für seine eigenen Vorteile. Was für eine Schande!
Schnaubend verließ ich den sicheren Bau. Warmes Sonnenlicht traf auf meine Haut und löste ein angenehmes Gefühl in mir aus. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und blähte die Nasenflügel auf, um den frischen Duft der blühenden Natur aufzunehmen. Die Orchideen, die Hyazinthen und die Lilien schienen bald reif zum Blühen zu sein und in der Ferne ertönte das Zuschnappen einer Venusfliegenfalle. Ich lächelte.
Anscheinend war die Natur schon wach und ging ihrer üblichen Tätigkeit nach, was mir das Zeichen gab, dass ich mich auf eine ausreichende Ernte freuen konnte. Mal sehen, ob die Früchte der Bäume inmitten der Insel schon ausgereift waren, denn dann konnte ich diese endlich pflücken und daraus meine Tränke zusammenbrauen.
Gesagt, getan. Ich drehte mich um meine eigene Achse und bewunderte die ertragreichen Bäume und deren Früchte, die in vielen verschiedenen bunten Farben leuchteten. Es war wie das Paradies auf Erden und ich genoss den intensiven Duft der offenen Blüten und der saftigen Früchte. Langsam und ehrfürchtig näherte ich mich einem großen, stämmigen Baum und ging auf die Zehenspitzen, um einen knallroten Apfel zu pflücken. Kurz wog ich ihn in meiner Hand und stellte zufrieden fest, dass dieser das perfekte Gewicht und auch die ausgezeichnete Festigkeit hatte, die ein Apfel haben musste.
Ich konnte dem Drang nicht widerstehen und biss hinein, sodass ich kurzerhand den frischen, süßen Geschmack im Mund spürte, der meine Sinne betäubte. Wie ein Verhungernder sammelte sich Speichel in meinem Mund und ich biss nochmal hinein und hörte gar nicht auf, bis ich nur noch die Kerne in meiner Hand liegen hatte.
Seufzend scharrte ich mit dem Fuß in den leicht feuchten Boden, damit eine kleine Grube entstand und mit einem dumpfen Plumpsen landeten die Samen darin und ich schüttete mit der Hand Erde darüber. Wenn die Natur es so wollte, dann würde hier ein prächtiger Apfelbaum wachsen, genau wie die anderen sieben, die hier auf dem kleinen Hügel thronten.
Doch es gab nicht nur Apfelbäume, sondern auch Orangen-, Pflaumen- und sogar Zitronenbäume, die auch prächtig ihre Früchte präsentierten und meinen Magen zum Knurren brachten. Obwohl ich mich ja durch die Energie der Menschen nährte, so brauchte ich auch die Produkte der Natur, um zu überleben. Ich war ja auch eigentlich ein Mensch, nur eben ein besonderer Mensch.
Ein Rascheln riss mich aus meinen Gedanken und ich fuhr sofort zu der Stelle herum, als ich erleichtert feststellte, dass es der Vogel dieser Insel gewesen war, der es sich nun auf einem Zweig gemütlich machte. Sein dunkelblauer Kopf mit den kleinen Augen ruhte auf mir und ich spürte die Seele, die aus diesem Vogel ausging. Respektvoll machte ich eine kleine Verbeugung und dann widmete ich mich wieder den Bäumen und ihren Früchten zu.
In aller Ruhe umkreiste ich jeden Baum und hielt Ausschau nach den reifsten Exemplaren, bis ich dann eine Hand voll frischer Früchte gesammelt hatte, die ich nun in einen mitgebrachten Sack stopfte, um noch mehr pflücken zu können. Währenddessen beobachtete ich den Sonnengang, weil ich zu einer bestimmten Zeit wieder zurück sein wollte, da die Gefangenen wie so oft zu flüchten versuchten. Natürlich immer erfolglos!
Da bis dahin jedoch alle wach sein würden, würde ich für Ruhe sorgen müssen, weil die meisten ziemlich hysterisch wurden, sollten sie allmählich verstehen, dass sie Gefangene waren. Außerdem wurden sie ja obendrauf von einem schwarzen Puma bewacht, der alles andere als satt war und dieser Anblick erschreckte vor allem das weibliche Geschlecht. Das schwächste der beiden Geschlechter, was ich sehr oft erlebt hatte. Eigentlich immer bei meinen Opfern.
Schon wieder ertönte ein Rascheln, doch diesmal war ich etwas ruhiger und mit einem Seitenblick nahm ich wahr, wie der Vogel wegflog. Anscheinend suchte sich dieser einen neuen Platz zum Beobachten und für mich bedeutete dies das Ende der Ernte und somit meine Rückkehr zu meinem Bau. Die Sonne stand schon schräg am Himmel, was mir noch genügend Stunden gab, um noch am Strand spazieren zu gehen und nach weiteren Passagieren zu suchen. Zwar glaubte ich nicht, dass ich heute noch viel finden würde, doch ein Rundgang würde nicht schaden. Dann konnte ich mir dabei auch etwas die Beine vertreten und in Ruhe meinen Gedanken nachhängen.
Zufrieden breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus und beschwingten Schrittes trat ich den Heimweg an und kam auch schon nach kurzer Zeit an. Wie erwartet, ertönten Schreie und verzweifelte Rufe aus den Gängen und brummend steuerte ich auf die Gefangenen zu.
Die Geräusche wurden immer lauter, sodass ich mich anstrengen musste all das Gesagte zu verarbeiten, bis ich dann endlich in der Geräuschkulisse ankam. Hier und da weinten die Jüngeren und Frauen schrien um Hilfe, während die Männer an den Stangen rüttelten und nach einem Ausweg suchten.
Ich stellte mich so, dass mich fast jeder sehen konnte und nachdem ich mit der bloßen Faust gegen die Felsmauer schlug, wurde alles still. Alles schien immer noch zu vibrieren, als hätte ich ein Erdbeben hervorgerufen und böse grinsend schaute ich mich um. Angst spiegelte sich in den Augen meiner Gefangenen wider und nur eine leise Frage ertönte hinter meinem Rücken. „Wer sind Sie? Und was machen wir alle hier?“.
Ganz langsam drehte ich mich zu der Stimme um und erkannte einen jungen Mann, der am ganzen Körper zitterte, als er mich direkt ansah. War auch kein Wunder, da mein Anblick jedem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich machte nämlich keinen netten Eindruck, sondern einen mörderisch bösen und das genoss ich.
„Ich verrate niemandem meinen Namen… Namen haben Macht und ihr seid es nicht wert Macht zu besitzen. Deswegen seid ihr hier. Ihr, ihr werdet es sein, die mir Macht geben werdet und hier soll euer Ende sein. Euer jämmerliches Menschenleben wird hier enden!“ Meine Stimme war schneidend kalt und die Luft um mich herum begann zu vibrieren. So viel Macht strahlte ich aus und den meisten schien das einzuschüchtern. Den meisten.
„Sie sind doch krank. Wenn Sie schon mal in den Spiegel geschaut haben, dann müssen Sie doch wissen, dass Sie auch ein Mensch wie wir sind!“, ertönte eine raue Stimme und mit blitzenden Augen drehte ich mich zu der Person um.
Es war mal wieder typisch, dass ein tollkühner Mann im mittleren Alter den Mut besaß in solch einer beklemmenden Situation einen kühlen Kopf zu bewahren, doch das würde sich schnell ändern. In einer Sekunde war ich schon bei ihm und fest packte ich ihn am Kragen und zog ihn eng an die Gitter. Kurz erklangen erstickte Schreie der Frauen und die Männer verströmten einen angespannten Duft aus, den ich gierig in mich inhalierte, während mein Blick sich tief in die Augen meines Gegenübers bohrte, der nicht mehr so mutig wirkte, wie zuvor. Ich spürte die Anspannung in seinen Muskeln und die unterdrückte Angst. Angst vor der Angst, die ihn überwältigen könnte.
Ein bösartiges Grinsen umspielte meine Lippen und ich zog ihn noch enger zu mir, sodass mein Atem seine schmutzige Haut strich. Nun waren wir im Angesicht zu Angesicht und mein Lächeln wurde breiter, als dieser fest schluckte. „Spiegel zeigen nicht dein wahres Ich! Sie spiegeln nur das Äußere wider… Und du wirst schnell lernen, dass ich kein Mensch wie du bin.“, flüsterte ich in heiserem Ton und leckte mir vorfreudig über die Lippen. Der Mann begann leicht zu zittern und mein Lächeln wurde noch breiter. Mit Nachdruck ließ ich ihn los, sodass dieser wie ein gehetztes Tier nach hinten auf sein Gesäß fiel und keinen Mucks mehr von sich gab. Braver Junge!
Mit einer Haltung, die gnadenlosen Respekt forderte, drehte ich mich wieder zu den anderen Gefangenen um und sah mir jeden einzelnen genau an. Nicht, dass sich auch unter denen ein mutwilliger Passagier versteckte, dem ich auch noch Manieren beibringen musste, was aber bei näherer Betrachtung nicht der Fall war.
Anscheinend hatte ich mich klar und deutlich ausgedrückt und mit einem zufriedenen Gefühl im Bauch schritt ich an jedem Gefängnis vorbei, ohne auch einen Blick auf die Frauen und Männer zu werfen. Diese schienen mich ebenfalls nicht ansehen zu wollen, da ich keine feurigen Blicke in meinem Rücken zu spüren bekam und so verließ ich den Gefangenentrakt und beschloss zu meinen Früchten in meinem Lagerraum zu gehen. Dort würde ich dann Nahrung für die Menschen herstellen, damit sie mir nicht verhungerten und anschließend würde ich ein paar Tränke zusammenbrauen, die mir im weiteren Überleben auf dieser Insel helfen würden.
Mittlerweile hatte der Himmel an dunkler Farbe gewonnen, was nur bedeutete, dass der Abend bald hereinbrechen würde. So schnell war der Tag vergangen und dabei hatte ich nicht viel erreicht. Zeit, dies zu ändern.
Ich beschleunigte meinen Schritt und schlenderte durch Gang für Gang, bis ich an einer Art Treppe ankam, die zu meinem Lagerraum führte. Einem Lagerraum, der nur durch eine kreisförmige Öffnung in der Mitte dieser Höhle beleuchtet wurde. Genug Licht, damit ich arbeiten konnte, auch wenn es draußen nicht mehr hell war.
Ein raues Miauen riss mich aus meinen Gedanken und langsam drehte ich mich zu Shadow um, der mich mit seinen goldenen Augen schief musterte. „Hast du nichts anderes zu tun, als mich zu verfolgen?“, murmelte ich leicht genervt und der schwarze Puma zuckte aufgeregt mit dem Schwanz hin und her.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und ging auf meinen Gefährten zu, kniete mich vor diesen hin und blickte ihm tief in die Augen. Immer wenn Shadow aufgeregt war, hatte er etwas Wichtiges entdeckt. Sanft streichelte ich sein Fell, während ich meinen Geist öffnete und seinen in meinen hineinließ.
Es war wie beim ersten Mal, als ich mich mit diesem Tier verbunden hatte, ein berauschendes Gefühl voller Energie und Macht. Und doch musste man selbst genug Kraft aufbringen, um das Gleichgewicht zwischen den sich zwei verbindenden Geistern zu halten. Denn sonst könnte es dazu kommen, dass der eine Geist den anderen verschlang und das wäre katastrophal. Eine Missgeburt der Natur würde somit entstehen, böser als ich es schon war.
Wie in Trance nahm ich wahr, wie sich mein Geist mit seinem verschmolz und wie Bilder in meinem Kopf auftauchten, die ich nie zuvor gesehen hatte. Es waren die Bilder, die Shadow mir vermitteln wollte und als ich diese zu deuten begann, brummte ich frustriert.
Also hatten auch andere Passagiere meinen Überfall überlebt und versammelten sich nun auf der anderen Seite der Insel, um Pläne zu schmieden. Es schien nicht, als wüssten sie von meiner Existenz und das stimmte mich wieder heiter. Noch mehr Beute, die darauf wartete von mir gefangen genommen zu werden.
Ich öffnete langsam meine Augen, trennte unsere verbundenen Geister und klopfte stolz mit der Hand auf Shadows Seitenmuskel. Dieser schnurrte vergnügt und schmiegte seinen Kopf an meine Brust, was mich leise lachen ließ. Obwohl diese Raubkatze egoistisch und kaltherzig sein musste, so war Shadow das komplette Gegenteil. Es war, als hätte dieser die positiven Eigenschaften meines Charakters vor sehr vielen Jahrzehnten in sich aufgenommen, um diese in Sicherheit zu wahren. Etwas, zu was nur Gefährten fähig waren. „Das hast du gut gemacht Shadow!“, murmelte ich in sein weiches Fell am Nacken und richtete mich wieder vollkommen auf, weil ich mich nun entscheiden musste, was ich als Nächstes tun sollte. Entweder ich ließ die freien Passagiere fürs erste auf der Insel umherirren oder ich kümmerte mich um deren Gefangennahme, sodass sie nicht über Nacht eine mentale Kraft entwickelten, die mir zum Verhängnis werden könnte.
Nachdenklich richtete ich meinen Blick auf den Proviant und überlegte fieberhaft, was ich tun könnte. Ich wog die Argumente fürs Handeln und Nichthandeln ab und kam zu dem Schluss, dass ich genug Zeit haben würde, um mich mit dem Rest der Flüchtlinge am nächsten Tag zu beschäftigen. „Halt mich auf dem Laufenden, Shadow. Und pass auf dich auf!“, forderte ich den Puma auf und dieser verschwand mit einem einverstandenen Knurren.
Wieder fiel mein Blick auf die Lebensmittel und mit zwei Schritten war ich auch schon bei den Früchten, die ich ein paar Tage zuvor gepflückt hatte. Die frischen Neuen holte ich aus meinem Sack, der über meiner Schulter hing, heraus und legte sie zu den anderen, wobei ich darauf achtete, dass sie nach Intensität der Färbung und Art der Frucht geordnet waren. So fiel es mir leichter die richtigen Zutaten für einen bestimmten Trank zu finden.
Während ich die Ernte ordnete, stellte ich schon mal die Zutaten, die ich brauchte, auf die Seite und als ich dann mit dem Einräumen fertig war, setzte ich mich auf den kalten, steinigen Boden und reihte die verschiedenen Früchte vor meinen Füßen auf. Mit der rechten Hand griff ich nach einer leeren Kokosnussschale, in die ich den Saft einer Zitrone hineinpresste und anschließend die Haut eines Apfels mithilfe eines scharfen Messers hinzufügte.
Dies begann ich mit einem runden, trockenen Stein zu mahlen, bis die Haut des Apfels sich mit dem Saft der Zitrone zu einer Masse vermischte. Anschließend spaltete ich mit bloßer Hand die knackige Form einer Mango und schnitt das saftige Fleisch der einen Hälfte aus, welches ich dann auch in die Schale fallen ließ. Zu guter Letzt holte ich ein kleines Säckchen aus Palmblättern und Sehnen eines Inselfisches aus meiner Hosentasche heraus und öffnete diesen. Darin befand sich das Salz des Meeres, was ich brauchte um den Saft der Mango aus ihrem Fruchtfleisch zu befreien.
Vorsichtig schüttete ich dieses über die Brühe. Dann stand ich mit der Schale in der Hand auf und stellte diese auf einen kleinen Tisch, der genau unter der Lichtöffnung stand, hin. Dort würde sie die ganze Nacht verweilen.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nichts vergessen hatte, verließ ich den Lagerraum und beschloss nun den geplanten Spaziergang zu machen. Dabei kam ich an den Gefängniszellen vorbei und schon wieder ertönten die aufgeregten Stimmen meiner Opfer. Ich blieb abrupt stehen, stellte mich nah an die Wand und konzentrierte mich auf mein Gehör, sodass ich bis zum Ende des Flures jedes Wort hören konnte.
„Wir müssen hier unbedingt raus!“
„Dieser Mann muss doch ein kranker Psychopath, ein Serienmörder sein!“
„Es muss doch einen Ausweg aus dieser Höhle geben.“
„Wir müssen zusammenhalten und dann schaffen wir alles!“
All das drang in mein Gehör ein und ich biss fest die Zähne zusammen, um diesen Leuten nicht nacheinander Manieren und Ruhe beizubringen. Ich spürte die Wut, die in mir aufkeimte, als jemand mich als ‚verrückt‘ bezeichnete und ich lechzte nach dem Blut, der das gesagt hatte. Eine zierliche weibliche Stimme, die danach trachtete mein erstes Opfer zu werden.
Mit geballten Fäusten drückte ich mich von der Wand ab und ging in Richtung Ausgang, welcher sich nur ein paar Meter von mir entfernt befand. Tief luftholend verließ ich meinen Bau und mein Blick schweifte aufmerksam hin und her. Ein kühler Lufthauch fuhr mir durchs Haar und ich schloss genussvoll die Augen, bevor ich dann den ersten Schritt tat und zum Strand ging. Ich mochte den Strand sehr, bei Tag und bei Nacht, aber vor allem bei Nacht. Denn dann leuchtete das Meer in seinen dunklen Farben, während die Schatten der Dunkelheit erwachten und ihren Tanz der trüben Melodien tanzten.
Am Strand angekommen, drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen um und stellte zufrieden fest, dass niemand da war. Allein die Sonne schien warm auf meine Haut und verabschiedete sich von den Bewohnern der Insel, um sich auszuruhen und ihren Zwilling, den Mond, die Bühne zu überlassen. Verträumt sah ich in den Himmel hinauf und meine Augen tauchten in das sich verdunkelnde Blau ein, das mich an das Meer erinnerte. Der Himmel, der Spiegel des Meeres und das Meer, der Spiegel des Himmels. Verbanden sich diese zwei Elemente eröffnete sich eine Welt, die nur ein Auserwählter sehen konnte. Eine Welt, in der ich nun lebte.
Gedankenverloren fuhr ich mir durchs dichte dunkle Haar und sah mich prüfend um. Wohin sollte ich nun gehen? Frischer Wind traf mich von rechts und ich wandte den Kopf in die Richtung, in die mich der Lufthauch wehte. Also ging ich nach links und der weiche Sand knirschte dumpf unter meinen Füßen. In der Ferne sah ich zu, wie die Sonne allmählich ins Meer tauchte und dabei ihre vielen fröhlichen Farben in den Himmel schickte. Orange, helllila und rot. Die Farben, die auch der Inselvogel trug, der gerade über meinem Kopf hinwegflog und einen spitzen Schrei ausstieß.
Ich hielt inne und hob fragend eine Augenbraue. Normalerweise gab dieser Vogel keinen Ton von sich... Womöglich befand sich etwas oder jemand auf der Insel, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und das reizte meine neugierige Ader. Endlich mal wieder was Interessantes auf dieser Insel.
Da es langsam dunkler wurde, spürte ich die wachsende Unruhe in mir und ich begann auch heftig zu frieren. Das Salzwasser hatte dazu geführt, dass meine Haut sich nicht mehr so geschmeidig anfühlte und das frustrierte mich. Dieses dreckige Gefühl gefiel mir überhaupt nicht und ich musste außerdem schnell einen Unterschlupf finden, um nicht elendig von irgendwelchen Inselbewohnern abgeschlachtet zu werden. Immerhin hatte ich keine Ahnung, wo genau ich mich befand und somit wusste ich auch nicht, was für Lebewesen auf dieser Insel existieren könnten.
Seufzend hob ich leicht den Saum meines Kleides an, um diesen nicht noch dreckiger zu machen und stolzierte den Strand entlang, um mit Glück vielleicht etwas zu finden, was vom Boot hierher gespült worden war. Möglich war es, aber die Realität war da anderer Meinung. Ich fand einfach nichts. Nur ein paar Kokosnussschalen und die waren schon längst ausgetrocknet, was mich noch mehr frustrierte.
„Ich werde sicherlich nicht auf dieser Insel verenden… Nur über meine Leiche!“, murmelte ich trotzig vor mich hin und beschloss nun das Innere des Waldes auszukundschaften, welches von außen keinen so einladenden Eindruck machte. Dennoch ging ich achtsam meinen Weg weiter und trat schon auf die ersten Zweige und Blätter, die in einer matschigen Masse am Boden hafteten.
Mittlerweile war die Sonne nur noch am Horizont zu sehen und der Wald wurde immer dunkler, je tiefer ich in diesen eindrang. Jedes Geräusch, was ertönte, brachte mich zum Zucken und teilweise hielt ich sogar die Luft an, aus Angst etwas oder jemand könnte mich hören. Meine Augen huschten ständig hin und her, immer auf der Hut und meine Füße versuchten stets so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Das klappte auch und allmählich beruhigte sich mein Herz, welches zuvor so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris geschlagen hatte.
An das leise Rascheln der Bäume, das leise Knacken der Zweige unter meinen Füßen, das Flattern von Vögeln in den Kronen der Bäume und das leise entfernte Plätschern eines Flusses oder Bachs hatte ich mich schon gewöhnt. Das waren die einzigen Geräusche in diesem Wald, wobei ich darauf bedacht war dem Plätschern zu folgen. Immerhin hatte ich großen Durst, vor allem weil mir das Salzwasser jegliche Flüssigkeit aus dem Körper gezogen hatte, weswegen mein Mund sehr trocken war und sogar schon wehtat, wenn ich schluckte.
Kurz hielt ich inne, als ich an einer Weggabelung ankam und skeptisch sah ich hin und her, unentschlossen welchen Weg ich gehen sollte. Außerdem wurde ich immer müder und das Denken fiel mir umso schwerer, sodass ich einfach den linken Weg nahm und weiter voranschritt.
Durch die Dunkelheit, ohne jegliches Licht, welches meinen Weg weisen könnte.
Allein das sekundenlange Aufleuchten meines Armbands ermöglichte mir überhaupt etwas sehen zu können.
Ich wusste nicht wie weit und wie lange ich schon gelaufen war, doch irgendwann landete mein Fuß in etwas Nassem und ich fiel überrascht nach vorne. Nicht mal Zeit hatte ich, um aufzuschreien, da war ich schon im Wasser und strampelte schockiert mit Armen und Beinen, bis ich wusste, wo oben war, um tief Luft zu holen. Ich hustete aus Leibeskräften, da ich dabei Wasser geschluckt hatte und verwirrt blinzelte ich, um zu erkennen, wo ich gelandet war.
Nur schwach erkannte ich die Umrisse eines Ufers und mit einer halben Drehung entdeckte ich zusätzlich Pflanzen, die aus dem Wasser ragten und mich teils an den Seiten piksten. Ich machte kleine Brustbewegungen, um voran zu schwimmen, wobei ich das eklige Gefühl in meinem Bauch nicht loswurde. Immerhin wusste ich nicht, in was ich da gerade schwamm und vor allem welche Gefahren in diesem Gewässer auf mich lauern konnten.
Ein Aufschrei eines Vogels ließ mich zusammenfahren und ich blieb abrupt stehen. Die Kälte des Wassers drang in all meine Poren ein und meine Zähne begannen unwillkürlich zu klappern. Ich musste schnell hier raus, die Angst war einfach zu groß und der Schrei des Vogels hallte immer noch schmerzhaft in meinem Kopf wider.
Aus diesem Grund schwamm ich einfach zur Seite, kämpfte mit ein paar Pflanzen, rutschte auf dem matschigen Ufer aus und kroch erbärmlich auf allen Vieren aus dem Wasser heraus. Als ich das dann geschafft hatte, setzte ich mich auf den Hintern hin und diesmal spürte ich, wie das Zittern meiner Zähne sich auf den ganzen Körper übertrug. Nun war ich vollkommen ein wandelndes, klapperndes Skelett.
Meine Arme umschlangen meinen Oberkörper und in der Haltung führte ich meine Wanderung fort. Ich würde so lange nicht Rast machen, bis ich einen sicheren Unterschlupf fand, auch wenn mein Körper und meine Augen nicht gehorchen wollten. Ich hatte nichts gegessen, nichts getrunken und vor allem wenig geschlafen und diese drei Faktoren pochten in meinem Kopf und forderten Aufmerksamkeit.
Schon wieder ertönte dieser Schrei desselben Vogels und ich blieb wieder stehen, um zu horchen. Diesmal nahm ich nichts wahr außer das Pochen meines Herzens und mein leises Zähneklappern, weil ich immer noch fror. Ich war durchnässt und meine Schuhe, die sich nun anfühlten, als wären sie aus festem Matsch, klebten an meinen kalten Füßen. Alles in allem fühlte ich mich einfach ekelhaft und ich wünschte mir, ich wäre noch zu Hause oder schon in Amerika, wobei mein Reiseziel ein gutes Stück weiter entfernt war.
Seufzend vergewisserte ich mich, dass nicht noch etwas in den Gebüschen auf mich lauerte und anschließend ging ich voran, bis ich schon nach kurzer Zeit an einem sehr großen Baum ankam. Das sah ich, weil plötzlich vor mir ein riesiger Schatten aufgetaucht war, der nur ein Baum hätte sein können.
Mit offenem Mund betrachtete ich diesen Riesen und sah ihn mir genauer an, soweit das wenige Licht, das durch die Kronen hereinbrach, reichte. Es hatte riesige, stämmige Wurzeln, von denen ein paar aus der Erde ragten und an manchen Stellen wuchs Moos, was ich mit meiner flachen Hand spüren konnte. Zudem gingen viele unterschiedlich große und weite Zweige beziehungsweise Äste von dem dicken Stamm aus und da kam mir eine wunderbare Idee.
Vorsichtig legte ich eine Hand auf den rechten Ast neben mir und den linken Fuß auf einen gegenüberliegenden Ast, sodass ich mich langsam und mit aller Kraft hochziehen konnte. Wäre ich satt und hätte geschlafen, so wäre mir diese Aktion viel leichter gefallen, stellte ich seufzend fest und kletterte weiter nach oben.
Ast für Ast, sehr vorsichtig und langsam, um bloß nicht auszurutschen. Nicht zu vergessen, dass ich gar nicht mal wusste, wie hoch ich eigentlich kletterte, da alles unter mir in Finsternis getaucht wurde, was zusätzlich Unbehagen in mir ausbreitete. Hoffentlich endete ich nicht im Himmel!
Keuchend vor Anstrengung kam ich dann endlich an einen Platz an, wo ich mich hinlegen konnte, bestehend aus mehreren Ästen, die nebeneinander aus dem Stamm hervortraten. Es war wie eine Art hölzernes Bett, nur ohne Matratze oder Stroh, denn selbst die Blätter würden zusammen keinen weichen Untergrund ergeben. Aus diesem Grund nahm ich einfach das, was man mir bot und völlig erschöpft ließ ich mich sanft niederfallen und versuchte es mir etwas gemütlich zu machen, indem ich verschiedene Stellungen ausprobierte. Als ich dann die angenehmste gefunden hatte, blickte ich nach oben und überraschenderweise erkannte ich zum Teil den nachtblauen Himmel mit ein paar hellen Sternen, die mich anlachten.
Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht und kaum hatte ich die Augen geschlossen, schlief ich ein und tauchte in ein tiefes Nichts.
Mitten in der Nacht wurde ich durch ein fürchterliches Fauchen oder Knurren aufgeweckt. Ich riss erschrocken die Augen auf und legte mich auf den Bauch, um nach unten zu spähen, als ich enttäuscht erkannte, dass ich ja zu dieser Tageszeit nichts sehen konnte. Also konnte ich mich nur auf mein Gehör verlassen und erneut erklang das laute Fauchen, das nur einer Raubkatze zugeordnet werden konnte. Also existierten hier doch gefährliche Raubtiere und das schnürte mir die Kehle zu.
Ich musste schnell einen Weg finden mich zu bewaffnen, um mich dann der Flucht von dieser Insel zu widmen. Hoffentlich traf ich diese Raubkatze nicht am morgigen Tag, denn dann wäre ich geliefert und ich wollte nicht sterben. Noch nicht.
Schon wieder kam das Knurren von unten und hallte bis nach oben, woraufhin ich mich fragte, ob das umgekehrt auch der Fall war. Denn sollte ich hier oben Krach machen, würde man das auch am Grund hören? Ernüchtert von dieser Annahme hörte ich auf zu atmen und hoffte, dass das Tier mich nicht bemerkt hatte.
Wäre ich doch höher geklettert! Denn stelle man sich vor, dass mich nur ein paar Meter von diesem Raubtier fernhielten, so wäre ich geliefert. Immerhin hatten Raubkatzen einen besseren Hör- und Geruchssinn als Menschen.
Schnell, aber lautlos, rutschte ich langsam näher an den Stamm, bis mein Rücken den harten Hintergrund spürte und ich mich wieder traute leise zu atmen. Mein Herz, das zuvor gerast hatte, beruhigte sich, sobald ich mich auf eine regelmäßige Atmung konzentriert hatte und ich schloss erneut die Augen. Mir wird schon nichts passieren, ich bin auf einem Baum und diese Katze ist unten. Sie ist bestimmt mit einem anderen Opfer beschäftigt und wird kein Interesse haben nach weiterer Beute Ausschau zu halten!
Dennoch hielt ich meine Ohren spitz und wartete auf das nächste Geräusch, doch es kam nichts. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte oder eher verängstigt, aber die Müdigkeit übermannte mich erneut und ich schlief in Sekundenschnelle wieder ein. Mit dem Kopf am Stamm angelehnt und die Hände auf den Knien der angezogenen Beine.
Der nächste Morgen brach an und dieser machte sich durch die warmen, hellen Sonnenstrahlen bemerkbar. Ich kniff die Augen zusammen, bevor ich diese flatternd öffnete und gähnte herzhaft, während ich meine Arme ausstreckte, um meine Verspannungen im Schulterbereich zu lösen. Nun spürte ich auch noch den Schmerz im Rücken, sodass ich erstmals schwankend aufstand, eine Hand an den Stamm legte und die andere an die Hüfte, um mich dann ganz zu dehnen. Ein leises Knacken ertönte und mir entfuhr ein leises Aufstöhnen. Herrlich, diese Erlösung!
Der Baum war doch nicht so gemütlich gewesen, wie angenommen. Mein Blick fuhr herum und nun erkannte ich deutlich meine Umgebung. Überall saftig grüne Bäume in allen Größen und die belebte Tierwelt, angefangen von Vogelgezwitscher bis zum Summen von Insekten.
Außerdem verströmte der Tag nicht mehr diese düstere Atmosphäre wie die Nacht, die ich verängstigt hatte miterleben müssen. Zuerst der einschüchternde Fluss und dann die Raubkatze, die gejagt hatte und nun war das schlimmste, was mir passieren könnte, der Fall vom Baum. Apropos, in welcher Höhe befand ich mich denn eigentlich?
Vorsichtig und auf allen Vieren krabbelte ich zu einer Gabelung der Äste und spähte nach unten, als mir bei dem Anblick kurz schwindlig wurde. Wie hoch war das denn? Mehr als das Doppelte von meinem Haus! Vielleicht vierzig Meter, so viel würde ich schätzen, obwohl ich eigentlich kein Können Schätzen besaß. Demnach könnte also meine Schätzung auch vollkommen falsch sein, selbst wenn der Anblick was anderes darbot.
An diese nicht vollständig beantwortete Frage folgte nun aber die zweite. Wie kam ich hier wieder runter? Immerhin wusste ich jetzt, in was für einer schwindelerregenden Höhe ich mich befand, sodass sogar mein Mut mich langsam verließ. Wäre ich in einem müden Zustand gewesen, dann wäre ich ohne lange zu überlegen heruntergeklettert. So als ob mir die Höhe nichts ausgemacht hätte.
Seufzend fuhr ich mir durchs spröde Haar und ließ mich auf meinen Hintern fallen. Ich musste da runter, weil ich Essen, Trinken und ganz dringend ein Bad brauchte. Doch wie sollte ich das anstellen? Einfach herunterklettern? Ast für Ast, so wie gestern Nacht?
Da mir sowieso keine andere Wahl blieb, sammelte ich den Rest Mut, den ich noch parat hatte und ließ einen Fuß nach unten baumeln, bis ich einen festen, nicht schwankenden Ast, spüren konnte, auf den ich dann auftreten konnte. Meine Hände funktionierten hierbei wie Klammern und nie machte ich einen Schritt nach unten, wenn nicht beide Hände was zu packen hatten.
So vergingen viele Meter und als dann die etwas schwächeren Äste an der Reihe waren, verharrte ich für einen Moment. Mein Blick huschte kurz nach unten und tief holte ich Luft ehe ich mutig weiter kletterte. Nur noch ein paar Meter und freudig ließ ich los, sodass ich leichtfüßig auf dem weichen Boden landete.
Unwillkürlich drehte ich den Kopf in alle Richtungen, um sicher zu sein, dass mich niemand und nichts entdeckt hatte und erst dann begann ich nach etwas zum Essen zu suchen. Vielleicht essbare Früchte oder ein kleiner See, in denen Fische schwammen…
Rechts und links musste ich mich an dichten Büschen und großen Bäumen vorbeizwängen, sodass ich mich fragte, wie ich das in der Nacht geschafft hatte bis hierher anzukommen, ohne je einmal gegen einen Baum gelaufen zu sein. Vielleicht hatte ich das ja getan, nur machten sich die blauen Flecke noch nicht bemerkbar, dachte ich amüsiert und blieb am Ufer des Flusses stehen.
Also war es doch ein Fluss gewesen, voll von Pflanzen wie Schilf, die aus dem Wasser ragten und im Strom schwankten. Doch was mich am meisten schockierte, war etwas länglich Grünes, welches durch das Wasser sich zu schlängeln schien. Außerdem schimmerte es in verschiedenen Grüntönen und je näher ich mich nach vorne beugte, desto größer wurden meine Augen. Um Himmels Willen, das war ja eine Schlange!
Erschrocken wich ich zurück und fasste mir an die Brust. Diese Schlange hätte mich beißen können und wer wusste, wie giftig diese war. Was für ein Glück, das ich schnell aus dem Fluss gestiegen war, auch wenn der Dank dem Vogel diente, der mich dazu verleitet hatte das Wasser zu verlassen.
Da ich nun wusste, was in diesem Fluss wohnte, beschloss ich einen großen Bogen darum zu machen und ging in eine Richtung, aus der ich sicherlich nicht gekommen war. Das sah man an den nicht vorhandenen Fußspuren im feuchten Boden.
Leise vor mich hin summend schritt ich vorsichtig und achtsam durch den riesigen Wald, während mein Magen immer wieder Protestrufe ausstieß und mich fast in den Wahnsinn trieb, als ich plötzlich an eine Lichtung ankam und mir die Kinnlade aufklappte.
Ein kleiner Hügel in frischem, sommerlichem Grün erstreckte sich vor mir und darauf wuchsen Bäume unterschiedlichster Art. Hungrig stürzte ich mich auf die herrliche Auswahl an Früchten und nahm mir zuerst einen saftig roten Apfel, in den ich genussvoll hineinbiss. Stöhnend schloss ich die Augen.
Solch einen leckeren Apfel hatte ich noch nie zuvor gegessen und es war die reinste Erlösung für meinen Magen. Ein Geschenk, besser ausgedrückt.
Nachdem ich den Apfel im Eiltempo verschlungen hatte, widmete ich mich nun den Pflaumen zu, die wunderbar knackig waren und auch sehr saftig. Was waren denn das für Wunderbäume? Jede einzelne Frucht schmeckte wie verzaubert und selbst der Ort hatte etwas Magisches an sich, was man nicht in Worte fassen konnte.
Ich schlang alles hinunter, was ich konnte und legte letztlich eine Hand auf meinen Bauch, der endlich nicht mehr protestierte. Nun konnte ich mich auf die Suche nach Wasser begeben, selbst wenn ich keinen Durst verspürte, da der Saft der Früchte vollkommen zur Erfrischung beigetragen hatte.
Wasser konnte man immer gebrauchen und deswegen brauchte ich eine geeignete Quelle, in der es aber keine Schlangen oder andere giftige Tiere gab. Sonst würde ich hier elendig verdursten!
Zu schade aber, dass meine Beine schon anfingen weh zu tun, vor allem weil das Kleid immer noch etwas nass war und somit eine Last mehr war. Aus diesem Grund packte ich den Rand des Kleides und begann mit aller Kraft zu ziehen, was aber nicht half. Der Stoff blieb unberührt und ich atmete angestrengt aus. Ich brauchte dringend etwas Scharfes, sonst würde ich nie das Kleid zum Reißen bringen, aber wo sollte ich einen scharfkantigen Gegenstand auf einer verlassenen Insel finden?
Vielleicht einen spitzen Stein, so wie die Urmenschen es früher getan hatten, aber hier war weit und breit kein einziger zu sehen, der eine scharfe Kante aufwies.
Frustriert stampfte ich mit dem Fuß kurz auf, hob meine Kleider an und mit aufgeblähten Wangen stolzierte ich in eine Richtung, die hinter die Bäume führte. Wenn hier schon solche prächtigen Früchte reiften, so musste eine wundersame Quelle ganz in der Nähe sein, die für dieses Werk zuständig war.
Ich folgte einem schmalen Pfad, der nur von Blättern in verschiedenen Größen bedeckt war und betrachtete die Vielfalt der Natur, die sich meinem Auge bot. Jeder Busch hatte etwas Besonderes an sich, was ich mir jedoch nicht erklären konnte, weil es eben nur Büsche waren. Kleine, große, dichte, früchtetragende, teils auch stachelige Büsche. Abgesehen davon gab es auch wunderschöne Blumen, die den Weg zierten und besonders vor einer schönen Pflanze blieb ich stehen.
Sie bestand aus hellgelben Blütenblättern und an dessen Spitzen waren sie in einem starken Rotton, fast so als würde sie bluten. Strich man mit dem Finger bis zum Kern entlang, so wurde der Gelbton viel dunkler und mündete in einem hell- bis dunkelblauem Ton, der einen violetten Kern wie einen Ring umschloss. Aus diesem violetten Pollenkern sprossen kleine grüne Stängel mit ebenfalls violetten Pollenkugeln an ihrem Ende. Bereit um von Bienen bestäubt zu werden, sodass diese wunderschöne Blume verbreitet werden konnte.
Dabei stellte ich fest, dass ich bis jetzt keine einzige Biene entdeckt hatte. Und das obwohl ich an vielen Blumen vorbeigegangen war. Gab es denn hier solche Insekten nicht?
Mein Blick fiel wieder auf die Blume und ich beugte mich vor, um daran zu riechen, als mich ein süßlicher Geruch traf. Dieser Duft betäubte für einen kurzen Moment meine Sinne und mit einem verträumten Lächeln lehnte ich mich wieder zurück und strich sanft über ein Blütenblatt. Hoffentlich fand ich mehr davon, denn dann würde ich mir sicherlich eine pflücken und ins Haar stecken.
Nach diesem überaus attraktiven Fund setzte ich meinen Weg fort und hörte aus einer kurzen Distanz das Rauschen von Wasser. Es klang wie ein Wasserfall und Hoffnung keimte in mir auf, die sich wie eine Blume in meinem Inneren öffnete.
Ich beschleunigte meinen Schritt, folgte dem Klang nach Nassem und riss überrascht die Augen auf, als ich hinter einem sehr großen, prächtigen Felsen einen Wasserfall und einen kleinen, kristallklaren See entdeckte. Es war einfach bezaubernd dieser Ort, fast wie im Märchen. Überall sprossen Blumen in verschiedenen Farben und das Wasser war so klar, wie lauter kleiner, geschliffener Diamanten, die das Sonnenlicht in all seinen Farben teilte. Ehrfürchtig umrundete ich langsam den See, um mir ein genaueres Bild von diesem Ort zu machen. Anschließend, ohne lange nachzudenken, entkleidete ich mich in Windeseile und stieg in das angenehm kalte Wasser.
Noch konnte ich am Rande des Ufers auftreten, doch eine Schwimmbewegung weiter reichte aus, dass ich auf mich allein gestellt war. Allerdings machte mir dieser Fakt nichts aus, ich hatte klares Wasser gefunden und konnte nun endlich meinen Körper von all dem Dreck befreien.
Ich fühlte mich, übertrieben ausgedrückt, wie eine Prinzessin in einem jungfräulichen Brunnen, wo ich am liebsten die Ewigkeit verbringen wollte. Das Wasser umschmeichelte meine verspannte, teils verwundete Haut und umhüllte mich in eine Art Heilmantel.
Darauf kam mir prompt die Idee, ob ich nicht unter den Wasserfall schwimmen sollte, um meine Haare besser waschen zu können. Vielleicht würde ich sogar einen Platz finden, wo ich auftreten konnte und mit ein paar Brustbewegungen kam ich auch schon an, tauchte unter dem Wasserfall durch und holte kurz darauf wieder Luft. Diesmal blendete mich kein Sonnenlicht, sondern die schimmernde Dunkelheit der Felsen, die vor mir wie eine Mauer in die Höhe ragten.
Tief in mir drin hatte ich gehofft hier sei eine Art Höhle, doch leider war dem nicht so. Nur eine graue Felsenwand, dessen Nässe das wenige Licht, welches durch den Schleier des Wasserfalls hereinbrach, reflektierte. Keine Höhle, aber immerhin war es schön.
Ich drehte mich wieder zu dem niederprasselnden Wasser um und schwamm so weit voran, dass ich mit dem Kopf unter dem Wasserschleier schlüpfen konnte und mit dem Waschen beginnen konnte. Angeekelt hielt ich nun etwas Grünes in meiner Hand, welches sich aus meinen zerzausten Haaren gelöst hatte und sofort schmiss ich es zur Seite. Zudem spürte ich beim Kraulen meines Kopfes, dass das Jucken, was ich den ganzen Tag schon verspürt hatte, vom Meersalz und Sand vom Strand stammte. Das alles wurde ebenfalls vom Wasser weggespült und als mein Haar wieder weich und nass über meine Schultern fiel, atmete ich erleichtert aus und lehnte mich an den Felsen.
Da bemerkte ich etwas Glänzendes in einem Felsspalt und mit zusammengekniffenen Augen näherte ich mich dem Spalt und riss freudig die Augen auf. Das war Wasser, trinkbares Wasser, das sah ich sofort. In meiner Heimat hatten wir auch im angrenzenden Waldgebiet einen Bach, der von den Bergen in einen größeren Fluss mündete und von dort hatte ich mir meistens frisches Wasser geholt, wenn wir welches gebraucht hatten.
