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Dienstag, 17. Juni 2008

Harald Hansens Gehirn wehrte sich lange gegen den penetranten Piepston und gab endlich doch den Aufwachbefehl. Seine rechte Hand suchte in gewohnter Weise tastend nach dem Handy auf dem Nachttisch, erfühlte aber nur eine warme Schulter. Es dauerte drei weitere Piepstöne, bis Hansen klar wurde, dass er nicht zu Hause, sondern bei Nadja im Bett lag, weshalb sich sein Handy nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite des Bettes befand. Die linke Hand war nun wach genug, um das nervige Gerät zu finden. Wenn er Bereitschaftsdienst hatte, übernachtete Hansen in der eigenen Wohnung in Hamburg-Alsterdorf. In dieser Nacht war er nicht dran und lag deshalb im Bett seiner Freundin in Rahlstedt. Das stockdunkle Schlafzimmer signalisierte ihm, dass es mitten in der Nacht war. Wer, zum Teufel, rief ihn jetzt an?
»Ja, verdammt!«, meldete er sich flüsternd.
»Harry, hier ist Thomas. Habe ich dich geweckt?«
»Blöde Frage, nachts um …«, Hansen schaute auf die rot leuchtenden Ziffern des Digitalweckers, »… 4 Uhr!«
»Tschuldigung, ich weiß, unser Team ist eigentlich nicht dran. Aber ich glaube, du solltest herkommen und dir das anschauen.«
»Was anschauen?«
»Die Leiche. Ein Kollege des Bereitschaftsdienstes hatte mich angerufen. Er meinte, es könnte sich um unseren Täter von gestern handeln und fragte, ob wir den Fall übernehmen wollen. Nachdem ich mir den Fundort angesehen habe, denke ich, er hat Recht. Alles sieht genauso aus wie gestern. Ich fürchte, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun!«
»Ach du Scheiße! Okay, wohin muss ich kommen?«

Hansen schlich in der Dunkelheit mit nach vorn ausgestreckten Armen in Richtung Schlafzimmertür, fand nach einigem Herumtasten die Klinke und konnte endlich auf dem Flur das Licht einschalten. Er warf einen Blick zurück auf Nadja, die friedlich schlief. Dann schaute er an sich herab. Der neue Schlafanzug, den Nadja ihm geschenkt hatte und der seinem vorgewölbten Bauch schmeichelte, war wirklich schick – aber absolut ungeeignet, um darin einen Tatort aufzusuchen. Er fluchte, ging zurück ins Schlafzimmer und holte seine alten Lieblingsklamotten, die Nadja schon zweimal in den Müll schmeißen wollte. Er verzichtete auf den Gang ins Bad, beschränkte die Morgentoilette darauf, sich mit den Fingern durch den grauen Haarwust zu streichen und zog sich an. Auf leisen Sohlen schlich er in die Küche, denn er wollte Nadja und vor allem ihre kleine Tochter Mareike auf keinen Fall wecken.
Was hätte er der Lütten denn sagen sollen, warum er mitten in der Nacht wegging? Ich muss mal wieder eine Leiche begutachten, da läuft so ein Irrer rum, der Menschen tötet. Und Onkel Harry muss den Kerl kriegen. Er zog es vor, unbemerkt zu verschwinden.
Er schrieb eine kurze Nachricht auf einen von diesen kleinen, gelben Notizzetteln mit dem Klebestreifen, bappte ihn an die Kühlschranktür und verließ die Wohnung.
Er brauchte zwanzig Minuten, um den Fundort am Rande des Öjendorfer Parks zu erreichen. Der Öjendorfer Park! Hier hatte schon mal eine üble Geschichte begonnen. Drei Flutlichtstrahler, die von den Kollegen der Spurensicherung aufgebaut worden waren und einen Teil des Geländes grell erleuchteten, wiesen ihm den Weg. Schon von Weitem konnte er den Rotschopf seines hoch gewachsenen Kollegen erkennen. Zu Oberkommissar Thomas Bernstein hatte Hansen seit der gemeinsamen Arbeit am Fall Ryschkow ein besonderes Verhältnis, das man fast als Freundschaft bezeichnen konnte. In der Regel bevorzugte Hansen eine seiner Meinung nach angemessene Distanz zu seinen Kollegen. In der für ihn typischen, gemächlichen Art schlurfte er dem Schauplatz entgegen.
Bernstein zuckte erschreckt zusammen, als Hansen ihm von hinten auf die Schulter tippte.
»Oh, du warst aber schnell!«
»Ich war bei Nadja«, erwiderte Hansen. »Von Rahlstedt aus ist es nicht weit. Das gleiche Muster wie gestern?«
»Exakt. Eine Frau, nackt, liegt da mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen, der Spiegel … Naja, sieh es dir selber an.«
Hansen näherte sich. Der Rechtsmediziner Heinrich Peters, ein kleiner Mann mit Glatze und rahmenloser Brille, kniete neben der Leiche.
