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2 Der Metamorph

Der Metamorph erwachte.
Kopfüber hing er im Dunkeln einer Scheune vom Dachgebälk herunter – zusammen mit Spinnweben und Fledermäusen. Seine roten, blutgefüllten Augen weiteten sich zu halboffenen Schlitzen. Er konnte nicht besonders gut sehen, aber er konnte extrem gut riechen. Er roch sein Opfer: seine Ausdünstungen, die salzigen Kristalle seines Urins, seinen Kot. Er roch es, obwohl sein Opfer diesen Ort bereits vor über einer Woche verlassen hatte, er konnte es lokalisieren, obwohl es sich innerhalb einer Menschenmenge aufhielt.
Der Metamorph wusste, dass er seinem Opfer näher kam. Das erfüllte ihn mit Freude. Sein Auftrag würde von Erfolg gekrönt sein. Er wusste es. Seit seinem Aufbruch vor rund sechs Wochen aus Kautoganka im hohen Norden hatte er die Witterung nicht verloren.
Weder Schnee noch Eis konnten seine Nase trügen. Jetzt, je tiefer er in den Süden vordrang, desto leichter gelang es ihm, der Spur zu folgen.
Der Metamorph spürte die Kraft des Ramnaroughs durch sein Blut- und Lymphsystem fließen. Seine Hautstruktur änderte sich, brach in Sekundenbruchteilen auf, bildete sich neu: Knochen wurden bloßgelegt, verbogen sich, stülpten sich ineinander. Die Haut entblößte und bedeckte Organe, Knochen und Blutgefäße, während das hässliche Gesicht des Metamorphen von stillem Schmerz verzerrt war.
Nachdem die Veränderungen vollzogen waren, schwang er sich vom Dachbalken, fiel mehr als vier Meter in die Tiefe und landete sicher auf dem strohbedeckten Boden. Er war jetzt eine Frau, jung und schön, mit anmutigem Körper.
Nackt trat er hinaus in den feinen Morgenregen und schritt gelassen, ohne auf den schlammigen Untergrund zu achten, hinüber zum Bauernhaus. Ohne Vorsicht trat der Metamorph ein, durchschritt die Stube, tötete Bäuerin und Magd, stieg die Holztreppe in den ersten Stock hinauf auf der Suche nach Kleidung. Es dauerte einige Zeit, bis der Metamorph fand, was er suchte. Er war nicht intelligent, nicht im menschlichen Sinne, aber Mimikry beherrschte er sehr gut.
Er spürte sozusagen, was richtig war. In einem Waschzuber reinigte er seine besudelten Hände, danach kleidete er sich an. Dort, wo das sommerliche Kleid nicht richtig saß, passte er seinen Körper entsprechend an.
Kurz darauf betrachtete er sich im Spiegel.
Er war zufrieden. Er lächelte. Es wurde nun Zeit, ins Dorf zu gehen.

Der Metamorph hatte die vergangenen Jahre im Dämmerschlaf verbracht, war eine endlose Zeit mit rudimentärem Bewusstsein dahingetrieben, hatte Tag- und Nachtphasen nicht voneinander unterscheiden können und kein Verlangen nach Essen oder Trinken verspürt. Die Körperfunktionen waren nahezu ausgeschaltet. Doch dann kehrte eines Tages das Licht in sein finsteres, kleines Universum zurück. Männer kamen mit gleißenden Fackeln und ängstlichen Gesichtern in die Kammer des Metamorphen. Sie nahmen ihn mit und brachten ihn nach oben, direkt in das kalte Herz des Winterpalastes, zum Herrn von Kautoganka. Dort gab man ihm den Auftrag, einen Dieb zu finden; er erhielt eine Gewebeprobe und ein Versprechen. Sein sehnlichster Wunsch sollte erfüllt werden: Er würde die Freiheit wieder erlangen, nach der er sich so lange gesehnt hatte.
„Finde ihn“, lautete der Auftrag des Herrn der Feste. „Finde ihn und töte ihn, bringe mir mein Eigentum zurück. Hast du verstanden?“
Der Metamorph hatte genickt und anschließend die Feste Kautoganka verlassen. Schließlich stand er mitten in einem Schneesturm und blickte hinauf in einen furchteinflößenden Himmel. Eisige Sturmböen peitschten ihn. Obwohl er kein Mensch war, durchzuckte ihn eine fast menschliche Regung. Er verspürte Freude. Freude und eine Art von Dankbarkeit.

Das Dorf war von Gerüchen erfüllt. Eine Symphonie an Eindrücken. Viele Menschen schoben sich durch die engen Straßen; der stetige Strom der Leiber wurde nur unterbrochen von hölzernen Karren mit Waren, die von Pferden, Dromars oder von riesigen Jarlaks aus dem Südkontinent gezogen wurden. An den Straßenrändern standen Buden mit reichhaltigen Auslagen. Gaukler und Artisten präsentierten, unbeachtet von der Menge, ihre Darbietungen. Der Metamorph verhielt sich unauffällig, die Augen stets nach unten gerichtet, um keine Blicke auf sich zu ziehen. Er schob sich durch das Menschenmeer, wollte Informationen einholen und ein Transportmittel organisieren. Er nahm den Weg ins Dorfzentrum. Dort gab es einige Gasthäuser, in denen die Menschen saßen und ihre Geschichten zum Besten gaben.
Er wusste Dinge von seinem Opfer. Das machte die Suche einfacher.
Er ging in eines der Gasthäuser und bestellte Essen und Trinken.
Er musste nur stillsitzen und zuhören.

Nach einer Liebesnacht mit einem leichtsinnigen Mitglied der Bruderschaft der Archivare, erhob sich der Metamorph neben der noch warmen Leiche und kleidete sich sorgfältig an. Er hatte alles erfahren, was er wissen musste. Er raubte dem Toten Mantel, Papiere und Geld und ging leise die Stufen des Gasthauses hinunter. Außerhalb des Gebäudes dämmerte es, und die im Hinterhof angebundenen Reittiere der Gäste regten sich. Der Metamorph suchte sich ein Dromar aus. Als er das zottelige Tier berührte, begann es zu zittern.
Das Dromar spürte instinktiv, dass die Frau, die es sah, keine Frau war; dass hier etwas Grauenhaftes vor ihm stand. Dennoch hielt es still, als der Gestaltwandler aufsaß, sich vornüberbeugte und die Zügel löste.
Dann ritt der Metamorph hinaus in den frühen Morgennebel und nahm jene Straße, die nach Süden führte, nach Corpus Mortui. Jene Straße, die auch sein Opfer vor einer Woche genommen hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 16.11.2011

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