Wie eine Verdurstete legte ich die Hände in einer Bettelgeste aneinander und als genug Flüssigkeit sich in der Kuhle gesammelt hatte, trank ich aus. Das frische Wasser glitt meine raue Kehle hinunter und wohlig seufzend nahm ich mir noch mehr, bis ich keinen Durst mehr verspürte. Dieses kleine Wasserrinnsal war bis jetzt die einzige Quelle, die ich nun hatte, aus der ich trinken konnte und deswegen brauchte ich unbedingt eine Flasche oder einfach nur ein geeignetes Transportmittel, um das Wasser überallhin mitzunehmen.
Suchend sah ich mich um, aber was sollte ich auch schon hier finden? Eine perfekt geformte Schale auf einem samtenen, roten Kissen? Wohl kaum.
In Gedanken versunken schwamm ich wieder auf den kleinen See hinaus und entdeckte mein Kleid, welches ausgebreitet auf dem Gras lag und von der Sonne beleuchtet wurde. Genau daneben lagen meine Strümpfe und da kam mir die Idee. Ich kletterte aus dem See hinaus, ging in gebückter Haltung zu meinen Sachen und nahm einen Strumpf in die Hand, den ich mit beiden Händen öffnete und ungefähr schätzte, wie viel Wasser hineinpassen könnte. Genug, um den Tag zu überstehen, meiner Meinung nach.
Nur brauchte ich etwas, um den Stoff abzudichten, sodass kein Wasser hindurchsickern konnte. Diesmal fiel es mir nicht schwer eine Lösung für das Problem zu finden, denn die Blätter der Bäume waren dicht genug und würden genug Platz in meinem Strumpf finden. So packte ich so viele wie möglich hinein und zum Verschließen des Strumpfes nutzte ich den anderen Strumpf, den ich um das Ende binden konnte. Doch zuvor musste ich meinen trinkschlauchartigen Behälter mit dem Wasser auffüllen und kurzerhand hielt ich dann den vollen Strumpf zufrieden in der Hand.
Diesen legte ich unter einen Baum, damit die Sonne nicht darauf scheinen konnte und das Kleid legte ich auf einen Ast, damit es trocknen konnte. Wie praktisch es doch gewesen wäre Seife dabei zu haben, denn dann hätte ich die schmutzigen Stellen meines Kleides säubern können. Natürlich wären mehr Klamotten eine bessere Lösung gewesen, aber ich hatte nur ein Kleidungsstück am Leib zu tragen und das musste ich pflegen.
Ich werde mich dennoch aber lieber noch etwas im Wasser entspannen, so etwas muss man einfach genießen!
Die Zeit verging glücklicherweise ziemlich langsam, auch wenn ich das nicht beurteilen konnte, weil ich keine Uhr zur Verfügung hatte. Ich genoss deswegen die Ruhe, soweit die Sonne noch durch die Kronendecke der Bäume hindurchscheinen konnte und schloss seufzend die Augen, während ich im See entspannt umhertrieb.
Ab und zu fiel mein Blick wiederholt gen Himmel, der durch ein paar Lochflecken in der Blätterschicht zu erkennen war und verträumt verfiel ich in alte Erinnerungen, von denen die meisten von meinen Eltern handelten.
Zuerst erinnerte ich mich an das erste Mal, wo ich schwimmen gelernt hatte und das in einem Fluss in der Nähe unseres Hauses. Damals war das Wetter sehr schön gewesen und die Sonne hatte hell am Himmel geschienen, sodass mein Vater beschlossen hatte mir mit meinen neun Jahren das Schwimmen beizubringen. Ich war sehr aufgeregt gewesen, da ich keinerlei Ahnung hatte, was da auf mich zukam, doch schon nach den ersten Bewegungen im Wasser hatte ich mich sehr wohl gefühlt.
Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass mein Vater dabei gewesen war, der stets darauf geachtet hatte, dass mir bloß nichts geschah.
Als nächstes fiel mir die Situation ein, in der es um einen Mord in meiner Heimat ging, was mich zu der Zeit ziemlich verängstigt hatte. Ich war erst dreizehn gewesen, als man uns mitgeteilt hatte, dass eine junge Frau in einer Gasse tot aufgefunden worden war und seitdem hatte ich immer Angst gehabt alleine in den Gassen zu verkehren. Allzu gut erinnerte ich mich an das Gesicht meiner Mutter, welches vor Entsetzen starr geworden war. Sie hatte mir dringend verboten alleine irgendwohin zu gehen und das war das erste Mal gewesen, wo ich mit einem Verbot meiner Eltern einverstanden gewesen war.
Später hatte man zum Glück den Täter gefasst und ab dann hatte ich wieder meine Angst alleine spazieren zu gehen wieder besiegen können, auch wenn nachts etwas davon übrig geblieben war.
Passend zu meinem nun knurrenden Magen dachte ich an das leckere Essen meiner Mutter zurück, sodass die bloße Erinnerung meinen Speichelfluss erhöhte. All die schmackhaften Kuchen, die köstlichen Reisgerichte, die deliziösen Suppen und vor allem das exzellent schmeckende Brot regten meinen Hunger noch mehr an und leicht frustriert stieß ich Luft aus. Wenn ich doch nur noch eine Weile zu Hause geblieben wäre, vielleicht wäre ich zu einem späteren Zeitpunkt nicht in so einen Schlamassel geraten. Auf einer verlassenen Insel, dessen Entfernung bis nach Amerika mir total unbekannt war.
Meine armen Großeltern, die mich in aller Freude erwarteten. Sie würden nun sicherlich die Nachricht erhalten, dass mein Boot im weiten Meer gesunken war und dass niemand wusste, ob es noch Überlebende gab. Ich hoffte, dass ich bald von dieser Insel, egal wie, flüchten konnte, denn ich gehörte nach Amerika und nicht hierher. Aber wie ich das anstellen würde, war die Frage des Jahrhunderts.
Plötzlich riss mich ein lautes Knacksen aus meinen Gedanken und erschrocken sah ich in die Richtung aus der das Geräusch ertönt war. Dort bewegte sich etwas in den Gebüschen und so schnell ich konnte, schwamm ich hinter den Wasserfall und versteckte mich hinter dem Schleier. Irgendwie hatte ich sogar das Bedürfnis die Luft anzuhalten, doch weil das Rauschen des Wassers laut genug war, gewährte ich mir selbst das Atmen.
Aber ganz leise und regelmäßig.
Gespannt verfolgte ich das Geschehen vor dem Schleier des Wasserfalls und machte große Augen, als ich eine große, schwarze Raubkatze entdeckte, die aus den Gebüschen trat und die Schnauze in die Luft hob. Hoffentlich roch ich nicht so stark, dass sie mich bemerkte, obwohl das Kleid, welches auf dem Ast eines Baumes trocknete, viel auffälliger war. Dennoch wäre es von Vorteil, wenn dieses Tier gar nichts davon mitbekam, weil ich brauchte mein Kleid, sonst müsste ich nackt durch den Urwald laufen und das war das letzte, was ich gebrauchen könnte.
Lieber würde ich dann hier auf ewig verweilen.
Die große Katze blickte umher und schien nach etwas zu suchen, weil sie ständig an irgendwelchen Bäumen schnupperte und auch das Gras betrachtete, als würde es die kleinen Ameisen beobachten. Ab und zu erhaschte ich sogar das schimmernde Gold ihrer Augen und war total hingerissen von der Intensität dieser Farbe. Wie zwei Goldjuwelen, für die jeder Dieb gestorben wäre, um sie in Besitz zu haben.
Dennoch, abgesehen von der Schönheit und Eleganz dieses Raubtiers, musste ich auf der Hut sein, weil ich nun sicher sein konnte, dass es auch solche Art von Tieren auf dieser Insel gab. Ein nicht ganz so schönes Gefühl das zu wissen, weil ich nun eigentlich eine Gejagte war. Aus diesem Grund würde ich sofort nach dem Bad mich auf die Suche nach Waffen machen und zwar am Strand. Denn dort musste es doch Teile vom Boot geben, die an den Strand gespült worden waren. Ich hoffte es jedenfalls.
Das knurrende Miauen der Katze ließ mich hochfahren und mit angespannten Muskeln verfolgte ich jede ihrer Bewegungen. Hatte sie etwas gefunden? Möglicherweise meinen Duft? Ich spürte wie mein Herz bei diesen Fragen immer heftiger schlug und konzentrierte mich darauf wieder ruhiger zu werden. Angst würde mich hier nicht weit bringen, ich brauchte Fassung und Kühle im Kopf.
So wie Dad es damals immer zu mir gesagt hatte, wenn ich mal etwas in die Hand nehmen wollte und zwar auf eigene Faust. Ach Vater…
Seufzend wandte ich den Blick kurz von dem Tier ab und legte den Kopf in den Nacken, um die Augen zu schließen und die Frische der Tropfen, die auf mein Gesicht prasselten, zu genießen. Das war das einzige, was mich in dieser Situation beruhigen konnte. Das Wasser, welches mich auch nun vor dieser Raubkatze beschützte, die komischerweise verschwunden war. Wie? Sie war weg?
Verwirrt ließ ich den Kopf etwas durch den Wasserfall hindurchschlüpfen und riss erstaunt die Augen auf. Tatsächlich, das Raubtier war weg. Selbst mein Kleid hatte es nicht entdeckt, was mich umso fröhlicher stimmte. Also hatte ich doch Hoffnung auf dieser Insel zu überleben, denn das war Beweis genug.
Mit neu geschöpftem Mut stützte ich mich an den Felsen ab, um mich abzustoßen, als ich plötzlich einen scharfen Schmerz an meiner Hand verspürte. Hastig nahm ich die Hand wieder weg und schaute mir sie erschrocken an. Ein feines, rotes Rinnsal floss aus einer Schnittwunde mitten in meiner Handfläche mein Handgelenk entlang und ratlos sah ich zu der Stelle, an der ich mich wahrscheinlich geschnitten hatte. Dort lugte eine scharfe Kante einer Muschel aus dem Felsen heraus und erst jetzt erblickte ich die vielen weiteren glänzenden Schalen unter dem Wasser.
Wieder fiel mein Blick auf die Hand, die ich sofort im kühlen, klaren Wasser säuberte, während sich in meinem Kopf Ideen bildeten, die zum Überleben auf dieser Insel lebensnotwendig waren.
Ich könnte ja die scharfen Kanten dieser Muscheln dazu nutzen Pflanzen und weiteres zu schneiden, denn dann könnte ich auch endlich mein Kleid der Umgebung passend zurechtstutzen. Sofort war ich begeistert von der Idee und ich war mir sicher, dass meine Eltern sehr stolz auf mich gewesen wären, wenn sie mich nur jetzt sehen konnten.
Um aber diese Schale mitnehmen zu können, musste ich diese zunächst mit einem Stein von dem Felsen losschlagen, weil mir sonst keine Option blieb und glücklicherweise befand ich mich in einer steinigen Höhle, die auch Steine zur Verfügung hatte. Ich nahm mir einen handgroßen und leicht haltbaren Brocken und haute damit gegen die Ränder der Muschel, um diese vom Felsen zu lösen. Leider splitterten ein paar Teile der Muschel ab, aber der wichtigste Rest blieb dran. Nach ein paar Schlägen schaffte ich es nun einen Teil mit bloßen Händen von der Wand zu lösen und triumphierend hielt ich mein naturgetreues Messer in der nicht verwundeten Hand.
Angetrieben von dieser neuen Entdeckung und meinem neuen Gut schwamm ich durch den Wasserfall und atmete erleichtert aus, weil ich nun ganz sicher alleine war. Vorsichtig kletterte ich dann aus dem See heraus, darauf bedacht die frische Wunde nicht mit Dreck zu besudeln und schritt zu meinem Kleid, welches schon längst wieder trocken war.
Dieses nahm ich vom Ast runter und legte es ausgebreitet auf den Boden, um mit dem ‚Messer‘ den unteren Teil des Kleidungsstückes abzuschneiden.
Zu Anfang war das nicht so ein leichtes Vorhaben, aber allmählich schaffte ich es einen kleinen Riss in den Stoff zu schneiden und von da an war es ein Leichtes den Unterrock bis zur Hälfte vom Rest des Kleides zu trennen. Glücklich sah ich mir das Ergebnis an.
Gar nicht schlecht!
Infolgedessen schnitt ich noch die Ärmel ab, von denen ich einen dazu nutzte meine Wunde zu verbinden, die immer noch etwas blutete. Zum Glück aber nicht sehr stark.
Als dann auch das vollbracht war, hob ich das Kleid an und zog es mir über, da ich schon ziemlich fror und mir keine Erkältung holen wollte. Hier im Wald gab es ja leider keine Pharmazie.
Seufzend bückte ich mich nach vorne, um auch noch den Trinkschlauch aufzuheben, der wunderbar das Wasser in sich gehalten hatte, welches zusätzlich noch recht kühl war. Perfekt! Damit konnte ich nun an den Strand gehen und dort nach Wrackteilen des Bootes Ausschau halten. Es wäre nämlich undenkbar nicht ein paar Überbleibsel zu finden, die vom Wrack des kleinen Schiffes vom Meer an den Strand gespült worden waren.
Aus diesem Grund verließ ich diesen zauberhaften Ort und schlug einen Weg ein, von dem ich nicht mal wusste, wohin mich dieser führen würde. Doch daran würde ich mich wohl oder übel gewöhnen müssen solange ich auf dieser Insel festsaß. Einer verdammt großen Insel, soweit ich das beurteilen konnte.
Mein Kopf tat weh, meine Füße brannten und meine Schultern schmerzten, auch wenn die Dinge, die ich mit mir trug, weniger als eine Kokosnuss wogen. Die Hitze in diesem Dschungel machte mich träge und schlapp, sodass es mir sehr schwerfiel auf den Beinen zu bleiben und auch das Wasser im Trinkschlauch wurde immer weniger. Natürlich achtete ich darauf, dass ich nicht in einen Durstrausch verfiel, aber leicht war es für mich nicht.
Die kühle Flüssigkeit wartete nämlich darauf getrunken zu werden und meinen hitzigen Körper zu erfrischen, doch ich musste dieser Vorstellung widerstehen, egal wie sehr mein Hals beim Schlucken wehtat. Nur schleppend setzte ich meinen Weg in den unbekannten Wäldern dieser Insel fort, immer noch auf der Suche nach einer Lichtung, die mich zum Meer führen würde. Allerdings war mir nichts dergleichen widerfahren.
Mit halb gesenkten Lidern und einem leicht geöffneten Mund schweifte ich mit meinem Blick umher und wäre beinahe über einen Ast gestolpert, der sich kurz vor meinen Füßen befand. Erleichtert atmete ich aus, weil mir der Schmutz auf der Kleidung dadurch erspart blieb und mit dem gluckernden Wasser im Trinkschlauch folgte ich einem schmalen Pfad, der meiner Meinung nach zum Meer führen könnte. Könnte…
Ein Glitzern aus meinem Augenwinkel riss meine Aufmerksamkeit auf sich und meine Augen folgten dem Schimmern und landeten bei meinem Armband, welches hell im leichten Schein der Sonne glänzte. Verwirrt hob ich meine Hand an und sah mir die verschiedenen Anhänger genauer an, wobei ich unwillkürlich den Engelsflügel deutlich intensiver betrachtete. Dieser schwang leicht hin und her, als wäre es die Nadel eines Kompasses und als ich meine Hand ruhiger hielt, blieb der Engelsflügel ruhig stehen und deutete in die Richtung, in die ich ging. Eigentlich war ich nicht sehr gläubig, aber diese Fantasien waren das einzige, was mir auf dieser einsamen Insel blieb.
Und weil es das Armband meiner Eltern war, nahm ich dieses Symbol der Orientierung sehr ernst und ging einfach weiter. An Kreuzungen oder Weggabelungen ließ ich den Flügel entscheiden und so verbrachte ich die weitere Zeit mit Wandern, bis ich schließlich an den Ort gelangte, den ich gesucht hatte. Den Strand. Ich war wirklich da, das war keine Halluzination, sondern wahre Realität.
Kaum zu glauben, dass ich das wegen dem Anhänger geschafft habe… Verrückt oder nicht, ich bin endlich angekommen!
Mit großen Augen ließ ich meinen Blick über das in der Sonne schimmernde Meer schweifen und fasste mir ans Herz. Plötzliche Trauer schnürte meine Kehle und mein Herz zu und ich musste die Tränen der aufkeimenden Einsamkeit zurückhalten. Normalerweise weinte ich nicht, eigentlich nie. Aber seit dem Tod meiner Eltern wurde ich eines Besseren belehrt und nun befand ich mich erneut in einer ausweglosen Situation. Würde ich wieder nach Hause finden?
Ein verzweifelter Schluchzer entfuhr meinen Lippen und kurz darauf zuckte ich zusammen, als ich auf etwas Hartes auftraf. Ich sah nach unten und entdeckte meine Rettung. Einen Schirm, einen Sonnenschirm um genauer zu sagen. Das konnte nur bedeuten, dass es doch überlebte Teile des gesunkenen Bootes gab und vielleicht war das Wrack gar nicht so weit vom Strand entfernt. Schwimmen konnte ich ja, das hatte die Nacht des Untergangs gezeigt.
Die gestrige Nacht war die reinste Verschwendung meiner kostbaren Zeit gewesen. Ich wusste nicht, warum ich diesem Vogel gefolgt war, um daraufhin auf Fußspuren im Sand zu stoßen, doch es hatte sich zum Teil ausgezahlt. Nicht nur die Gruppe am anderen Ende der Insel befand sich in meinem Territorium, sondern noch jemand. Eine einzelne Person.
Das war zwar eine hilfreiche Entdeckung gewesen, dennoch hatten mich diese Spuren nicht zu der einzelnen Person geführt. Spuren im Sand waren einfach zu verfolgen, aber diese anschließend in einem Dschungel voller Blätter und Äste zu finden, war umso schwerer. Natürlich beherrschte ich die Kunst des Spurenlesens ausgezeichnet, aber es war, als hätte die Person über dem Boden geschwebt. Nur leichte Konturen der Schritte waren zu erkennen gewesen, doch weit war ich nicht damit gekommen.
Allzu gut erinnerte ich mich an das Gefühl der Frustration, das mich durchflossen hatte, nachdem ich nicht mehr weitergekommen war und so hatte ich Shadow gerufen, der eine viel feinere Nase besaß als ich. Selbst dieser hatte mich nur bis zu einem Fluss führen können, denn dann hatten wir wieder die Spur des Menschen verloren und nie wieder gefunden.
Entweder es handelte sich um einen ausgezeichneten Schleicher oder es war jemand meiner Abstammung, was ich aber stark bezweifelte. Die meisten meiner Art lebten nämlich in sehr kleiner Zahl verstreut auf der Welt und die Rückkehr einer meiner Leute hätte ich sofort bemerkt. Und Shadow.
Und genau nach dieser Niederlage hatte ich mich einfach nur müde und irritiert gefühlt, hatte aber fest beschlossen der Sache am morgigen Tag nachzugehen. Immerhin war das mein Revier und es war mein absolutes Recht zu erfahren, wer alles auf meiner Insel seine Rundgänge machte.
Allein die Tatsache, dass diese Person nie wieder nach Hause finden würde, beruhigte mich, denn sollte dieser Mensch anfangen ein Floß zu bauen, wäre ich der erste, der davon erfahren würde. Ich war hier das Raubtier und meine Beute fand ich immer.
Vom Hunger nach neuer Energie getrieben, zog ich die Frau an den langen Haaren aus ihrer kleinen Zelle und ergatterte Rufe und Schreie der anderen Gefangenen. „Sie unbarmherziger, kranker Mann! Lassen Sie die Frau in Ruhe!“, schrie mich eine andere Gefangene an und zerrte an den Stäben, die sie von der Rettung der Frau in meiner Gewalt trennte.
Selbst die Männer schmissen sich gegen die Stangen und hofften darauf, dass diese nachgaben, doch für wie blöd hielten sie mich instabile Gefängnisse zu erbauen…
Unbeirrt zog ich die Frau wieder an den Haaren und zischte ihr zu, sie solle endlich die Klappe halten. Doch daran dachte sie nicht. Sie begann hemmungslos zu weinen und bettelte um ihr Leben, sodass das Geschrei und die Rufe nur noch lauter wurden. Kindertheater!
Normalerweise würde ich jedem einzelnen die Zunge herausreißen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich noch belohnt werden würde, weswegen ich einfach mit der Frau im Schlepptau den Gefangenenbereich verließ. Hinter mir wurden die Schreie immer leiser, bis sie ganz verstummten und das war der Moment, in dem mein Opfer wieder zu wimmern begann.
„Bitte lassen Sie mich gehen… Ich, ich will nicht sterben. Warum tun Sie mir das an? Was habe ich Ihnen getan?“. Ihr ganzer Körper zitterte, als herrschten hier Temperaturen weit unter Null und mir kam nichts über die Lippen außer ein ‚Hm‘.
„Sie müssen das nicht tun, ich, ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, aber bitte bringen Sie mich nicht um! Verstehen Sie mich?“, bohrte die Frau weiter nach und ich verdrehte seufzend die Augen. Warum mussten Frauen nur so viel reden? Konnten sie nicht einfach akzeptieren, dass sie auf meinem Speiseplan als Lieblingsgericht eingestuft waren? Und wie dumm konnten sie sein zu glauben, ich würde ein Gewissen besitzen? Reichte allein die Gefangenschaft nicht aus, um zu zeigen, dass ich jemand war, mit dem man nicht verhandeln konnte?
Anscheinend nicht, denn der nervige Mensch über meiner Schulter hörte nicht auf zu strampeln und zu schreien, was mich nur noch mehr aufregte. Wenn sie jetzt nicht aufhörte laut zu sein, würde ich ihr wirklich als erstes die Zunge herausschneiden. Und als hätte sie meine Gedanken erhört, verstummte sie und begann wieder zu weinen. Himmel der Hölle, womit hatte ich das verdient?
Das Schluchzen und das Beben des zierlichen Körpers berührten mich überhaupt nicht und entschlossen setzte ich meinen Weg fort, der in mein Schlafgemach führte. Dabei ging ich am Gang, der in den Lagerkeller mündete, vorbei und mir fiel blitzartig ein, dass ich noch meine Salbe abholen musste. Dies würde ich jedoch erst nach meinem Opfer erledigen, da meine Energiezufuhr viel wichtiger war.
Erneut hatte das Weib aufgehört zu weinen und war nun ganz still, als wir endlich in meinem Zimmer angelangt waren. „Nein, nein. Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie mir so wehtun wollen? Bitte nicht!“, sprach sie mit erstickter Stimme und klammerte sich in mein Oberteil. Mir entrann daraufhin nur ein böses, kehliges Lachen, welches der Frau eine kalte Gänsehaut verpasste. Nun hatte ich ihr vollkommen die Sprache verschlagen, was mich für diesen Moment munter stimmte.
Ohne viel Kraftaufwand schmiss ich meine Gefangene auf das breite Bett, welches ich wie alles andere selbst gebaut hatte. Die Matratze bestand aus gewaschenen Klamotten verpackt in zusammengenähten Leinentüchern und die Kissen ebenso. Allein das Gestell des Bettes hatte ich aus Palmenholz und den Lianen aus dem dunklen Wald der Insel zusammengebaut und das Ergebnis hatte bis jetzt bestens gehalten. Um genauer zu sagen, etwa zwanzig Jahre. Und genau hier fanden meine Nahrungsaufnahme und die Befriedigung meiner anderen Triebbedürfnisse statt.
Mit einem bösartigen Grinsen legte ich die Hände auf das Bettende, dort wo die Füße der Frau waren, die sie nun mit panisch verzerrter Grimasse an sich zog und mich wie ein verschrecktes Kaninchen in der Falle anblickte. „B, bitte… T, t, tun Sie m, mir nichts. Ich, ich, ich will d, das nicht.“, flüsterte sie leise mit zittriger Stimme, was mein kaltes Grinsen nur noch breiter machte.
Wie eine Raubkatze kam ich ihr näher, legte ein Knie auf das Bett, dann das andere und krabbelte auf sie zu, während mein Blick sich in ihre Augen bohrte. Ich kettete sie mit ihrer Angst an dieses Bett und ließ sie in diesem Gefühl einfrieren, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Atmung wurde flacher, ihre Augen wurden immer größer und das Beben in ihrem Körper nahm zu.
All das befriedigte mich zutiefst und ich spürte allmählich die Energie in mir wachsen, je größer ihre Angst und ihre Panik wurde. Ich liebte das Gefühl der Überlegenheit und der Macht und schnell packte ich sie an den Beinen und zog sie unter mich. Ihr entfuhr ein erstickter Schrei und sie begann mit ihren Fäusten gegen meinen Brustkorb zu schlagen, was mich eher amüsierte, anstatt nervte. Wieder lachte ich leise und rau, nahm ihre Hände von meiner Brust und zog sie bis über ihren Kopf, wo ich diese mit einem festen Seil am Bettrand fesselte.
Erschrocken klappte ihr der Mund auf und sie wand sich quälend unter mir, darauf bedacht mich mit ihren Beinen von sich zu stoßen. Natürlich gelang ihr das nicht, da ich das schon oft genug durchgemacht hatte, um zu wissen wie ich handeln musste. Da ihre Hände gefesselt waren, blieben nur ihre Beine übrig und diese drückte ich einfach auseinander, um mich mit einem kalten Funkeln in den Augen dazwischen zu legen. Ihre Augen wurden dabei immer größer und ein Schluchzen entrang ihren Lippen. „Hören Sie auf! Gehen Sie runter, sie kranker Mistkerl… Sie sind doch verrückt!“, spuckte die Frau mit Hass in der Stimme aus und zappelte weiter.
Hatte sich mich da gerade als ‚verrückt‘ bezeichnet? Bei diesem Wort begann meine Brust wütend zu beben und ich schlug der Frau so fest ins Gesicht, dass sie vor Schmerzen aufkeuchte.
„Niemand hat das Recht mich als verrückt zu bezeichnen! Ich tue das, was mir gefällt und wenn du ein Problem damit hast, dann kann ich dich vertrösten… Es wird lang, schmerzvoll und aufregend werden.“, raunte ich heiser an ihrem Ohr und spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten und die Angst sie fast ertränkte.
Dies war der perfekte Zeitpunkt, um mit meinem Ritual zu beginnen. Ich schnappte mir das Taschenmesser von der Kommode, den heiligsten Gegenstand in meinem Besitz und fuhr mit der scharfen Klinge sanft über ihren Ausschnitt. Ihr Zittern wurde immer schlimmer und es war, als wäre sie nicht mehr fähig zu sprechen. Konnte sie auch nicht, sie war mir ausgeliefert und je früher sie das einsah, desto besser für uns beide.
Die Klinge blitzte an ihrem Schlüsselbein kurz auf und das Hungergefühl breitete sich in meinem Körper explosionsartig aus. Ich fügte ihr einen feinen Schnitt zu und sah gierig das Blut an, welches aus der frischen Wunde austrat und sich mit dem Geruch der salzigen Tränen mischte.
Mein Opfer schrie unter jeder Wunde, die ich ihr zufügte, auf und voller Verlangen machte ich sorglos weiter und genoss die Energie, die sie mir dadurch bereitstellte und die ich wie ein Durstiger in mich aufnahm. Und als diese Energie gestillt war, legte ich das Messer beiseite und musterte die Frau eingehend.
Sie war vollkommen paralysiert und nahm nichts mehr um sich herum wahr. Das geschah mit jeder Frau, aber es hatte mich nie aufgehalten das Ritual vollends zu beenden, weswegen ich ihr das Kleid hochschob und mir unwillkürlich über die Lippen leckte.
Jungfrauen waren meine Spezialität und mit dem triebhaften Verlangen eines hungrigen Löwen überfiel ich sie mit aller Gewalt und nahm mir alles, was ich brauchte.
Es fühlte sich genauso wie beim ersten Mal an und obwohl es immer das Gleiche war, so hatte jedes Opfer einen Reiz auf mich, der im Grunde unterschiedlich war. Eine nie langweilig werdende Quelle meines langen Lebens.
Meine Schritte echoten in den dunklen Gängen und das wurde mit Rufen und Schreien aus dem hinteren Bereich, auf den ich zusteuerte, erwidert. Die Frau, die ich zuvor für meine Zwecke benutzt hatte, hing bewusstlos über meine Schulter und der metallische Geruch nach Blut hinterließ eine Spur auf meiner Kleidung und in den Gängen.
Ich kam mit schnellen Schritten an den Kerkern an und schon die ersten Flüche wurden mir entgegengeworfen. Vor allem eine Frau schmiss sich gegen die Stangen und warf mir hasserfüllte Blicke zu.
„Sie Monster, was haben Sie mit meiner Schwester angestellt? Lassen Sie sie sofort gehen…“, schrie sie mich an und ich verdrehte gelangweilt die Augen. Immer diese übertriebenen Familienverhältnisse. Hätte sie genauso reagiert, wenn es nicht ihre Schwester gewesen wäre?
Denn Menschen waren heutzutage Wesen, die sich nur um sich selbst kümmerten… Familie war für sie nichts anderes als die Verpflichtung sich für jemanden anderen zu sorgen, als für sich selbst. So war das Gesetz ihrer Gesellschaft. Für Familie sollte man sich opfern, aber fremde Leute waren es nicht wert. Woher ich das wusste? In meinem langen Leben hatte ich so viel mit der Skrupellosigkeit des Menschen zu tun gehabt, dass das, was ich hier tat, nicht zu vergleichen war. Menschen waren schlichtweg elendig.
Ich ging erst gar nicht auf die ganzen Beleidigungen ein, sondern schmiss die junge Frau in ihre Zelle und verriegelte alles, sodass sie nicht die Chance hatte zu entfliehen, auch wenn das in ihrem Zustand unmöglich war. Ihre Schwester schrie mich weiterhin an und eiskalt ging ich an ihr vorbei und ließ die ganzen Rufe und Hassparolen hinter mir. Noch eine Eigenschaft, die ich an Menschen hasste, vor allem Frauen. Sie hörten einfach nicht auf zu reden, zu atmen.
Mit geballten Fäusten machte ich mich auf dem Weg in den Lagerkeller, wo ich die Kokosnussschale mit der besonderen Fruchtmischung in dem Zustand wiederfand, den ich mir gewünscht hatte. Die Sonne hatte wie immer ihre Arbeit hervorragend geleistet und das Ganze war nun eine milchig fruchtige Mischung, die herrlich duftete. Das diente einzig und allein der Wundheilung und damit ging ich zu dem jungen William, den ich schon lange nicht mehr besucht hatte.
Ich hoffte, dass ich ihn nicht allzu lange hatte schmoren lassen, denn es wäre eine Schande solch junges Blut so früh gehen zu lassen. Immerhin könnte er noch eine sehr nahrungsreiche Quelle für mich werden. Seine Verwandten hatte ich sowieso schon längst Shadow zum Fraß vorgeworfen, denn wer mich mit einem Hinterhalt versuchte zu hintergehen, bekam das Doppelte zurück. Und in diesem Fall den Tod.
Nach den vielen verschlungenen Gängen und den sich abwechselnden Lichtspielen kam ich bei den Zellen der älteren Gefangenen an und entdeckte Will sogleich in einer Ecke seines Gefängnisses. Man roch ihm an, dass der Schmutz seine Haut zerfraß und ich trat soweit vor, dass der Schatten mich noch vollkommen einhüllte.
William merkte sofort, dass ich da war. Das tat jeder, der lange genug mit mir zu tun hatte und William war einer der Gefangenen, der am längsten hier überlebt hatte.
Komischerweise hatte ich den Tick entwickelt einen Favoriten in meinem Bau zu haben und um den kümmerte ich mich so lange, bis ich ein besseres Spielzeug fand. Und bis jetzt hatte ich keinen Besseren gefunden, sodass der junge Mann das Glück besaß länger zu leben.
Dennoch war das, was er gerade durchmachte ein nicht sehr lebenswertes Leben, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er den qualvollen Tod bevorzugte. Ich war nämlich ein Befürworter des qualvollen Todes, denn erst dann konnte sich die Seele in einem Menschen entfalten und mit all seiner geistigen Gewalt Teil der Natur werden. So hatte ich meine unbändige Kraft erlangt.
„Was wollen Sie wieder von mir… Lassen Sie mich endlich alleine, ich will lieber sterben, anstatt weiter zu leben und von Ihnen umsorgt zu werden. Das wäre, als würde ich auf das Grab meiner Eltern spucken!“ Williams Stimme war schon so schwach geworden, dass sie nur noch rauchig und heiser in meinen Ohren klang.
Diesmal trat ich ins Licht und die Schüssel mit der Heilsalbe stellte ich vor die Zelle. „Dann brauche ich nicht mehr zu kommen!“, war meine einzige kalte Antwort und wortlos drehte ich mich wieder um und ließ ihn alleine.
Wenn jemand sterben wollte, ließ ich ihn gewähren. Die Entscheidung zu sterben war nämlich genauso heilig, wie die Entscheidung zu leben und das musste jeder respektieren. Das waren die Gesetze der Natur und die befolgte ich, seien es die dunklen oder die hellen Seiten des Himmels. Dennoch... Was das Leben betraf, so traf ich die Entscheidung, ob diese Person es wert war. Deswegen auch die Gefangenen.
Ein raues Miauen riss mich während meines Mittagsschlafes in meinem Zimmer aus meinen tiefgründigen Gedanken und grimmig öffnete ich die Augen. Augenblicklich erkannte ich Shadow, der die Vorderpfoten auf meine Brust gestellt hatte, um mich wachzurütteln. Ich richtete mich murrend auf, klopfte ihm auf die Seite, sodass dieser auf Befehl vom Bett sprang und seine Ohren kurz spielen ließ.
Das bedeutete immer, dass er Neuigkeiten hatte und so wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit ihm zu. „Sind das auch wirklich hilfreiche Informationen?“, fragte ich mit bestimmter Stimme und Shadows Schwanz begann dabei aufgeregt zu zucken. Also ja, stellte ich fest.
Wieder ließ ich meinen Geist mit seinem verschmelzen, wobei ich diesmal keine Bilder, sondern Gerüche empfing. Seltsame Gerüche… Es roch nach einer Frische, die es nicht in diesem Wald gab und dieser Duft war so seltsam sanft, dass selbst ich dabei leicht weich wurde. Eine neue Pflanze? Ein neues Lebewesen? Die Natur steckte nämlich voller neuer Arten, die ich nicht alle kannte und möglicherweise handelte es sich hierbei um ein Lebewesen, welches erst kürzlich auf dieser Insel geboren worden war.
Mit gerunzelter Stirn löste ich mich wieder von Shadow und der Geruch hing immer noch wie ein nebeliger Schleier über mir. Er betäubte mich förmlich. Zugegeben, das verunsicherte mich etwas, da ich dadurch nicht wusste, ob das was Gutes oder was Schlechtes für mich bedeutete.
Shadow schien auch nicht zu wissen, was dieser Geruch sein könnte und das obwohl er ein engeres Verhältnis mit der Umwelt pflegte als ich. Sollte mich das beunruhigen?
Ich beschloss diese Sache erstmals ruhen zu lassen und übertrug Shadow die Aufgabe sich um die Enthüllung dieses Duftes zu kümmern, denn sollte er diesen Geruch wieder aufspüren, würde ich definitiv die Initiative ergreifen. Ich saß nie tatenlos auf dieser Insel herrum, weil ich mir das nicht leisten konnte. Immerhin hausten auf der anderen Seite meines Gebietes Menschen, die es darauf angelegt hatten mein Territorium zu ihrem zu machen, was ich keinesfalls zulassen würde.
Mein Revier, ihr besiegeltes Schicksal.
Nachdem ich mich noch etwas in meinem Zimmer aufgehalten hatte, um neue Pläne zu schmieden, hörte ich das leise Tapsen von Shadows Pfoten auf dem steinigen Boden. Dieser ließ seinen Kopf auf meinem Schoß fallen und fragend hob ich eine Augenbraue, den Blick direkt auf seinen Kopf gerichtet.
„Was ist los? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst Patrouille schieben?“, stellte ich mit einem rauen Unterton die Frage und dieser schnurrte nur als Antwort. Nicht schon wieder, er hatte mal wieder einen dieser Momente, in denen er darauf aus war Streicheleinheiten zu bekommen und wohl oder übel musste ich ihm das geben, was er brauchte. Gefährtensache eben.
Leicht und kaum spürbar streichelte ich den weichen, dunklen Kopf und sah leicht verträumt zu, wie bei jeder Bewegung Shadows Augen größer oder kleiner wurden. Das Schnurren von ihm war als kleines Beben an meinem Oberschenkel zu spüren, was mir ein kleines Lächeln hervorlockte. Wie lange hatte er das nicht gemacht? Zu lange her…
Nach einer gewissen Zeit hörte ich dann auf ihn zu streicheln und dieser fuhr sich mit der Zunge gähnend ums Maul, was wirklich amüsierend aussah. Anschließend stupste er mich mit seiner Schnauze am Handrücken an und musterte mich schief mit seinen goldenen Augen.
„Hast du Lust auf eine kleine Wanderung?“, murmelte ich leicht belustigt und Shadow stieß ein kindliches Miauen aus, soweit ein ausgewachsener Puma kindlich klingen konnte.
Seufzend erhob ich mich von meinem Stuhl, ging zum Bett, um mir mein Messer in den Halfter zu stecken und dann war ich für den Aufbruch bereit.
Mit Shadow an meiner Seite verließen wir das Zimmer und leise schlichen wir uns an den Gefängnissen vorbei, in denen lautstark diskutiert wurde. Und da ich nicht die Motivation besaß mich mit solch niederen Menschen zu beschäftigen, nahm ich den dunkelsten Weg und kam auch schon nach ein paar Metern an der frischen Luft an.
Meinen verspannten Nacken ließ ich nun langsam kreisen, während ich tief die kühle Luft einatmete und entspannt aufseufzte. Shadow ließ die Krallen in die Erde eintauchen und knurrte zufrieden, was er immer machte, um sich ebenfalls zu entspannen.
Nach diesem Ritual entschied ich mich mit ihm zum Strand zu gehen, da ich dort den größten Überblick über die ganze Insel hatte und dort auch ein paar weitere Kokosnussschalen sammeln konnte, weil mir die anderen langsam ausgingen. Immerhin hatte ich viele Mäuler zu stopfen, auch wenn die meisten davon den Hungerstreik angetreten hatten. Doch genau diese Menschen waren es, die sich mir früher meiner Macht unterwarfen und bis zu diesem Zeitpunkt würde ich sie mit den Früchten des Waldes füttern. Somit war ich ebenfalls auf die Erträge der Natur angewiesen.
Es dauerte nicht lange, da kam ich auch schon am golden schimmernden Strand an und ließ meinen Blick umherschweifen. Die Sonne stand bereits schräg am Himmel, sodass eine Seite der Insel bereits in der Dunkelheit lag, genau die Seite, auf der ich mich gerade befand.
Ich legte eine Hand flach über meine Augen, um so besser in die Ferne zu spähen und Ausschau nach Menschen zu halten. Nirgends war ein Lebewesen zu erkennen, also entspannte ich mich gleich wieder und ließ meine Schultern hängen. Auch Shadow wedelte entspannt mit dem Schwanz und näherte sich langsam dem Wasser. „Du kannst Wasser sowieso nicht ausstehen, also geh da weg!“, meinte ich kopfschüttelnd und begann mit dem Sammeln von Kokosnüssen.
Shadow hörte natürlich nicht auf mich, da das Wasser schon zum tausendsten Mal zu interessant war und so war ich mal wieder auf mich allein gestellt, was das Sammeln betraf.
Immer wieder schüttelte ich an den Kokosnüssen, um festzustellen, ob die Milch frisch genug war, um sie in einen kleinen Bottich, den ich mitgenommen hatte, abzufüllen.
Und während ich das tat, ignorierte mich mein Gefährte vollkommen und ich stieß einen gedehnten Seufzer aus. Typisch Katze mal wieder!
Es dauerte zum Glück nicht lange, da hatte ich genug Kokosmilch in meinem Bottich, um allen meinen Gefangenen den Durst zu löschen. Wenn schon für einen Tag. Doch daran dachte ich nicht, weil das alles nur zur Hälfte für sie sein würde und der Rest für meine weiteren Rituale, die ich noch durchführen wollte.
Shadow hatte endlich aufgehört das Wasser zu betrachten, gesellte sich zu mir und schmiegte sich an meine Beine. „Hör auf damit, sonst werde ich dich wegschicken!“, warnte ich ihn und dieser schien das sofort ernst zu nehmen, weil er schon einen Moment später einen Katzensprung von mir entfernt war.
Warum konnte das nicht gleich so funktionieren?
Mit dem Bottich in der einen Hand und der Raubkatze an meiner anderen Seite schritten wir beide am Dschungelrand entlang und blieben wachsam. Immerhin verkehrten hier freilaufende Menschen und diese konnten nach ein paar Tagen ziemlich nervig werden. Sie bauten sich Hütten, klauten mir mein Essen und machten Jagd auf die Geschöpfe des Waldes, ohne wirklich zu wissen wie das eigentlich ging. Das war einfach grässlich, was sie hier auf dieser Insel taten und ich musste sie schnellstmöglich finden.
Aus diesem Grund hoffte ich auch, dass eine meiner Fallen wenigstens zugeschnappt hatte, damit ich dann die Gefängnisse etwas auffüllen konnte. Ein paar brauchten ja noch Gesellschaft und so ein schlechter Gastgeber war ich nun auch wieder nicht. Es kam immer auf meine Laune an.
Das raue Miauen von Shadow riss mich aus meinen Gedanken und sofort blieb ich stehen, sah ihn an. In seinen Augen lag das Glitzern, was so viel wie ‚Da ist jemand‘ bedeutete und aufmerksam drehte ich mich um meine eigene Achse und kniff die Augen zusammen. Alles in mir versteifte sich, als ich einen allzu bekannten Duft wahrnahm und eilig versteckte ich mich hinter einem sehr dichten Busch.
Shadow folgte mir lautlos, da seine Pfoten bei jeder Bewegung kein Geräusch verursachten und zusammen hockten wir nebeneinander und warteten auf das Lebewesen, das nun um die Ecke kommen würde. Die Minute des Wartens dauerte eine Ewigkeit, aber dann tauchte der erste Mensch auf, ein Freier. Ich begann bei dem Anblick leicht mit den Zähnen zu knirschen und meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten.
Selbst Shadow verspannte sich neben mir und sanft streichelte ich seinen Kopf, hielt ihn davon ab aufzuspringen und den Menschen anzugreifen. Noch musste ich warten, falls noch mehr auftauchten und genau das geschah kurzerhand. Weitere drei tauchten hinter dem Mann auf und sie sahen aus, als wären sie auf der Jagd. Ob sie schon etwas entdeckt hatten, wusste ich nicht, aber ihre Haltung sagte schon alles.
Sie waren alle im Überlebensmodus und das hieß für mich, dass es an der Zeit war sie einzusperren, bevor sie mir zu gefährlich wurden. Und da ich freilaufende Männer nicht so gerne bei mir hatte, brachte ich diese einfach um und nahm mir dann die ungeschützten Frauen, die sie meistens in ihrem Lager alleine mit ein paar Schwächlingen alleine ließen.
Ich warf einen kurzen klärenden Blick zu Shadow, der schon in Lauerhaltung überging, sodass seine Muskeln an seiner Schulter angespannt zuckten. Nicht mehr lange und das würde zu einem blutigen Gemetzel werden.
Doch bevor dies geschah, ließ ich den Bottich hier hinter diesem Gebüsch liegen und griff nach meinem Dolch, den ich an meinem Hosenbund befestigt hatte. Diesen wog ich leicht in meiner Hand, bevor ich Shadow ein Zeichen gab und wir beide wie Schatten aus dem Wald am helllichten Tage aus dem Busch hervorsprangen und die überraschten Menschen angriffen.
Einer der Männer reagierte blitzschnell, was mich aber nicht wunderte, da er der Anführer der Vier zu sein schien und mit einem Speer stieß er auf mich zu, doch ich reagierte noch schneller und schnappte nach dem vorderen Teil der Waffe. Der Mann sah mich völlig entgeistert an und mit einem Grinsen zog ich ihn näher zu mir, um ihm meinen Dolch in den Kopf zu rammen, als dieser nach hinten sprang und selbst nach einem kleinen Wurfmesser griff.
Ich verdrehte leicht die Augen und besaß nicht besonders viel Lust das Ganze hier zu dramatisieren, doch dieser Typ wollte es nicht anders und mit einem Knurren stürzte ich mich auf ihn, passte jedoch auf, dass kein anderer mich von hinten überwältigte. Kaum hatte ich diesen Gedanken jedoch zu Ende gedacht, kam schon einer von hinten, dem ich meinen Ellbogen in den Magen grub und ihm dann an die Kehle fasste und fest mit einer Hand zudrückte.
Sofort begann dieser verzweifelt nach Luft zu schnappen, schaffte es jedoch nicht, da meine Kraft größer als die eines Menschen war. Die Angst um sein Leben fütterte zudem noch mehr meine Energie und als einer ihm zu Hilfe eilen wollte, sprang ihn Shadow von hinten an und zerriss seine Kehle in Stücke. Wortwörtlich!
Der Mann begann zu gluckern, das Blut floss nur so aus ihm, tauchte in den golden schimmernden Sand ab und trocknete schnell in der gleißenden Hitze. Ein Toter, nun fehlte der in meinen Händen, der auch nicht mehr lange brauchen würde, bis er ersticken würde und dieser Zeitpunkt war angebrochen. Mit weit aufgerissenen Augen wurde er schlapp, ich ließ ihn los und dieser fiel einfach nach vorne, bewegte sich nicht mehr. Kurz trat ich ihm gegen die Brust, aber als er sich selbst da nicht regte, erklärte ich ihn für tot und zufrieden massierte ich meine Hände.
Triumphierend drehte ich mich um, grinste die beiden übriggebliebenen Männer an und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Shadow sich aus einem anderen Winkel den beiden näherte. In den Augen unserer Opfer stand pure Angst geschrieben, aber ich wusste, dass sie sich noch wehren würden, um ihren ach so tollen Heldentod zu sterben.
Den Gefallen würde ich ihnen aber nicht machen und im nächsten Augenblick hatte einer von ihnen mein Messer im Kopf und der andere das Gebiss von Shadow am Nacken. Beide fielen wie Puppen auf den warmen Sandboden und zufrieden sah ich zu meinem Gefährten, der sich mit der Zunge über die Schnauze leckte. „Tja, dann wäre das wohl geschafft… Gehen wir jetzt zu dem Lager, das muss in der Nähe liegen!“, teilte ich Shadow gedankenverloren mit und zusammen machten wir uns auf dem Weg das Lager zu finden.
Die Leichen ließen wir einfach zurück, so wie ich es immer machte, als Gabe für die Natur, die schon viele Wunden durch den Mensch hatte erleiden müssen. Nun würde sie sich an deren Leichen vergreifen und sich das nehmen, was diese Männer ihr genommen hatten. Das Leben.
An einer beliebigen Stelle mitten im glasklaren Wasser blieb ich schwimmend stehen und holte tief Luft, bevor ich dann vollends untertauchte und leicht die Augen öffnete, um etwas zu sehen. Viel war jedoch nicht zu erkennen außer vielleicht ein paar aufgeschlagene, halb im Sand verschlungene Koffer. Doch das war besser, als gar nichts zu finden, sodass ich immer tiefer tauchte, bis ich an diesem Fleck ankam.
Meine Hände griffen nach der Kante eines dunkelbraunen Koffers und ganz vorsichtig öffnete ich diesen, soweit ich überhaupt konnte. Ein paar Klamotten schwammen darin, ein Kamm, zwei Paar Schuhe und kleine Porzellanteller waren zu finden, von denen ich das Paar Schuhe und den Kamm nahm, um wieder aufzutauchen, da mir die Luft wegblieb. Keuchend riss ich den Mund auf, als wieder Sauerstoff in meine Lungen strömte und die Sachen in meiner Hand brachte ich an den Strand.
Dabei fiel mir auf, dass es besser wäre, wenn ich mit einem Sack hinausschwamm, um die Sachen darin zu verstauen, sodass ich nicht viel hin und herschwimmen musste. Doch woher bekam ich einen Sack her?
Seufzend fuhr ich mir durchs zerzauste Haar und sah den Kamm in meiner Hand an. Diesen würde ich gleich nach der Suche nach was Brauchbarem benutzen, meine Haare schrien förmlich nach Pflege.
Deswegen legte ich den Kamm vorerst auf den weichen Sandboden, bevor ich wieder ins Wasser ging und erneut abtauchte. Diesmal entdeckte ich nicht den Koffer, sondern einen großen blechernen Teil des Bootes, der zur Hälfte aus dem Boden ragte. Doch weil ich zu schwach war, um daran zu ziehen, schwamm ich einfach drumherum und richtete meinen Blick auf eine hölzerne Planke, die wahrscheinlich vor dem Sinken als Sitzbank fungiert hatte.
Schnell schwamm ich dorthin, bevor mir die Luft entwich und dann umfasste ich mit einer Hand das Holz und drückte mich mit den Füßen vom Sandboden ab. Zuerst bewegte sich kaum etwas, doch je länger ich daran zog, desto mehr zeigte sich von der Planke und mit neuer Hoffnung sammelte ich meine letzten Kräfte und rüttelte daran.
Das Holz glitt aus dem Sand heraus und eilig schwamm ich an die Oberfläche und schnappte nach Luft, da ich etwas zu lange unter Wasser gewesen war. Aber lange blieb ich nicht an der frischen Luft, denn schon nach ein paar Atemzügen war ich wieder unten und zog wieder am Holz, um es Richtung Strand zu schleifen.
Drei Mal musste ich währenddessen Luft holen, bis ich mich völlig erschöpft neben der Planke auf den Boden fallen ließ und erstmals ein und ausatmete. Das wäre nun geschafft.
Lange Zeit verbrachte ich an diesem Fundort und ein Blick auf die ganzen Sachen reichte aus, um mir mehr Hoffnung zu verschaffen, dass ich das hier überlebte. Die Planke und ein paar weitere Holzbretter würden später vielleicht zu einem Dach verarbeitet werden und die ganzen Klamotten könnten später als Decken und als weitere Anziehsachen verwendet werden. Kleine Habseligkeiten hatte ich mir auch besorgt und den lang ersehnten Sack hatte ich glücklicherweise in einem etwas abgelegeneren Koffer gefunden.
In diesen legte ich die kleinen Sachen hinein und dann schmiss ich den vollen Sack über meine Schulter, sodass ich das Gewicht stark zu spüren bekam. Doch ich brauchte diese Sachen und erhobenen Hauptes nahm ich den Weg, der zu dem großen Baum führte. Die Holzplanke schleifte ich einfach hinter mir her, jedoch darauf bedacht keine Spur zu hinterlassen, indem ich den Boden mehrmals verwischte.
Nach einer Weile jedoch wusste ich nicht mehr genau, welcher der richtige Weg war, doch ich folgte einfach meinem Gefühl und blieb manchmal stehen, um mich umzuschauen. Vielleicht fand ich ja einen Anhaltspunkt, wie ich zu dem Baum kam und zum Glück bekam ich auch meinen Hinweis. Der Fluss, den ich schon mal in der Nacht durchschwommen hatte, war auf der rechten Seite, weswegen mein Schlafplatz nicht sehr weit entfernt sein musste.
Motiviert setzte ich meinen Weg fort.
Wie ich die Sachen dann hinauftragen würde, war das nächste Problem, was ich aber bestimmt lösen würde. Langsam gewöhnte ich mich nämlich an die ganze Überlebenssache.
Und tatsächlich, nach einiger Zeit des quälenden Gehens kam ich endlich am großen Baum an.
Dieser war genauso majestätisch, wie ich ihn verlassen hatte, nur dass er mir diesmal sogar viel größer erschien als zuvor. Der üppige Stamm war nun viel größer und auch die Äste waren viel länger geworden, selbst die Blätter wirkten so groß wie Sonnenschirme.
Völlig erschöpft vom Herumtragen meiner neu erworbenen Dinge ließ ich diese auf den Boden fallen und wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Auf meiner Haut hatte sich schon ein Schweißfilm gebildet und dieser fühlte sich nicht gerade toll auf meiner sensiblen Haut an.
Oh ja, ein kleines Bad in der wunderschönen Quelle würde in diesem Moment nicht sehr abwegig sein. Vielleicht könnte ich später mal dort vorbeischauen, aber da sich die Sonne wieder dem Horizont näherte, beschloss ich dies zu unterlassen. Morgen war noch genug Zeit, um das zu tun.
Ich warf meinen Sachen einen niedergeschlagenen Blick zu und nahm den Sack voller Gegenstände in die Hand, um ihn mir über die Schulter zu werfen. Anschließend schnappte ich mir noch die Planke und hob sie so hoch, sodass sie an einen Ast lehnte und mit einem Schub darauf balancierte. Das war das Startzeichen für mich den ersten Teil des Baumes hochzuklettern, auch wenn das Gewicht des Sackes mir zusetzte. Doch irgendwie brachte ich genügend Kraft auf, um wenigstens ein paar Äste zu erklimmen.
Und als ich wieder festen Halt unter meinen Füßen hatte, umfasste ich wieder die Kante der Planke und zog sie erneut hoch, um sie auf eine noch höhere Ebene zu bringen. So machte ich eine Weile weiter, bis ich an meinem Schlafplatz ankam und völlig übermüdet auf die Knie sank. Das würde ich demnächst wohl öfters machen müssen.
Immer noch etwas schwach streckte ich meine Hand nach dem Sack aus und holte die Gegenstände heraus, um diese an verschiedenen Orten dieser Ebene zu verstecken. Den Kamm und die paar Schuhe sowie Klamotten legte ich alle auf einen Haufen, während andere Objekte auf einen anderen Platz kamen. So hatte alles seine Ordnung und ich konnte mit der großen Planke weitermachen.
Diese nahm ich einfach mal so in die Hand und schaute mich konzentriert dreinblickend um, um einen geeigneten Platz dafür zu finden. Am besten wäre es, wenn ich noch Nägel und Hammer dabei hätte, doch Wünsche waren hier nicht erlaubt. Hier musste ich alles selber besorgen und erarbeiten, weswegen ich die Planke gleich mal eine Ebene über mir schräg legte, damit sie eine Art Dach darstellte.
Natürlich war diese nicht breit genug, aber im Meer hatte ich noch weitere von diesen entdeckt und würde diese nachholen. Schon bald würde ich also ein Dach überm Kopf haben. Nicht schlecht Chanelle Price!
Als ich nichts mehr auf diesem Baum zu tun hatte, beschloss ich wieder herunterzuklettern und wieder auf Essenssuche zu gehen. Außerdem hatte ich auch das ganze Wasser verbraucht, weswegen ich wieder zur Quelle musste. Ein langer Fußmarsch stand mir wieder bevor.
Ich wusste nicht so recht, wie es dazu kam, aber die Quelle erreichte ich ohne Probleme. Und das obwohl die Sonne schon einige Schatten in diesen Dschungel warf, da die Abenddämmerung bereits eingeschlagen war. Eigentlich kein guter Zeitpunkt, um noch umherzuirren, aber ich hatte Lebensmittel dringend nötig.
Eine Hand tauchte ich in das kühle Wasser des kleinen Sees ein und Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Arm aus. Selbst bei schwachem Lichtschein glänzte das Wasser wie dunkle Saphire und begeistert beobachtete ich eine Weile das Lichtspektakel. Es war einfach atemberaubend zu sehen, was die Natur alles preisgab, wenn man genau hinsah.
Zudem war ich sehr glücklich darüber, dass ich normales Trinkwasser zur Verfügung hatte, anstatt des salzigen Wassers aus dem Ozean. Denn damit wäre ich ausgetrocknet, wie eine Pflaume in der zu heißen Sonne.
Wie in Trance füllte ich meinen selbstgemachten Bottich mit frischem Wasser und trank ein bisschen davon, um meine trockene Kehle zu besänftigen. Immerhin hatte sich mein Hals bei jedem Schlucken wie aneinander reibender Sand angefühlt und nun war es fast wieder normal.
Als das erledigt war, richtete ich mich langsam auf und sah mich inspizierend um. Ich wollte nicht, dass diese Raubkatze meinen Weg kreuzte und deswegen war höchste Vorsicht geboten. Außerdem wollte ich ja noch Essen suchen und dieses würde ich nur auf diesem einen Hügel mit den ganzen Bäumen finden. Doch wo war dieser Hügel gewesen?
Etwas verunsichert, da ich nicht den genauen Standort der Bäume kannte, lief ich durch die Gegend und hielt Ausschau nach bekannten Ecken und Pflanzen. Zuerst entdeckte ich nichts, aber schließlich landete ich auf einem zertretenen Pfad, dem ich dann blind folgte. Eigentlich handelte ich nie unüberlegt, doch ich vertraute meinem nun angespornten Instinkt.
Nun, im Nachhinein konnte ich mir nicht nachsagen, ich hätte nicht alles getan. Jetzt war ich mitten im Nirgendwo und es war bereits stockdunkel. Was würde ich in diesem Moment für ein kleines Lagerfeuer tun? Alles…
Seufzend fuhr ich mir durchs krause Haar und versuchte mich zu orientieren, was aber gar nicht so leicht war. Mir war der Ort immer noch vollkommen fremd und ich kannte keinen einzigen Flecken auswendig, außer die Quelle und meinen Baum. Zwar waren das kleine Fortschritte, doch nun wären viel mehr nötig, um dieser Umgebung zu entkommen.
Bevor ich jedoch ohne zu überlegen handelte, setzte ich mich auf einen umgefallenen Baum, um mich zunächst zu beruhigen. Meine Stirn lag in Falten, während ich nachdachte und meine Finger hatte ich diplomatisch ineinander verschränkt, um meine aufsteigende Angst zu unterdrücken. Da mir aber auf die Schnelle nichts einfiel, sah ich leicht verzweifelt mein Armband an und ließ einen tiefen, gedehnten Seufzer los. Mom, Dad, ich vermisse euch so sehr…
Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, begann wieder mein Armband zu schimmern und verwirrt hob ich es in die Luft. Der Flügel schwenkte leicht hin und her und das Herz tippte unaufhörlich gegen meine sensible Haut am Handgelenk. Was war denn nun los? Das war sehr merkwürdig, weswegen ich weiterhin fasziniert die Anhänger in ihrem Schwenkspiel beobachtete, während ich zu verstehen versuchte, was sie mir sagen wollten. Oder worauf sie hindeuteten.
Mein Herz begann dabei unruhig zu klopfen, aber ich hörte nicht auf die Anhänger anzuschauen, ich war wie gefesselt von ihrem Glanz und ihrer merkwürdigen Bewegung. Und als ich mit der Nase fast mein Armband berühren konnte, begann der Löwenkopf andauernd hin- und herzuschwenken, als würde eine unsichtbare Hand daran rütteln.
Irritiert erhob ich mich vom Stamm und richtete meinen Blick in die Richtung, in die der Löwenkopf schwenkte. Es war fast wie eine Aufforderung und der kam ich nach.
Ich folgte dem Weg, den mir mein Anhänger zeigte und ohne richtig auf meine Umgebung zu achten, landete ich genau am Hügel, den ich die ganze Zeit schon vergeblich gesucht hatte. Wieder fiel mein Blick auf die glänzenden Anhänger und langsam hatte ich das schleichende Gefühl, dass etwas mit dem Schmuckstück nicht stimmte.
Doch darüber wollte ich mir momentan nicht den Kopf zerbrechen, da ich nun mein Ziel erreicht hatte und mächtigen Hunger verspürte. Und bevor ich noch mit anderen Lebewesen dieser Insel in Kontakt kam, schnappte ich mir so viele Früchte wie ich konnte von den Bäumen und stopfte sie in den Sack, den ich mitgenommen hatte. Als dieser dann voll war, packte ich ihn mir über die Schulter und machte mich damit auf den Rückweg. Zurück nach Hause fand ich nämlich immer, soweit vertraute ich mir selbst.
Mittlerweile war es schon tiefe Nacht und die Schatten der Wälder tanzten um mich herum, versuchten mir Angst einzujagen und manche lachten mich sogar aus. Dennoch ließ ich mich nicht davon beeindrucken, sondern setzte meinen Weg fort. Wenn ich Schwäche zeigte und empfand, war ich hier verloren und es war mein Ziel das hier zu überleben und nach Amerika zu reisen. Egal wie ich das erreichen würde.
Auf dem Weg zu meinem Schlafplatz entdeckte ich wieder diese wunderschönen Blumen am Waldrand, nur dass sie sich diesmal nicht in ihrem Farbglanz präsentierten, sondern in tiefen Blau-und Violetttönen, soweit ich das überhaupt im Dunkeln beurteilen konnte. Es war nicht schön zu sehen, wie sich in der trüben Dunkelheit die Welt veränderte, aber dennoch nahm ich eine Blume in die Hand und atmete tief ihren Duft ein.
Und mein Unterbewusstsein sollte Recht behalten. Vielleicht änderte sich das Äußere, aber das Wahre, in diesem Fall der Duft, blieb gleich. Genauso verführerisch, friedvoll und harmonisch, wie am helllichten Tage.
Durch diesen Duft leicht benebelt und teils befreit führte ich den Spaziergang fort und aß auf dem Weg einen saftigen Apfel. Meine Gedanken wanderten ständig zum Strand und dem Fundort, aber ich musste meine Neugier zügeln und die weitere Suche auf morgen Früh verlegen. Alles mit der Ruhe, so ermahnte ich mich selbst, immer wieder.
Nach etwaiger Zeit befand ich mich in Sicherheit auf meinem Baum, aber ich dachte nicht daran zu schlafen. Stattdessen ging ich in die Hocke, ganz nah am Ende eines breiten Astes und betrachtete den wolkenlosen, sternenklaren Nachthimmel. Ein leichter Windzug brachte mich zum Frösteln, weswegen ich gleich nach weiteren Klamotten griff und diese über meine Schultern legte. Mir wurde sofort wärmer und kurz schloss ich die Augen, um diesen Moment der Stille zu genießen. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht verloren, ich suchte einen Platz in dieser fremden Umgebung und mit diesem Baum war schon mal der erste Stein umgefallen.
Der hohe Laut eines Vogels riss mich aus meinen Gedanken heraus und verwirrt blickte ich mich um. Dieser Klang hatte aus nächster Nähe geklungen und mein Kopf drehte sich in beide Richtungen, in der Hoffnung diesen Vogel zu entdecken. Vielleicht konnte ich wenigstens mit solch einem Lebewesen Freundschaft schließen und meine einsamen Stunden damit vertreiben. Aber selbst nachdem ich jede Ecke abgesucht hatte, entdeckte ich nichts Lebendiges, was auf einen Vogel hinweisen könnte. Schade, nun würde ich also wieder eine Nacht alleine verbringen…
Enttäuscht ließ ich mich wieder auf den Boden sinken und umarmte mich selbst, während mein Blick über die dunkle Blätterdecke glitt und schließlich am Nachthimmel mit dem Halbmond hängen blieb. Es war atemberaubend schön, so schön, dass es einem fast wie ein Traum vorkam. Die Realität verschmolz mit dem Traum und ich verfiel in diese neue Welt. Eine Welt, die ich zuvor nicht gekannt hatte.
Lange hielt ich mich nicht in dieser Welt auf, weil mich wieder ein hoher Laut eines Lebewesens mich aus dieser Trance hervorholte. Meine Augen flatterten auf und ganz langsam richtete ich mich auf, während ich hin- und herschaute. Es war nichts zu sehen, aber ich hatte dennoch das Gefühl, dass etwas hier war.
Es war eigentlich beängstigend so etwas zu fühlen, doch hier oben auf diesem Baum konnte keine Gefahr lauern. Was sollte hier schon hausen? Fragend glitten meine Hände am knorrigen Stamm des Baumes entlang, um meinen Kopf in den Nacken zu legen und nach oben zu schauen. Die Dunkelheit machte es mir jedoch nicht einfach bis zum letzten Zweig zu sehen, doch etwas Schwarzes huschte von Ast zu Ast. Ich spürte mein Herz wild in meiner Brust schlagen, mein Atem ging stoßweise und meine Hände begannen leicht zu zittern.
Egal, was ich mir auch einredete, um Mut zu schöpfen, es half nicht. Hier war etwas.
Unbewusst legte ich eine Hand um das Armband und betete, dass es kein fliegendes Monster war und so leise ich sein konnte, glitt ich am Baum entlang und schloss fest die Augen. Es war eine Tat, die ich mir seit der Kindheit angewöhnt hatte. Ich schloss die Augen, nur um das Schlechte nicht sehen zu müssen, so wie das angeblich existierende Monster in meiner Zimmerecke, als ich noch klein war.
Meine Eltern hatten mir oft gesagt, ich würde phantasieren, aber welches Kind besaß nicht den Albtraum in seinem eigenen Zimmer? Und seitdem hatte ich diese Gewohnheit die Augen vor dem Unsichtbaren zu verschließen.
Nur diesmal wollte mir das nicht gelingen. Diese Präsenz brannte sich in mein Fleisch, nahm mir den Atem und hüllte mich in sein Inneres ein. Es war unbeschreiblich das Gefühl, das mich in diesem Moment durchfloss und dann tat ich etwas, was ich sonst nie getan hätte. Ich öffnete ganz leicht meine Augen, sanftes Mondlicht begegnete mir und als ich glaubte in Sicherheit zu sein, öffnete ich sie ganz und ließ einen kurzen, spitzen Schrei los. Der Rest des Ausrufs blieb mir wortwörtlich im Halse stecken.
Vor mir, auf einem Zweig, hockte ein Vogel, nicht sehr groß und nicht sehr klein. Dieser war vielleicht so groß wie mein ganzer Unterarm und seine leuchtenden Knopfaugen betrachteten mich eingehend. Mir war nicht wohl dabei nicht zu wissen, wie ich nun handeln sollte, aber so schnell das Gefühl der Angst in meine Knochen gekrochen war, umso schneller verschwand dieses Gefühl, ersetzt durch Neugier und Ruhe.
Ganz langsam streckte ich die Hand aus, unsicher wie der Vogel nun reagieren würde, doch dieser bewegte sich keinen Zentimeter. Er schaute mich weiterhin an, sein Kopf neigte sich leicht zur Seite und ganz kurz breitete er die Schwingen aus und schüttelte sich, als würde dieser in unsichtbarem Wasser baden. In diesem Fall im Mondlicht, das ihn vollkommen erhellte. Wahrlich ein Geschöpf der Nacht, so mysteriös und anziehend zugleich und dabei strahlte er sogar Vertrauen aus.
Würden mich meine Eltern nun sehen können, würden sie denken ich sei verrückt geworden. Immerhin versuchte ich Kontakt mit einem Vogel herzustellen, einem Vogel, der so aussah, als wäre er ein Wunder der Natur. Es war kaum zu glauben und doch tat ich es. Mein Finger berührte sachte das weiche Gefieder am Kopf und Gänsehaut breitete sich sekundenschnell auf meiner Haut aus, weil es mich faszinierte, wie vertrauensvoll dieser Vogel zu mir war. So etwas war mir noch nie widerfahren und sobald ich mehr Mut gefasst hatte, glitt mein Finger vom Kopf zum Rumpf des Vogels. Mein Blick wich nicht von seinem ab, ich wollte jede Reaktion lesen und mir sicher sein, dass mich dieses Lebewesen nicht urplötzlich angriff. Und es tat nichts, es stand einfach still da und rührte sich nicht.
Langsam wurden meine verspannten Muskeln in den Gelenken locker und mein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Na, du hübscher, friedlicher Vogel… Wie kommt es, dass du mir so vertraust und nicht davonfliegst?“, hörte ich mich selbst leise fragen und der Vogel flatterte kurz auf der Stelle.
„Tut mir leid, ich kann deine Sprache leider nicht verstehen!“, meinte ich ehrlich, lächelte aber sanft. „Doch du kannst hier bei mir bleiben und mir etwas Gesellschaft leisten, wenn du willst. Ein kleiner Aufpasser würde mir nicht schaden, vor allem in dieser kalten Nacht.“, sprach ich weiter auf das Lebewesen an meiner Hand ein und spürte, wie leicht mein Herz wurde.
Ich verstand nicht, wie es sein konnte, dass allein so ein kleiner Vogel ausreichte, um die Sorgen eines Menschen fortzuspülen, aber ich war froh, dass dem so war. Nun hatte ich etwas Gesellschaft, denn mein neuer Freund hüpfte auf mich zu und flog schließlich auf meinem Kopf. Ein leises Lachen entfuhr meinen Lippen und heiter lehnte ich mich wieder gegen den Baum, während ich mich darum bemühte es mir gemütlich zu machen. „Danke, dass du hierbleibst. Wenn ich mal einen Wurm finden sollte, dann gebe ich ihn dir!“, versprach ich in weichem Tonfall und schloss die Augen.
Diesmal brauchte ich nicht lange, um den Weg ins Traumland zu finden, denn diesmal hatte ich Flügel am Rücken. Breite schöne Schwingen in dunklem Purpur, die im Licht des Mondes wie Amethysten strahlten. Und vor mir flog der Vogel, mein neuer Freund und wies mir den richtigen Weg durch die Schatten des Waldes, um mich zum Tor des Himmels zu bringen. Der Mond selbst.
Schon wieder war es ein Vogelschrei, der mich weckte, doch als ich die Augen öffnete, war von meinem neuen Freund nichts zu sehen. Er war anscheinend weggeflogen, vielleicht auf Futtersuche oder er hatte ein Zuhause, zu dem er zurückkehren musste. So wie ich.
Seufzend richtete ich mich langsam auf und ließ meinen Blick über den weiten Dschungel schweifen, während meine Hand zum Kamm griff, damit ich meine Haare kämmen konnte. In letzter Zeit hatten sie nämlich viel ertragen müssen und sie zu bürsten wäre bestimmt wie eine Heilung für das ertragene Leid.
Der Kamm glitt auf und ab und ich summte währenddessen ein Morgenlied, das meine Mutter gerne angestimmt hatte, wenn sie meine Haare gekämmt hatte. Ich vermisste ihre geschmeidige Hand, die den Kamm hielt und mir damit sanft die Haare zurecht kämmte. Sie hatte immer solch ein beruhigendes Gefühl in diese Handlung eingebracht und nun saß ich da und versuchte diese Knoten mit aller Gewalt zu lösen.
Eine Weile lang beschäftigte ich mich mit meinen Haaren, bis ich zufrieden einen Schluck aus dem Bottich nahm und genussvoll die Augen schloss. Das Wasser war die ganze Nacht kalt geblieben und die Kühle erfrischte mein Gemüt, sodass ich mich schnell energiereich fühlte. Auch die zwei weiteren Äpfel, die ich verschlang, führten dazu, dass mein Magen nicht mehr rebellierte, sondern ein gesättigtes Geräusch von sich gab. Dennoch würde ich nicht ewig Früchte essen können, Fleisch und Brot waren auch nötig. Anders war ich es nicht gewöhnt und das musste ich allmählich ändern.
Ich musste lernen Pfeile zu schnitzen und mir einen Bogen machen, damit ich dann auf die Jagd gehen konnte. Denn von was könnte sich eine Raubkatze hier ernähren, wenn es keine Vögel oder sogar Fische gab? Stimmt, ich müsste dann auch noch einen Speer schnitzen, fiel mir sogleich ein.
Das hieß also, dass ich noch einiges vor mir hatte und so bereitete ich mich gleich für meinen Aufbruch vor. Ich ließ den Sack diesmal da, nahm aber ein Stück Seil mit und schulterte den Bottich auf mich, damit ich jederzeit meinen Durst löschen konnte. Nur diese zwei Dinge begleiteten mich nach unten und als ich festen Boden unter den Füßen hatte, atmete ich tief durch und schaute mich prüfend um. Hier schien nichts Lebendiges zu sein, was mich angreifen könnte, also konnte ich mit meiner Aufgabe beginnen.
Ich nahm den rechten Weg, weil ich mir diesmal sicher war, dass der Weg tiefer in den Urwald führen würde und dort gab es bestimmt viel Holz, welches ich dafür nutzen konnte, um Waffen daraus zu machen. Zwar begab ich mich in unbekannte Gefahr einen Ort zu betreten, der weitaus gefährlicher war als meine gewohnte Umgebung. Aber die ganze Insel hier war ein Risiko und das musste ich einfach akzeptieren und Mut aufbringen.
Deswegen schluckte ich auch meinen Schrei hinunter, als ich eine handgroße Spinne neben mir entdeckte, die aber schnell verschwand, als ich zurückschreckte. Anscheinend hatten wir uns beide erschreckt, doch ich wollte nicht wissen, wie giftig dieses Tier sein konnte.
Schnell setzte ich meinen Weg fort, kämpfte mich durch Büsche und unebenen Steigungen, bis ich an einem großen Felsvorsprung landete, der in ein kleines Tal mündete. Die Schlucht war nicht besonders tief, es handelte sich hierbei um circa drei oder vier Meter, aber wie bereits erwähnt, war ich nicht gerade gut im Einschätzen. Aus diesem Grund machte ich einen großen Bogen um dieses Gelände und steuerte auf einen Weg zu, der um dieses Tal führte. Möglicherweise fand ich etwas Brauchbares auf der anderen Seite.
Kurz blieb ich stehen, um mich noch einmal zu vergewissern, dass ich absolut allein war und als ich nichts wahrnahm, öffnete ich den Bottich und nahm ein paar Schlücke daraus. Mochte sein, dass ich nicht sehr lange auf den Füßen war, aber die feuchte Hitze machte mir zu schaffen und nur mit Wasser konnte ich gegen den Schwindel ankämpfen. Noch einmal wischte ich mir über die Stirn und dann ging ich weiter, als ich erschrocken die Augen aufriss und nach Luft japste.
Ich hatte nicht gut genug aufgepasst und rutschte den ganzen Abhang hinunter, da ich zuvor eine feuchte Stelle erwischt hatte. Während des Rutschens zog ich mir einige Schürfwunden zu, aber der Aufprall war viel schlimmer. Ich landete nämlich auf harten Steinboden und mein Kopf begann sich fürchterlich zu drehen. Es war als hätte man mir mit einem Hammer so fest dagegen geschlagen, dass ich sogar für einen kurzen Moment das Bewusstsein verlor.
Keuchend richtete ich mich wieder halb auf, wartete bis der Schwindel verschwand und verzog mein Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. Meine Hände brannten genauso höllisch wie meine leicht blutenden Beine und zischend stand ich auf. Warum hatte ich nicht besser aufgepasst? Die Wunden würden sich noch entzünden und auf einen Arzt konnte ich auf dieser Insel nicht hoffen.
Besonders eine blutige Wunde an meinem Knie tat weh, dass mir sogar fast die Tränen kamen und mir kamen nur sehr schwer die Tränen. Ich biss jedoch fest die Zähne zusammen und humpelte weiter, blieb aber stehen, weil ich nicht ein zweites Mal ausrutschen wollte. Neben mir ragte die Schlucht in ferner Höhe und die Felsen sahen verdammt gefährlich und scharfkantig aus. Außerdem wirkten sie wie weit aufgerissene Mäuler, denn hier und dort gab es gewaltige Einbuchtungen, teils mit Moos bedeckt.
Eine Gänsehaut überkam mich aufgrund dieser Umgebung, doch ich durfte nicht länger hier verweilen, da ich noch zusätzlich Verpflegung für meine Wunden suchen musste.
Was für ein Beginn für einen neuen Tag!
In der Nacht hatte ich lange gebraucht, um das Lager der Menschen zu finden. Doch sie hatten es für ihre Verhältnisse sehr gut in den Wäldern meiner Insel versteckt gehalten, sodass ich einige Zeit hatte opfern müssen. Immerhin war Shadow an meiner Seite gewesen, um dem Geruch der Menschen aufzulauern und da die Menschen pure Aufregung verströmten, hatte er sie umso einfacher finden können.
Das Lager war im Großen und Ganzen nicht sehr groß, vielleicht ein Dutzend von ihrer Rasse, doch der Anteil der Männer war wesentlich größer, als der der Frauen. Wie schade das doch war... Viel interessanter war es jedoch zu sehen, wie sie auf das Verschwinden der kleinen Männergruppe reagierten, denn die einen befürchteten das Schlimmste, während die etwas Hoffnungsvollen an ihre Rückkehr glaubten. Na, wenn sie wüssten, was ich mit ihnen gemacht hatte.
In diesem Moment hatte ich pure Genugtuung verspürt, doch die hatte nicht lange gewährt, als ich die Waffen der Menschen entdeckt hatte. Sie hatten verdammt viele hergestellt, zu viele nach meinem Geschmack und ihre Hütten sahen bereits sehr fortgeschritten aus. Ich musste daher schnell handeln und dem ein Ende setzen, indem ich sie einfach plötzlich überfiel und jeden einzelnen abschlachtete. Sie nützten mir nichts, wenn ein Überlebenswille da war, denn solche Menschen waren schwerer zu knacken und darauf hatte ich nicht besonders Lust. Wenn ich schon die leichte Beute ergattern konnte, warum sich dann noch die Mühe machen? Mühe machte ich mir nur bei ganz besonderen Menschen… Harte Schale, weicher Kern.
Nachdem ich also das Lager sicher in meinem Gedächtnis vermerkt hatte, war ich mit Shadow zurück zu unserem Versteck gegangen, um uns die Nacht lang auszuruhen. Wir hatten beide viel Energie verschwendet, die ich aber schnell mit der Angst meiner Gefangenen füllen konnte. Einen Besuch hatte ich dennoch nicht in Angriff genommen, da mir das wiederum zu viel Stress auf einmal bedeutet hätte. Deswegen wartete ich lieber auf den nächsten Morgen.
Dieser brach recht schnell herein, da das wenige Licht durch die Felsspalten ausreichte, um halbwegs mein ganzes Zimmer zu erhellen. Ich gähnte leise und streckte meine Gliedmaßen aus, um einige Verspannungen zu lösen. Anschließend richtete ich mich langsam auf und fuhr mir durchs rabenschwarze Haar, als es auch schon an der Tür kratzte. „Komm einfach rein!“, murrte ich schlaftrunken und die Tür ging zunächst einen Spalt auf, bevor der geschmeidige Körper von Shadow hindurchschlüpfte.
Sein raues Miauen füllte den Raum und mit einem Satz landete er auf meinem Bett, um seine morgendlichen Streicheleinheiten zu genießen. Was tat ich nicht alles für diesen sensiblen, großgewachsenen Kater?
Seufzend kam ich seinem Verlangen nach und fuhr durch sein weiches, kurzes Fell, bevor ich das Ganze mit einem Brummen beendete und aufstand, damit ich mir was anziehen konnte. „Hast du etwas Neues für mich? Die Lage im Lager? Oder irgendetwas mit den Gefangenen?“, fragte ich Shadow neugierig, doch die große Katze schüttelte sich zur Verneinung aller Fragen. Das war nicht sehr vielversprechend… Nicht mal die Langeweile konnte man sich hier vertreiben.
„Na gut, dann gehen wir die Gefangenen besuchen und anschließend werden Waffen geschmiedet, um die Leute aus dem Lager zu eliminieren!“, legte ich fest und Shadow strich an meinem Bein vorbei, als Zeichen, dass er bereit war. Gut, dann konnten wir also aufbrechen.
Wie immer schritten wir lautlos durch die verschlungenen Gänge, bis wir an den Gefängniszellen ankamen. Diesmal wartete ich nicht auf eine Reaktion der Menschen ab, sondern packte einen vom Kragen und zerrte ihn unter Protesten seinerseits aus seiner Zelle. Er war nicht gerade alt, aber dennoch roch er verschollen und schmutzig.
„Lassen Sie mich los, ich will nicht!“, brüllte er und versuchte um sich zu schlagen, doch ich hielt seine Hände fest und schleifte ihn in sicherem Abstand fort von den anderen. Eine Frau streckte ihre Hand durch die Gitter und schrie mir zu, ich solle ihn sofort in Ruhe lassen, aber das beeindruckte mich keinesfalls. Weiber sagten Vieles, aber Taten folgten kaum.
Als ich den Mann weit genug von den anderen getrennt hatte, holte ich rasch mein Taschenmesser aus meiner Hosentasche und fügte ihm mehrere Schnitte an der Kehle zu. Dieser begann verzweifelt zu gurgeln und zu zucken, was mich jedoch gar nicht berührte. Ich wartete, bis sein letzter Lebensfunke erloschen war und nahm eine kleine Schale in die Hand, die ich mit mir herumgetragen hatte. Diese hielt ich unter die offenen Wunden, bis die ganze Schale voll mit seinem dunkelroten Blut war.
Nachdem dies erledigt war, ließ ich Shadow seine Leiche entfernen und kehrte zurück in mein Zimmer, wo ich die Schale auf eine Art Kommode stellte und nach ein paar Kräutern in mehreren Beuteln in einer Ecke meines Zimmers suchte. Hier und dort zupfte ich einige Blätter von verschiedenen Kräutern ab und streute diese über das herrlich duftende Blut des Mannes. Es roch immer noch nach Angst und mit dem herben Duft gemischt, wurde das zu einer perfekten Duftnote, die mich innerlich beruhigte und stärkte. Jedoch war der wahre Grund dieser Tat ein anderer.
Ich brauchte das Blut und die Kräuter, um mich zu bemalen und mir die Zeichen der Natur auf das Gesicht zu malen, damit ich Erfolg auf meiner Jagd hatte. Shadow brauchte diese Zeichen nicht, doch er musste von dem Blut kosten, um das Gleiche zu erfahren. Vor mich hinmurmelnd tauchte ich einen Zeigefinger in den Trank und machte kreisende Bewegungen, während ich den Gott dieses Waldes dazu berief mir zu helfen. Es war ein Ritual wie jedes andere, nur dass ich diesmal den Gott direkt anrief.
Ich brauchte sein Einverständnis, um viele Opfer zu bringen und als im Blut kleine pochende Wellen erschienen, gab ich die Schüssel an Shadow, damit dieser einen kleinen Schluck nehmen konnte. Als dies getan war, tauchte ich wieder einen Finger in die Flüssigkeit und begann auf meinem Gesicht diverse Zeichen zu zeichnen. Es handelte sich hierbei, um die älteste Sprache und Schrift der Welt und der langwährenden Existenz der Natur.
Diese Sprache war genauso lebendig, vielseitig und launisch wie die Natur selbst und ich hatte mein Leben lang gebraucht, um diese zu verstehen und niederzuschreiben.
Kaum war ich mit der Bemalung fertig, stellte ich die Schüssel wieder zurück an ihren Platz und schloss die Augen, sodass ich wieder zum Gott dieser Insel beten konnte. Die Energie in meinem Körper begann lichterloh zu glühen und mit neuer Kraft beflügelt, verließ ich mein Schlafgemach und machte mich nun auf die Jagd.
Shadow spurtete neben mir her, während ich das Tempo beschleunigte und über Büsche sowie Felsen sprang. Es war ein reiner Routinelauf, jedoch mit einem ganz besonderen Ziel.
Es dauerte eine Weile bis wir endlich an dem Teil der Insel gelangten, wo sich das Lager befand. Als wir dort ankamen, stellte ich zufrieden fest, dass die meisten Menschen präsent waren. Ich hatte sie nämlich letztens durchgezählt und es waren mindestens elf gewesen, darunter vier Frauen, drei Kinder und der Rest waren die Männer unterschiedlichen Alters. Shadow schnurrte neben mir, bereit etwas zwischen die Zähne zu bekommen und beruhigend streichelte ich seinen Kopf. Ich musste durchdacht und geplant vorgehen, nicht dass ich noch überwältigt wurde, auch wenn das schlicht unmöglich war.
Meine Augen huschten über das Gelände und blieben an den Kindern hängen, die zusammen mit einem selbstgemachten Ball spielten. Die Frauen beschäftigten sich mit der Zubereitung des Essens und die Männer unterhielten sich über das weitere Vorgehen auf der Insel. Ein Lächeln huschte über meine Lippen, als sich zwei Männer von der Gruppe abspalteten, um auf Beerensuche zu gehen. Dies würde ich ausnutzen, um zuzuschlagen.
Leise schlich ich mich von Busch zu Busch und wartete bis die Männer nahe genug an mich herankamen, bevor ich meinen Pfeil direkt in den Hals des einen stach und damit aufspießte. Der andere wollte gerade etwas brüllen, da packte ich ihn an der Kehle und schleuderte ihn hart auf den Boden, dass ihm sämtliche Knochen brachen. Ich legte einen Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf, damit er bloß nicht auf die Idee kam die anderen zu warnen.
„Ruf einige Männer hierher, weil ihr beide ein Tier gesehen habt. Etwas zu essen!“, hauchte ich an seinem Ohr und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
Ich wusste, es war ein Risiko die Hand von seiner Kehle zu nehmen, aber ich konnte schnell reagieren und würde ihm sofort den Hals umdrehen, sollte er sie vorwarnen. Der junge Mann zitterte unter mir und schluckte fest, bevor er laut rief: „Friedrich, wir haben hier ein Tier gesehen, bringt ein paar Menschen mit und Waffen, es ist...“, doch dann würgte ich ihn ab und hielt ihn solange fest, bis er erstickte. Hatte ich mir doch gedacht, dass er sich nicht an meine Worte halten würde. Sein Pech!
Auf die nächste Situation gespannt ließ ich den Nacken einmal kreisen und ging in die Hocke, als ich Schritte hörte, die mir immer näher kamen. Mit zwei Fingern bedeutete ich Shadow, dass er gleich den Angriff starten konnte und kaum hatte ich ihm das Zeichen gegeben, stieß er sich knurrend mit den Hinterpfoten ab und sprang den ersten Mann an, der sich ihm in den Weg stellte.
Ein überraschter Laut drang aus dem Mund des Menschen und bevor dieser handeln konnte, hatte ihm meine Raubkatze die Kehle zerfetzt. Drei weitere Männer tauchten auf und da wurde mir klar, dass das Lager nun schutzlos war. Freudig sprang ich aus meinem Versteck heraus und legte den ersten Pfeil an.
Einer der Männer erkannte mich als erstes und hob die Hände. „Fremder, nimm bitte den Bogen runter, wir tun dir nichts, wir sind so wie du... Kannst du uns verstehen?“, sprach er mit vorsichtiger Stimme zu mir und ich musste mich ziemlich anstrengen, um nicht in gehässiges Gelächter auszubrechen. Was stellte sich dieser Mann denn vor? Dass ich jetzt Pfeil und Bogen sinken ließ, nur um mit ihm dicke Freunde zu werden? Was für seltsame Wesen Menschen waren? So naiv und dumm.
Langsam näherte sich mir der Mann und ich spannte den Pfeil umso mehr an, bis die Sehne vollkommen steif wie ein Stock war. „Komm mir nicht näher, sonst zerfetze ich deine Kehle ohne mit der Wimper zu zucken!“, raunte ich leise knurrend und dieser blieb tatsächlich stehen, während sich hinter ihm das reinste Chaos abspielte.
Zwei Männer waren mit Shadow beschäftigt, aber ich machte mir keinerlei Sorgen um meinen Gefährten. Er hatte schon Schlimmeres erleben müssen.
Ich richtete meinen Blick wieder auf den hager wirkenden Mann und legte den Kopf schief. „Siehst du nicht, dass wir beide Menschen sind? Komm mit uns mit und wir werden dich in unserem Lager aufnehmen, dort ist es sicher und wir haben sogar Essen! Bitte nimm den Bogen runter, das willst du doch nicht.“ Dieser Mensch war wirklich armselig. Da hielt man eine Waffe direkt an ihn gerichtet in der Hand und er hörte einfach nicht auf den Heiligen zu spielen.
„Ich habe dich gewarnt!“, murmelte ich seufzend, bevor mein Pfeil direkt in seinen Kopf schoss. Dieser blinzelte ein paar Mal überrascht, bevor er leblos auf den Boden fiel. Ein Schrei folgte und als ich meinen Kopf hob, rannte eine wild gewordene Frau auf mich zu. Mit einem Köcher in der Hand.
Bei diesem Anblick kam mir das Lachen, was sie noch wütender machte und ehe sie sich versah, lag sie auf dem Boden und ich auf ihr. Wie ein zappelndes Reh wand sie sich unter mir und versuchte mich zu beißen, doch mein Lachen wurde nur noch lauter. „Du hast ihn umgebracht, du Monster! Wer bist du? Und warum hast du mir meinen Bruder genommen?“, schrie sie verzweifelt und konnte ihre Tränen nicht unterdrücken.
Wütend packte ich ihren Hals, sodass nur ein Röcheln herauskam und beugte mich zu ihr vor. Meine Lippen waren nur einen Hauch von ihren entfernt und ich zischte leise: „Weil ihr alle nicht hierher gehört, das ist mein Revier!“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, brach ich ihr das Genick und stand auf.
Shadow hatte die anderen zwei Männer bereits umgebracht und leckte sich über die rote Schnauze. Zufrieden ging ich auf ihn zu, kraulte kurz sein Ohr und bemerkte, dass die meisten Frauen das Weite gesucht hatten. Nun würden wir doch das Katz-und-Maus-Spiel spielen. Wie langweilig... Da gewann ich immer.
Diesmal war es jedoch viel schwerer diese nervigen Weiber aufzusuchen, aber eine hatte ich hinter einem Felsen entdeckt und sie sogleich mit meinem Taschenmesser umgebracht. Sie wäre mir sonst eine unangenehme Last gewesen und das brauchte ich nicht. Immerhin hatte ich genug von ihnen in meinen Gefängnissen.
Mir blieben also nur noch zwei Frauen und der Rest der Kinder, wobei die Kinder von allein den Weg ins Jenseits finden würden. Zudem war für Shadow das Fleisch von Menschenkindern das schmackhafteste und das wollte ich ihm nicht vergönnen. Das hatte er sich reichlich verdient.
Ein Geräusch aus einem naheliegenden Busch weckte meine Aufmerksamkeit und als ich mich diesem näherte, sprang ein Kind heraus und rannte schreiend davon. Oh, war aber jemand sehr verängstigt. In meinem Geist rief ich meinen Gefährten, weil das hier sein Spiel war und schon von weitem konnte ich sein animalisches Knurren hören. Also war er schon auf dem Weg.
Zufrieden rannte ich in eine andere Richtung, da ich Blut roch. Menschliches Blut einer jungen Frau. Es schien als hätte sich eine der Frauen verletzt und das bedeutete nur, dass ich meinem Ziel umso näher kam. Und kaum war ich noch eine Weile gerannt, kam ich am Riss der Insel an. Eine Schlucht aus scharfkantigen Felsen. Ich spähte hinunter und die Spur des Blutes war umso stärker wahrzunehmen. Hier in der Nähe musste die Frau sein, die sich verletzt hatte und ich konnte es kaum erwarten sie noch mehr zum Bluten zu bringen. Doch als ich der Spur folgte, verschwand diese plötzlich.
Verdutzt blieb ich stehen und versuchte einen Geruchsfetzen aufzunehmen, was aber nicht funktionierte. Das war doch nicht zu fassen, sowas passierte mir nie. Wo war die verdammte Duftspur?
Langsam stieg Wut in mir auf, weil ich es verabscheute, wenn etwas nicht nach meinem Plan verlief. Und es war für mich unverständlich, dass plötzlich jemand verschwand. Besonders auf meiner Insel, das passte einfach nicht. Und ich war mir sicher, dass niemand meiner Art hier war. Denn das hätte ich erst recht gespürt.
1 Woche später...
Die Sonne brannte auf meiner leicht gebräunten, caramellfarbenen Haut und schützend schirmte ich meine Augen mit der Hand ab. Ich befand mich mal wieder am Strand, nur diesmal war ich der Entspannung wegen hier.
Letzte Nacht hatte ich nämlich genug zu tun gehabt mein Dach zu reparieren, nachdem es heftig geregnet hatte. Sehr heftig sogar. Eine Weile lang hatte ich Angst gehabt alles um mich herum würde einstürzen, aber zum Glück war dies nicht passiert. Zudem hatte sich mein Freund der Vogel, den ich Leilan benannt hatte, bei mir eingerichtet und besaß nun ein eigenes Nest am Rande meines kleinen Baumhauses.
Ich hatte mir sehr viel Mühe gegeben überhaupt etwas auf die Beine zu stellen, doch nun nach einer Woche hatte ich ein Dach überm Kopf und konnte mich glücklich schätzen so weit gekommen zu sein. Außerdem fand ich mich im Dschungel immer besser zurecht und ich kannte schon den ein oder anderen Ort auswendig.
Vor allem die Quelle und der Hügel mit den wunderbar fruchtenden Bäumen waren die wichtigsten Orte meines Daseins geworden. Denn damit hatte ich was zu essen und zu trinken und ich konnte mich in der sauberen Quelle wunderbar baden. Zwar hatte ich keine Seife, mit der ich mich richtig pflegen konnte, aber ich arbeitete schon eine Weile daran mir eine aus Kräutern zu machen. Doch leider fehlte mir dazu das Wissen über die Pflanzen hier im Grünen. Leider.
Immerhin hatte ich mich aber in Sachen Waffen weiterentwickelt, denn ich besaß schon etliche Pfeile und einen Bogen, die ich ganz alleine geschaffen hatte. Zum Schnitzen hatte ich die scharfe Kante der Muschel genutzt und das Holz hatte ich in Mengen auf der anderen Seite der Schlucht entdeckt. Allzu gut erinnerte ich mich an den Tag zurück, an dem ich diese Schlucht heruntergerutscht war und mich dort verletzt hatte.
Blut war geflossen, doch nach diesem Vorfall hatte mich Leilan gefunden und mich zu der Quelle gebracht. Langsam glaubte ich daran, dass Leilan mehr als nur ein bloßer Inselvogel war und ich war froh, dass dieser mein bester Freund auf dieser Insel geworden war. Ohne ihn hätte ich mich nicht so schnell hier eingelebt und deswegen hatte ich ihm einen Unterschlupf gebaut, wobei ich auch jeden Tag darauf achtete ihm auch Essen zu geben, indem ich auf meiner eigenen Futtersuche nach Würmern suchte.
Ein paar Mal hatte ich es geschafft fündig zu werden und jedes Mal hatte Leilan freudig mit den Flügeln geflattert, wenn ich ihm welche gegeben hatte. Ja, zwischen uns war eine tiefe Freundschaft entstanden und mir war es vollkommen egal, dass es sich hierbei um einen kleinen Vogel handelte.
Neugierig sah ich mich um und beschloss etwas im Meer zu schwimmen. Zwar war ich jeden Tag geschwommen, doch das hatte ich nur getan, um an Gegenstände des Schiffbruchs heranzukommen. Diesmal wollte ich nur schwimmen, um die Sonne und die Aussicht auf den Horizont zu genießen, denn das hatte ich verdient. Meine Arme schmerzten sehr und auch meine Füße fühlten sich wie aus Blei an. Das ganze Handwerk hatte mich körperlich wirklich gefordert und als ich halbnackt das Wasser betrat, durchfuhr mich ein wohliger Schauer.
Meine Arme wedelten langsam im kühlen Nass hin und her, während ich leicht in die Hocke ging und den weichen Sand unter meinen Fußsohlen genoss. Ein Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht, als ich kleine Silberfische um mich herum schwimmen sah und vorsichtig versuchte ich mich zu nähern, bis sie ruckartig ihren Weg änderten und in die Tiefe verschwanden. Schade, dabei waren sie hübsch gewesen.
Nun würde ich mich also etwas anderem zuwenden müssen und mein Blick schweifte über den weiten Horizont, bis ich mich dazu entschloss am Strand entlang zu schwimmen. Ich musste nämlich fit bleiben und Schwimmen war der beste Sport, den ich hier betreiben konnte.
Zug für Zug schwamm ich eine Weile, mit den Gedanken irgendwo anders und dann tauchte ich ein Stück unter, um meine versalzenen Haare zu durchnässen. Außerdem brannte die Sonne auf meinem Kopf und eine Abkühlung tat meiner erhitzten Kopfhaut gut. Genau in diesem Moment flog Leilan über meinem Kopf vorbei und landete am Ufer, um mich mit schief gelegtem Kopf zu betrachten. „Hast du mich schon vermisst Leilan?“, fragte ich vergnügt und der Vogel schüttelte sich, als würde er sich dafür schämen erwischt worden zu sein.
Ein Lachen entfuhr meinen Lippen und langsam näherte ich mich dem kleinen Vogel, um sein buntes Gefieder zu streicheln. Der Vogel gurrte leise, als ich über seine Brust fuhr und dann ließ ich mich direkt neben ihn nieder, damit Leilan auf meinen Kopf fliegen konnte. „Ich glaube, dass die Aussicht von ganz oben viel besser ist, als von meinem Kopf aus!“, meinte ich ehrlich, doch der Vogel gab keinen Ton von sich. Hatte er mich überhaupt verstanden?
„Leilan?“, hakte ich noch einmal unsicher nach und dieser schüttelte sich erneut, um es sich noch gemütlicher zu machen.
Seufzend richtete ich mich auf, wrang das Wasser aus meinen Haaren und dann trat ich den Nachhauseweg an. Nach Hause... Ein komischer Gedanke, wenn man bedachte, dass mein eigentliches Zuhause in Amerika war. Was wohl meine Großeltern dachten? Hatten sie erfahren, dass das Boot gesunken war? Waren sie tief traurig? Glaubten sie überhaupt an meine Rückkehr? Eigentlich hatte ich mir verboten mir solche Gedanken zu machen, da die Gefahr bestand, dass ich in tiefe Depressionen verfiel.
Somit holte ich tief Luft, fasste mir ans Herz und hielt an meinem Ziel fest diese Insel so bald wie möglich zu verlassen.
Mein Weg führte so wie immer durch das dichte Geflecht der Büsche und Äste der Bäume, bis hin zu dem langen Fluss, den ich vor ein paar Tagen bis zum anderen Ende der Insel gefolgt war. Er floss schräg durch die ganze Landschaft und an den Ufern wuchsen die gleichen Pflanzen, nur in unterschiedlicher Anzahl.
Ein paar davon hatte ich mitgenommen, um sie als Befestigung meiner Planken zu nutzen, denn sie waren sehr leicht dehn- und biegbar. Und dank Leilan hatte ich sogar federartige Farne entdeckt, die ich zu einem Fächer zusammengebunden hatte. Diesen hatte ich jedoch leider daheim vergessen und so musste ich die ganze Hitze auf meiner Haut ertragen, während ein Vogel auf meinem Kopf saß.
Auf dem Weg entdeckte ich wieder die seltsam schöne Blume, die weitaus hübscher war, als alle anderen Blumen, die hier wuchsen. Komischerweise hatte sie sogar die Farben, die Leilan besaß, weswegen ich diese Pflanzen auch Leilanien nannte.
Es war der perfekte Name und jedes Mal, wenn ich diese sah, erfreute sich mein Herz daran. Denn sie erinnerten mich immer an meinen guten Freund. „Na, hast du heute schon etwas zu essen gehabt oder soll ich Nahrung für dich suchen?“
Meine Augen wanderten nach oben, als Leilan sich plötzlich erhob und auf einen Ast flog. Sein Schnabel strich über seine Brust, was ich als ein ‚Nein‘ deutete. „Dann mach ich mich mal auf die Suche nach Nahrung für mich... Führst du mich wieder zu dem kleinen Fluss mit den Fischen?“ Ein bittender Unterton schwang in meiner Frage mit und Leilan erhob sich wieder in die Lüfte. Er zog Kreise über meinem Kopf und dann schoss er in eine bestimmte Richtung. Das hieß also, dass ich ihm folgen konnte.
Was würde ich nur ohne diesen Vogel tun?
Bestenfalls mich verirren und verhungern.
Zuvor hatte ich geglaubt, dass es nicht so lange dauern würde, bis ich endlich ankam, doch solange Leilan in der Luft war, bedeutete das, dass es noch ein langer Weg war. Das sollte sich nach etwaiger Zeit bewahrheiten, denn allmählich erkannte ich zwischen den Büschen einen glänzenden Spiegel am Grund. Das war also der Fluss. Und gut, dass ich meine Waffen schon in einem Felsspalt versteckt hatte, um sie nicht ständig herumschleppen zu müssen.
Leilan landete genau an der Stelle und mit einem Lächeln lugte ich hinein. Die langen, spitz geschnitzten Stöcke lagen sicher darin und einen nahm ich sogleich heraus und wog ihn kurz in meinen Händen. In meiner Erinnerung war er viel schwerer gewesen, doch vielleicht lag das nur daran, dass ich etwas an Kraft gewonnen hatte.
Zufrieden über diese Tatsache sah ich zu meinem Freund, der sich gerade mit dem Schnabel durch das Gefieder fuhr. „So, gleich gibt es endlich Fisch zu essen!“, merkte ich mit einem Grinsen an und wandte mich dem Fluss zu.
Darin schwammen graubläulich schimmernde Fische, die so lang waren, wie meine Elle. Ganz langsam näherte ich mich dem Ufer und der Kiesel unter meinen Füßen knirschte. Ich musste ziemlich ruhig vorgehen, denn so viel Erfahrung hatte ich mit dieser Art des Fischens nicht. Daher konzentrierte ich mich darauf nicht ruckartige Bewegungen zu machen, während ich den Arm mit meinem harpuneartigen Stock geduldig festhielt und diesen über der Wasseroberfläche schweben ließ.
Mein Vater hatte mir beigebracht, dass man etwas abseits des Fisches zuschlagen musste, da durch das spiegelnde Wasser die Wahrnehmung verzerrt wurde. Damals hatte ich das nicht verstanden.
Nun, wo ich einige Versuche gestartet hatte, verstand ich es. Ich musste anders zielen, als ich mit den Augen sah und so veränderte ich langsam meine Standposition, um besser zuzuschlagen. Mein Atem ging sehr ruhig und auch mein Herz schlug in einem angenehmen Rhythmus, während sich all meine Muskeln anspannten.
„Gleich werde ich es schaffen!“, murmelte ich zu mir selbst und dann schlug ich so schnell wie möglich zu.
Die Augen hatte ich gespannt geschlossen und als ich diese langsam öffnete, konnte ich es kaum fassen. Mehrere Versuche hatten nichts gebracht und nun zappelte ein Fisch an der Spitze meiner Harpune. Ich packte den Stock am Ende an und hievte den Fisch auf die feuchten Steine, um ihm dort vom Leid zu befreien. Die Muschel mit der scharfen Kante hatte ich nämlich immer dabei und mit dieser durchtrennte ich schnell den Kopf.
„Lieber Naturgott, ich danke dir für diesen Fang!“, beendete ich mein Ritual und blickte kurz zu Leilan rüber, der mich schief musterte. Ich lächelte ihn direkt an und dann fiel mein Blick wieder auf den leblosen Körper des Fisches. Vorsichtig schnitt ich ihn am Bauch entlang auf und holte das nicht Verdauliche heraus, um dann mit der scharfen Kante die Schuppen abzukratzen. Das war immer der schwerste Teil der Arbeit, doch für etwas Fleisch tat ich alles.
Daraufhin holte ich aus meinem Ausschnitt ein ärmellanges Tuch heraus und legte den Fisch behutsam hinein. Diesen Vorgang wiederholte ich noch einige Male, bis ich ganze vier Fische in meinem Tuch liegen hatte. Das war der Erfolg des Tages und stolz sah ich mir mein Abendessen an.
Die benötigte Feuerstelle fürs Grillen hatte ich bereits in meinem Baumhaus, denn innerhalb eines Koffers hatte ich Steine hineingelegt, die als Unterlage für das Feuerholz dienten. Trockene Blätter hatte ich in einem Beutel neben dem Koffer präsent und nun fehlten nur noch die Fische. „Meine Eltern wären bestimmt stolz auf mich. Mein Vater hatte nämlich großen Wert darauf gelegt, dass wenn es hart auf hart kam, ich mich zu wehren wusste. Damit hatte er sich immer auf das Zusammenleben mit der Natur bezogen und nun bin ich dankbar, dass er mir einige Lektionen erteilt hat. Und meiner Mutter danke ich dafür, dass sie mir gezeigt hat, wie man mit Fischen umgeht!“, erzählte ich meinem kleinen Freund und schmunzelte dabei.
Gerade war ich dabei die eingewickelten Fische aufzuheben, da nahm ich ein Rascheln wahr. Ganz in der Nähe. Leilan gab ein Zwitschern von sich und flatterte aufgeregt mit den Flügeln, was wahrscheinlich ein Warnzeichen sein sollte.
Schnell packte ich meine Harpune und ging in Kampfhaltung. Was auch immer das war, meine Angst hatte ich größtenteils überwunden. Doch als die große, schwarze Raubkatze hinter einem dichten Busch hervortrat, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
Meine Hand wanderte langsam in den Schlitz, wo ich ein paar weitere Waffen lagerte und ich tastete mich zu einem Pfeil und einem Bogen heran. Die Harpune hatte ich immer noch ruhig in der Hand, während die Spitze immer auf das große Tier zeigte.
Die dunkle Raubkatze gab ein raues Miauen von sich, was ihre furchterregenden langen Reißzähne entblößte. Sie waren verdammt lang und wenn ich ehrlich war, hatte ich noch nie solch ein großes Raubtier gesehen. Und obwohl diese hier beängstigend war, musste ich zugeben, dass ihr schimmerndes schwarzes Fell anziehend wirkte. Wie der Sternenhimmel bei Nacht, nur dass es sich hierbei um die bloße Finsternis handelte mit einem Hauch von poliertem Saphir, wenn das Licht geschickt darauf strahlte. Vor allem waren jedoch die goldenen Augen angsteinflößend und faszinierend zugleich.
Pures geschmolzenes Gold.
Ich schluckte fest, als die Raubkatze näher auf mich zukam und sah immer wieder zu Leilan rüber, der sich nicht bewegte. Es war so, als fühle sich der Vogel unsichtbar und das wäre ich in diesem Moment auch gern. Trotzdem fasste ich meinen ganzen Mut zusammen und ging leicht in die Hocke, um vielleicht im Notfall wegzuspringen.
Immerhin hatte diese großwüchsige Katze sehr scharfe Krallen, die sich bestimmt tief ins Fleisch bohren konnten und aus denen man sich nicht so leicht befreien konnte. Wieder gab diese ein Fauchen von sich und da zuckte ich kurz zusammen, als diese über den Fluss sprang und sich nur noch einen Meter vor mir befand.
All ihre Muskeln arbeiteten bei jeder Bewegung und an ihrer zuckenden Schwanzspitze erkannte ich, dass sie mich als den perfekten Leckerbissen anerkannte. Mein Herz begann etwas schneller zu schlagen und ich versuchte meine Atmung zu regeln, bevor ich noch hyperventilierte. Das war nicht der richtige Zeitpunkt.
Und als ob das nicht ausreichte, raschelte wieder etwas in den Büschen und diesmal trat ein Mann heraus. „Shadow, wo zur Sonne bist...“, verstummte der Mann abrupt und sah mich irritiert an.
Ich wusste nicht so recht, was das alles hier zu bedeuten hatte, aber weil er diese Raubkatze Shadow genannt hatte, mussten sie beide befreundet sein. Sonst hätte sich das Tier sofort aus dem Staub gemacht, weil zwei Menschen einer zu viel waren.
„Wer, wer bist du?“, hörte ich mich mit fester Stimme fragen und meine Augen huschten zwischen ihm und der Katze hin und her. Das war mir nicht geheuer, was hier passierte, doch ich durfte bloß keine Angst zeigen.
Der Mann näherte sich langsam der Raubkatze und diese machte einfach mal gar nichts. Sie sah ihn desinteressiert an, schmiegte sich vor meinen Augen an seinem Bein an und dann durchbohrte sie mich mit ihren Blicken.
Die Harpune in meiner Hand lag mir immer schwerer in der Hand und ich wünschte mir, ich sei in diesem Moment oben in meinem Baum, wo ich meine Fische grillen konnte. „Ich habe dich etwas gefragt!“, kam es wieder von mir und langsam tauchte mein Temperament auf.
„Du bist nicht in der Position mir zu sagen, was ich tun soll!“, knurrte er bedrohlich und Shadow reagierte sofort, indem er seine Krallen ausfuhr und über die kleinen Steinchen kratzte. Das hier verwandelte sich in eine groteske Szene und mir passte es nicht, dass ich Teil davon war. „Und für wen hältst du dich, dass du mir sagen willst, in welcher Position ich mich befinde? Das ist mein Leben, über das du zu urteilen versuchst...“, konterte ich in einem wütenden Unterton. Kurz huschte Überraschung über das Gesicht des Mannes und seine hellen Augen verdunkelten sich.
„Shadow...“, begann er zu sprechen und mein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft.
Die Katze sprang auf mich zu und geschickt setzte ich meine Waffe ein und streifte mit der Spitze das schwarze Fell. Shadow gab ein wütendes Fauchen von sich, landete auf allen Vieren und versuchte mich wieder anzugreifen, doch dann packte ich schnell Pfeil und Bogen und zielte direkt auf seinen Kopf. „Kein Sprung weiter!“, zischte ich der Raubkatze zu und der Mann bewegte sich langsam auf mich zu.
Mein Blick glitt sofort zu ihm, aber ich schaffte es auch jede Bewegung von Shadow wahrzunehmen. „Du bist ein Mensch, was also veranlasst dich dazu Freundschaft mit einem Raubtier zu schließen?“, fragte ich ihn bestimmt und der Fremde lachte nur rau auf. Mir stellten sich dabei die Nackenhärchen auf, wohingegen bei ihm das Grinsen nur noch breiter wurde. Es war, als würde er wissen, was in mir vorging und das gefiel mir überhaupt nicht.
„Wer sagt denn, dass ich ein Mensch bin? Nur weil ich so aussehe, wie du oder wie?“, stellte er mir die Gegenfrage und ein großes Fragezeichen wuchs in meinen Gedanken.
Gerade war ich dabei meine angespannte Haltung zu verlieren, da umschloss ich den Bogen mit dem Pfeil fester und dehnte die Sehne noch etwas mehr, da es mir Unbehagen bereitete, wie hungrig mich Shadow ansah.
„Dann zieh dein Haustier zurück Nicht-Mensch!“, zischte ich ihm zu, da mir langsam die Geduld ausging. Ich wusste nicht, was für ein Spiel gespielt wurde und mir passte es nicht, dass ich zwischen zwei Verrückten eingeengt wurde.
„Du überrascht mich... Du bist ganz anders als die anderen!“, stellte der fremde Mann fest und ich hob amüsiert eine Augenbraue. „Ach, laufe ich nicht wie die anderen davon?“
Warte, hatte ich gerade die anderen erwähnt? Waren vielleicht doch mehr Leute hier auf dieser Insel, weswegen er mich mit anderen verglich? Hatten noch mehr Passagiere das Schiffsunglück überlebt?
„Genau das. Du bist die erste Frau, die sich wahrhaftig wehrt und das ist sehr interessant.“, meinte er mit einem Funkeln in den Augen, welches ich nicht richtig deuten konnte.
„Wie ist dein Name?“, wollte er im nächsten Moment neugierig wissen und ich kniff misstrauisch meine Augen zusammen. „Das geht dich wohl gar nichts an und ich würde es dir nie verraten, weil wir uns nicht kennen und du mir kein guter Mann zu sein scheinst. Vor allem, weil du als Haustier eine Raubkatze besitzt.“, spottete ich, was ihn dazu brachte in Gelächter auszubrechen.
Seine Haltung schien immer lockerer zu werden, aber ich spannte mich umso mehr an. Wer wusste, wie dieser psychopathische Mann zu handeln pflegte? In einem Moment konnte er so lässig dastehen, wie jetzt und im anderen mich so anschauen, als wäre ich essbare Beute.
„Dich spar ich mir auf, du hast viel Willenskraft und das ist der größte Genuss für mich...“, murmelte er vor sich hin, was ich leider nicht verstand.
Was meinte er mit ‚aufsparen‘? Was für ein Typ Mensch war er, dass er so von mir sprach, als wäre ich niedere Ware? Langsam wurde mir das echt zu viel und ich machte einen Schritt auf ihn zu, was Shadow dazu veranlasste mich gefährlich anzuknurren.
„Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst, aber wenn du mich jetzt nicht auf der Stelle gehen lässt, töte ich dein Haustier!“, warnte ich ihn und meine Arme waren immer noch zum Angriff angespannt. Diesmal scherzte ich nicht und das schien der Fremde zu spüren. Seine Miene verhärtete sich wieder und sein Blick glitt huschend zu seiner Raubkatze, als würde er ihr ein Zeichen geben wollen.
Plötzlich ertönte Leilans Schrei und ich ließ ruckartig den Pfeil los, der sich sogleich in Shadows Schulterblatt bohrte. Die Raubkatze hatte wegspringen wollen, doch in meinem Schreck hatte ich ihn genau in diesem Vorhaben erwischt. Der Mann brüllte wütend auf und sprang auf mich zu, aber da hatte ich schon meine Harpune gepackt und stieß zu.
Rechtzeitig machte er einen großen Bogen darum, streckte seinen Arm nach mir aus und ich wich vor ihm zurück. Da tauchte auch schon Leilan vor mir auf und griff das Gesicht des Mannes an.
Dieser riss erschrocken die Augen auf und genau diesen Moment nutzte ich aus, um das Weite zu suchen. Mein ganzer Körper bewegte sich, als würde es um mein Leben gehen und darum ging es auch. Die Atmung beschleunigte sich, die Schritte wurden größer und das Herz pumpte so schnell es konnte. Kein einziges Mal schaute ich nach hinten, kein einziges Mal achtete ich darauf keine Spuren zu hinterlassen, denn dazu fehlte mir die Zeit.
Ich musste einfach nur die größtmögliche Distanz zwischen mir und diesem Verrückten schaffen, sonst würde ich das nicht überleben. Das wusste ich.
Die Bäume und Büsche zogen wie in einem schnellen Stummfilm an mir vorbei und ich hörte nichts anderes als meine schnelle Atmung und meine Schritte, die über Äste und Wurzeln sprangen, als würden sie darüber schweben. Mir war nicht bewusst, wie lange ich gelaufen war, doch als ich den Strand erreichte, wusste ich, dass ich genug Vorsprung hatte. Mein Kopf huschte in alle Richtungen und allmählich beruhigte sich mein Pulsschlag, selbst wenn die Gefahr mir im Nacken saß.
Gott sei Dank war Leilan gekommen, um mir die Möglichkeit zu eröffnen zu flüchten und nun hoffte ich, dass mein kleiner Freund ebenfalls in Sicherheit war. Er hatte mir das Leben gerettet, wie sollte ich das denn wiedergutmachen? Seufzend setzte ich mich ans Ufer, jedoch mit dem Rücken zum Meer. Ich musste die Büsche und die Bäume beobachten, sollte wieder dieses Duo auftauchen. Aber langsam keimte in mir die Sicherheit auf, dass ich sie abgehängt hatte.
Eine Weile blieb ich noch sitzen, um vollends auf den Boden der Tatsachen zu gelangen und dann richtete ich mich leicht schwankend auf, während mein Hirn konzentriert arbeitete. Hier, auf dieser Insel lebte jemand, der eine schwarze Raubkatze als Haustier besaß und keine Scheu davor zeigte eine hilflose, einsame Frau zu töten. Sein Blick hatte nämlich Rachsucht und Gier nach Macht ausgestrahlt und vor solchen Leuten musste man sich hüten.
Deswegen sollte ich besser schnell handeln, weitere Waffen und Fallen bauen und nach weiteren Überlebenden suchen. Nun besaß ich nämlich das Gefühl, dass ich nicht alleine war und das verstärkte meine Überlebenskraft.
Das war doch nicht zu fassen! Wütend schlug ich gegen einen Felsen, von dem nun ein paar Brocken auf den Boden aufprallten. Shadow knurrte neben mir und war genauso aufgeregt wie ich. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf... Dass dieses Mädchen es tatsächlich geschafft hatte mir zu entfliehen. Eine Frau!
„Was hat sie denn schon, dass Neirforia sich für sie einsetzt und mich daran hindert mein Opfer zu bekommen?“, rief ich genervt aus und schnaubte. Meine Nerven waren allesamt ziemlich angespannt und die Wut in mir war kaum zu zügeln. Warum? Diese eine Frage schwirrte ständig in meinem Kopf. Warum hatte sich dieser Vogel eingemischt? Sonst mischte sich dieser Naturgott nie ein... Warum dann bei diesem Mädchen? Was hatte sie, was die anderen nicht hatten?
Ich wirbelte herum, als mir bewusst wurde, dass ich genau deswegen diese Frau finden musste. Denn wenn sie für Neirforia so wichtig war, dann wollte ich besonders von ihr kosten. Es war mir egal, was ich alles dafür tun musste, aber sie war nun mein Ziel. Und bis jetzt hatte ich alle meine Ziele erreicht. Sie würde daran nichts ändern, dafür würde ich schon sorgen.
Shadow bemerkte meinen Entschluss und schnurrte als Zustimmung. Vor allem weil er sogar von ihr verletzt worden war. Ich hatte mich eilig damit beeilt die Blutung zu stoppen und nun konnte sich die Katze frei bewegen, ohne jeglichen Schmerz zu empfinden.
Der Pfeil hatte ihn direkt in die Schulter getroffen, was ich zu dem Zeitpunkt selbst gespürt hatte. Ich starb zwar nicht, wenn er das tat, aber wenn ich starb, dann dieser auch. „Keine Sorge, das nächste Mal breche ich ihr Handgelenk, wenn sie nochmal auf dich schießt!“, versprach ich meinem Gefährten und kraulte ihn hinterm Ohr.
Anschließend richtete ich mich wieder auf, schirmte meine Augen mit der flachen Hand ab und sah mich konzentriert um. Es war mir nicht schwer gefallen ihre Fährte aufzunehmen, aber komischerweise hatte ich diese nach einer Weile einfach aus den Augen verloren. Als hätte sie der Erdboden verschluckt, was mir überhaupt nicht gefiel. Zu wissen, dass solch eine Person auf meiner Insel lebte, ohne in meinen Gefängnissen zu sein, nervte mich gewaltig. Es machte mich rasend vor Wut und genau das würden nun meine Opfer zu spüren bekommen.
Mit schnellen Schritten und Shadow dicht neben mir betrat ich meine Felsfestung und war nach einer kurzen Weile schon bei den Gefangenen. Niemand regte sich, ein paar schliefen noch und genau diese Gelegenheit nutzte ich aus, öffnete ein Gefängnis und riss eine Frau am Bein heraus. Diese wachte sofort auf, schrie erschrocken auf, doch ich legte schnell eine Hand auf ihren Mund und würgte sie mit der anderen. Ihr schnell pochendes Herz war wie ein Trommeln in meinen Ohren zu hören und gereizt packte ich sie an den Haaren, was sie leise wimmern ließ.
Tränen liefen ihr nacheinander über die Wangen, doch das interessierte mich nicht. Das hatte mich nie berührt. Da tauchte plötzlich das Bild dieser Frau vom Fluss vor meinem inneren Auge auf, was meine Kiefer mahlen ließ. Diesen Frust würde ich gleich loswerden, beruhigte ich mich selbst und zerrte sie an den Haaren hinter mir her.
Als hätte ich auf einen Alarmknopf gedrückt, begann sie wie eine Verrückte zu schreien und schlug mit Beinen und Armen um sich. Ihre Nägel kratzten an meinem Handgelenk, doch ich blieb unbeeindruckt, ging einfach weiter.
Alle anderen Gefangenen waren bereits wach, riefen ihr zu, sie solle sich wehren, aber das half ihr nicht und auch nicht den anderen. „Sie sind ein Monster, eine Ausgeburt Satans! Gott wird sie für diese Sünden ins Fegefeuer schicken!“, schrie mich eine ältere Frau an und meine Reaktion bestand nur aus einem kehligem Lachen. Wie köstlich diese Unterhaltung doch sein konnte. Allein bei den Worten 'Gott' und 'Satan' musste ich lachen. Diese lächerlichen Menschen bildeten sich ein, es gäbe so etwas, doch dem war nicht so. Ich wusste besser Bescheid.
„Lassen Sie mich los, bitte...“, schluchzte die Frau an meiner Hand, denn sie hatte schon längst aufgegeben. Schade aber auch. Ihr Duft nach Wehr gemischt mit Panik hatte einfach zu gut geschmeckt.
Schlecht gelaunt stieß ich die Tür zu meinem Gemach auf, schmiss sie wie einen Sack voll Kokosnüsse auf das Bett und ging zu meiner Schublade, um mein geliebtes Taschenmesser zu holen. Mit diesem kleinen Werkzeug hatte ich so viele Frauen umgebracht, dass das Blut an der Klinge schon fast pulsierte. Genauso wie das Herz meines Opfers.
Langsam und mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen drehte ich mich zu der Frau um, die die Augen weit aufgerissen hatte und auf mein Taschenmesser starrte, als wäre es mein zweites Ich. Ich näherte mich ihr, blieb am Bettrand stehen und leckte mir genüsslich über die Lippen.
„Hast du auch nur eine Ahnung, was ich jetzt mit dir vorhabe?", fragte ich sie bedrohlich leise und diese schüttelte zitternd den Kopf. Alles an ihr war am Zittern und genau das erfüllte mich, befriedigte mich.
Mein Daumen strich sanft über die Klinge, die bald selbst leicht über diese jungfräuliche Haut fahren würde, was mich umso mehr entspannte und gleichzeitig erregte. Wieder leckte ich mir die Lippen, setzte ein Knie auf das Bett, was sie sofort zusammenzucken ließ. Ihre Füße wollten mich wegstoßen, aber mit einem festen Handgriff, hatte ich sie vollkommen unter Kontrolle. Meine Augen suchten ihren Blick und als ich diesen hatte, erstarrte sie. „Deine Augen... Wa, warum sind sie, sind sie r rot?“, stammelte sie und das war mein Startzeichen.
Wie ein hungriges Tier stürzte ich mich auf sie, ließ meinen ganzen Frust an ihr aus und genoss jeden einzelnen Moment, der mich ferner der Frustration brachte. Ihre Schreie waren wie Musik für mich und der Geruch nach ihrem frischen Blut betörte mich. Es war wie ein Rausch, in dem ich mich befand und als sie ihren letzten Atemzug tat, schloss ich gestärkt die Augen und lächelte selig.
Genau das hatte ich gebraucht.
Es dämmerte allmählich und ich hatte immer noch keine Spur von der jungen Frau, die meinen ganzen Tag vollkommen auf den Kopf gestellt hatte. Selbst die drei Menschen, die ich heute geopfert hatte, um meine Laune zu verbessern, waren keine Genugtuung auf Dauer gewesen. Und genau das frustrierte mich umso mehr.
Shadow hingegen war vollends ruhig und sah mich an, als wäre nie etwas gewesen. „Wie kannst du hier rumsitzen und so tun, als hätte es die Begegnung nie gegeben?“, schnauzte ich diesen an und seine Schwanzspitze zuckte kurz, bevor sie wieder still auf dem Felsboden liegen blieb.
Was war nur los mit der Katze? Doch da fiel mir ein, dass er sich seit dem Treffen mit Neirforia ziemlich zurückgezogen hatte und nur still seine Umgebung betrachtete. In diesem Fall mein Schlafgemach.
Seufzend fuhr ich mir durchs dunkle Haar und dachte fieberhaft darüber nach, was ich als Nächstes tun sollte. Es würde nicht einfach werden eine Frau zu finden, die sehr wahrscheinlich vom Naturgott geschützt wurde. Immer noch schwirrten die Fragen in meinem Kopf umher... Warum sie? Was hatte sie Besonderes an sich? Wie war ihr Name überhaupt?
Es wunderte mich, dass ich wissen wollte, wie sie hieß, aber Namen hatten nun mal Macht über jemanden und ich wollte Macht. Macht über sie. Es war wie ein Zwang, den ich da verspürte.
„Shadow, jetzt mach doch mal was. Wir müssen herausfinden, wo diese junge Frau ist!“, knurrte ich ihn an und endlich hob dieser den Kopf und musterte mich mit diesen tiefgründig goldenen Augen. „Was ist? Was schaust du mich so an?“, fragte ich ihn genervt und die große Katze richtete sich auf und schlang ihren geschmeidigen Körper um meine Beine, als ich plötzlich seinen Geist nach mir rufen hörte.
Tief holte ich Luft, öffnete meinen Geist und verband mich mit ihm zu einer Einheit. Die Bilder und Gefühle von Shadow strudelten in mich hinein und je tiefer ich in ihn eindrang, desto intensiver und deutlicher wurden die Empfindungen. Er zeigte mir das Mädchen und dann den Vogel, die Gerüche der beiden vermischten sich ebenfalls zu einer Einheit, wurden eins. Auf einmal verschmolzen sogar ihre Körper zu einer Gestalt und da war sie. Das Mädchen mit den purpurnen Flügeln bei Nacht.
Mir verschlug es regelrecht den Atem, als ich dieses Bild sah und entsetzt öffnete ich die Augen. Die Bindung zu Shadow wurde unterbrochen und ich ließ mich auf das Bett fallen, sodass mein Blick direkt an die Decke gerichtet war.
Neirforia hatte also dieses Mädchen auserwählt so zu werden wie ich... Das gefiel mir nicht, das gefiel mir ganz und gar nicht. Es war nicht richtig, dass sich dieser Naturgott in meinem Revier einmischte und dann so ein dahergeschwommenes Mädchen unter seiner Fittiche nahm. Das war nicht richtig!
„Ich werde dieses Mädchen finden und es hier einsperren, koste es was es wolle!“, sprach ich entschlossen aus und Shadow maunzte zustimmend. Er war mein Gefährte, also tat er das, was ich verlangte, auch wenn das gegen seine Natur war. Immerhin war er der Fauna und Flora viel näher als ich.
„Komm, dann lass uns jetzt auf die Suche gehen. Bei Nacht sind wir viel aktiver...“, forderte ich ihn auf und Shadow trottete voraus in den Flur, wo es bereits stockdunkel war. Allein das Wimmern und die leisen Gespräche meiner Gefangenen waren zu hören, was mich zunehmend munter stimmte.
Ich hatte noch einige Leute bei mir, aber ich würde dennoch sparsam mit ihnen umgehen müssen, da die nächste Nahrungsquelle ziemlich weit entfernt war. Das Meer verriet es mir, denn das Rauschen war für gewöhnlich sehr leise.
Die frische Luft traf mich direkt ins Gesicht und mit geschlossenen Augen holte ich tief Luft, genoss das Gefühl der Freiheit dieses Moments. Dann richtete ich meinen Blick auf Shadow, der seine Schnauze in die Höhe hob und schnupperte. Ich wartete gespannt, ob er vielleicht ihre Anwesenheit wahrnehmen konnte, doch dieser stieß bloß ein raues Miauen aus und musterte mich schief.
„Du hast nichts erschnuppern können, oder?“, erkundigte ich mich ruhig und die Raubkatze fauchte enttäuscht.
„Naja, dann machen wir es auf die altmodische Weise... Spurenlesen!“, entschied ich kurzerhand und deutete mit einem Kopfnicken in eine bestimmte Richtung, die zum Strand führte. Doch schon auf halbem Wege musste ich einsehen, dass es auf dieser Insel sehr schwer werden würde eine einzelne Person zu finden, die sich besser verstecken konnte, als ein Fisch an einem Korallenriff.
Und Spuren waren auch keine weit und breit zu sehen, was sehr nervenaufreibend für mich war. Mein Ehrgeiz meldete sich dabei sofort, denn wenn ich mir schon das Ziel in den Kopf setzte sie zu finden, dann tat ich alles dafür. Selbst wenn ich die ganze Insel in Stücken absuchen musste, irgendwo musste sie ihren Unterschlupf haben.
Wie ich bereits beschlossen hatte, nahm ich mir jeden Inselfleck vor und suchte jeden Busch und jeden Baum ab. Es konnte ja sein, dass sie in den Bäumen lebte, weil ich schon einige ähnliche Fälle gehabt hatte. Doch bis dato war nichts von ihr zu sehen.
Entweder versteckte Neirforia sie sehr gut oder sie war aus eigener Kraft eine hervorragende Überlebenskünstlerin. Ich tippte auf ersteres, denn einen Menschen mit solch einer Kreativität und Willenskraft war mir noch nie begegnet und würde es auch nie tun. Menschen waren nämlich allesamt schwach, also auch diese junge Frau, dessen Namen ich zu gerne wüsste. Denn sollte ich ihren Namen erfahren, so könnte ich einige meiner Tricks anwenden, um sie zu mir zu führen. Freiwillig natürlich!
„Komm Shadow, lass es uns auf eine ganz andere Weise ausprobieren!“, meinte ich nachdenklich zur schwarzen Raubkatze und diese schnurrte zustimmend. Ihr Geist berührte ganz kurz meinen, um mir zu zeigen, dass Shadow für den folgenden Zauber bereit war.
Diese Bereitschaft erwartete ich auch von ihm. Mit routinemäßigen Handbewegungen führte ich mein kleines Taschenmesser über die Handinnenfläche und ließ mein dunkelrotes Blut in eine glasklare Pfütze tropfen. Das Blut mischte sich sofort mit dem Wasser und dunkle Schlieren verdunkelten die klare Flüssigkeit. Langsam kniete ich mich zu ihr hinunter und zog mit dem Zeigefinger kleine Kreise, die immer größer wurden und sich in einem regelmäßigen Abstand ausbreiteten.
Shadow sah dabei konzentriert zu, sodass seine goldenen Augen wie Sterne am Himmel funkelten und ich murmelte währenddessen alte Worte, die mir ermöglichten eine fokussierte Person, die man verloren hatte, wiederzufinden. Nur war die Natur nicht immer sehr offen, wie man dachte, denn egal, wer in ihr lebte, wurde zum größten Teil von ihr geschützt und so war das auch in diesem Fall. Und um diesen Schutz zu umgehen, nutzte ich ihre Sprache und versuchte sie darum zu bitten mir nur einen Hinweis zu geben, nicht den genauen Ort.
Doch entgegen meiner Erwartungen begann das Wasser sich wieder zu klären und die Erde saugte mein Blut ein, behielt es nur für sich. Verwirrt sah ich auf den kleinen Riss, durch das mein Blut in die Tiefe gezogen worden war und blickte dann zu Shadow, der den Kopf schief legte.
„Kannst du mir das erklären?“, fragte ich ihn mit bedrohlich ruhiger Stimme, sodass seine Ohren vor Nervosität zu zucken begannen. Er schien es also auch nicht zu verstehen, wirklich beruhigend.
Mit geballten Fäusten stand ich wieder auf und schnaubte verächtlich. Da gab ich der Natur ein Opfer und das war der Dank dafür?
In dieser Zeit hätte ich auch weiter suchen können, aber nein... Ich hatte der Flora mein Vertrauen geschenkt und wurde mit Schweigen bestraft. Wozu eigentlich? Ich wollte dem Mädchen ja nicht gleich einen Dolch ins Herz stoßen. Erst wollte ich aus reiner Neugier erfahren, warum gerade sie mit dem Naturgott zusammen war und nicht tot am Strand lag. Das war die Frage, die mir in Zukunft Kopfschmerzen bereiten würde.
Vorsichtig stieg ich aus dem klaren, kühlen Wasser hinaus und seufzte wohlig auf, als meine Füße den weichen, grasigen Boden berührten. Einige Grashalme kitzelten meine empfindlichen Fußsohlen, aber mir war nicht nach Lächeln zumute. Seit Tagen kämpfte ich darum unentdeckt zu bleiben. Dieser Mann ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Seine intensiven Augen, diese harte Mimik und das pechschwarze Haar tauchten immer wieder in meinen Träumen auf, quälten mich.
Doch es war nicht nur der Mann, der mir nachts Angst bereitete. Auch sein treuer Gefährte, die schwarze Raubkatze mit den goldenen Augen, suchte mich heim. Kalte Gänsehaut breitete sich auf meiner gesamten Haut aus und ließ mich vor Unwohlsein zusammenzucken. Vielleicht hatte ich mich in den letzten Tagen mit Waffenschmieden und Fallenstellen beschäftigt, jedoch fühlte ich mich kein Deut sicherer. Stattdessen schlich ich mich leise und langsam durch den Dschungel, stets darauf bedacht die Flucht zu ergreifen. Noch war ich nicht für einen direkten Kampf vorbereitet, aber ich arbeitete tagtäglich an meinen Fähigkeiten.
Mit einer Hose, die ich zu einem Lappen umfunktioniert hatte, trocknete ich meinen nackten Körper ab und legte mir frische Klamotten über. Ein weites Hemd, welches wohl einem rundlichen Mann gehört hatte und eine Hose, die mir bis zu den Knien reichte. Ich hatte die Hosenbeine zur Hälfte durchtrennt, weil ich ansonsten im Gehen ständig gestolpert wäre.
Es fehlte nur noch der Hut aus herzförmigen Blättern, welche ich in der Nähe meines Baumes gefunden hatte und damit war ich bereit zum Aufbruch.
Meine Augen glitten wachsam umher, meine Ohren nahmen jedes kleinste Geräusch wahr und mein ganzer Körper war bis in den kleinsten Muskel angespannt, um in jeder Situation richtig reagieren zu können. Anders als sonst kehrte ich nicht sofort zum Baum zurück, sondern nahm mir vor die Felsen zu besteigen, die in die Höhe ragten. Der Wasserfall plätscherte friedlich vor sich hin und mein Blick fiel auf einen kleinen Felsvorsprung, auf dem ich meine Reise in den Himmel antreten konnte.
Ich holte tief Luft, riss mich innerlich zusammen und umrundete die Quelle, um dann am Gestein empor zu klettern. Je näher ich dem Wasserfall kam, desto rutschiger wurde es, demnach hielt ich mich eher am Rand auf, denn dort war die Gefahr eines Sturzes geringer. Es hatte mehr als eine Woche gedauert, um die Wunden seit dem letzten Ausrutscher in der Schlucht nicht mehr deutlich zu spüren. Und ich war wirklich froh darüber, denn jede körperliche Anstrengung, die ich tätigen musste, zehrte an meinen Kräften.
„Ans Ziel denken Chanelle… Verlier das Ziel nicht aus den Augen!“, murmelte ich wiederholt zu mir selbst und ignorierte das Stechen in meiner Brust. Mir machte das Klettern zu schaffen, obwohl ich mich schon längst daran hätte gewöhnen müssen. Immerhin lebte ich auf einem sehr hohen Baum.
Ein spitzer Vogelschrei riss mich aus meinen Gedanken und erleichtert stellte ich fest, dass es sich um Leilan handelte. Er wollte mir bestimmt Gesellschaft leisten und mich vor Gefahren bewahren. Wie vor einer Woche, als mich ein Raubtier und ein verrückter Mann angegriffen hatten. Noch heute war ich diesem Vogel unglaublich dankbar für seine Unterstützung, für seine freundschaftliche Haltung mir gegenüber. Zwar war es mir ein Rätsel, wie mich dieses kleine, zierliche Tier verstehen konnte, aber ich war froh ihn als Gefährten zu haben.
„Ich hoffe, dass auf der Spitze dieses Berges keine Drachen hausen!“, seufzte ich ermüdet und wischte mir mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Mir kam es so vor, als würde es jeden Tag immer wärmer werden, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Möglicherweise verlor ich an Kondition. Zu meinem Missfallen.
„Entweder ich werde auf dieser Insel schneller zur Großmutter oder die Sonne schadet meinem Kopf zu sehr!“, unterhielt ich mich mit Leilan, der über meinen Kopf kreiste und mir den Weg wies. Anscheinend hatte er zu diesem Kommentar nichts hinzuzufügen, was mich nicht sonderlich überraschte. Sprechen konnte dieser Vogel nicht, so sehr ich es mir manchmal wünschte. Manchmal wachte ich nämlich mitten in der Nacht auf, nur um traurig festzustellen, dass ich auf mich allein gestellt war.
Eindeutig. Die Sonne tat mir nicht gut. Solche Gedanken durften nicht in meinem Kopf vorherrschen. Ich musste an etwas Schönes denken. Doch das fiel mir nicht unbedingt leicht. In letzter Zeit machte ich mir einfach zu viele Gedanken. „Wie weit ist es noch?“, murrte ich schwermütig, als Leilan einige Male kräftig mit den Flügeln schlug und in die Höhe flog. Mit einer Hand schirmte ich meine Augen vor der Sonne ab und versuchte zu schätzen, wie weit ich noch von meinem kleinen Freund entfernt war. Nicht mehr allzu weit, nahm ich an. Aber Schätzen war noch nie meine Stärke gewesen.
Tapfer kämpfte ich mich weiter nach oben, achtete darauf mich nicht an scharfen Kanten zu verletzen und machte hier und dort eine Pause. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, als ich endlich die Spitze dieses Felsenhaufens erreichte und vollkommen atemlos legte ich mich auf den Rücken.
Der Boden unter mir war nicht wirklich gemütlich, aber ich war so müde, dass es mir in diesem Moment völlig egal war. Den selbstgemachten Hut hatte ich auf mein Gesicht gelegt, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, aber dennoch nahm ich Bewegungen wahr, die sich wie Schatten in den Rillen des Hutes abzeichneten. Es war Leilan, das wusste ich. „Nur noch ein bisschen. Lass mich zu Atem kommen!“, bat ich leise und breitete die Arme aus, um mich von den Lichtstrahlen wärmen zu lassen. Erst nach einer kurzen Pause war ich bereit aufzustehen und mir meine Umgebung näher anzusehen.
Überwältigt hielt ich inne. Vor mir erstreckte sich der gesamte Dschungel in seiner ganzen Pracht. Hohe und niedrige Bäume, dunkles und helles Grün und das weite saphirblaue Meer, welches die Insel wie eine Umarmung umschloss. Ich konnte den Blick von der Schönheit dieser Aussicht nicht abwenden. Wie eine Sirene lockte mich dieser Anblick an und mit einem Lächeln verfolgte ich einen Schwarm von kleinen Vögeln, die über die Baumkronen hinwegflogen. „Sind das Freunde von dir?“, fragte ich Leilan, der sich auf meinem Kopf gesetzt hatte. Meinen Hut hielt ich derweil in den Händen.
Mein treuer Freund schüttelte sich auf meine Frage hin, als würde er verneinen wollen. „Das ist schade. Du bist ein zuverlässiger und wunderschöner Vogel! Man müsste sich eigentlich um dich herum versammeln und um deine Gunst kämpfen.“, schmeichelte ich ihm und lachte leise auf, als er abhob und sich nun auf meine Schulter setzte. Dabei streifte sein Flügel meinen empfindlichen Nacken und mir entwich ein herzhafter Seufzer.
Ganz langsam drehte ich mich um die eigene Achse, um auch den Rest der Insel zu überblicken. Es war ein phänomenaler Aussichtspunkt, auf dem ich mich befand. Hätte ich gewusst, dass der Ursprung des Wasserfalls solch ein fantastischer Ort war, dann wäre ich viel früher den ganzen Berg hinaufgeklettert. Aber besser spät, als nie.
Mit funkelnden Augen betrachtete ich das Wasser, welches direkt aus dem Berg nach unten floss. Es war ein eigenartiger Anblick. Woher kam denn das ganze Wasser? Ich näherte mich der Quelle und begutachtete das Loch im Boden, welches die Größe eines Pferdekopfs hatte. Das allein reichte also aus, um einen kristallklaren Wasserfall zu erschaffen? Eine inspirierende Tatsache.
Ich schöpfte mit meinen Händen etwas Wasser aus dieser sprudelnden Grube und probierte von der kühlen Flüssigkeit. Als diese dann meinen trockenen Hals hinunterrann, schloss ich glückselig meine Augen. Fabelhaft. Einfach erfrischend. „Dieses Wasser ist wahrlich ein Wunder der Natur!“, stellte ich ehrfürchtig fest und verfluchte mich dafür, dass ich meinen Trinkschlauch nicht mitgenommen hatte.
Da ich sonst nichts anderes zum Transportieren hatte, erhob ich mich und ließ den leichten Wind durch mein kastanienbraunes Haar gleiten. Wie zarte Hände, die mir durchs Haar strichen, während leise Stimmen liebkosende Worte in mein Ohr flüsterten. Ich wusste nicht woran das lag, aber je mehr Zeit ich auf dieser Insel verbrachte, desto verbundener fühlte ich mich zur Natur. In meiner Heimat hatte ich stets darauf geachtet nichts zu tun, was meiner Umgebung schaden könnte, aber ich hatte nie richtig zugehört. Jetzt tat ich es.
Der Wind, die Sonne, der felsige Boden unter meinen Füßen… Ich nahm alles sehr detailliert wahr und fühlte mich als ein Teil dieses großen Ganzen.
„Sollen wir wieder nach Hause gehen?“, fragte ich Leilan, der große Kreise flog und in eine ganz bestimmte Richtung schoss. Verwirrt kniff ich die Augen zusammen, um ihn gerade noch zwischen zwei Bäumen verschwinden zu sehen. Wohin wollte er hin? Neugierig ließ ich meinen Blick umherschweifen, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Leilan kreiste über einen Strandabschnitt, aus dem Rauch aufstieg. Menschen? Überlebende?
Mein Herz begann schneller zu schlagen und ließ meinen Körper vor Aufregung kribbeln. Wenn es dort Menschen gab, dann musste ich dorthin. Dann bräuchte ich nicht mehr allein zu sein. Voller Freude eilte ich zu dem Abhang, um wieder nach unten zu klettern und diesmal dauerte es nicht so lange, bis ich mein Ziel erreichte. Kaum dass meine Füße den grasigen Boden berührten, rannte ich los. Ich sprang über niedrige Büsche hinweg, stolperte hin und wieder über einen versteckten Stein und huschte zwischen den Bäumen, die mir im Weg standen. Das Rauschen des Meeres motivierte mich dazu noch schneller zu rennen, denn ich war nicht allzu weit entfernt vom Strand. Ich konnte das Salz förmlich riechen.
Als ich dann zwischen den Palmen den Strandabschnitt mit dem Lager entdeckte, glaubte ich vor Freude weinen zu müssen. Jedoch war das gute Gefühl nicht von langer Dauer, denn etwas schlang sich um meinen Fuß und zerrte mich in die Höhe.
Erschrocken japste ich nach Luft, während ich höher über dem Boden schwebte und beinahe gegen einen Baum aufschlug. Vor Angst stellten sich mir die Nackenhärchen auf, als mir bewusst wurde, dass ich in eine Falle getappt war. Wie eine Blinde. Zusätzlich zur Angst mischte sich Wut hinzu. Frustriert schnaubte ich, während ich versuchte mich zu orientieren. Ich war nahe des Lagers der Menschen und hing kopfüber an einem breiten, dicken Ast. Vielleicht war das die Falle der überlebten Passagiere, um so Wild zu jagen. Und wenn sie sahen, dass ich eine Überlebende war, würden sie mich aufnehmen. Ich klammerte mich an diesen Gedanken fest und wartete darauf, dass ich nicht mehr hin- und herschwang. Ansonsten würde mir schwindlig werden, was nicht vorteilhaft war, wenn man mit dem Kopf nach unten hing.
„Leilan, bitte hilf mir!“, flüsterte ich vor mich hin, weil Schreien sicherlich nicht helfen würde. Möglicherweise lockte ich damit jemanden oder etwas an, der mir schaden wollte und das wusste ich zu verhindern. Da mein kleiner Freund noch nicht aufgetaucht war, nahm ich mein Schicksal selbst in die Hand und zog die Beine an, um dem Seil, welches um mein Gelenk geschlungen war, näher zu kommen. Dann beugte ich mich weit vor und versuchte mit den Händen nach der Schlinge zu greifen.
Erst nach dem dritten Versuch umfasste ich das Seil mit einer Hand und spannte meine Muskeln an. Nun musste ich nach oben klettern, dort wo das Seil befestigt worden war. Wenn ich den Knoten löste, würde ich nicht mehr hängen müssen und somit die Flucht ergreifen können. Was, wenn die Überlebenden zu Kannibalen geworden waren, weil sie nichts zu essen fanden? Was, wenn es nicht Überlebende, sondern Einheimische waren, die nicht davor zurückschreckten eine Frau zu töten? Auf dieser Insel war alles möglich.
Durch die Angst getrieben, schöpfte ich Kraft und zog mich am Seil entlang nach oben. Der Ast wurde immer größer vor meinen Augen und schließlich erreichte ich das raue Holz, um mich darauf zu legen. Das Klopfen meines Herzens war in meinen Ohren deutlich zu hören, während meine Finger sich in den Ast krallten, aus Angst, dass ich wieder herunterfiel.
Ich brauchte einen kurzen Moment, um mich zu beruhigen und einen Blick nach unten zu wagen. Was ich dort sah, setzte all meine Körperfunktionen außer Kraft.
„Egal, was du tust. Egal, wohin du fliehen wirst. Ich werde dich finden. Also erspar uns beiden die Arbeit und komm herunter. Ansonsten muss ich dich holen!“ Diese dunklen Augen bohrten sich in mich und das kalte Lächeln, welches seinen Mund umspielte, trieb meinen Herzschlag in die Höhe. Er war es also gewesen. Er hatte diese Falle gestellt. Da wären mir menschenfressende Einheimische lieber gewesen.
„Lieber verhungere ich hier oben, als den Grund zu betreten, auf dem du nun stehst!“, rief ich zurück und begann am Knoten zu zerren, damit sich dieser vom Ast löste. Er war wirklich gut angezogen worden, aber mithilfe meiner schlanken Finger schaffte ich es den Knoten recht schnell zu lösen. Ein Knurren erklang unter mir und ich wusste sofort, dass dieser Mann seine Raubkatze zu sich geholt hatte. Nun war ich mir nicht mehr sicher, ob ich dieses Mal überleben würde. Ich war auf einem Baum und er lächelte vom Boden aus zu mir hoch. Was sollte das? Wollte er mich quälen? In Unwissenheit lassen, was sein nächster Schritt sein würde?
„Solch eine schöne Frau sollte ein warmes Zuhause haben, in dem sie sich wärmen kann. Komm mit mir mit und ich führe dich dorthin!“, sprach er mit seidenweicher Stimme, die mir alles andere als geheuer war. Lieber wollte ich den kalten Unterton hören, der mir versicherte, dass ich mit einem Psychopathen zu tun hatte. „Mit Schmeicheleien und Lügen treibst du mich nicht von hier fort. Ich halte an meinem Wort und werde nicht herunterkommen. Du bist ein irrer Mann!“, rief ich ihm zu, während ich versuchte die Unsicherheit in meiner Stimme loszuwerden. Ich durfte keine Schwäche zeigen. Keine einzige Sekunde lang.
Der Mann legte den Kopf weiter in den Nacken und unsere Blicke begegneten sich. Mein Herz zog sich seltsam schmerzhaft in meiner Brust zusammen, als ich ein Funkeln in seinen Augen erkannte, welches eine alte Erinnerung in mir weckte. Mein Geist wollte mir diese Erinnerung jedoch nicht offenbaren. „Ich werde mich nicht wiederholen. Komm herunter, sonst schieße ich auf dich, wie ein Tier!“ Diesmal wurde seine Stimme lauter und der Klang glich dem tosenden Meer, als das Boot untergegangen war. Die Gewalt des Wassers hatte mir vor Augen geführt, wie gnadenlos die Natur handeln konnte, aber indem ich in sein Gesicht blickte, wurde mir eins klar. Er gehörte nicht zu der hellen Seite des Lebens.
„Nein!“, widersprach ich ihm trotzig und richtete mich schwankend auf. Da ich in einem Baum lebte, hatte ich schnell gelernt, wie man das Gleichgewicht geschickt halten konnte. Ich balancierte auf dem Ast, tat einen Schritt nach dem anderen und kletterte weiter nach oben. Wenn er mich aus den Augen verlor, konnte ich mit einer sicheren Flucht rechnen.
Doch mit dieser Annahme hatte ich mich wohl geirrt.
Denn als ich nach unten sah, erwischte ich den Mann dabei, wie er sich auf den niedrigsten Ast schwang und auf den nächsten sprang, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Nun wurde ich wirklich nervös. So schnell ich konnte, tapste ich über einen breiten Ast Richtung benachbarten Baum. Würde ich es schaffen auf die andere Seite zu springen? Mir blieb nichts anderes übrig, als genau das auszuprobieren.
Ein lautes Knurren jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich betete, dass die Raubkatze keine Möglichkeit hatte mir zu nahe zu kommen. Ich war unbewaffnet, demnach verletzlich. Ein Zustand, der mir das Leben kosten konnte.
Mit wild klopfendem Herzen nahm ich all meinen Mut zusammen und drückte mich mit beiden Füßen ab, um auf einen anderen Baum zu landen. Die Landung fiel nicht so galant aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre direkt in das Maul der Großkatze gefallen. Kein ermunternder Gedanke!
„Leilan!“, rief ich diesmal laut, denn ich musste mich nicht davor hüten entdeckt zu werden. Denn das war bereits geschehen. Ein lauter Vogelschrei ertönte über unseren Köpfen und das vertraute Flattern beruhigte meinen schnellen Puls. Leilan war hier. Er würde mir einen Vorsprung verschaffen.
Ich konzentrierte mich vollkommen auf den Weg vor mir und balancierte von Ast zu Ast, immer darauf bedacht einen sicheren Halt unter den Füßen zu haben. Nicht einmal wagte ich es nach hinten zu sehen, weil ich befürchtete diesem Mann näher zu sein, als mir lieb war.
Plötzlich umfasste eine Hand meinen Unterarm und ich wurde grob herumgerissen, um wenig später an den dicken Stamm des Baumes gepresst zu werden. Mir wich die Luft aus den Lungen, als mir klar wurde, dass ich gefasst worden war. Von diesem undurchschaubaren, furchteinflößende Mann. „Hast du wirklich geglaubt mir entwischen zu können?“, erklang seine dunkle Stimme, die bis in mein Innerstes vibrierte. Ich holte tief Luft und hob meinen gesenkten Kopf, bereit in das Gesicht dieses Mannes zu blicken. Von Angesicht zu Angesicht.
Aber im nächsten Moment wünschte ich mir es nicht getan zu haben. Sein Anblick löste eine Welle verschiedener Emotionen aus. Angst, Frust, Wut und…Erstaunen. In meinem Magen bildete sich ein schwerer Kloß, während mein Herz lauter Purzelbäume schlug. Ein verwirrender Zustand meines Körpers, den ich mit meinem verklärten Verstand nicht verstehen konnte. „Ich… Ja, das habe ich!“, erwiderte ich schwer atmend und versuchte seinem festen Griff zu entkommen. Erfolglos. Seine Hände waren wie Ketten aus Stahl und sie hielten meine Handgelenke so fest, dass es beinahe schmerzte.
„Dummheit kann einem nicht das Leben retten!“, zischte er und war meinem Gesicht zu nahe. Unwohlsein breitete sich schlagartig in mir aus, denn ich konnte deutlich seinen Atem auf meinen Wangen spüren. Sogar sein Duft stieg in meine Nase und obwohl ich angewidert das Gesicht abwenden sollte, so inhalierte ich diesen Geruch tief in mich ein. Er roch auf eine besondere Art und Weise sehr anziehend. Wie die Blumen, die Leilanien. Nur intensiver und… Dunkler.
Seine Augen fixierten mich immer noch, während er mich noch näher an den Baum presste und mich mit seinem Körper in diesem kleinen Gefängnis aus Holz und Muskeln einsperrte. Ich sollte mich wehren, ihm ins Gesicht spucken oder mit den Füßen nach ihm treten, aber ich schaffte es nicht einmal meinen kleinen Finger zu bewegen. Zu sehr wurde ich von seinem Anblick in den Bann gezogen.
Die harten Konturen seines Gesichtes passten nicht zu den sinnlich geschwungenen Linien seiner Lippen. Und seine Augen waren nicht schwarz, sondern dunkelgrau. Eine Farbe, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Ein Sturm tobte in ihm, das konnte ich erkennen. „Wer bist du?“, raunte er heiser und unsere Nasen berührten sich fast. Nun hatte ich Angst, er könnte mein heftiges Pochen in der Brust hören und daraus den Schluss ziehen, dass ich ihm nicht gewachsen war. Doch so sollte es nicht sein. Ich musste stark bleiben und ihm die Stirn bieten.
„Dir werde ich das sicherlich nicht verraten. Und jetzt lass mich los!“, fauchte ich plötzlich wütend und bog den Rücken durch, um mir irgendwie mehr Platz zu verschaffen. Jedoch berührten sich unsere Körper auf eine sehr intime Weise und mir entwich ein überraschter Laut. Seine Nasenflügel blähten sich auf und wie ein Tier sog er meinen Duft in sich ein. Was für eine Art Mensch war er bloß? War er womöglich von bösen Geistern oder Dämonen besessen?
Erneut durchlebte mein Körper verschiedene Zustände. Aufregung, Flucht und Neugier. Letzteres war einfach unverständlich für mich. „Stures Weib. Ich werde dir beibringen, was es heißt, mir Gehorsam zu leisten!“ Nun klang seine Stimme, wie zwei aneinander reibende Klingen, bereit mich ins Verderben zu stürzen. Noch einmal versuchte ich mich zu wehren, ihm mit aller Kraft zu entkommen, aber er drückte mich mit aller Gewalt gegen den Baum und nahm mir meine Bewegungsfreiheit. „Lass mich sofort los!“, knurrte ich verstimmt. Ich würde ihm nicht gehorchen, nie im Leben. Lieber starb ich hier an Ort und Stelle.
Sie war sturer, als mir lieb war. Ich würde alle Hände voll zu tun haben, um sie bis in meine Höhle zu verschleppen, doch diese Last musste ich mir auferlegen. „Hör auf dich zu wehren, du entkommst mir nicht!“, zischte ich wütend, während sich meine Nasenflügel vor Ärger aufblähten. Dabei stieg mir ihr einzigartiger Duft in die Nase und für einen kurzen Moment wechselte mein Blick von befehlsbetont zu überrascht. Jedoch riss ich mich schnell wieder zusammen und grub meine Finger noch tiefer in das Fleisch ihrer Oberarme.
Viel Fleisch hatte sie nicht auf den Knochen, aber genug um länger auf dieser Insel zu überleben. Im Gegensatz zu den anderen Menschen, die ihr Lager hinter uns errichtet hatten, war sie bei bester Gesundheit. Und das hatte sie ganz allein geschafft. Eine bemerkenswerte Leistung, vor allem für eine Frau.
Angewidert verzog ich das Gesicht. Diese Gedanken waren die reinste Zeitverschwendung. Ich sollte ihr einen Schlag auf den Kopf verpassen und sie wie einen Sack Kartoffeln nach Hause tragen. Denn sollte sie sich weiterhin so vehement gegen mich wehren, würde mir der Geduldsfaden reißen. „Du sagst mir nicht, was ich zu tun habe. Lass mich sofort los oder ich schwöre bei Gott, dass ich dich diesen Baum hinunter stoßen werde!“, fauchte sie zurück und erst da wurden mir ihre verschiedenfarbigen Augen bewusst. Beide sprühten Funken, wild tanzende goldene Sprengsel im tosenden Meer und im waldgrünen Dschungel dieser Insel. Blau und Grün. Was für eine faszinierende Kombination im Gesicht eines Menschen. Dass es so etwas gab, hätte ich nicht für möglich gehalten, aber dies hier war der Beweis für die Existenz solcher Naturwunder. Aber warum hatte man ausgerechnet sie damit gesegnet?
„Warum starrst du mich an? Hast du endlich eingesehen, dass ich keine Angst vor dir habe? Ist dir jetzt langweilig geworden?“, keifte sie weiter und mein Blick fiel auf ihre Lippen, die wütend verzogen waren. Es waren entzückende, volle Lippen. Wie gern würde ich hineinbeißen, nur um von ihrem Blut zu kosten.
Um nicht auf ihre Frage antworten zu müssen, drückte ich sie enger an den Baum und konnte deutlich die Wärme ihres Körpers spüren. Normalerweise hätte jede Frau an ihrer Stelle zu einem Eisklotz gefrieren sollen, doch nicht sie. Sie wehrte sich weiter und schaffte es sogar mir ins Kinn zu beißen. Das hatte ich natürlich nicht erwartet, weswegen ich für einen kurzen Moment abgelenkt war. Sie hatte mich gebissen…
Genau diesen kurzen Gedanken nutzte diese Furie aus, um ihr Knie anzuheben und mich mit voller Kraft von sich zu drücken. Ich taumelte leicht nach hinten, knurrte frustriert und wollte wieder nach ihr packen, als sie sich mit einem kriegerischen Aufschrei auf mich warf und uns beide zu Fall brachte. Ziemlich unpraktisch, da wir uns auf einem Ast befanden, der nicht genug Platz für uns Kämpfende bot. Ihr Gesicht war wutverzerrt, während wir zur Seite fielen und ich mich binnen Sekunden am nächsten dünnen Ast mit einer Hand klammern musste.
Shadow knurrte laut, als er Zeuge dieser Auseinandersetzung wurde, aber mir ging es gut. Warum sollte es mir nicht gut gehen? Sie hatte mich gebissen…
Erst da fiel mir auf, dass sie sich mit beiden Händen an meinen Fuß geklammert hatte, da sie einige Meter über einem weiteren Ast schwebte. Ihre Lippen waren zusammengepresst, als würde sie sich eine Bemerkung verkneifen wollen und das ließ mich leise auflachen. „Sieh an, sieh an. Da hast du geglaubt mir entkommen zu können und jetzt hängst du bereits wie ein Klotz an meinem Bein!“, rief ich ihr mit einem frechen Unterton in der Stimme zu, was sie wütend schnauben ließ. Anscheinend passte ihr diese Gegebenheit ganz und gar nicht. Mir aber schon.
„Bild dir bloß nichts ein. Ich werde dir entkommen!“ Purer Ernst schwang in ihrer Stimme mit und erneut wurde ich Zeuge dieses Farbspektakels ihrer Augen. Selbst aus der Entfernung konnte ich die Energie in den Spiegeln ihrer Seele pulsieren sehen. Warum nur sie? Es war unbegreiflich.
Plötzlich löste sie eine Hand aus dem Griff an meinem Fuß, atmete tief durch und ließ dann komplett los. Sie war verrückt. Den Sprung nach unten würde sie nicht schaffen. Ich schon, sie nicht. „Dummes Weib!“, fluchte ich ungehalten und sah dabei zu, wie sie gerade noch auf dem breiten Ast landete, nur um dann das Gleichgewicht zu verlieren und nach hinten zu straucheln. In die Tiefe. Dort wo Shadow auf seinen Leckerbissen wartete.
Instinktiv schwang ich mich zu dem Ast rüber und bewahrte sie gerade noch meterweit in die Tiefe zu fallen. Meine Hand umfasste fest ihren Unterarm und ich konnte ihren schnellen Puls unter meinen Fingern fühlen, während ich bäuchlings auf dem rauen Holz lag. „Bist du sicher, dass du hier und jetzt deinem eigenen Leben ein Ende setzen willst? Ich werde dich nicht loslassen, das verspreche ich dir. Aber solltest du den tödlichen Sturz wählen, werfe ich dich Shadow zum Fraß vor!“, raunte ich und meine Augen verdunkelten sich, als ich endlich etwas von ihrer aufkeimenden Angst erhaschte. Demnach war sie in der Lage Angst zu verspüren und das befriedigte mich zutiefst. Es gab mir immens viel Kraft, mehr als all meine Gefangenen zusammen. Ein berauschendes Gefühl, welches mich gerade übermannte.
„Du bist ein Unmensch!“, warf sie mir bissig entgegen. Ich nahm das als Kompliment, denn es entsprach der Wahrheit. Ich war kein Mensch. Nicht mehr.
Mit einem bösartigen Lächeln ließ ich etwas locker, sodass meine Hand über ihren Unterarm bis zu ihrem Handgelenk rutschte. Nach Luft japsend grub sie ihre Fingernägel in mein Fleisch, aber das bereitete mir keinerlei Schmerzen. Vielmehr verschaffte es mir Genugtuung, dass sie sich instinktiv dafür entschieden hatte sich von mir helfen zu lassen. Nur damit ich sie anschließend entführen konnte.
„Wie schnell sich das Blatt im Fall wenden kann. Zuerst zeigst du mir die kalte Schulter und nun klammerst du dich hilfesuchend an mich. Ist das nicht reizend?“, flötete ich in freudigen Tönen, einfach aus dem Grund, um sie zu verärgern. Mit Erfolg. Jetzt schienen ihre Augen Lava ausspucken zu wollen.
Mit einem kräftigen Ruck zog ich sie nach oben, sodass sie mit einem Schwung direkt auf mir landete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell auf meinem, während ihr Blick direkt auf mich gerichtet war. Erneut war ich fasziniert von diesen Augen, aber bevor sie erneut die Flucht ergriff, packte ich sie an den Hüften und warf sie mir über die Schulter. Natürlich begann sie heftig zu protestieren und trat wild um sich, jedoch hatte ich damit die meiste Erfahrung gemacht. Im Kartoffelsack-Griff konnte sich eine Frau nur sehr schwer wehren.
„Jetzt halt still, Weib!“, herrschte ich sie an, als sie immer brutaler mit den Fäusten auf meinen Rücken schlug. Shadow gesellte sich sofort zu uns, als ich den Boden mit einem leichtfüßigen Sprung erreichte und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu meinem Quartier.
„Warst du das mit dem Lager gewesen? Hast du versucht mir Hoffnung zu machen, damit ich blindlings in deine Falle tappe?“ Und schon wieder überschüttete man mich mit Fragen, die man sich selbst beantworten konnte. Allzu schwer war das doch nicht. „Das Lager haben Menschen errichtet, aber das mit dem Rauch bin ich gewesen. Um dich anzulocken!“, ging ich dennoch auf ihre Fragen ein, während ich über Gestrüpp und nasses Laub treten musste. Diese Antwort hatte sie für eine Weile sprachlos gemacht, reichte jedoch nicht aus, um sie endgültig zum Schweigen zu bringen. Sehr charakteristisch für ihr wildes, unbezähmbares Verhalten. Ständig musste sie in Bewegung sein, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass sie diesen Kampf verloren hatte.
„Es, es leben noch weitere Menschen auf dieser Insel? Aber, aber… Wo? Ich hab niemanden getroffen und muss mindestens zwei Mal den ganzen Strand entlanggelaufen sein!“, stotterte sie perplex und ihre Verwirrtheit gefiel mir fast noch besser, als ihre Wut. „Das liegt daran, dass ich die meisten von ihnen getötet habe.“, erwiderte ich knapp und tonlos. Ich wusste bereits, wie sie auf diese Enthüllung reagieren würde, also packte ich etwas fester zu, damit sie nicht auf die Idee kam mir noch einmal mit dem Knie in den unteren Brustbereich zu treten.
Entgegen meiner Erwartung blieb sie überraschenderweise stumm. Ihre Körpertemperatur sank und auch ihre Atmung veränderte sich. Wiederholt schnappte sie nach Luft oder atmete tief ein, nur um hechelnd auszuatmen. Zu gerne hätte ich sie losgelassen, um in ihr Gesicht zu blicken, aber das sollte mich nicht interessieren. Von mir aus konnte sie in Tränen ausbrechen. Mich würde das nicht berühren.
Ohne ein weiteres Wort stapfte ich durch den Dschungel weiter und erblickte die großen, dunkelgrauen Felsen, die sich in den Himmel erhoben. Grüne Ranken verzierten das trist wirkende Gestein, während feuchte Stellen das helle Licht der Sonne reflektierten. Betrachtete man das Ganze von außen, so konnte man sich kaum vorstellen, dass darin Menschen litten, während ein Mann und ein schwarzer Puma über die Gefangenen herrschten. Betrat man jedoch den Innenbereich, änderte man schnell die Meinung.
Diesmal ertönten keine Schreie und auch kein Gejammer, aber dennoch hallten Stimmen aus den Gängen bis zu uns dreien. Noch konnte ich keine Wortfetzen verstehen, aber je näher ich dem Gefängnistrakt kam, desto mehr verstand ich vom Gesagten. Anscheinend planten sie wieder einen Täuschungsversuch. Jämmerlich…
„Sind das die anderen Menschen?“, erklang die brüchige Stimme meines neuen Opfers und ich bejahte seufzend. „Ab jetzt wirst du nicht mehr allein sein. Nur deine Freiheit hast du verloren!“ Nun war ich wirklich gespannt, wie weit Neirforia gehen wollte, um diese Frau zu befreien. Würde dieser Gott eigenmächtig hierher kommen, nur um sie vor mir zu retten? Ich würde mich überraschen lassen.
„Lassen Sie die arme junge Frau sofort gehen, Sie Monster!“, schrie eine Gefangene mich an, als ich die ersten Gefängnisse passierte. Ihre Hände umfassten die Gitterstäbe und sie begann wild daran zu rütteln. Wann würde sie einsehen, dass sie nicht stark genug war die Stäbe aus dem Boden zu heben? Frauen waren wirklich unbelehrbar. „Wehr dich. Lass dich nicht einsperren, sonst kommst du nie wieder heraus!“, fuhr die Rothaarige fort und in ihren Augen loderte glühender Hass. Natürlich war dieser auf mich gerichtet.
Gerade wollte ich gehässig loslachen, da rammte mir das Weib etwas Scharfes in den Rücken. Überrascht riss ich die Augen auf und sog scharf Luft ein, da drückte sie die scharfe Kante noch tiefer in mein Fleisch. Direkt oberhalb meiner rechten Hüfte. Mit einem Knurren rammte sie mir noch einmal das Knie in die Brust, weswegen ich abrupt losließ und sie hinter meinem Rücken zu Boden fiel. „Miststück!“, fluchte ich und tastete nach ihrer Waffe, als ich verwundert dreinblickend eine Muschel herauszog.
Die scharfe Kante war mit meinem Blut beschmiert. Allein der Anblick machte mich irrsinnig wütend, doch die Jubelrufe der Gefangenen trieben das hitzige Gefühl in mir an die Spitze. „Dafür… Wirst du mehr leiden, als alle anderen zusammen!“, zischte ich giftig und fletschte die Zähne. An meinen Unterarmen traten die Krampfadern hervor. Ein deutliches Zeichen dafür, dass mit mir nicht mehr zu spaßen war. Es wurde eine Grenze überschritten. Eine zu viel für meinen Geschmack.
Das Weib verstand sofort den Ernst der Lage und tat das, was ich an ihrer Stelle nicht tun würde. Davonlaufen. Fataler Fehler. Jetzt war nämlich mein Jagdinstinkt geweckt.
„Lauf, mein Kind. Lass dich nicht schnappen!“, rief ein älterer Mann dem Weib hinterher, die sehr schnell an Geschwindigkeit gewonnen hatte. Im Gegensatz zu mir war das jedoch gar nichts. Ich war viel schneller als sie, aber noch wollte ich sie in dem Glauben lassen, sie hätte einen sicheren Vorsprung.
Ohne auf meine Wunde am Rücken zu achten, eilte ich los und ignorierte die Beschimpfungen der Gefangenen. Wenn sie sich nicht bald benahmen, würde ich sie nacheinander vor den Augen der anderen umbringen. Das stand fest. Meine Geduld währte nicht ewig. „Shadow!“, brüllte ich durch den langen Tunnel, während ich die schlanke Silhouette des Weibs weiterhin verfolgte. Einige Meter trennten uns. Keine unüberwindbare Distanz in meinen Augen.
Kurz bevor sie den Ausgang erreichte, hörte ich das Kratzen von Krallen und flink schoss Shadow an mir vorbei. Er war natürlich schneller als ich, weswegen ich mein Tempo etwas verlangsamte, um mir nicht unnötig die Mühe zu machen die Frau einzuholen. Diese schien Shadow nicht zu hören, denn als das Sonnenlicht sie traf, sprang die Raubkatze auf sie drauf und begrub sie unter sich. Ein heller Schrei entrang ihrer Kehle und die Furcht drang bis zu mir durch. Erneut fühlte ich, wie meine inneren Energien einen gewaltigen Kräfteschub erlebten. Völlig überwältig beschleunigte ich wieder meinen Schritt, damit ich die junge Frau wieder ins Innere verschleppen konnte. Ich brauchte noch mehr von ihrer Kraft.
Doch im nächsten Moment geschah etwas so Unmögliches, was mich sofort erstarren ließ. Meine Augen weiteten sich vor Überraschung, als ich Zeuge göttlicher Macht wurde. Das Weib, welches mit dem Bauch auf dem Boden lag, schrie schmerzvoll auf, als Shadow seine Krallen in ihr Fleisch grub, aber sie riss dennoch ihre Hand zur Seite und traf mit dem Handrücken den Rippenbogen der Großkatze. Mein Gefährte jaulte schmerzvoll auf, als die andere Hand zum Einsatz kam und bevor ich ihm zu Hilfe eilen konnte, trat sie mit dem Fuß nach ihm und beförderte den großen Körper an die Wand.
„Shadow!“, rief ich erschrocken und rannte auf den großgewachsenen Kater zu. Das Weib hatte sich schon längst aufgerappelt und setzte ihre Flucht fort. Als sei gerade nichts passiert. Als wäre es das Normalste der Welt gewesen, welch Kraft sie in diesem Moment entfesselt hatte. Nun bestand kein Zweifel mehr. Die Götter hatten sie auserwählt… Aber wozu und warum?
Besorgt kniete ich mich neben Shadow hin. Seine Gesundheit war mir natürlich wichtiger, als eine Furie, die von Neirforia beschützt wurde. Ich würde mir später darüber Gedanken machen, was ich mit ihr anstellen sollte, sollten wir uns wieder begegnen. Und das würden wir. Diese Insel war nicht gigantisch. Sie war klein. Hier konnte man sich nicht ewig verstecken.
„Alles in Ordnung? Soll ich die Heilsalbe bringen, mein Freund?“, fragte ich meinen Gefährten, der ein raues Miauen von sich gab, als ich den Brustbereich abtastete. Es fühlte sich ganz nach einem Rippenbruch an, aber ich konnte nicht genau sagen, wie schlimm die inneren Verletzungen waren. Demnach musste ich ihn wo anders untersuchen, weil meine Medizin sich in einem ganz anderen Bereich des Höhlensystems befand. „Ich werde dich jetzt hochheben, also wirst du Schmerzen erleiden müssen. Aber da musst du nun durch!“, sprach ich ruhig auf die Raubkatze ein, während ich meine Hände unter den weichen Körper schob und ihn auf meine Arme hob.
Ein Schmerz durchzuckte ihn, welchen selbst ich spüren konnte. Wir waren miteinander verbunden und indem ich Anteil an seinem Leiden nahm, verringerte ich seinen eigenen. Mit fest zusammengepressten Zähnen trug ich ihn den langen Flur entlang, bis wir nach einigen Metern einen Treppenabgang erreichten. Vorsichtig stieg ich Stufe für Stufe in die Tiefe hinunter und die Wände verschluckten das wenige Licht, welches durch die Felsspalten an der Decke nach innen drang. Shadow bewegte sich kein bisschen, um nicht noch mehr Schmerz zu verspüren und ich litt mit meinem Gefährten mit.
Das Weib würde für dieses Vergehen leiden müssen und es war mir egal, dass sie göttlichen Schutz erhielt. Ich gehörte ebenfalls zu den Beschenkten der wilden Natur, also würde ich sie direkt mit meinen Mächten konfrontieren. Shadow würde ich vorerst ruhen lassen, denn ich wollte nicht, dass ihm noch etwas Schlimmeres zustieß. „Wir sind jetzt da!“, teilte ich ihm mit und betrat die nach oben gewölbte Höhle. Durch das runde Loch in der Decke wurde die Mitte dieses Raumes hell beschienen und genau dorthin legte ich die Großkatze hin. Vorsichtig und ganz behutsam.
In der Luft schwebte der Geruch nach frischem Obst und den Salben, die ich damit herstellte. „Beweg dich jetzt nicht. Ich hole dir Medizin, die deinen Schmerz lindern und deine Wunden heilen wird!“ Shadow gehorchte, blieb ruhig liegen und sein schwarzes Fell schien das Sonnenlicht in sich aufzunehmen. Es schimmerte leicht bläulich. Wie immer, wenn die Sonnenstrahlen das klare Schwarz umspielten.
Ich wandte den Blick ab und widmete mich meiner Sammlung an Salben, die in Kokosnussschalen gelagert wurden. Nacheinander nahm ich die obere Hälfte ab, schnupperte an der Mischung und verschloss das Ganze wieder. Ich wiederholte das einige Male, bis ich die richtige Medizin in den Händen hielt. Zufrieden drehte ich mich um, ging zurück zu Shadow und kniete mich neben seinem Kopf hin.
Meine Hand fuhr sanft über das weiche Fell an seiner Schnauze und leise murmelte ich mythische Worte, während ich die Schale zur Seite neigte und die Sonne darauf scheinen ließ. Erst als die Masse zu schimmern begann, hob ich Shadows Kopf hoch und forderte ihn auf die Salbe aufzulecken. Seine dunkelrosa Zunge schoss aus seinem Mund und vorsichtig begann er die milchig weiße Masse in sich aufzunehmen, während ein zufriedenes Schnurren seinen Körper vibrieren ließ.
„Das machst du gut!“, murmelte ich beruhigend und stellte die leere Schale neben mir auf den Boden. Die Salbe schien schnell ihre Wirkung auszufalten, denn Shadows Schwanzspitze begann leicht zu zucken. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich wohler fühlte. „Ruh dich noch etwas aus. Ich komme bald wieder zurück!“ Mit diesen Worten richtete ich mich auf und ließ meinen Gefährten alleine.
Es war an der Zeit Will zu besuchen, denn nun hatte ich eine andere Nummer Eins, die die große Gefängniszelle verdient hatte. Und es war ganz praktisch für mich, dass ich seine Leiche vorfand, denn nun brauchte ich ihn nicht umzubringen. Nur der Gestank stach unangenehm in meiner Nase, aber solche Gerüche nahm ich oft genug wahr.
Ohne viel Kraftaufwand zerrte ich seinen leblosen Körper aus der Zelle und entfernte die wenigen Habseligkeiten, die er hinterlassen hatte. Schuhe, Kompass, ein Löffel und mehrere Schüsseln. All das stopfte ich in einen leeren Beutel, den ich stets an meiner Hüfte trug und schleifte den Leichnam weiter durch die langen Flure.
Diesmal nahm ich nicht die Treppen, die nach unten führten, sondern diejenigen, die nach oben führten. Der Gang wurde immer heller, weil hier mehr Licht eindrang und dann traf mich frische Luft direkt ins Gesicht. Über mir lag ein Haufen zusammengeschnürter Palmenblätter, die ich mit einer Hand zur Seite schob und damit ins Freie trat. Der Wind hier oben war viel wilder und ungezähmter und ich genoss das Gefühl der Freiheit, welches mich übermannte.
Mit beiden Händen schleppte ich den toten Will bis an den Rand des Felsenplateaus und blickte direkt nach unten ins tosende Meer. Scharfe Felsspitzen ragten aus dem dunklen Gewässer und weißer Schaum forderte nach seinem nächsten Opfer. Ein Tritt reichte aus und die Leiche fiel wie ein schwerer Stein ins Wasser.
Eine Weile lang betrachtete ich den Fleck, in dem Wills Leiche verschluckt worden war und in meiner Brust wurde es augenblicklich leichter. Als hätte ich eine schwere Last von mir abgeschüttelt. Erneut durchfuhr ein starker Windhauch mein dunkles Haar und ich hob mein Kinn in die Höhe, um in den hellblauen Himmel zu starren. Ich konnte die Sterne sehen, die sich hinter diesem hellen Gewand versteckten und darauf warteten ihre Schönheit bei Nacht zu entfalten. In der Dunkelheit erstrahlte das Licht am hellsten.
Komischerweise musste ich dabei augenblicklich an das gesegnete Weib denken, aber entgegen meiner Erwartung fühlte ich keine aufkeimende Wut, sondern ungestillte Neugier. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und kehrte dem weiten Ozean den Rücken zu. Es war an der Zeit diese Frau zu finden. Noch heute wollte ich sie in meiner Gewalt haben. Ganz allein für mich.
Meine Lungen brannten, weil ich dermaßen schnell rannte, dass mir beinahe schwindelig wurde. Der Boden unter meinen Füßen war kaum zu spüren, es schien als würde ich fliegen. Aber meine Gedanken galten bloß meiner Flucht. Ihm zu entkommen. Dem Mann, der Menschen gefangen hielt, wie wilde Tiere. Ich konnte ihre Gesichter vor meinem geistigen Auge sehen. Sie hatten müde, erschöpft und sehr schwach gewirkt. Gab er ihnen überhaupt etwas zu essen? Oder genoss er den Anblick des langsamen Hungertodes? Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus, die vom schnellen Rennen erhitzt war.
„Leilan!“, japste ich verzweifelt, da ich nun seine Anwesenheit brauchte, um auf den Boden der Tatsachen zu kommen. Ich floh vor einem Verrückten. Beinahe wäre ich selbst in einer Gefängniszelle gelandet und wäre elendig gestorben. Ich war nicht so weit gekommen, um mich von solch einem unmoralischen Mann ins Verderben mitreißen zu lassen.
Und diese Raubkatze? Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte mich von ihr zu befreien. Ihre Krallen spürte ich noch immer in meinem Rücken, wie scharfe Dolche, die tiefer in mein Fleisch schnitten. Der heiße Atem, der meinen Nacken gestrichen hatte. Dieses Raubtier war bereit gewesen mich zu verschlingen und ich hatte es mit bloßen Händen verletzt. Verletzt...
Obwohl ich froh darüber war den beiden entkommen zu sein, so meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich ein Lebewesen verletzt hatte. Es war ein absurder Gedanke und dennoch ließ mich meine Tat nicht los. Auch nicht, als ich schwer atmend innehielt, um mich schwächelnd an einem Baumstamm abzustützen. Die raue Fläche unter meinen Händen erfüllte meine Brust mit einer beruhigenden Sicherheit, die ich dringend benötigte. Sie waren mir nicht gefolgt. Ich hätte sie sonst gehört.
Ich konnte mich nur an den Ruf des Mannes erinnern, als er zu seinem wilden Tier gerannt war. War dies Besorgnis in seinem Gesicht gewesen? Hatte dieser Mann überhaupt Gefühle? Immerhin sperrte er Menschen ein und ließ sie elendig sterben. Ihre Rufe konnte ich bis hierher hören. Ich solle schnellstmöglich verschwinden…
„Wo bin ich hier nur gelandet?“, murmelte ich niedergeschlagen und fuhr mir mit einer Hand durchs kastanienbraune Haar. Ich brauchte dringend einen Plan, um mein Leben auf dieser Insel zu sichern. Noch einmal wollte ich nicht in seine Hände geraten. Augenblicklich musste ich an die Situation auf den Bäumen denken. An seine schnelle Reaktion, als ich fast in die Tiefe gestürzt war und seine starke Hand, die mich davor bewahrt hatte den Tod zu finden. Seine Augen, dunkelgrau, wie ein Sturm auf hoher See. Zugegeben, ich hatte noch nie zuvor solch schöne Augen gesehen. Dennoch waren es Augen, die töteten.
Erneut durchfuhr mich ein unangenehmer Schauer und ich schlang die Arme um meinen Körper, als könnte ich mich damit vor diesen Erinnerungen schützen. Da hörte ich zu meinem Glück Leilans hellen Gesang, der direkt vor meinen Füßen landete. Sein Kopf neigte sich zur Seite, als würde er mich besorgt mustern und leise schluchzend ging ich in die Knie, um über sein weiches Gefieder zu streicheln. Die Tränen flossen unaufhaltsam über meine Wangen und tropften auf den laubbehafteten Boden. Eigentlich wollte ich stark sein, keine Schwäche zeigen. Aber die Begegnung mit diesem Mann hatte mich zutiefst erschreckt und erschüttert.
Leilan plusterte sich auf, schlug einige Male kräftig mit den Flügeln und gurrte. Diese Geste verstand ich nicht, aber es hatte etwas Tröstliches ihn dabei zu beobachten. Mir kam es so vor, als versuche er mir mitzuteilen, dass er für mich da war. Egal, was noch passieren würde. Mit einem schwachen Lächeln wischte ich mir mit dem Handrücken über die tränennassen Wangen und sammelte neue Kraft. An Aufgeben dachte ich nicht.
Mein Blick fiel auf das funkelnde Armband an meinem Handgelenk, wobei mir ganz besonders der Löwenkopf ins Auge stach. Vorsichtig strich ich mit den Fingern über den goldenen Anhänger und eine sanfte Energie übertrug sich direkt auf mich. Meine Nackenhärchen stellten sich auf, als ich ein lautes Gebrüll wahrnahm. Nicht aus meiner Umgebung, sondern direkt in meinem Kopf.
Ich löste meinen Blick vom Löwenkopf und richtete mich langsam auf. Nun kehrte die Stärke zurück, die ich auch zuvor gespürt hatte, als mich diese Raubkatze angegriffen hatte. Mir war es ein Rätsel, woher diese vibrierende Energie kam, aber ich nahm sie in mich auf und speicherte sie tief in mir drin. Vielleicht würde ich sie bald wieder gebrauchen können. Denn ich war vorausschauend genug, um zu wissen, dass dieser mysteriöse Mann Jagd auf mich machen würde. Als wäre ich seine Beute.
Mit geballten Fäusten straffte ich meine Schultern und setzte eine tapfere Miene auf. Leilan schien meinen Sinneswandel bemerkt zu haben, denn nun setzte er sich auf meine Schulter und gurrte mir ins Ohr. Vielleicht sprachen wir nicht die gleiche Sprache, aber dennoch konnte ich sein Verhalten verstehen. Er war mein Freund. Allein das reichte aus, um mir mehr Mut zu schenken. Und dafür war ich ihm sehr dankbar.
Jetzt galt es Waffen zu schmieden, Fallen zu stellen und für unser beider Sicherheit zu sorgen. Vielleicht stand ich eher auf der Liste dieses Verrückten, aber ich wollte jeden beschützen, der noch nicht gefangen genommen worden war. Es mussten noch mehr überlebt haben. Ich konnte nicht die einzige freilaufende Überlebende sein.
„Tu mir bitte den Gefallen und such nach weiteren Menschen, die noch nicht entdeckt worden sind!“, bat ich meinen kleinen Freund, der sofort seine Flügel spreizte und in den Himmel schoss. Eine Weile lang verfolgte ich den bunten Fleck, bis dieser gänzlich verschwand. Ich hoffte inständig, dass er fündig werden würde.
In einer ruhigen und bestimmten Haltung setzte ich meinen Weg fort und steuerte auf mein Zuhause zu. Den riesigen Baum, auf dem ich tagtäglich meine Zuflucht fand. Als ich diesen erreichte, fiel das letzte Stück Angst von mir ab und um meinem Herzen herum wurde es angenehm leichter. Ich stieß einen gedehnten Seufzer aus, als mir bewusst, welch anstrengende Arbeit mir bevorstand und damit meinte ich nicht das Erklimmen dieses massiven Holzberges.
Das Klettern fiel mir immer leichter und ich spürte, wie sich meine Muskeln bei jeder Bewegung zusammenzogen und sich dann wieder entspannten. Eine Kontraktion nach der anderen. Oben angekommen dehnte ich meinen gesamten Körper, um nicht an Verspannungen zu leiden und erst dann befasste ich mich mit dem Schmieden neuer Waffen.
Dazu benötigte ich die metallenen Reste des Bootes, die ich vor einigen Tagen in der Bucht gefunden hatte und die dünnen Zweige, die ich bereits in Form gebracht hatte. Ich bedauerte den Verlust meiner scharfkantigen Muschel, die mir mein Leben gerettet hatte, aber ich besaß längst ein normales Messer. Nur mit Glück hatte ich dieses gefunden.
Damit begann ich nun die Zweige etwas zurecht zu stutzen, während das Trockenlaub im Koffer Feuer fing. Meine provisorische Feuerstelle, die auch als perfekter Brennofen fungierte.
Das Knistern hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich begann leise zu singen. Es war kein Lied, das ich kannte. Ich erfand es genau in diesem Moment, um das Chaos in meiner Seele in Worte zu fassen.
You know that feeling, when your heart is broken
toren apart, nothing left from the love
You know that feeling when your heart is soaken
with hate and anger like an icy shove
Meine Stimme brach ab und ich begann ein kleines Stück Metall im Feuer zu erhitzen. Um mich nicht zu verbrennen, hielt ich es mit einer zangenartigen Konstruktion fest. Zwei Zweige, die ich mit einem dünnen Seil an den Enden zusammengebunden hatte. Natürlich bestand die Gefahr, dass ebenso die Zweige Feuer fingen, aber ich tränkte sie zuvor in Wasser, um das zu verhindern.
Als das Metall leicht zu glühen begann, schnappte ich mir einen Stein und begann dieses zu bearbeiten. Funken sprühten bei jedem Schlag, während einzelne Schweißperlen meine Stirn bedeckten. Es war keine Arbeit für eine Frau, aber für eine, die um ihr Überleben kämpfte.
Then it's the time when you realize the world
is not what you thought it'd be like
Because in your whole body starts the cold
covering your soul with deadly spikes
Unzählige Stunden verbrachte ich damit neue Pfeile herzustellen, bis ich einfach nicht mehr konnte. Meine Finger schmerzten, mein Rücken knackste bei jeder Bewegung und mein Hintern fühlte sich taub an. Als ich mich langsam erhob, rieb ich über die eingeschlafenen Stellen und seufzte schwer. Leilan war noch nicht aufgetaucht, aber ich vertraute darauf, dass ihm nichts geschehen war. Er war ein sehr schlauer Vogel.
Mittlerweile brach die Nachtdämmerung ein und die Sonne verabschiedete sich Stück für Stück, während sie den Himmel in warme Herbsttöne tränkte. Jeden Abend beobachtete ich das Farbspektakel und schickte Stoßgebete an jene übernatürliche Kraft, die mich bis jetzt unterstützt hatte. Wie viel Zeit war bereits vergangen? Hatten meine Großeltern die Hoffnung aufgeben? Glaubten sie, ich wäre nicht mehr am Leben? Hatte man überhaupt vom Schiffbruch erfahren? Fragen über Fragen, auf die ich wohl keine Antwort erhalten würde.
Gedankenversunken lehnte ich mich an den dicken Stamm und verschränkte die Hände hinter meinem Rücken, während ich den Sonnenuntergang betrachtete. Ich spürte, wie neues Leben im Dschungel erwachte. Kein Leben, welches bei Tag existierte, sondern bei Nacht. Schatten fielen über die Schönheit der Farben her, während der Wind den Wandel in eine andere Welt ankündigte.
Ich schloss meine Augen, um diese Veränderung mit dem Herzen zu sehen, nicht mit meinem Sehsinn. Zunächst lauschte ich nur dem Wind, aber es kamen verwirrende Stimmen hinzu, die allesamt in meinem Kopf sprachen. Vollkommen durcheinander und ohne logischen Zusammenhang. Meine Stirn legte sich in Falten, während ich versuchte diese Klänge zu verstehen. Was wollten mir diese Stimmen mitteilen? Woher kamen sie? Halluzinierte ich etwa?
Ich öffnete meine Augen und erblickte Leilan, der auf mich zugeflogen kam. Ich hatte seine Anwesenheit von weit her gespürt. Seine Schwingen waren in dunkles Purpur getaucht, während der Mond sein Federkleid zum Schimmern brachte. Es war ein faszinierender Anblick.
Vorsichtig streckte ich meinen Arm aus, damit er auf meinem Unterarm landen konnte. Sein Gefieder kitzelte meine sensible Haut und ich spürte seine winzigen Klauen, die Halt suchten. Aus diesem Grund hielt ich den Arm ruhig und lächelte ihn an. „Hast du gute Neuigkeiten für mich?“, erkundigte ich mich interessiert und als Antwort darauf stieß er einen hellen Schrei aus. Es war ein ‚Ja‘. Mein Herz hörte für einen kurzen Moment auf zu schlagen, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit zu pumpen begann. Es lebte also noch jemand. Hier auf dieser Insel. Ich war nicht mehr das einzige freie menschliche Geschöpf, welches um sein Überleben kämpfte. Wusste die andere Person, dass ein psychisch kranker Mann sein Unwesen trieb? Wenn nicht, dann musste ich schnell aufbrechen und mich auf die Suche machen. Jedoch nicht bei Nacht.
Ich fürchtete mich nicht vor der Dunkelheit, aber ich wusste mit Sicherheit, dass dieser Mörder bei Nacht am aktivsten war. In seiner Höhle hatte nur wenig Licht in das Dunkel gefunden, aber er hatte sich hervorragend orientieren können. Als wären seine Augen für die Schwärze der Nacht gemacht worden. Vielleicht waren sie das auch. Denn ich bezweifelte seit unserer letzten Begegnung, dass er wirklich zu den Normalsterblichen gehörte. Selbst wenn sich mein logischer Verstand dagegen wehrte an etwas zu glauben, was nicht existieren sollte, so hatte sich mein ganzes Weltverständnis seit meiner Ankunft auf dieser Insel drastisch verändert.
Dinge, an die ich zuvor fest geglaubt hatte, waren nicht mehr Bestandteil meines Glaubens. Und Dinge, die ich zuvor nie gesehen oder gefühlt hatte, spielten nun eine viel größere Rolle in meinem jetzigen Leben. Es war ein innerer Wandel, den ich gerade durchmachte. Wie der Tag zur Nacht, wie die Nacht zum Tag. Nur konnte ich mich immer noch nicht entscheiden, in welche der beiden Richtungen ich mich entwickelte.
„Morgen musst du mir unbedingt zeigen, wo du den anderen Menschen gesehen hast!“, bat ich Leilan vorfreudig und er hob ab, um sich in sein Nest zu legen. Kurz plusterte er sich auf, nur um dann seinen Kopf unterhalb seines rechten Flügels zu verstecken.
„Gute Nacht, Leilan!“, wünschte ich meinem treuen Freund und legte mich auf mein Bett hin, welches hauptsächlich aus größenunterschiedlichen Blättern und Moos bestand. Der Sack voller Klamotten diente mir als Kopfkissen, während ich mich mit einem weiten, zerrissenen Kleid bedeckte. Im Großen und Ganzen boten mir diese Sachen nicht genug Wärme, um nachts nicht zu frieren, aber es war besser als gar nichts zu haben. Das Feuer löschte ich immer vor dem Einschlafen, denn zum einen wollte ich keinen Aufmerksamkeit erregen und zum anderen wollte ich nicht versehentlich meinen Schlafplatz in Brand stecken.
Demnach waren nur die Geräusche der Nacht die Schlafmelodie, die mich langsam in den Schlaf wiegte. Jedoch fiel es mir heute schwerer einzuschlafen, da meine Gedanken stets bei diesem Mann waren. Seine grauenvolle und dennoch faszinierende Art, wie er mit seinem und dem Leben anderer umging. Solch einer Person war ich noch nie zuvor begegnet und ich wünschte mir nie wieder so etwas durchleben zu müssen.
Vor allem seine Augen verfolgten mich die ganze Nacht, als hätten sie sich in meinem Kopf eingebrannt. Zudem wurde ich das Gefühl nicht los, dass man mich beobachtete und das war eigentlich unmöglich. Hier oben war ich in Sicherheit. Die letzten Wochen hatten das bewiesen.
Etwas beruhigt von diesem Gedanken versuchte ich mich zu entspannen und fand den Schlaf erst in den frühen Morgenstunden. Das Sonnenlicht, das die Schatten der Nacht vertrieb, spendete mir Wärme und entlockte mir ein wohliges Seufzen. Eine bessere Wärmequelle als die Sonne selbst gab es für mich nicht.
Geweckt wurde ich durch Leilan, der sich an meinen Haaren zu schaffen machte, indem er mit dem Schnabel darin wühlte, als suche er nach einem Wurm. Murrend rollte ich mich auf den Rücken und schirmte meine empfindlichen Augen mit der Hand vor der grellen Sonne ab. Noch musste ich mich an das Tageslicht gewöhnen. „Mein Kopf schmerzt. Als hätte jemand mit einem Hammer gegen die Innenwände meines Schädels geschlagen!“, jammerte ich und richtete mich auf, sodass ich nun aufrecht saß.
Leilan hatte aufgehört in meinen Haaren zu wühlen und hopste in mein Blickfeld, um auf sich aufmerksam zu machen. Als ich ihn direkt ansah, spreizte er die Flügel und plusterte seine Brust auf. „Auf in den Kampf?“, schmunzelte ich bei diesem Anblick und streckte meine Hand nach dem Kamm aus, der immer in meiner Reichweite lag. Heute würde ich meine Haare flechten, damit sie mich nicht den ganzen Tag über störten. Außerdem war ich nicht erpicht darauf lose Blätter aus meinem Haar zu zupfen, was ich oft genug in der Vergangenheit getan hatte.
Und nach dem Flechten würde ich etwas essen müssen, denn ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog und der Durst meine Kehle vollkommen ausgedörrt hatte. Wasser hatte ich zum Glück stets dabei, weil ich meinen Konsum bewusst lenkte und somit griff ich zur Wasserflasche, die im Schatten eines Palmenblattes lag. Ich war froh darüber nicht mehr diesen selbstgemachten Schlauch benutzen zu müssen, denn das Wasser hatte daraus immer ganz faul geschmeckt. Deswegen hatte ich beim Fund dieser Trinkflasche erstmals ein Freudentänzchen aufgeführt, bevor ich sie gesäubert und sogleich eingesetzt hatte. Ja, in den letzten Wochen hatte ich so einiges erreicht.
Erfüllt von Stolz flocht ich meine Haare zu einem langen Zopf, dessen Ende ich mit einem Stück Stoff zusammenband. „Und? Sehe ich hübsch aus?“, fragte ich meinen gefiederten Freund, der gurrend mit den Flügeln schlug. Er war begeistert. Schön zu wissen. Viel lieber hätte ich mir selbst ein Bild von mir selbst gemacht, aber leider war ich nicht im Besitz eines Handspiegels. Dafür musste ich zur Quelle gehen, um mich dort in der spiegelnden Wasseroberfläche zu betrachten. Ein lästiges Unterfangen.
„Als erstes gehen wir zum Hügel, wo die leckeren Früchte wachsen. Danach machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach weiteren Überlebenden und zum Schluss werde ich weiter an meinen Waffen arbeiten!“, teilte ich Leilan mit, der teilnahmslos auf einem Ast saß und in die Ferne blickte. Besorgt rutschte ich etwas zu ihm rüber und legte behutsam meine Finger auf seinen Rücken. „Alles in Ordnung? Hast du was gehört?“, fragte ich neugierig, während mich meine Vernunft auslachte. Hin und wieder stellte ich mich selbst als Verrückte dar. Immerhin sprach ich mit einem Vogel, den ich wie einen Menschen behandelte. Was für eine absurde Situation. Und dennoch gehörte das hier zu meinem Alltag auf dieser Insel. Ging es dem Mann vielleicht genauso? War er ebenfalls wie ich hier gestrandet worden, musste jeden Tag für sein Überleben kämpfen, bis er letztendlich den Verstand verloren hatte? Hatte er sich deswegen mit einer Raubkatze zusammengeschlossen? Möglicherweise waren wir nicht so verschieden, wie ich anfangs gedacht hatte. Vielleicht war er das Endprodukt des Wahnsinns, das einen erfasste, wenn man zu lange an diesem Ort verharrte.
Plötzliche Angst erfüllte mich und ich rutschte wieder in die Nähe des dicken Stammes. Leilan bewegte sich noch immer nicht, aber nur durch diese leichte Berührung waren diese Gedanken in meinen Kopf eingedrungen. Mein Herz flatterte aufgeregt in meiner Brust, während meine Hände zu zittern begannen. „Lass uns gehen Leilan. Ich habe Hunger!“
Aber er bewegte sich immer noch nicht. Was war nur los mit ihm?
Plötzlich verschwamm meine Sicht und der kleine Körper verformte sich zu einer Gestalt, die meiner ähnelte. Eine junge Frau mit kurzen lockigen Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichten, stand nackt vor mir und drehte sich zu mir um. Mir wich jegliche Luft aus den Lungen, als ich sie wiedererkannte. „Hilf mir Chanelle!“, hauchte sie mit einer sanften, jedoch leicht verzerrten Stimme. Ihre Augen durchbohrten mich regelrecht, während sie eine schlanke Hand nach mir ausstreckte.
Schweiß brach mir aus allen Poren heraus, als mir das alles zu viel wurde und ich schloss fest meine Augen. Kurz darauf wehte mir kühle Luft entgegen und als ich wieder aufsah, war die junge Frau verschwunden. Stattdessen flatterte Leilan direkt vor meinem Gesicht und fächerte mir damit Luft zu. Hatte ich das Bewusstsein verloren? War das nur ein kurzer Tagtraum gewesen?
Warum aber hätte ich von Claire träumen sollen? Von der jungen Frau, die ich auf dem Boot kennengelernt hatte. Ihre königsblauen Augen konnte ich nicht vergessen. Schon damals waren sie mir als erstes aufgefallen, dicht gefolgt von ihrer weichen Stimme. Und nun hatte sie mich um Hilfe gebeten. Drehte ich nun durch?
Die ganze Nacht lang hatte ich nach diesem Weib gesucht. Erfolglos. Es war, als hätte sich ihre Duftspur in Luft aufgelöst. Nicht einmal Fußabdrücke hatte ich entdecken können. Nun bestand absolut kein Zweifel, dass diese junge Frau von übernatürlichen Kräften beschützt wurde. Neirforia. Warum mischte sich dieser friedliche Gott überhaupt ein?
Schnaubend grub ich meine nackten Füße in den warmen Sand, der zwischen meinen Zehen kitzelte. Weit und breit nichts Lebendiges am Strand. Allein die blassen Sterne und die grelle Sonne am karibikblauen Himmel erleuchteten meinen Weg, während sie mir Wärme spendeten. In der Nacht fühlte ich mich jedoch viel wohler, da ich mich jederzeit in den Schatten verstecken konnte, nur um im nächsten Moment aus dem Nichts aufzutauchen und Jagd auf schwache Beute zu machen. Aber heute gab es nichts zum Jagen.
Ich war es nicht gewohnt etwas nicht zu bekommen. Demnach fühlte ich mich frustriert und war zutiefst verärgert. Wie konnte eine einzelne Frau mir nur solche Probleme bereiten? Sie hatte Blut verloren und dennoch hatte ich keinen einzigen Blutstropfen wittern können, um sie zu finden. Immer wieder musste ich an ihren Kraftakt denken, als sie Shadow wie eine lästige Fliege von sich geschleudert hatte. Mit solch einer Energie hatte ich nicht gerechnet, obwohl ich diese in ihren Augen pulsieren gesehen hatte. Damals als ich sie davor bewahrt hatte in die Tiefe zu stürzen.
Das eine Auge in einem intensiven Blau und das andere in einem verschlingenden Grün. Wie die Vereinigung von Meer und Erde. Wie die Insel inmitten des Ozeans. Das war in diesen besonderen Farben zu erkennen gewesen. Aber nicht nur ihre Augen lockten zum Starren, auch ihre Lippen besaßen einen eigenen Zauber. In den vielen Jahren war ich vielen Frauen begegnet, aber noch nie zuvor hatte ich solch köstliche, rosige Lippen gesehen. Das Verlangen davon zu kosten hatte mich beinahe dazu gebracht sie nicht in eine Zelle zu stecken, sondern sie direkt in mein Schlafgemach zu bringen. Und dort brachte ich nur eine Frau hin, wenn ich mir sicher war, dass sie nicht mehr lebendig herauskommen würde.
Instinktiv fuhr ich mit einer Hand zu der Wunde an meinem Rücken, die fast gänzlich verheilt war. Die scharfkantige Muschel hatte sie wirklich zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, sonst hätte ich mich nicht so leicht aus dem Konzept bringen lassen. Die ganze Zeit über war sie still gewesen und dann hatte sie ihren Moment genutzt, um mich zu verletzen. Sie war wirklich ein gerissenes, schlaues Weib. Daran würde ich nach diesem Vorfall nicht mehr zweifeln. Mir missfiel es zwar, dass eine Frau zum Problem geworden war, aber damit würde ich mich abfinden müssen.
Ein leichter Windhauch riss mich aus meinen Gedanken und mein Blick fiel auf meine Füße, die im golden schimmernden Sand vergraben waren. Vereinzelte, kleine Muscheln ragten heraus und erneut musste ich an die Verletzung an meinem Rücken denken. Muschel… Eine Ahnung formte sich in meinem Kopf und fluchend schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wie blind ich doch gewesen bin!“, knurrte ich verstimmt und schüttelte über mich selbst den Kopf. Diese Muscheln wuchsen nur an einem ganz bestimmten Ort auf der Insel, hinter dem Schleier des Wasserfalls.
Mit geballten Fäusten rannte ich los und scherte mich nicht darum, dass meine nackten Füße über das schmutzige Laub und den dreckigen Pfützen treten mussten. Viel wichtiger war es schnellstmöglich die Quelle zu erreichen. Möglicherweise hielt sie sich dort auf, um noch mehr dieser scharfkantigen Muscheln zu sammeln. Eine hatte sie bereits an mir verschwendet und ich bezweifelte, dass sie in Besitz eines richtigen Messers war.
Doch bevor ich den Wasserfall erreichte, stellte ich etwas Überraschendes fest. Am Wegrand blühten die Blumen in prächtigsten Farben. In den Farben Neirforias. War das ein Zeichen dafür, dass er bereit war dieses Weib in das zu verwandeln, was ich war? Oder wollte er mich einfach nur provozieren?
Ich kniff die Augen zusammen, riss eine Blume mitsamt der Wurzel aus dem Boden und roch daran. Vergängliches Leben. Genau wie diese Frau. Mit meiner Hand zermalmte ich die Blüte und ließ sie auf den Boden fallen, um meinen Weg fortzusetzen. Der Duft dieser Pflanzen stach unangenehm in meiner Nase, weswegen ich meinen sensiblen Geruchssinn einfach abschaltete. Diesen würde ich erst nachher gebrauchen, sollte ich ihr begegnen.
Aber das tat ich nicht. Sie war nämlich nicht bei der Quelle. Allein das Rauschen des Wasserfalls und das leise Zwitschern einiger Vögel hauchten diesem Ort Leben ein.
Natürlich gefiel mir diese Tatsache nicht, überhaupt nicht. Seit Stunden suchte ich nach diesem Weib und konnte sie nirgends finden. Wie konnte das sein?
Frustriert fuhr ich mir durchs Haar und betrat das kühle Nass. Meine Kleidung ließ ich an, da ich nachher in der Hitze nicht frieren würde. Die Anziehsachen würden sofort trocknen. Als ich dann bis zu den Schultern im Wasser stand, schwamm ich die wenigen Meter durch den Wasserschleier und erblickte die schimmernden Felsen mit den unzähligen Muscheln. Auf den ersten Blick konnte ich eine Fremdeinwirkung von außen nicht erkennen, doch dann erblickte ich kahle Stellen im Gestein, was darauf hinwies, dass dieses Weib mehrere Muscheln mitgenommen hatte.
Meine Finger fuhren ehrfürchtig über die abgebrochenen Stellen und ich schloss meine Augen, um mit all meinen Sinnen den ganzen Hohlraum auszukundschaften. Vielleicht erhaschte ich ihren Duft oder etwas anderes, was sie möglichweise hier gelassen hatte, aber ich konnte nichts Fremdes riechen. Erneut eine Niederlage, die den Frust in mir noch schürte. Genervt stieß ich mich von einem Felsen ab und schwamm wieder hinaus, um aus dem Wasser zu steigen.
Meine Kleidung tropfte auf den grasigen Boden und ein leichter Wind kam auf, der auf meiner Haut Gänsehaut verursachte. Nachdenklich drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der dieser Luftzug gekommen war und mir fiel der kleine Berg auf, aus dem dieser kristallklare Wasserfall entsprang. Etwas in mir drängte mich dazu diesen zu erklimmen. Es war ein Instinkt, der mich nun vorantrieb und diesem Trieb folgte ich.
Um nicht unnötig viel Zeit zu verschwenden, nahm ich Anlauf und sprang auf die Felsen, um mich dann sowohl mit Händen als auch mit Füßen nach oben zu arbeiten. Hin und wieder erwischte ich eine rutschige Stelle, aber das hatte keinerlei Auswirkung auf mein hervorragendes Gleichgewicht. Das letzte Stück überbrückte ich mit einem leichten Sprung und als ich wieder den Boden unter meinen Füßen spürte, befand ich mich am Ziel.
Hier oben herrschte ein frisches Lüftchen, welches über mein Gesicht strich, als würde es mich liebkosen wollen. Es war ganz anders als auf meinem Felsplateau, denn dort zerrte der Wind regelrecht an meiner Kleidung. Lag es am Höhenunterschied? Oder war das Weib schon einmal hier gewesen?
Von hier aus konnte ich einfach alles sehen. Meinen Bau, das unbewohnte Lager der Menschen, die große Bucht und sogar den Hügel mit den Fruchtbäumen. Warum war ich nicht öfters hierhergekommen? Mir war nicht aufgefallen, dass der Ursprung dieses Wasserfalls aus einer einzigen Quelle inmitten des Gesteins entsprang. Ein Loch im Grund, aus dem Wasser nach draußen gelangte. Und es war sogar klares Wasser, zum Trinken.
Mi zusammengekniffenen Augen und der Haltung eines Jägers drehte ich mich um meine eigene Achse, während ich nach etwas Verdächtigem Ausschau hielt. Eine Rauchwolke zum Beispiel. Irgendein Lebenszeichen, was darauf hindeutete, dass die Überlebende in der Nähe war.
Erst der Ruf eines Vogel riss meine Aufmerksamkeit auf sich und als ich das fliegende Wesen oberhalb des Hügels mit den Fruchtbäumen entdeckte, realisierte ich schnell, dass sich die Frau dort aufhalten musste. Oder es war ein Ablenkungsmanöver. Das Risiko würde ich wohl oder übel eingehen müssen.
Kurz schaute ich nach unten, um die Entfernung zum Boden abzuschätzen und dann nahm ich Anlauf, um in die Tiefe zu springen. Höhenangst hatte ich nicht. Warum auch? Mein Körper war leidensfähiger, als der der Menschen.
Im Fall wirbelte die Luft um mich herum, fast verwirrt darüber, dass jemand freiwillig ins Tief sprang und als sich der Boden näherte, spannte ich meinen Körper an und landete auf beiden Füßen. Die Erde gab bei dem Aufprall leicht nach und feiner Staub wirbelte um meine Beine herum, als ich in die bestimmte Richtung losrannte. Flink wie eine Raubkatze schlängelte ich mich zwischen den Bäumen und Büschen hindurch, während ich den Kopf jedes Mal einzog, wenn ein Ast mich zu erschlagen drohte.
Dabei blähte ich die Nasenflügel auf, um die Gerüche um mich herum deutlicher wahrzunehmen und tatsächlich erhaschte ich den unverkennbaren Duft der Frau. Sie roch nach diesen Blumen, die in letzter Zeit krautartig wuchsen und erneut musste ich angewidert die Nase rümpfen. Hoffentlich breiteten sich diese Pflanzen nicht noch weiter aus.
Mit einem kraftvollen Sprung überflog ich einen breiten Fluss, der die Insel mit seinen Verzweigungen in kleinere Gebiete einteilte. Demnach war ich meinem Ziel sehr nahe, da dieser Fluss die Hauptversorgung des Hügels war. Angetrieben von dieser Tatsache, beschleunigte ich in eine Art Galopp, bis ein lautes Schnalzen die Stille zerriss und ich in die Höhe gerissen wurde.
Ich wedelte mit den Armen, als ich mir der Falle bewusst wurde, die man mir gestellt hatte. Das war das Werk dieses verfluchten Weibs! Nie im Leben würde ich in meine eigene Falle tappen. Knurrend beugte ich mich nach vorne und ergriff das geflochtene Seil, welches sich um meine beiden Füße gewunden hatte. Wie eine dunkelgrüne Schlange. „Das wirst du mir büßen!“, brummte ich verstimmt und zerschnitt die Liane mit einem Messer, das ich immer bei mir trug.
Diesmal wich mir beim Aufprall die Luft aus den Lungen, da ich direkt auf meinem Rücken landete und sich etwas Spitzes in mein Schulterblatt grub. Fluchend rollte ich mich auf den Bauch, richtete mich auf und legte eine Hand auf die brennende Stelle an meiner Schulter. Kurz darauf hielt ich verwirrt dreinblickend ein geschärftes Metallstück in meiner Hand, welches an den Rändern von meinem Blut dunkel gefärbt war. Woher hatte sie das? Irritiert bückte ich mich nach unten, um mit der Hand im Laub zu wühlen, als ich weitere Metallstücke entdeckte, die ebenfalls spitz verliefen. Alle ordentlich auf einer kleiner Fläche verteilt, als hätte sie gewusst, dass ich mich befreien würde, nur um daraufhin auf diesen Haufen zu fallen. Ihre Fähigkeit vorauszudenken überraschte mich. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Allmählich bewunderte ich sie für die Kraft und den Mut, die sie aufbrachte, um mir das Leben schwer zu machen. Das erste Mal seit langer Zeit fühlte ich mich unterhalten und herausgefordert. Noch einmal betrachtete ich das kleine silberne Metallstück in meiner Hand und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden. Ich würde noch herausfinden, woher sie dieses Material hatte.
Sofort setzte ich meine Jagd fort und konnte das Herz in meiner Brust wild klopfen hören. Aufregung breitete sich bis in meine Fingerspitzen aus, ein kribbelndes Gefühl. Vor meinem inneren Auge tauchte das Gesicht der Frau auf, wie sie verbissen die Falle aufstellte und dabei das schneidende Material auf dem Boden verteilte. Ihre Augen fest konzentriert auf das, was sie tat. Ihr Duft, der sie gänzlich umhüllte, wie ein unsichtbarer Schleier. Ihre Lippen, die sie mit ihrer Zunge befeuchtete, da ihr die Arbeit das Wasser aus ihrem Körper entzog.
Instinktiv fuhr ich mir bei dem Gedanken selbst über die Lippen und hielt abrupt an. Hinter einen Baum, um mich in aller Ruhe zu vergewissern, dass sie wirklich anwesend war. Neirforia musste in der Nähe sein, denn ich konnte seine göttliche Präsenz spüren, die in den letzten Tagen mächtiger geworden war. Sollte mich das beunruhigen? Vielleicht…
Vorsichtig spähte ich um den Stamm herum und dann erblickte ich sie. All meine Sinne fixierten sich auf sie und nahmen jede einzelne Bewegung ihrerseits wahr.
Wie sie mit ihren schlanken Händen die Früchte ergriff, um sie in einen abgenutzten Beutel zu verstecken und wie sich ihr Mund öffnete, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um eine höher hängende Frucht zu erwischen. Bei diesem Anblick reagierte etwas in mir, was ich nicht nachvollziehen konnte. Eine längst verschollene Erinnerung an ein Gefühl, welches ich vor sehr vielen Jahren verloren hatte.
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, um diese verwirrenden Erinnerungsfetzen mit einem Kopfschütteln loszuwerden. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um mich damit zu befassen. Vielmehr wollte ich sie weiterhin beim Pflücken der Früchte beobachten. Sehen, wie sich ihr Körper geschmeidig bewegte. Die Anmut war ihr bei jeder Bewegung anzuerkennen, selbst ihre innere Kraft. Mir war es immer noch ein Rätsel, woher sie die Energie geschöpft hatte, um Shadow zu überwältigen. Die friedliche Aura, die sie umgab, machte auf mich keinen besonders mächtigen Eindruck und das war sehr verwirrend für mich. Jedes Mal, wenn ich den Menschen begegnete, spürten sie, dass etwas nicht stimmte. Sie verhielten sich zwar höflich, versuchten die Unruhe zu bändigen, aber spätestens dann realisierten sie, dass ich eine Gefahr war. Und meist war es zu spät für diese Erkenntnis.
„Sieh mal Leilan, ich habe einen Wurm entdeckt. Willst du ihn haben?“, erklang ihre sanfte Stimme, ein seltsam harmonischer Klang. Erneut regte sich etwas in meiner Brust, aber dann tauchte plötzlich der bunte Vogel auf, der sich vertrauensvoll auf ihre Schulter setzte. Das war Neirforia! Warum nannte sie ihn dann Leilan? Hatte er ihr immer noch nicht seine wahre Gestalt offenbart? Eine sehr interessante Feststellung.
Ich bemühte mich ruhig zu bleiben, obwohl es mir in den Fingern juckte aus meinem Versteck zu treten, um mich bemerkbar zu machen. Ich wollte wissen, wie sie reagieren würde, wenn sie mich wieder erblickte. Würde sie erneut davonlaufen? Oder würde sie kämpfen? Mir war der Bogen, der an einem Baum lehnte, nicht entgangen. Sie hatte ihn selbst gemacht, das war deutlich zu sehen, da die Perfektion daran fehlte. Ihre Pfeile jedoch waren vom Feinsten. Sie musste sich viel Mühe damit gegeben haben und ich fragte mich, wer ihr das alles beigebracht hatte. Eine Frau war nicht fähig Waffen zu schmieden. Das passte einfach nicht zusammen.
Meine Finger gruben sich in das raue Holz des Baumes, hinter dem ich mich versteckte und neugierig beobachtete ich die Beziehung zwischen den beiden. Sie ging sehr freundschaftlich mit ihm um, fütterte ihn mit der Hand und lachte dabei sogar. Obwohl es keinen Grund zum Lachen gab. Was hatte Neirforia bloß vor?
„Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass Stehlen eine Sünde ist?“ Mit einem süffisanten Lächeln verließ ich mein Versteck, als sie blitzschnell reagierte und sowohl Bogen als auch Pfeil in die Hand nahm, um damit direkt auf mich zu zielen. Ich konnte das Summen der angespannten Sehne in meinen Ohren hören. Sie war bereit zu schießen. Alles an ihr vermittelte mir diesen Eindruck. Ihre Haltung, die zusammengepressten Lippen und dieses kräftige Funkeln ihrer Augen. „Und haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass das Jagen und Töten unschuldiger Menschen eine Todsünde ist?“, erwiderte sie kühl und musterte mich eindringlich.
Als ich einen Schritt vorwärts wagte, schoss sie den Pfeil direkt an mir vorbei. Es hatte den Baumstamm erwischt. „Meine Liebe, ich kenne mich bestens mit den Todsünden aus. Mich brauchst du nicht zu belehren! Hochmut, Geiz, Neid, Völlerei, Wollust, Zorn und Trägheit… Welche von den Sieben schreibst du mir denn zu?“ Es war nicht meine Art mit meinen Opfern zu sprechen, geschweige denn eine Unterhaltung zu führen. Jedoch reizte es mich zu erfahren, wie lange sie diesen Bogen und den nächsten Pfeil gespannt halten konnte.
Sie schien ebenfalls überrascht zu sein, dass ich bereit war zu reden, als sie gleich anzugreifen und sie in meinen Bau zu verschleppen. „Alle!“, war ihre knappe Antwort und ich hob amüsiert eine Augenbraue. Ich sollte ihrer Meinung nach alle sieben Todsünden in mir vereinen? Ein wahrhaftig freundliches Kompliment. „Wie kommst du zu diesem Schluss?“, wollte ich interessiert von ihr wissen und wagte noch einen Schritt nach vorne, als der nächste Pfeil an mir vorbeischoss. Nun legte sie den dritten an und ließ mich nicht aus den Augen. Diese Stärke, die sie ausstrahlte, zog mich höllisch an.
„Hochmut, weil du glaubst, du seist das einzig starke Lebewesen auf dieser Insel. Geiz, weil du diese Früchte mit einer Person nicht teilen kannst. Neid, weil du mich haben willst, es aber nicht tust. Völlerei, weil du nicht aufhören kannst Unschuldige einzusperren und sie zu töten. Zorn, weil dir eine Frau auf Augenhöhe begegnet und Trägheit, weil deine Raubkatze die ganze Drecksarbeit leistet.“, erklärte sie mir in einem lässigen Tonfall, während ihr ganzer Körper wie die Sehne ihres Bogens angespannt war. Sie war wirklich bemerkenswert.
„Und das glaubst du über mich zu wissen, wenn du mich nicht einmal richtig kennst!“, meinte ich seufzend und schüttelte theatralisch den Kopf. Als wäre ich über ihre Worte bestürzt. „Hör auf Spielchen zu spielen und sag mir, was du willst. Mich? Das kannst du vergessen!“ Diesmal schwang purer Ernst in ihrer Stimme mit und ich konnte sehen, wie ihr Arm zu zittern begann, weil sie dem Druck der angespannten Sehne nicht mehr entgegenwirken konnte. Neirforia hatte sich derweil auf einen Ast über ihren Kopf gesetzt und ließ uns beide nicht aus den Augen. Erwartete er von mir, dass ich angriff? Sie in meine Gewalt brachte und einsperrte? Würde er eingreifen?
„Ich weiß, dass du nicht freiwillig mitkommen wirst. Immerhin hast du dir mit deiner Falle viel Mühe gegeben.“ Ich holte das kleine Metallstück aus meiner Hosentasche hervor und wedelte damit vor meiner Nase herum. Sie schien diese kleine Waffe erkannt zu haben, denn ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Also hast du bereits Bekanntschaft mit meiner Falle gemacht. Das freut mich zu hören!“, sprach sie stolz erhobenen Hauptes, während der Pfeil weiterhin auf mich gerichtet war. Das nächste Mal würde sie treffen. Ihre Entschlossenheit konnte einen Sterblichen sofort in die Knie zwingen, aber ich bezweifelte, dass sie wusste, wie sie das anstellen konnte.
„Ich muss ehrlich zugeben, dass ich von deinen Fähigkeiten beeindruckt bin. Umso mehr wächst das Verlangen in mir dich zu besitzen!“, raunte ich mit dunkler Stimme und verließ meine Position, um auf sie zuzugehen. Da schoss sie den nächsten Pfeil ab, den ich jedoch in der Luft und direkt vor meiner Brust mit der Hand abfing. Achtlos schmiss ich diesen zur Seite und wich dem nächsten aus, der an meinem Ohr vorbeizischte.
„Verschwende deine kostbaren Pfeile nicht, ich bin viel zu schnell dafür!“, riet ich ihr ernst und war nur einige Meter von ihr entfernt, als sie den Bogen zur Seite schmiss und mich mit einem echten Messer angriff. Woher hatte sie diese Waffe?
Ich trat einen Schritt zur Seite, als sie mir in den Bauch stechen wollte und packte ihren freien Arm, um sie mit dem Rücken an meine Brust zu drücken. Wütend holte sie mit dem Messer aus, versuchte mich zu treffen, doch ich schlug ihr das lästige Ding aus der Hand und hielt beide Arme fest. Sie begann sich zu winden, trat auf meine Füße und ließ sogar den Kopf nach hinten sacken, um mich am Kinn zu verletzen. Nichts davon befreite sie aus meinem stahlharten Griff, weswegen sie frustriert aufschrie. Anscheinend hatte sie mit solch einer schnellen Niederlage nicht gerechnet. Ich auch nicht.
„Sag mir nicht, dass ich mich in dir getäuscht habe. Hast du keine Ideen mehr, wie du mir entfliehen kannst?“, hauchte ich an ihrem Ohr, während meine Nase ihren einzigartigen Duft inhalierte. Es war dieser widerwärtige Blumenduft, der meinen Magen rebellieren ließ, aber diesmal hatte der Geruch eine ganz andere Wirkung auf mich. Ein Aphrodisiakum für meine dunklen Triebe.
„Lass mich sofort los und hör auf an mir zu riechen, als wäre ich ein gegrilltes Schwein!“, fluchte das Weib und da nahm ich das Pulsieren ihrer Energie wahr. Es floss heiß in ihren Adern, vermischte sich mit ihrer Wut und wurde zu einer sehr explosiven, gefährlichen Mischung. Vollkommen überwältigt von dieser Kraft verstärkte ich meinen Griff an ihren Oberarmen, um sie noch mehr zu provozieren. Kurz darauf entfloh ihr ein kehliges Knurren und mit aller Kraft ließ sie sich nach vorne fallen, sodass ich das Gleichgewicht verlor und direkt auf ihr landete.
Es war die gleiche Situation wie gestern, als Shadow auf ihrem Rücken gestanden hatte und sie ihn mit einer bloßen Handbewegung meterweit von sich geschleudert hatte. Erneut holte sie mit einer Faust aus, die direkt in meine Handfläche klatschte. Zwei Energiewellen prallten aufeinander und überrascht fuhren meine Augenbrauen in die Höhe. Sie war tatsächlich eine Auserwählte.
„Geh runter von mir, du Monster!“, knurrte sie zornig und versuchte sich umzudrehen, was ihr nicht gelang. Mein Gewicht hielt sie am Boden fest, während meine Hände ihre geballten Fäuste in Schach hielten. Dabei kam ich mit den Lippen ihrem Hals näher. So weit, dass ich das heftige Pulsieren ihrer Halsschlagader unter der sensiblen Haut mit bloßem Auge erkennen konnte. Auch ihr Geruch hatte sich verändert, denn die Wut und die Frustration hatten ihr eine wilde Note verliehen, die meine Sinne nur noch mehr betörte. Warum reagierte ich dermaßen intensiv auf sie?
„Hör auf dich zu wehren, Weib! Meinem Gefährten hast du vielleicht entfliehen können, mir aber nicht. Ich werde dich immer finden, solange du auf meiner Insel lebst.“, stellte ich klar und fuhr mit der Nasenspitze über ihren Hals, um dieses Prickeln an meinem Nacken zu verstärken. Neiforia war hier, er beobachtete uns, aber er mischte sich nicht ein.
„Lass mich in Frieden. Ich werde mich nie kampflos ergeben. Ich werde immer auf den richtigen Moment warten, um dir die nächste Muschel ins Fleisch zu rammen.“ Jegliche Freundlichkeit war aus ihrer Stimme gewichen und beinahe glaubte ich eine weibliche Kopie meines Ichs unter mir festzuhalten. Dieses unmenschliche Knurren, diese frechen Worte und der verbissene Kampf…
„Wir sind uns ähnlicher, als du glaubst.“
„Nein, sind wir nicht. Ich töte keine unschuldigen Menschen. Ich würde alles dafür tun alle zu retten, deren Freiheit du genommen hast. Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich!“, zischte sie wütend und begann sich wieder unter mir zu winden. Ihre Worte ließen mich kalt, denn ich wusste es besser. Mit jedem Tag, der verging, wurde sie mehr und mehr zu dem, was ich heute war. Neirforia hatte sie auserwählt, aber sie wusste noch nichts davon. Armes, naives Weib.
„Denk an meine Worte, denn du wirst schnell erkennen, wie viel Wahrheit darin steckt.“, meinte ich ernst und ließ sie abrupt los. Das warnende Prickeln an meinem Nacken hatte mir die deutliche Botschaft übermittelt, dass ich jetzt verschwinden musste. „Du hast drei Tage Zeit, dir zu überlegen welche Rolle du auf dieser Insel spielen willst. Entweder du wirst meine Untergebene oder meine nächste Mahlzeit und somit meine Feindin!“
Vollkommen schockiert von diesen Worten lag ich bäuchlings auf dem Boden und starrte die Grashalme, die mich zwischen den Fingern kitzelten, an. Ich sollte mich entscheiden? Zwischen Freund oder Feind? Das war nicht sein Ernst! Glaubte er etwa, dass ich mich mit ihm auf die Jagd nach unschuldigen Menschen machen würde, um seine kranken Bedürfnisse zu befriedigen? Wie töricht von ihm mir diese leicht zu beantwortende Frage zu stellen…
Mürrisch dreinblickend richtete ich mich auf und drehte den Kopf zu den Bäumen. Dort, auf einem kleinen Ast, saß Leilan. Er machte einen ganz entspannten Eindruck, so als wäre gar nichts passiert. Aber es war etwas passiert. Und mir passte es nicht, dass ich mich nicht hatte wehren können. Er war meinen Pfeilen ausgewichen, hatte mich auf dem Boden festgenagelt und mich wie ein Straßenhund beschnuppert.
Die Erinnerung an seine Nase, wie sie gierig an meinem Hals entlangstrich, jagte mir einen ekelerregenden Schauer über den Rücken und ich schüttelte mich, um dieses Gefühl loszuwerden. Nein, er würde mich nicht unterdrücken. Nicht noch einmal.
Fest entschlossen ging ich zu meinen Waffen, die auf dem Boden lagen und hob diese auf. Den Sack mit den Früchten hievte ich über die Schulter und mit einem kurzen Blick zu Leilan kündigte ich meinen Abgang an. Es war Zeit meine Kampfkünste zu erweitern, um mich diesem abscheulichen Mann stellen zu können.
Nur zu gerne erinnerte ich mich daran, wie er mir das kleine metallene Stück gezeigt hatte, nachdem er mir in die Falle getappt war. Also war er doch nicht unbesiegbar und unverwundbar, wie er sich die ganze Zeit gab. Man konnte ihn auch direkt treffen. Man musste nur wissen auf welche Art und Weise und zu welchem Zeitpunkt.
Ein Blätterrascheln riss mich aus meinen Gedanken und alarmiert blieb ich stehen, während ich rasch den Pfeil an den Bogen anlegte. Doch es war ein Fehlschluss meiner Wahrnehmung gewesen, weil Leilan das Geräusch verursacht hatte, um sich einen Weg durch die dichte Baumkronenschicht zu bahnen. So konnte er über meinen Kopf kreisen und mich die ganze Zeit begleiten.
„Hast du erwartet, dass es so kommen wird? Dass er mich vor eine Wahl stellen wird? Wie kommt er darauf, dass ich ein Mensch werde, wie er einer ist. Das könnte ich niemals! Dafür trage ich ein Herz zu viel in meiner Brust, um einem anderen unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen! Ich kann einfach nicht verstehen, warum er die ganze Zeit über mit mir spielt… Zuallererst tut er alles, um mich in seine dunkle Höhle zu verschleppen und jetzt gibt er mir die Freiheit zu entscheiden, was ich tun will. Fressen oder gefressen werden!“ Wäre Leilan nicht direkt über mir, hätte ich mir bezüglich meiner Selbstgespräche Sorgen gemacht, aber daran hatte ich mich mit der Zeit gewöhnt. Es lag nicht an der Hitze, dass ich meine Gedanken frei aussprach. Meist hatte ich das Bedürfnis laut zu reden, weil ich sonst die Befürchtung hatte, ich könnte meine Muttersprache verlernen. Oder schlimmstenfalls alles vergessen, was ich je in der Menschenwelt gelernt hatte. Jedoch musste ich zugeben, dass das schlimmste Los eine ewige Verdammnis auf dieser Insel sein würde. Mein Leben lang hier zu leben, würde und könnte ich nicht ertragen.
Auch wenn die Vegetation wunderschön war und mich jedes Mal in ihren Bann zog, sobald ich einen Spaziergang durch diesen Dschungel machte. Zu schade, dass ich nicht viel von der Pflanzenwelt wusste, denn dann würde ich wissen, aus welchen Zutaten man Heilsalben zubereiten konnte. Oder vielleicht sogar Kräuter, mit denen ich meine Mahlzeiten würzen konnte. Das waren die wahren Tücken der Unwissenheit.
Aber vielleicht konnte mir Leilan weiterhelfen, denn mit seiner Hilfe war ich mir sicher, dass ich noch so einiges über die Vegetation lernen konnte. Immerhin verstand ich ihn, sowohl seine Bewegungen als auch seine Klänge.
„Du musst mir unbedingt mal zeigen, was ich noch alles essen kann, was mich nicht umbringt. Oder einige Pflanzen, die eine Wunde reinigen können, ohne die Haut zu reizen. Solche Mittel bräuchte ich dringend für Notfälle!“, teilte ich dem bunten Vogel mit, der kräftig mit den Flügeln schlug und in den Himmel abhob. Hoffentlich hatte er verstanden, worum ich ihn gebeten hatte. Aber auch er wusste immer, was ich meinte.
Dieser Gedanke brachte mich zum Lächeln und augenblicklich blieb ich stehen, als ich vor einem Buschwerk voller Leilanien landete. Ihr Anblick nahm mir den Atem und ehrfurchtsvoll kniete ich mich davor, um mit den Fingern sachte über die Blütenblätter zu streichen. Ihr angenehmer Duft stieg dabei in meine Nase und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, um dieses aufkeimende entspannende Gefühl in mir zu genießen.
Doch der Zauber war nur von kurzer Dauer, als Leilan einen hohen Schrei ausstieß, was mich innerlich zusammenzucken ließ. War jemand in der Nähe?
Sofort richtete ich mich auf und umfasste den Bogen fester. Es war nichts und niemand zu sehen. Allein Leilan, der nun unschuldig dreinblickend auf einem Ast über mir hockte und in eine bestimmte Richtung deutete. Richtung Ufer. Mit gerunzelter Stirn bewegte ich mich auf die Lichtung zu und schirmte mit meiner Hand meine Augen vor der grellen Sonne ab. Ich konnte das Rauschen der Wellen deutlich hören, jedoch zog die dunkle Stelle neben der Felsengruppe im himmelblauen Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich. Dort unten befand sich das Wrack. Ich hatte noch einiges zu erkunden, aber mir rannte die Zeit davon. Drei Tage, um mir selbst das Kämpfen beizubringen. Das war die erste Priorität.
Mit geballten Fäusten kehrte ich der Stelle den Rücken zu und blieb nahe des Wassers, während ich die Insel in gemäßigtem Schritt entlangschlenderte. Eigentlich sollte ich mich lieber auf den Weg zu meinem Schlafplatz machen, doch ein Instinkt trieb mich dazu weiter zu gehen.
Eine Weile später erkannte ich den Grund dafür. Erneut glitt mein Blick zum Wasser und wieder entdeckte ich eine Felsengruppe, die wie spitze Zähne in die Höhe ragte. Ich kniff die Augen zusammen, um die Entfernung einzuschätzen und seufzte leise auf. Warum machte ich mir überhaupt die Mühe? Schätzen war noch nie meine Stärke gewesen.
Kopfschüttelnd strich ich mir mit einer Hand durch das zerzauste Haar und bemerkte, wie der Engelsflügel zu den Felsen deutete. Irritiert sah ich wieder dorthin und riss erschrocken die Augen auf.
Ein Mensch lehnte am größten Felsen, der die Form eines in die Höhe springenden Delfins hatte und winkte mir zu. Vollkommen überfordert blinzelte ich einige Male, um mich zu vergewissern, dass das auch wirklich geschah und tatsächlich… Es war eine Frau mit golden schimmernden Haar, die unentwegt die Hand hin und herschwang. Brauchte sie Hilfe? War sie überhaupt real? Mit wild klopfendem Herzen ließ ich all meine Sachen mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen und watete direkt ins kalte Wasser. Gänsehaut verteilte sich auf meine Haut, dennoch ging ich immer tiefer ins kühle Nass und begann zu schwimmen. Wie aufs Stichwort tauchte Leilan auf, der direkt auf die Frau zuflog und kurz bevor ich die Felsengruppe erreichte, erfasste mich eine starke Welle.
Überrascht verlor ich die Kontrolle über meinen Körper, trieb unter Wasser und tauchte nach Luft japsend wieder auf. In meinem Mund schmeckte ich das Salz und im nächsten Moment wurde ich wieder von einer Welle in eine ganz andere Richtung gestoßen. Grimmig dreinblickend versuchte ich der Kraft der Strömung entgegen zu strotzen, als ein eigenartiges Gefühl in mir einsetzte. Das Gleiche hatte ich beim Angriff des schwarzen Panthers erlebt. Wie das Gebrüll eines Löwen breitete sich dessen Energie schlagartig in meinem Inneren aus und verbissen kämpfte ich mich durch die Wellen, bis ich einen kleinen Felsen zu fassen bekam. Ich keuchte angestrengt auf, stemmte mich mit beiden Händen hoch und atmete heftig ein und aus. Von weitem hatte das Meer keinen aggressiven Eindruck gemacht. Wie schnell man sich täuschen konnte.
Atemlos strich ich die nassen Strähnen, die mir im Gesicht klebten, nach hinten und schaute mich um. Wo war die Frau? Hier in der Nähe musste sie sein. So gut ich konnte, richtete ich mich auf, ohne dabei am rutschigen Gestein das Gleichgewicht zu verlieren. Um mich herum befanden sich unterschiedlich große Felsen, die zum Teil mit Algen und kleinen Muscheln bedeckt waren. Wäre ich nicht in Eile, würde ich meine Umgebung noch näher betrachten, jedoch musste ich diese Frau finden.
„Hallo? Ist hier jemand?“, rief ich laut und meine Stimme klang besorgt. Hatte sie sich womöglich verletzt? Denn wenn mich meine Sinne nicht getäuscht hatten, war sie nackt gewesen. Sonst wäre mir nur ihr goldenes Haar aufgefallen.
„Ich werde Ihnen nichts tun. Ich will nur helfen. Sind Sie auch gestrandet worden? Geht es Ihnen gut?“, sprach ich weiter, während ich mich zu den größeren Felsen wagte, die schärfere Kanten aufwiesen. Hier würde ich viel vorsichtiger sein müssen, um meine Handinnenflächen vor Verletzungen zu schützen. Ich hatte etliche Male aufgrund der Muscheln aus der Quelle bluten müssen. Somit war ich nicht erpicht darauf mir erneut Wunden zuzuziehen.
„Ich bin Chanelle! Bei einem Schiffsunglück bin ich auf diese Insel gestrandet worden. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie sich vor mir nicht zu fürchten brauchen!“, rief ich weiterhin, während ich an den verrückten Mann dachte. Vor ihm würde sie sich hüten müssen. Aber ich erwähnte ihn nicht, aus Angst das könnte sie verschrecken.
Plötzlich wurde ich aber selbst erschreckt, als eine starke Welle gegen die Felsen prallte und Wasser über mich schwappte. Es fühlte sich eisig kalt an, sodass sich mir alle Härchen aufstellten und nicht einmal die warme Sonne konnte mich schnell trocknen. Das Haar klebte mir erneut im Gesicht, doch ich strich es nicht zur Seite, sondern kletterte weiter und hielt erst an, als ich vor einer Felsengruppe stand, die sich vom anderen umliegenden Gestein unterschied. Ihre Anordnung verwirrte meinen Verstand und setzte meinen Sinn für Ästhetik auf die Probe.
Wie ineinander geschlungene, glatt geriebene Silberreifen ragten die Felsen in die Höhe und beschränkten die Sicht, auf das was hinter ihnen lag. Algen klebten wie widerliche Fangarme am glatten Gestein und zerstörten das relativ schöne Bild der bearbeiteten Natur und an den Spitzen bewegten sich kleine Krabben in den unterschiedlichsten Farben. Dunkelrot, hellrot, dunkelgrün, leicht bläulich und etwas in Richtung Braun. Mit zusammengekniffenen Augen hob ich einen Fuß an, um den richtigen Halt zu finden und dann schwang ich mich auf die andere Seite, um die Krabben näher betrachten zu können. Für einen kurzen Moment vergaß ich sogar nach der Frau zu suchen, aber als ich Leilan über meinen Kopf kreisen sah, fiel es mir wieder ein. Wie hatte ich das bloß vergessen können?
„Chanelle, konzentrier dich!“, murmelte ich leise zu mir selbst und erklomm langsam die Felsen, die mir unendlich hoch erschienen. Hin und wieder begegnete ich einer Krabbe, die ich sanft zur Seite schob und ich war froh darüber, dass sie mir nichts taten. Es hätten ja auch aggressive Kreaturen sein können…
Gerade wollte ich Leilan fragen, wo sich die Frau in diesem Moment befand, da blieben mir die Worte augenblicklich im Halse stecken. Der dicke Kloß hinderte sie daran über meine Zunge zu rollen und nach außen zu dringen. Bei der Liebe meiner Eltern, ich konnte nicht fassen, was ich vor mir sah. Mir war bewusst, dass die Natur zu vielen Dingen fähig war, aber das überstieg meine Fantasie.
Der Grund, warum die Felsen wie ein Kreis angeordnet waren, lag daran, dass sie ein Becken mit rotem Wasser umhüllten. Wie ein Kelch gefüllt mit Wein. Meine Augen wurden groß, als ich die kleinen Krabben dabei beobachtete, wie sie in diese Flüssigkeit hineinplumpsten und nicht mehr an die Oberfläche kamen. Wie tief mochte dieses Becken wohl sein? Vielmehr stellte sich mir jedoch die Frage, wo sich diese Überlebende befand? Konnte das ihr Blut sein? Daran wollte ich gar nicht denken.
Vorsichtig setzte ich mich auf meinen Hintern hin und glitt langsam in die Tiefe, immer näher zum blutroten Wasser. Es roch zumindest nicht nach Blut, sonst wäre mir die metallische Note aufgefallen, jedoch wollte ich wissen, was hier vor sich ging. Just in diesem Moment landete Leilan auf der anderen Seite des Beckens und flatterte ungeduldig mit den Flügeln, als müsste ich mich beeilen. Und mein schnell schlagendes Herz vermittelte mir die Eile, die mich bereits durchströmte. Ich wollte zum einen die Gegend in aller Ruhe erkunden, aber zum anderen drängte es mich wieder zum Ufer.
Dennoch siegte die Neugier über die trockene Vernunft und ich beugte mich vor, um das dunkle Rot besser in Augenschein zu nehmen. Es sah tatsächlich wie Blut aus, aber es war keinesfalls undurchsichtig. Wenn ich nämlich die Augen zusammenkniff, konnte ich die kahlen Felsen erkennen, die das Wasser umschlossen. Sogar einige Krabben konnte ich sehen. „Was ist das hier?“, fragte ich mich selbst und traute mich meine Hand in diese Flüssigkeit zu tauchen. Anders würde ich meine unstillbare Neugier nicht befriedigen können.
Zunächst bildete ich mir ein, meine Hand würde verschwinden, doch ein Kribbeln setzte ein und erfüllte meinen ganzen Körper. Sollte ich die Hand aus dem Wasser ziehen? War das eine normale Reaktion meines Leibes? Gespannt wartete ich ab und sog scharf Luft ein, als eine leise Melodie erklang, die von meinem Handgelenk aus direkt in meinen Kopf kroch. Es waren zuerst rhythmische Klänge von Trommeln zu hören, dann laute Paukenschläge dicht gefolgt von leisen Stimmen. Die Sprache konnte ich nicht verstehen, aber etwas in mir regte sich bei den gesungenen Worten. Es war, als würde jedes Wort zum Leben erweckt werden. Wie in Trance schloss ich die Augen und lauschte dieser Melodie, während mein Körper immer träger wurde. Ich hatte nicht bemerkt, wie erschöpft ich eigentlich war.
Angenehme Ruhe breitete sich in mir aus, ließ meine Gliedmaßen nacheinander erschlaffen, bis mich Leilans Ruf aus diesem mentalen Schlaf riss.
Erschrocken öffnete ich die Augen und stellte fest, dass ich kurz davor gewesen war in dieses mysteriöse Becken zu fallen. Angst packte mich und so schnell ich konnte, richtete ich mich auf und krabbelte fort von der Quelle des Gesanges. Die Melodie in meinem Kopf war verschwunden und mein Herz begann heftiger in der Brust zu pochen. Ich wäre beinahe ertrunken, denn mit großer Sicherheit wäre ich nicht aufgewacht.
Ich legte eine Hand auf meine schweißnasse Stirn und schluckte den trockenen Kloß in meinem Hals hinunter. Hatte die Frau ihr Leben in diesem Wasser verloren? Fand ich sie deswegen nicht? Mein Blick fuhr zu Leilan, der mir erneut das Leben gerettet hatte. Wie sollte ich bloß ohne ihn überleben? Ohne ihn wäre ich verloren.
Diese Erkenntnis traf mich hart und ich kletterte aus diesem ‚Kelch‘ heraus, um mich von einem Schwall Wasser durchnässen zu lassen. Da ich nicht darauf vorbereitet gewesen war, spuckte ich das salzige Nass aus und wischte mir daraufhin über den Mund. „Leilan? Tust du mir einen Gefallen und erkundest noch die Gegend? Ich bin mir nicht sicher, ob die Frau doch nicht nur eine Halluzination gewesen ist…!“, teilte ich meinem treuen Freund mit, der sich sofort in die Lüfte hob. Seine purpurnen Flügel erinnerten mich an die Melodie aus dem Becken, wobei ich die Verbindung zwischen den beiden nicht verstand. Ich hatte die Sprache nie gehört, also warum hatte ich das Gefühl, dass einige Worte von purpurnen Flügeln gehandelt hatten?
Kopfschüttelnd verdrängte ich diese nicht zu beantwortenden Fragen in den Hintergrund und tauchte vorsichtig ins Meer, da ich mich an den starken Temperaturunterschied gewöhnen musste. Meine Haut fühlte sich nämlich wie trockene Erde an und jetzt, da ich im Wasser war, löste sich das Salz auf und wurde eins mit dem Meer. Ich jedoch nicht. Denn ich würde wieder zurück zum Ufer schwimmen müssen, um mich so langsam auf den Weg nach Hause zu machen. Zu meinem Baum.
Denn allmählich machte sich das leere Gefühl in meinem Magen durch lautes Brummen bemerkbar und dort warteten zwei Fische auf mich, die gegessen werden wollten. Doch zuerst musste ich den Strand erreichen, der in der untergehenden Sonne schimmerte. Kaum zu glauben, dass es bereits Abend wurde. Wie lange war ich spazieren gewesen? Wie viel Zeit hatte ich bei diesen Felsen verbracht?
Schwer atmend krabbelte ich die letzten Meter aus dem Wasser und fühlte den warmen Sand zwischen Fingern und Zehen. Es war ein tolles Gefühl wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nur schade, dass ich keinen Menschen neben mir stehen hatte, mit dem ich meine Erfahrungen teilen konnte. Dabei musste ich ganz besonders an Claire denken. Die Vorstellung, dass sie bei diesem Unglück ums Leben gekommen war, stimmte mich zutiefst traurig. Denn ihr armer Bruder würde vergeblich auf sie warten. Ein Grund mehr warum ich diese Insel verlassen musste, um nach Amerika zu fahren. Er sollte wissen, dass sie nicht kommen würde, bevor ihn die Unwissenheit in pure Verzweiflung trieb.
Mittlerweile mussten mehr als nur zwei Wochen vergangen sein, vielleicht sogar ein Monat. Ich wusste es nicht, denn ich zählte die Monde und Sonnen nicht. Vielmehr ließ ich die Zeit an mir vorbeirasen, in der Hoffnung ich würde einen Weg finden zu fliehen. Fort von diesem Mann, der mein Innerstes erschütterte.
Ich sollte angeblich zu dem werden, was er war? Nur über meine Leiche. Ich war kein skrupelloser, hinterlistiger und mordsüchtiger Mensch, der es darauf abgesehen hatte das größtmögliche Leid zu verursachen. Nein, ich war eine kluge, leidenschaftliche und friedvolle Frau. Ich würde es mir selbst nie verzeihen einem anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, außer ihm. Zwar war ich nicht in der göttlichen Position über das Leben des anderen zu richten, dennoch würde ich ihm schaden müssen, um mein Überleben zu sichern. Denn irgendwie hatte ich die Vermutung, dass er hinter dem Untergang des Schiffes stecken musste. Ich wusste nicht, wie er das angestellt hatte, doch mir waren in letzter Zeit solch unmögliche Dinge widerfahren – die sich nicht erklären ließen – dass ich der ein oder anderen übernatürlichen Kraft Glauben schenken konnte. Wie damals, als ich diesen Panther von mir abgeschüttelt hatte, als wäre er ein Sack Kartoffeln gewesen.
„Ich werde kämpfen!“, redete ich mir selbst ein und in meiner Stimme schwang Ernst mit. Ich solle seine Untergebene werden? Für sein Vergnügen? Ich hatte bestimmt nicht jeden Tag die Zähne zusammenbeißen müssen, um das so leichtfertig wegzuschmeißen. Meine Mühe war kein Abfall. Sie trug Früchte, von denen ich mich ernährte, um stärker zu werden. Aus diesem Grund beschloss ich die Gefangenen zu befreien, um ihm ein für alle Mal zu verdeutlichen, dass er mir nichts zu sagen hatte.
Seine undurchdringlichen nebelgrauen Augen, der wilde Ausdruck in seinem Gesicht, das rabenschwarze Haar und die sinnlich geschwungenen Lippen würden mich nicht von meinem Plan abbringen. Fest entschlossen ballte ich eine Hand zur Faust, während ich mit der anderen meinen Sack voll Proviant mitsamt Bogen vom Boden aufhob. Sand rieselte vom Stoff herunter, was mich wiederum an die leise Melodie in meinem Kopf erinnerte. Paukenschläge, Trommeln, das Rieseln von Sand, Meeresrauschen…
Was war nur los? Warum waren diese Klänge in meinem Kopf? Wo hatte ich sie schon einmal gehört? Denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass die gesungenen Worte etwas in meinem Leben beschrieben, was ich zurzeit durchlebte. Jede einzelne Note erweckte Orte in mir, die ich nie erkundet hatte. So auch seine Augen und sein einzigartiger Geruch.
Verwirrt hielt ich inne. Ich hatte doch nicht gerade an… Hastig schüttelte ich den Kopf und stapfte weiter Richtung Dschungel, während ich die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Rücken spüren konnte.
Nein. Was auch immer in mir an die Oberfläche kroch, ich würde es nicht zulassen. Ich würde nicht zu dem werden, was er war. Er war ein Monster, ich nur ein normaler Mensch mit einem Gewissen. Warum also pochte mein Herz so laut, wenn ich an unsere nächste Begegnung dachte? War es Angst? Neugier? Unsicherheit?
Seufzend fuhr ich mir durchs nasse Haar und biss mir nachdenklich auf die Unterlippe, die sich schon wieder ganz trocken anfühlte. Ich fuhr mit der Zunge darüber und schmeckte das Salz des Meeres. Und Blut.
Die Wassertropfen, die in einem rhythmischen Takt nacheinander auf den feuchten Steinboden tropften, mischten sich mit Shadows Schnurren und beruhigten mich. Seit meiner letzten Begegnung mit der jungen Frau waren Stunden, vielleicht sogar ein ganzer Tag vergangen. Die Gefangenen hatten mich mit ihrem Quengeln und ihren Schreien auf Trab gehalten, sodass ich keinen anderen Ausweg gefunden hatte. Ich hatte die meisten von ihnen umgebracht. Wie viele übrig geblieben waren? Da war ich mir selbst nicht mehr so sicher.
„Immerhin sind wir beide nun satt!“, seufzte ich nachdenklich und strich gleichmäßig über das schwarz schimmernde Fell. Shadows Schwanzspitze zuckte, was darauf hinwies, dass ihm diese Streicheleinheit sehr gefiel. Verwöhnte Großkatze, eigentlich sollte ich das nicht tun. Aber ich brauchte Zeit zum Nachdenken.
Die Worte dieses Weibs gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Dass sie nie zu dem werden würde, was ich war. Natürlich war ich längst kein Mensch mehr, ich stand weit über den Sterblichen in der Nahrungskette und das hatte sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf das eigene Leben. Früher hatte ich mich selbst gehasst, weil ich nicht mit meiner Verwandlung einverstanden gewesen war. Gegen meinen Willen war ich in diese Welt hineingezogen worden, aber mit der Zeit hatte ich gelernt, was man mit den neuen Gaben anstellen konnte. Ja… Früher hätte ich Menschen nicht verletzt. Früher hätte ich ihnen durch schwere Zeiten geholfen und ihnen eine helfende Hand gereicht. Wahrscheinlich hätte ich sogar eine Familie mit einem Menschenmädchen gegründet, aber viel zu schnell hatte ich die Kehrseite meines Daseins kennengelernt.
Allein die Erinnerung an den Verrat, den Schmerz und den Kummer brachte mich dazu die Lippen fest aufeinander zu pressen und wütend die Decke anzustarren. Ich war ein naiver, junger Mann gewesen. Ich hatte meine neu erlangten Fähigkeiten unterschätzt und dabei den Menschen zu sehr vertraut. Diese seelenlosen fleischlichen Hüllen wussten das Gute nicht zu schätzen. Stattdessen suchten sie fieberhaft nach dem Bösen, in der Hoffnung sie mögen es aus der Welt schaffen und vergaßen dabei, dass das Gute wie eine gedeihende Blume war. Sie brauchte Zuwendung, Sonne, Wasser, einen festen Grund und vor allem eine Seele. Und Liebe? Jedes Mal, wenn ich an dieses banale Wort dachte, verzog ich angewidert das Gesicht. Liebe… Die Menschen wussten nicht einmal, was das war. Sie glaubten, es sei ein Gefühl. Die Bestätigung dafür, dass sie diesen einen Gefährten gefunden hatten, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollten. Die Rechtfertigung dafür, dass sie sich alles nehmen konnten, um ihren engsten Vertrauten ein schönes Leben zu ermöglichen und sich selbst natürlich. Der Beweis dafür, dass sie nicht allein waren, weil eine Menge anderer Sterblicher dasselbe dachte und fühlte.
Liebe gab ihnen Sicherheit, Geborgenheit, Freiheit und Glauben. Was sie nicht wussten? Nichts von alldem war wahr. Sie logen sich Jahr für Jahr selbst an, wenn sie behaupteten, sie wüssten, was in ihrer Welt geschah. Doch warum machte ich mir überhaupt Gedanken um diese niedere Lebensform? Ich war kein Teil mehr davon, also brauchte es mich nicht weiterhin zu beschäftigen.
Mit geballten Fäusten richtete ich mich kerzengerade auf dem Bett auf und schaute mich grimmig um. Ich musste hier raus. Nicht oft fühlte ich mich in meinen eigenen vier Wänden eingesperrt, aber in diesem Moment durchflutete mich ein heftiges Verlangen nach Zerstörung. Ich wollte die Mauern niederreißen, die mich hier festhielten, jedoch wusste ich, dass das nur eine vorübergehende Intuition war. Demnach beging ich keinen Fehler, sondern verließ eilig meinen Bau.
Shadow folgte mir nicht und das brauchte er auch nicht. Er sollte auf die letzten Verbliebenen aufpassen, ihnen Angst machen und dafür sorgen, dass sie den letzten Keim Hoffnung verloren. „Elende Menschen…“, fluchte ich ungehalten, während ich mir einen Weg durch das Dickicht bahnte und dabei die Richtung zur Quelle anschlug. Von dort aus würde ich Ausschau nach diesem Weib halten und versuchen ihren einzigartigen Geruch zu wittern.
Es dauerte nicht lange, da erblickte ich den majestätisch wirkenden Wasserfall, der wie ein Schleier aus funkelnden Kristallen vom Himmel fiel. Das Rauschen erfüllte meinen Gehörsinn und beruhigte meine Nerven. Die Frau schien nicht hier zu sein, ansonsten hätte ich Reste ihres Duftes erhaschen können. Dennoch lag eine schwache Note in der Luft. Eine konstante Duftspur, die mich um den Wasserfall herum führte, nur um mich dann zu einem Busch voller Blumen zu bringen. Nicht irgendwelche Blumen, sondern dieses krautartige Gewächs von Neirforia. Seit wann hatte dieser Gott beschlossen die Insel mit diesen Blumen zu ersticken? Wollte er mich provozieren?
Leise knurrend legte ich den Kopf in den Nacken, um den Berg aus Felsen in Augenschein zu nehmen. Dort oben wartete ein perfekter Aussichtspunkt auf mich, der meine Suche nach dem Weib erleichtern würde. Ich wollte nicht länger bei diesen Blumen bleiben, deren Geruch meine Sinne benebelte und eigenartige Gefühle in mir erweckte. Gefühle… Welch sinnlose Zeitverschwendung.
Frustriert darüber, dass ich die ganze Zeit an sie denken musste, ging ich leicht in die Knie, um mich mit voller Kraft vom Boden abzudrücken. Ich flog einige Meter in die Höhe, landete auf einem recht stabilen Felsen und sprang immer höher, bis ich die Spitze erreichte. Als erstes erfasste mich ein starker Wind, der mich zunächst leicht zum Schwanken brachte, doch ich fand schnell mein Gleichgewicht wieder und reckte mein Kinn in die Höhe. Ich ließ mich nicht von einem mächtigen Windstoß forttreiben.
Kurz darauf fiel mein Blick auf die kleine sprudelnde Quelle, die mich regelrecht anzog. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich Durst bekommen hatte. Vielmehr kreisten meine Gedanken weiterhin um Neirforia und seinem frisch erwählten Schützling. Kein Wunder, dass meine Bedürfnisse zu kurz kamen, die ich jedoch mit mehreren Schlucken Wasser befriedigte. Später würde ich mich mit einer Gefangenen befassen müssen, denn mein inneres Gleichgewicht schien etwas außer Kontrolle geraten zu sein. So auch das Wetter.
Helle Lichtfunken erregten meine Aufmerksamkeit und ich hob den Kopf, um in den Himmel zu schauen. In weiter Ferne konnte ich dunkle, schwere Wolken erkennen, die sehr viel Zerstörung in sich trugen. Das letzte Mal, als es heftig gestürmt hatte, war ich auf dieser Insel gestrandet worden. Welch Schicksal erwartete mich, wenn dieser Sturm erneut mein Heim traf?
Ich betrachtete eine Weile das sich nähernde Dunkel und spürte das unangenehme Ziehen in meiner Brust. Shadow und ich mussten dringend Proviant sammeln und den Bau gut abdichten, um dem Gewitter keine Möglichkeit zu bieten großen Schaden anzurichten. Aus diesem Grund verschob ich die Suche nach dem Weib auf einen späteren Zeitpunkt und konzentrierte mich nun voll und ganz auf das Sammeln von wichtiger Nahrung. Da ich nicht wusste, wie lange der Sturm andauern würde, musste ich sicherheitshalber mehr als genug Lebensmittel in meinen Bau bringen.
Kokosnüsse, Früchte und Fische. All das trug ich Stunden später in einem Leinensack, den ich über meine Schulter geworfen hatte, um die Last besser zu verteilen. Shadow kümmerte sich derweil um die Anschaffung von Fleisch. Zwar befanden sich nicht viele essbare Tiere auf dieser Insel, doch mein Gefährte würde nicht ohne ein leeres Maul aufkreuzen. Eine misslungene Jagd duldete ich nicht.
Mit festen Schritten überquerte ich den Bach und zuckte bei der Kälte des Wassers nicht einmal zusammen. Auch nicht als ich plötzlich vor einer Leiche stand. Ein kleiner Junge, der verhungert war. Das konnte ich ihm in den Augen ablesen, die geöffnet in den Himmel starrten. Die Leere darin überraschte mich nicht. Vollkommen emotionslos bückte ich mich nach vorne und berührte mit der freien Hand seine Brust. Kein Schlagen, kein Atmen. Er musste bereits seit Tagen tot sein, denn der Geruch nach Verwesung stieg in meine empfindliche Nase.
Seufzend griff ich unter seinem versteiften Rücken und hievte ihn auf die andere Schulter. Kinder ließ ich nicht unbeachtet auf dem Boden liegen, selbst wenn sie die bevorzugte Mahlzeit von Shadow waren. Stattdessen brachte ich ihre Leichen dorthin, wo sie besser aufgehoben waren. Zu den Klippen.
Während ich mich auf den Weg dorthin machte, musste ich an den Naturgott denken. Er sah es bestimmt nicht gerne, wenn auf seinem Grund und Boden Kinderleichen lagen. Würde der Sturm deswegen die Insel überfallen? War Neirforia wütend? Kopfschüttelnd stieß ich ein verächtliches Schnauben aus. Was interessierte mich das überhaupt? Er hatte sich gegen mich verschworen. Mit diesem Weib. Demnach sah ich nicht ein, warum ich mich brav verhalten sollte, nur um ihn zu besänftigen. Dieses Kind würde ich wie viele andere Leichen entsorgen, auf meine Weise. Ich würde kein Grab schaufeln, nur damit die Erde ihn in sich aufnehmen konnte. Das stürmische Meer würde über die Seele des Kleinen richten und meine Arbeit wäre somit getan.
Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass das kommende Gewitter eine Art Bestrafung für mich sein sollte. Die Reinigung meiner vielen Sünden. „Sünden… Welche Sünden bitteschön?“, murmelte ich in bitterem Ton und stieg die grob behauenen Stufen hoch, um auf das Plateau zu gelangen. Auch hier war der Wind sehr wild und zerrte an meiner Kleidung, jedoch hielt ich der unsichtbaren Kraft stand und legte den Sack mit Proviant ab.
Mit dem Kind in den Armen schritt ich bis an den Rand der Klippen und blickte ein letztes Mal in sein bleiches Gesicht. Unter seinen Augen zeichneten sich schwarze Ringe ab. Seine Lippen waren leicht bläulich verfärbt, während die Wangenknochen deutlich hervortraten und ihm ein geisterhaftes Erscheinen verliehen. Er war tot. Wie sollte er sonst aussehen?
Bevor ich ihn endlich in die Tiefe schmiss, bemerkte ich die geschlossene Faust, die steif auf seinem Bauch lag. Darin sah ich etwas Glänzendes, was sofort meine Neugier erweckte und mich dazu brachte seine kleine Faust zu öffnen. Er hielt eine Goldkette in der Hand. Ein Medaillon. Eigentlich verbot ich mir solche Schmuckstücke näher zu betrachten, aber ich wollte wissen, was in diesem Medaillon verborgen war. Kaum begegnete mir das Gesicht einer recht hübschen Frau, wusste ich, in welchem Verhältnis dieser kleine Junge zu ihr stand. Ihre geschwungenen Lippen, das perfekt gerichtete Haar, welches ihr bis zu den Schultern reichte und die kleine Nase besaßen eine unverwechselbare Ähnlichkeit mit dem toten Kind. Das musste seine Mutter sein.
Etwas in mir verkrampfte sich bei dieser Erkenntnis und ich kämpfte gegen die Bilder an, die in mir aufsteigen wollten. Mittlerweile hätte ich genug Kälte in mir tragen müssen, um dieses Kind von mir zu stoßen, welches diese Erinnerungen in mir weckte, die mich nicht beschäftigen sollten. Mein menschliches Leben gehörte der Vergangenheit an. Es brachte mich nicht weiter daran zu denken, wie meine Mutter ausgesehen hatte. Wie ihr Lächeln auf mich gewirkt hatte. Wie sie mich immer in den Arm genommen hatte, wenn ich Angst vor der Welt gehabt hatte.
Meine Finger krallten sich in das tote Fleisch des Jungen und mit einem leeren Blick ließ ich abrupt los. Der Körper löste sich von mir und stürzte in die Tiefe. Ich konnte den Fall hören, auch die Vereinigung von Wasser und Leib. In mir herrschte das reinste Chaos und ich versuchte verbittert den Emotionen Einhalt zu gebieten. Das war nur einer von vielen gewesen. Ein Junge, wie jeder andere. Ersetzbar.
In angespannter Haltung kehrte ich dem Meer den Rücken zu und hielt überrascht inne. Neirforia hockte bewegungslos auf meinem gefüllten Sack und musterte mich aus seinen durchdringenden, schwarzen Knopfaugen. Was wollte dieser gefiederte Gott von mir? Hatte er mich nicht genug verärgert? Wut kochte in mir und es brodelte unheilvoll. Ich war kurz davor die Beherrschung zu verlieren, um diesem Vogel den Hals umzudrehen. Seine arrogante Präsenz trieb mich regelrecht in den Wahnsinn. Er betrachtete mich, als sei ich jemand, der seine Kindheit noch nicht überwunden hatte. Doch dem war nicht so.
„Was willst du von mir? Welchen Plan verfolgst du? Warum hast du dieses Weib auserkoren deine Botschafterin zu werden? Warum hier? Warum jetzt?“, fuhr ich den kleinen Gott an und wurde bei jeder Frage immer lauter. Nicht einmal der Wind konnte meine unverhohlene Wut dämpfen. Ich wollte Antworten hören. „Hör auf mich anzusehen und sag mir lieber, was dein Plan ist? Warum belästigst du mich auf meiner Insel? Sie gehört nicht dir. Ich bin hierhergeführt worden, um ein erfülltes Leben zu führen und du bringst meine Welt durcheinander. Lass das. Verschwinde!“, keifte ich weiter und mein Nacken begann zu kribbeln. Das Blut stieg mir in den Kopf, so auch das beklemmende Gefühl, welches Neirforia in mir auslöste. Er bewegte sich immer noch nicht, sondern starrte mich weiterhin an. Die Farben seines Gefieders schimmerten im Licht der Sonne, die mein Gemüt nur noch mehr erhitzte und als er sich aufplusterte, kam ein starker Wind auf.
Mein Haar wurde durcheinandergewirbelt und ich wurde bis an den Rand der Klippen gedrängt. Dort, wo ich sehr viele Leichen entsorgt hatte. Ein Luftstoß fehlte und ich würde in die Tiefe fallen. „Ist es das, was du willst? Mich von hier vertreiben? Bedrohst du mich?“, verlautete ich die Fragen, die mich nun an meisten beschäftigten. Erneut starrte mich der Vogel an, jedoch breitete er demonstrativ seine Flügel aus, um seine Macht zu verdeutlichen. Er wollte mir zeigen, dass das sein Reich war und dass er mich duldete. Noch.
Die Muskeln an meinem Kiefer verspannten sich und ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich würde mich nicht geschlagen geben. Seit mehr als fünfzig Jahren lebte ich auf dieser Insel, lebte mein eigenes Leben und hörte nicht auf die Regeln anderer. Auch nicht, wenn diese direkt von einem Gott kamen. „Sag deiner Auserwählten, dass sie sich auf einen Kampf gefasst machen soll, der ihr das Leben kosten wird!“, fauchte ich den kleinen Vogel an und riss den Sack an mich, sodass dieser davonfliegen musste.
Mit glühendem Blick sah ich ihm hinterher und dann stieg ich wutentbrannt die Treppen hinab. In mir stieg purer Mörderwille auf, während ich die Begegnung mit Neirforia Revue passieren ließ. Ich sollte für meine Taten bestraft werden? Nur über meine Leiche. Seinem Weib fehlten noch zwei Tage, um sich zu entscheiden und da ich ahnte, dass sie sich gegen mich entscheiden würde, brauchte ich mehr Kraft. Kraft, um ihr Leben zu beenden, ohne dass ihr lieber Freund eingriff.
Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, waren die zwei weiteren Tage vergangen, in denen ich hart dafür gearbeitet hatte meine Energiezentren zu füllen. Vier Frauen hatten dafür ihr Leben lassen müssen und nun besaß ich nur noch fünf Gefangene. Sie waren alle nicht unbedingt in bester Verfassung, jedoch reichten sie aus, um meine Laune zu verbessern, wenn ich sie hin und wieder quälte.
Neirforia war ich nicht mehr begegnet, auch nicht seinem Schützling. Somit hatte ich genug Zeit und Ruhe gehabt, um mein Lager mit Proviant zu füllen und weitere Fallen im Dschungel aufzustellen. Zudem war mir aufgefallen, dass der Sturm heute die Insel erreichen würde. In einigen Stunden, wenn ich mich nicht irrte. „Shadow, hast du das Weib ausfindig machen können?“, rief ich meinem Gefährten zu, der sich gerade über die toten Fische hermachte. Der Geruch nach Meer stieg in meine Nase, gemischt mit frischem Blut. Shadow hob die rote Schnauze und sah mich mit seinen strahlenden goldenen Augen an. Dabei fuhr er die Krallen aus, um über das glatte Gestein zu kratzen und ich seufzte tief. Er wusste nicht, wo sie war.
„Dann mache ich mich allein auf die Suche. Wenn ich dich rufe, bist du sofort an meiner Seite!“, befahl ich ihm und kehrte ihm den Rücken zu, um meinen Bau zu verlassen. Das Schreien und Wimmern der Gefangenen überhörte ich absichtlich, während das schlagende Organ in meiner Brust für Aufregung sorgte. Heute würde ich erfahren, für welche Seite sie sich entschieden hatte, doch ich war mir sicher, dass es nicht meine war. Warum sollte sie auch? Ich war ein Mörder ohne Gewissen.
Wachsam schaute ich mich um, als ich ins Freie trat und schloss die Augen, um mich vollkommen auf meinen Geruchsinn zu verlassen. In den zwei Tagen hatte ich zu meinem Leid sehr oft an den Blumen gerochen, um jede einzelne Note des einzigartigen Duftes zu erhaschen, sodass es einfacher werden würde das Weib zu finden. Immerhin trug sie denselben Geruch auf ihrer Haut, der sich jedoch um winzige Noten von Neirforias Blumen unterschied. Dieser Gott machte keine halben Sachen, wenn es darum ging seine Auserwählte zu markieren, damit ich genau wusste, auf welch schmalem Pfad ich mich begab. Doch das war mir herzlich egal. Ich würde sie finden und höchstwahrscheinlich an Ort und Stelle töten.
Aus diesem Grund erschien es mir wie eine schicksalhafte Begebung, als mich ihr Geruch direkt ins verlassene Lager der Menschen führte. Was trieb sie hier? Ich hatte jeden einzelnen Zweibeiner umgebracht, der Teil dieser Gruppe gewesen war und dennoch war sie dort. Allein. Ihr gefiederter Freund schien nicht anwesend zu sein, was mich ein bisschen beruhigte. So würde ich mehr Zeit haben, um mich mit dieser Frau zu befassen.
Während ich mich hinter einem Baum versteckte, suchte sie nach nutzbaren Gegenständen, die auf dem Boden verstreut waren. Die Behausungen waren vollkommen zerstört, da sie nicht stabil genug gewesen waren, um den starken Winden zu trotzen. Menschen waren wirklich jämmerlich, wenn es darum ging ein sicheres Zuhause zu bauen. Stattdessen legten sie viel mehr Wert darauf, mit wenig Mühe große Erfolge zu erzielen. Dieselbe Erfahrung hatte ich in den großen Städten gemacht. Die Sterblichen wollten nur ans schnelle Geld kommen und sie scherten sich nicht um das Wohl ihrer Leidensgenossen. Sie bestahlen sich gegenseitig, während andere jegliche Hemmschwelle ablegten, die sie davor bewahrte zu töten. All diese Erinnerungen führten mir klar vor Augen, warum ich nun so war, wie ich war.
Und dennoch stand ich hier und beobachtete die junge Frau, die irgendwie anders wirkte. Ihre Ausstrahlung zeugte von Stärke und Mut. Ihre Haltung vermittelte den Eindruck, als gäbe es nichts auf der Welt, was sie in die Knie zwingen könnte und ihre Augen hatten dieselbe Anziehungskraft wie vor drei Tagen. Man könnte meinen, sie hätte zwei Gesichter. Ihr grünes Auge verlieh ihr eine Bodenständigkeit und Sanftheit, während ihr ozeanblaues Auge für Wildheit und Leidenschaft stand. Sie faszinierte mich und das konnte ich nicht länger leugnen.
Trotzdem war ich hier, um das zu beenden, was ich schon vor längerer Zeit hätte beenden sollen. Sie durfte nicht länger mein Revier durchkreuzen und sich aufrüsten, um mich mit ihrem klugen Kopf früher oder später in einen Hinterhalt zu locken. Wir waren ebenbürtige Gegner, auch wenn ich mehr Erfahrung im Töten besaß als sie. Das würde ich zu meinem Vorteil nutzen, wenn es hart auf hart kam.
Langsam trat ich aus meinem Versteck heraus und fixierte sie mit meinem eindringlichen Blick, während sie immer noch mit dem Rücken zu mir stand. Über uns braute sich das Unwetter zusammen, denn der Wind wurde stärker und die Wellen schlugen klatschend auf den Sand ein. Die Sonne verschwand derweil hinter den schwarzen Wolken, tauchte wieder auf und hinterließ graue Flecken auf dem Grund. Schritt für Schritt näherte ich mich dem Lager, bis ich vor einem Haufen Holz innehielt. „Für welche Seite hast du dich entschieden?“, machte ich mich mit fester Stimme bemerkbar, als über uns ein Donnern erklang und die Erde unter unseren Füßen zum Beben brachte.
Seine Stimme, das Donnern am Himmel und das wilde Rauschen des Meeres erinnerten mich daran, was ich in den letzten Tagen unternommen hatte, um mich auf diesen Moment vorzubereiten. Ich hatte Waffen geschmiedet, sie überall auf der Insel verteilt und noch mehr erschaffen. An Lebensmittel hatte es mir auch nicht gemangelt, denn ich hatte das Fischen und Angeln perfektioniert, weswegen ich mich stark genug fühlte, mich zu ihm umzudrehen. Meine Wunden? Diese waren größtenteils verheilt, da Leilan mir die Vegetation und ihre pflanzlichen Wunder nähergebracht hatte. Meine Knie schmerzten nicht mehr und selbst die Schürfwunden an meinen Ellen und Handinnenflächen waren nicht mehr zu sehen. Außerdem war ich in den Genuss von Tee gekommen, der meine Kräfte verstärkt hatte. So fühlte es sich jedenfalls an.
Und nun stand ich vor dem Mann, der dafür gesorgt hatte, dass ich nachts nicht richtig schlafen konnte. Ständig hatte ich von diesem Moment geträumt. Diese undurchdringlichen nebelgrauen Augen, die sich in meine bohrten, nur um tief in meine Seele zu blicken. Das pechschwarze Haar, welches vom wilden Wind zerzaust wurde und die harten markanten Gesichtszüge, die darauf hinwiesen, wie sehr ihm diese Situation missfiel. Jedoch beruhte das auf Gegenseitigkeit. Ich war ebenfalls nicht erpicht darauf mich mit ihm zu befassen, vor allem nicht wenn es sich um die Klärung dieser verhängnisvollen Frage handelte.
In Gedanken rief ich sofort Leilan zu mir, der bislang immer erschienen war. Er würde mir in dieser schicksalhaften Begegnung beistehen, dessen war ich mir sicher.
„Ja, ich habe eine Entscheidung getroffen!“, erwiderte ich selbstbewusst und straffte die Schultern. Erneut grollte der Himmel und der erste Blitz zuckte am Himmel. Dieser Sturm verkörperte genau das, was gerade in mir stattfand. Ein wilder Kampf neu erlangter Kräfte und die Ungewissheit, wie er wohl auf meine Entscheidung reagieren würde. Eine Ahnung hatte ich bereits.
„Und diese lautet?“, hakte mein Gegenüber angespannt nach, während seine Krampfadern an den Unterarmen zum Vorschein kamen. Sie besaßen die Form von Blitzen, die über unseren Köpfen zuckten und die Umgebung erleuchteten. Es war sicherlich kein Zufall, dass es ausgerechnet heute stürmte. „Was denkst du wohl, wie ich mich entschieden habe?“, stellte ich die Gegenfrage, da ich ihn absichtlich provozieren wollte. Meine Angst ihm gegenüber hatte ich bereits besiegt, selbst das kleinste bisschen. Nun stand ich bewaffnet vor ihm und erhob das Kinn, um ihm genau diese Unverwundbarkeit zu vermitteln. Ich würde für meine Freiheit kämpfen und auch für die Menschen, die sich in seinem Bau befanden.
„Ich habe nicht die Nerven, um bei deinem Ratespiel mitzumachen. Sag mir einfach, wie du dich entschieden hast!“, knurrte er verstimmt und nun konnte ich seine Anspannung deutlich sehen. In seinen Augen tobte der gleiche Sturm, der über uns an Masse gewann. Die dunkelgrauen Wolken würden das Wasser nicht länger zurückhalten können und ich konnte bereits die Feuchtigkeit der Regentropfen riechen. Mir war nie aufgefallen, wie Regen roch, doch ich lebte lange genug auf dieser Insel, um das zu wissen.
Deswegen wusste ich auch, dass es ihm eine Menge Kraft kostete seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Seine Haltung verriet mir das, denn ich hatte in meinen Träumen stets auf seine Körpersprache geachtet. Jede kleinste Regung hatte ich mir eingeprägt, um im Ernstfall die Flucht zu ergreifen. Natürlich empfand ich keine Angst mehr, jedoch wusste ich, wann es besser war einen Kampf nicht auszufechten. Er war immer noch ein Mörder, der keinerlei Gewissen besaß und darum war ich im Nachteil. Allein die Vorstellung ihm das Leben zu nehmen, schnürte mir die Kehle zu und dennoch wusste ich, dass es vielleicht zu einem Toten kommen konnte.
Als ein greller Blitz den Himmel erhellte, umfasste ich den Speer in meiner Hand noch fester und kniff die Augen zusammen. Nun war der Moment der Offenbarung gekommen. „Ich habe mich natürlich gegen dich entschieden. Lieber sterbe ich, als dir zu dienen oder dir bei deinen Machenschaften zu helfen. Die Menschen, die du folterst, werde ich retten und bis zu meinem letzten Atemzug werde ich ein weiteres Opfer verhindern!“ In meinem Inneren tobte ein Feuer, welches schon seit Tagen in mir entflammt war und ich konnte die drohende Gefahr, die von diesem Mann ausging, auf meiner kribbelnden Haut spüren.
„Du hast dich demnach für diesen bunten Vogel entschieden, naives dummes Kind!“, spie er mir entgegen und kam nur einen Schritt näher. Doch dieser Schritt reichte aus, um mich dazu zu bringen den Speer anzuheben und damit auf ihn zu zielen. Direkt auf sein steinernes Gesicht. Missmutig beäugte er meine Waffe und dann mich. Von oben bis unten brannte sich sein Blick auf meinen angriffsbereiten Körper, als ein verächtliches Schnauben die Leere zwischen uns füllte. „Du hast die falsche Entscheidung getroffen!“, fügte er zähnefletschend hinzu, woraufhin ich ein dumpfes Lachen ausstieß. „Sei nicht albern. Von uns beiden hast du die schlechtesten Karten in diesem Spiel. Glaube ja nicht, dass ich schreiend davonlaufe, nur weil ich eine Frau bin. Ich werde dir zeigen, wie es ist in die Knie gezwungen zu werden.“, versicherte ich ihm und purer Ernst schwang in meiner Stimme mit. Kurz huschte etwas Undefinierbares über sein Gesicht, jedoch fasste er sich schnell wieder und ballte wütend die Hände zu Fäusten. Just in diesem Augenblick zerriss Leilans Schrei den Himmel und die Wolken brachen, sodass ein Schwall Wasser auf unsere erhitzten Leiber klatschte. Unaufhörlich. Der Sturm hatte somit begonnen.
„Ich habe dich gewarnt!“, knurrte er bedrohlich und im nächsten Moment griff er mich mit bloßen Händen an. Er trug anscheinend keine Waffen bei sich, sondern war nur in Hemd und Hose anwesend, was mich nicht sonderlich störte. Vielleicht konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen. Gerade als er mich schnappen wollte, zog ich an beiden Enden des Speers, sodass zwei Waffen daraus wurden und wehrte seine Hände damit ab. Anschließend duckte ich mich, als er mit der rechten Hand meine Schulter ergreifen wollte und holte mit beiden geschnitzten Stöcken aus, nur um knapp seine Beine zu verfehlen.
Der Regeln prasselte derweil heftig auf meinen Körper, als würden kleine Steine vom Himmel fallen. Grelle Blitze zuckten am Himmel, während wir gegeneinander kämpften und starker Wind kam auf, der einige Strähnen aus meinem fest zusammengebundenen Zopf löste. Sie fielen mir wirr ins Gesicht, jedoch hinderte mich das nicht daran eine schwungvolle Drehung zu vollführen, um seiner Faust auszuweichen. Je länger ich mich gegen ihn wehrte, desto wütender machte ihn das. Doch das schüchterte mich nicht ein. Im Gegenteil… Der Überlebenswille und der Mut in mir sorgten dafür, dass ich nicht einmal nachließ. Verbissen versuchte ich ihn zu treffen, auch wenn er wirklich schnell war und dann war er es, der einen Treffer landete.
Seine Faust landete direkt in meinen Magen, sodass mir erst einmal die ganze Luft aus den Lungen wich, bis ein Schmerz einsetzte, der mich kurzerhand nach hinten torkeln ließ. Er hatte es tatsächlich gewagt mich zu verletzen? Das war kein Schlag für eine Frau gewesen. Er kämpfte, als stünde er einem Mann gegenüber. „Bist du dir sicher, dass du die Kraft hast Widerstand zu leisten? Ich bin dir weitaus überlegen, also gib einfach auf!“, fuhr er mich grimmig an, während die Distanz zwischen uns kleiner wurde. Der Griff um meine beiden Waffen wurde fester und ich kniff entschlossen die Augen zusammen. „Ich werde nicht aufgeben.“, stellte ich klar und richtete mich auf, selbst wenn es in meinem Unterleib schmerzhaft pochte. Sein Hieb hatte bestimmt innere Schäden verursacht. Dennoch nahm ich eine aufrechte Haltung an und hob stolz das Kinn, obwohl ich keine Adlige war. Das war ich auch nie gewesen. Trotzdem hatten mich meine Eltern wie eine Prinzessin erzogen, jedoch mit klaren Strukturen und Prinzipien, die für das eigene Leben sehr entscheidend waren. Dazu gehörten Stolz und Würde, die man stets wertschätzend in der Brust tragen musste.
Die Nasenflügel des Mannes blähten sich vor Wut auf, während er die Lippen aufeinanderpresste. „Stures Weib. Du lässt mir wohl keine andere Wahl!“ Zu gerne hätte ich ihn belehrt, dass man immer eine Wahl hatte, doch ich bezweifelte, dass er dies verstehen würde. Demnach wehrte ich mich mit aller Kraft gegen ihn und merkte kaum, dass mein Kleid vollkommen durchnässt und schmutzig war. Die losen Strähnen klebten mir bereits im Gesicht, aber kein einziges Mal strich ich sie zur Seite. Ich kam nicht dazu, denn meine Hände waren zu sehr damit beschäftigt nach jeder Waffe zu suchen, die ich in diesem Lager versteckt hatte. Natürlich hatte ich erwartet, dass er mich früher oder später an einem Ort wiederfinden würde, den ich oft besuchte. Das Lager hatte sich als perfekter Treffpunkt entpuppt, denn zwischen dem ganzen herumliegenden Gerümpel hatte ich diverse Waffen versteckt, an die ich nur herankommen musste.
Mit einer Flugrolle näherte ich mich einer zerstörten Behausung, die nur noch aus Holzbalken, Palmenblättern und Schnüren bestand. Eilig griff ich unter ein Tuch und schnappte das Messer, welches ich dort versteckt hatte. Bevor mich mein Feind packen konnte, hob ich die Waffe in die Höhe und streifte seine Wange, aus der nun dunkles Blut hervorquoll. Die Regentropfen vermischten sich mit der roten Farbe und rannen seinen Hals entlang, direkt unter sein Hemd. Der Mann schien für einen Augenblick vollkommen perplex zu sein, als die Erde unter unseren Füßen zu beben begann.
Über uns grollte der Himmel, als würde er meine Tat belobigen und plötzlich brach ein heller Blitz durch die Wolkendecke, der zwischen uns auftraf. Schockiert riss ich die Augen auf, als ich einige Meter nach hinten flog und auf den feuchten Sand auftraf. Meine Finger gruben sich in den kühlen Boden, während ich Ausschau nach dem Menschenmörder hielt. Er war in die entgegengesetzte Richtung geschleudert worden, aber er hatte sich nicht verletzt. Stattdessen trafen sich unsere Blicke, glühend und fiebrig. Ganz langsam erhob er sich, warf die lästigen Palmenblätter, die teils an ihm klebten, weg und fixierte mich wie ein Jäger. Ich konnte aus der Entfernung deutlich erkennen, dass er mich für seine Beute hielt und nicht für eine ebenbürtige Gegnerin, gegen die er kämpfen musste, um sein Revier zu verteidigen. Wütend knirschte ich mit den Zähnen, rappelte mich ebenfalls auf und riss in ungeduldiger Manier den Unterrock vom Leib, sodass nur noch ein Beinkleid meine frierenden Beine verhüllte. Das Beben hatte etwas nachgelassen, aber das Donnern erfüllte weiterhin die Geräuschkulisse und fachte mein inneres Feuer nur noch mehr an.
Das Messer lag leider nicht mehr in meiner Hand, doch ich sah es zwischen einigen Holzbalken aufblitzen. Schnell schaute ich wieder zum Mann, der meinen suchenden Blick bemerkt hatte und nun auf mich zukam. Der Wind um uns herum wurde stärker, zerrte an unserer Kleidung, die jedoch vom vielen Wasser an der Haut klebte.
Aus diesem Grund entging mir nicht, dass mein Feind einen hervorragenden Körperbau besaß. Man könnte ihn sogar als einen Adonis bezeichnen. Nur war ich der festen Überzeugung, dass Mörder nicht als attraktiv empfunden werden durften. Sie hatten nichts Schönes an sich, weil sie ihre Würde abgelegt hatten, um diese anderen zu stehlen. Sie töteten das Wundervolle. Das Leben selbst.
Warum also kribbelte es in meinem Magen, während sich diese unergründlichen grauen Augen in meine bohrten? Warum stieg Hitze in mir auf, obwohl das Wasser wie eine Eisschicht auf meiner Haut haftete? Und warum konnte ich mich nicht bewegen, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten? Er musste sterben, oder? Er hatte unzähligen Menschen geschadet, ihnen die Freiheit genommen und sie sicherlich gefoltert. Demnach verdiente er den Tod, oder? Konnte ich ein Leben überhaupt auslöschen?
Mein Körper begann leicht zu zittern, als uns nur noch einige Meter voneinander trennten und Regentropfen flossen unaufhörlich über meine Schläfen und Lippen. Ich war an Ort und Stelle festgefroren. Warum? Sein Blick ging mir regelrecht unter die Haut, denn ich konnte mir nicht ansatzweise denken, was er in diesem Moment vorhatte. Wollte er mich töten oder wollte er mich ebenso wie die anderen einsperren?
Diese Fragen lähmten mein Vermögen schleunigst Lösungen für ein ernstes Problem zu finden, sodass ich wie eine Marmorstatue dem herrischen Wind entgegentrotzte. Allein Leilans hoher Schrei riss mich aus meiner Starre, der in Richtung Wald flog. Sein farbiges Gefieder vermischte sich mit dem dunklen Grün der Vegetation und so gab ich mir selbst einen Ruck und rannte los. Ich vertraute darauf, dass mein kleiner Freund wusste, wohin ich fliehen musste, um zu einem sicheren Versteck zu gelangen. Leider musste ich mir eingestehen, dass ich nicht bereit war diesem Mann die Stirn zu bieten. Mir fehlte die Erfahrung, was das Kämpfen und Töten betraf. Dennoch würde ich mein Bestes geben, um die eingesperrten Menschen aus seinen düsteren Fängen zu befreien.
„Bleib sofort stehen!“, brüllte der Mann hinter mir, seine Stimme übertönte sogar das laute Donnern. Ich blieb natürlich nicht stehen, denn ich wollte ihm nicht wieder in die Augen sehen. Ansonsten wäre ich dem Bann seines intensiven Blickes verfallen und das hätte kein gutes Ende gefunden. Demnach rannte ich wie eine Verrückte durch den düsteren Dschungel, sprang über abgebrochene Zweige und Äste und hielt dabei Ausschau nach Leilan. Seine kleine Gestalt huschte zwischen den Bäumen hin und her, sodass es mir nicht leicht fiel ihn zu verfolgen.
Hinter mir spürte ich die nahende Präsenz meines Feindes, was mich nicht sonderlich überraschte. Wahrscheinlich tat ich genau das, was ich eigentlich vermeiden musste. Indem ich davonlief, vermittelte ich den Eindruck, ich hätte Angst, doch dem war nicht so. Ich war nur nicht bereit zu töten. Dort lag das Problem. Und dennoch verfolgte er mich, als sei ich seine schwache Beute. Zwar nahm ich keinerlei Knacksen oder schweres Atmen wahr, dennoch wusste ich, dass er mir dicht auf den Fersen war. Er war ein kalter Eispflock, der sich langsam in meinen Rücken bohrte.
Außerdem trug der heftige Sturm einen gewichtigen Teil dazu bei, wie lähmend die Kälte des Regens und des Windes für den Körper sein konnten. Mein Herz pochte dermaßen schnell, dass ich befürchtete, es könne mir im nächsten Moment aus der Brust springen und in meinen Lungen spürte ich ein unangenehmes Stechen. Wo war Leilan? Ich hatte ihn aus den Augen verloren, was mich sofort beunruhigte, da ein mörderischer Jäger hinter mir her war.
„Leilan…“, keuchte ich schwer atmend, während ich das störende Blattwerk mit den Händen aus meinem Blickfeld zur Seite schlug. Die feuchte Erde drang durch die dünne Sohle meiner Schuhe hindurch, sodass ich bereits zitternd mit den Zähnen klapperte. Was würde ich dafür tun, einen trockenen Unterschlupf zu finden, der mich vor dem Sturm und vor diesem Mann schützte? Möglicherweise alles…
Plötzlich vernahm ich ein Rascheln in den Büschen, was mich kurzerhand erstarren ließ. War er es? Hatte er mich gefunden? Mein Blick fiel auf den feuchten Boden, auf dem deutlich meine Fußspuren zu erkennen waren. Er musste es sein. Wer sonst traute sich bei diesem Gewitter aus einer sicheren Behausung? Oder war es seine schwarze Raubkatze mit den goldenen Augen? Diesmal verspürte ich einen leichten Anflug von Angst, bis ich eine vertraute Gestalt erblickte. „Claire?“
Die junge Frau drehte sich schwungvoll zu mir um, sodass ihre nassen Locken gegen ihr Gesicht klatschten. Mir blieb das Herz regelrecht stehen. Claire war hier. Das war keine Halluzination, denn ich konnte deutlich das Lächeln sehen, welches ihre Lippen umspielte. Sie hob die Hand, um mich zu sich zu winken und wie von selbst bewegte ich mich auf sie zu. Da zuckte sie augenblicklich zusammen, als in der Nähe ein Baum durch die Wucht des Windes umfiel und dabei andere Pflanzen mit sich riss. Vielleicht war ER es auch gewesen…
„Wir müssen fliehen. Er will mich töten und wir sind hier nicht in Sicherheit!“, warnte ich sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mich. Ihre nachtblauen Augen funkelten mich ruhig an, während sie mir die Kehrseite ihres Körpers zeigte und mit ihrem erhobenen Arm in eine bestimmte Richtung deutete. Ich verstand dies, als Aufforderung ihr zu folgen, selbst wenn mir Leilan als Wegweiser lieber war. Wohin war mein kleiner Freund geflogen? Warum war er nicht bei mir?
Ich schüttelte diese Fragen fort, als Claire zu rennen begann, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter uns her. Zugegeben, dieser Mann gehörte zu der dunklen Seite, weswegen ich meinem Fluchtinstinkt die Macht über meinen Leib gab. Erneut arbeitete mein Inneres auf Hochtouren und trotzte den stechenden Schmerzen, die ich leider nicht wegdenken konnte. Vielmehr konzentrierte ich mich auf die Silhouette von Claire, die immer schneller wurde, sodass ich Schwierigkeiten bekam sie einzuholen. Seit wann hauste sie auf dieser Insel, ohne dass wir uns je begegnet waren? War mein Traum damals eine Eingebung gewesen? Ein Zeichen dafür, dass ich doch nicht allein gegen diesen Mörder ankämpfen musste?
Mit einem Mal breitete sich strahlende Hoffnung in mir aus, die wie eine Sonne meine halb erfrorenen Glieder auftaute. Claire hatte überlebt und ich war nicht mehr allein. Gemeinsam mit ihr würde ich diesen Mann zu Fall bringen, sodass er nie wieder Schmerzen und Kummer verbreiten konnte. Angespornt durch diese erheiternden Gedanken holte ich allmählich auf, musste jedoch irritiert feststellen, dass meine Leidensgenossin verschwunden war. „Claire?“, wagte ich es zu rufen, da mir bewusst war, dass ER mich jederzeit finden konnte.
Als ich keine Antwort erhielt, verwandelte sich die Wärme in eine stechende Verzweiflung. Sie erfüllte meine Lungen, drang bis in meinen Unterleib ein und lähmte meine Füße. Ich befand mich inmitten umgestürzter Bäume, die mit ihrem Laub den ganzen Boden bedeckten. Über mir zuckten wurzelförmige Blitze, deren Licht meine Augen blendete und der Regen prasselte weiterhin mit aller Gewalt auf die Erde. Es waren keine kleinen Steine mehr, sondern zusammengepresste Sandbälle, die ein eigenartiges Gefühl auf der Haut hinterließen. Zitternd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und traute mich über die Stämme hinweg zu steigen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich konnte Claire nirgends entdecken. Hatte sie mich aus den Augen verloren, ohne es bemerkt zu haben? Oder hatte der Mann sie vor mir erwischt?
Nun fürchtete ich mich sogar um ihr Wohl, obwohl ich mich schon längst damit abgefunden hatte, eventuell durch die Hände dieses Serienmörders ermordet zu werden. „Leilan…“, hauchte ich leise und atmete zittrig ein, während sich meine Finger in das Fleisch meiner Oberarme gruben. Die Kälte war wieder deutlich zu spüren.
Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Claire, als wir uns bei Nacht kennengelernt hatten. Wir hatten über unsere Ängste gesprochen. Damals hatte ich ihr gebeichtet, ich würde mich vor dem Schicksal fürchten, weil ich nie wusste, was mich erwartete, wenn ich den nächsten Schritt wagte. Vielmehr jedoch ängstigte mich die unsichtbare Gefahr. Aus welchem Busch würde sich die Raubkatze auf mich stürzen? Welcher Baum würde als Nächstes dem starken Wind nicht mehr standhalten können? Würde mich dieser beängstigende und zugleich anziehende Mann erwischen? War Claire noch am Leben? Oder war ich wirklich am Durchdrehen, wie ER es mir einst prophezeit hatte?
In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als die starken Arme meines Vaters, die mich stützend hielten, herbei. Natürlich gehörte die warme Stimme meiner Mutter zu meiner Wunschvorstellung dazu, die mir versicherte, dass alles gut werden würde. Dass ich mich nicht zu fürchten brauchte. Und dass ich eine Kämpferin war, die niemals aufgeben durfte, egal welche Steine man mir in den Weg warf.
Wie lange kämpfte ich schon auf dieser verlorenen Insel? Glaubten meine Großeltern noch daran, dass ich es zu ihnen schaffte? Ich brauchte ein Zeichen. Eines, welches mir genug Kraft gab, um meinen Kampf fortzusetzen. Ich wollte überleben.
Ein Windstoß ließ mich nach vorne stolpern, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen und nach Luft japsend kam ich auf einem Baumstumpf zum Stehen. Der Boden begann heftig zu vibrieren, sodass ich in die Hocke gehen musste, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Meine Hände berührten das feuchte Holz und die unzähligen Holzspäne kitzelten an meinen Fingerkuppen. Erst da bemerkte ich das Funkeln meines Anhängers. Der Engelsflügel. Er deutete mit der Spitze direkt vor mir, genauer gesagt auf den Haufen Laub, der die Sicht auf etwas versperrte. Stirnrunzelnd beugte ich mich ein Stück nach vorne und begann die kleinen Zweige mitsamt Blättern zur Seite zu schieben, sodass das Erdloch deutlich zum Vorschein kam. Direkt unterm Baumstumpf befand sich ein Unterschlupf, der durch die vielen starken Wurzeln stabil gehalten wurde. War Claire vielleicht darin verschwunden?
Diesmal rief ich nicht ihren Namen, sondern rutschte näher an die Öffnung heran, um in die Dunkelheit zu spähen. Auf den ersten Blick konnte ich nichts Besonderes erkennen. Es war ein Tunnel, der tiefer unter die Erde führte. Nur wohin? Ein heftiges Donnern ließ mich erschrocken zusammenzucken und erneut begann der Boden zu beben. Ich riss den Kopf in die Höhe, um nach Leilan zu suchen, doch mein treuer Freund ließ sich nicht blicken. Infolgedessen beschloss ich den Eintritt ins Ungewisse zu wagen. Ich konnte mich nicht ewig vor der unsichtbaren Gefahr verstecken, zumal sie überall herrschte und mich sicherlich auslachte.
Schnaubend streckte ich meine Hände aus, um den äußeren Eingang zu betasten, damit ich einen guten Halt fand. Oft genug war ich an diversen Orten aus Unachtsamkeit ausgerutscht, was ich hier nicht gebrauchen konnte. Mein Leben schwebte in Gefahr, also war höchste Vorsicht geboten. Aus diesem Grund krabbelte ich sehr langsam in die Öffnung und lauschte auf die unterschiedlichsten Geräusche in meiner Umgebung. Der tobende Sturm in der Außenwelt und die vollkomme Stille in der Unterwelt, das waren zwei vollkommen verschiedene Geräuschkulissen.
Zudem stieg mir der Geruch nach herber, feuchter Erde in die Nase und ließ diese unheilvoll jucken. Nein, ich durfte bloß nicht niesen. Ich robbte tiefer in den unterirdischen Tunnel hinein, als das Unabwendbare geschah. Ich nieste, schloss dabei aus Reflex die Augen und hob ruckartig den Kopf hoch, sodass ich diesen an das Holz einer stämmigen Wurzel stieß. Während funkelnde Sterne vor meinem inneren Auge tanzten, erbebte zum wiederholten Male die Erde und ich verlor den Halt unter mir. Mir blieb der überraschte Schrei in der Kehle stecken, als ich in die Tiefe fiel.
Und bevor ich das Bewusstsein verlor, spürte ich starke Arme, die mich umfassten und einen warmen Körper, der sich an meinen Rücken presste. ‚Stures Weib‘ waren die letzten Worte, die mich in die erlösende Dunkelheit begleiteten.
Texte: Alle Texte sind von mir frei erfunden :)
Bildmaterialien: http://pixabay.com/de/segelschiff-untergehen-ertrinken-493538/ und von mir bearbeitet!
Lektorat: momentan kein/e Beta-Leser-/in
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2013
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