»Moin, Harry.«
Peters beschränkte sich in der Regel auf das Notwendige. Hansen mochte genau das an ihm. Peters war der einzige echte und langjährige Freund, den Hansen hatte.
»Moin, Heinrich. Nummer zwei?«
»Eindeutig Nummer zwei.« Er hielt mit seiner mit einem Gummihandschuh bekleideten Hand einen Spiegel hoch, der etwa die Größe eines DIN-A5-Blattes hatte, ein billiges Teil mit einem Plastikrahmen und einem ausklappbaren Metallständer auf der Rückseite.
»Der lag auf ihrem Gesicht, befestigt mit Klebeband, genau wie bei der anderen. Und darunter …«
Peters zeigte mit der anderen Hand auf den Mund des Opfers. Hansen wühlte in seiner Jackentasche, holte eine Lesebrille heraus, setzte sie auf und beugte sich über das Gesicht der Toten. Es war genau wie gestern. Nach über dreißig Jahren Polizeidienst, in denen er immer davon verschont geblieben war, erwischte es ihn doch noch. Er musste einen Serienmörder finden.
Der Mund der toten Frau war sorgfältig mit einem durchgehenden Faden zugenäht worden. Linksseitig an der Unterlippe hatte der Mörder begonnen und das Fadenende mit einem Knoten gesichert. Anschließend führte der Faden durch die Oberlippe, dann diagonal wieder hinab zur Unterlippe und weiter nach oben. Es war eine saubere Arbeit, die insgesamt sieben Einstiche waren in gleichmäßigen Abständen gesetzt. Trotzdem sah es nicht aus, als hätte ein Chirurg eine Wunde vernäht. Blutungen waren nicht zu erkennen. Was hatte Bernstein gesagt? »Exakt«. So war es.
»Kannst du schon was sagen, Heinrich?«, fragte Hansen.
Peters wiegte bedächtig seinen kahlen Kopf. »Fundort ist nicht gleich Tatort. Das ist immerhin klar. Beim Todeszeitpunkt wird es schon schwieriger. Wir wissen ja nicht, wie lange und bei welchen Temperaturverhältnissen die Leiche gelagert wurde, bevor der Mörder sie hier abgelegt hat. Einige Faktoren kann ich erst bestimmen, wenn ich weitere Untersuchungen vorgenommen habe.«
»Und was schätzt du?«
»Grob geschätzt hat sie etwa vier Stunden hier gelegen, wurde also zwischen Mitternacht und ein Uhr hergebracht. Zu der Zeit hatte die Leichenstarre noch nicht eingesetzt. Ich schätze, sie starb zwischen 22 und 23 Uhr, plus minus eine Stunde, wenn sie vor dem Transport bei einer normalen Zimmertemperatur gelagert wurde. Die Todesursache dürfte allem Anschein nach Sauerstoffmangel sein, sprich Tod durch Ersticken. Keine Würgemale, ich tippe auf eine Plastiktüte oder ein ähnliches Hilfsmittel.«
»Ist dir sonst noch was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«
»Ja, sie muss vor Kurzem eine Diät gemacht und dabei deutlich abgespeckt haben. Sieh dir die Haut am Bauch und an den Oberschenkeln an. Die konnte sich dem neuen Umfang nicht mehr anpassen.«
»Danke, Heinrich, das hilft uns echt weiter.«
Hansen ging ein paar Schritte rückwärts, ohne die Tote dabei aus den Augen zu lassen, wie ein Fotograf, der den Bildausschnitt seiner Kamera vergrößern möchte. Die Frau lag auf der Wiese, als hätte der Mörder sie zur Schau stellen wollen. Sie lag nicht abseits irgendwo versteckt im Gebüsch, sondern auf dem Rasen direkt neben dem Weg, der vom Parkplatz in den Park hineinführte, wenige Meter neben dem Stamm eines mächtigen Baumes, dessen ausladende Äste wie ein hohes Dach über sie ragten. Hansen kannte sich mit Bäumen nicht aus. Er tippte auf eine Kastanie. Die Frau lag so, dass jedem zufälligen Passanten ihr Intimbereich präsentiert worden wäre. Ihre großen Brüste hingen seitlich am Oberkörper herab. Die Arme lagen ausgestreckt im rechten Winkel zum Körper, wie bei einer Gekreuzigten, der Mund zugenäht, die Augenlider geschlossen. Der kühle Nachtwind wehte eine Haarsträhne auf ihr Gesicht, das mit den heruntergezogenen Mundwinkel und den zahlreichen Falten, die eindeutig keine Lachfalten waren, auf Hansen einen verbitterten Eindruck machte.
»Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte er Bernstein, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden.
»Alles wie gestern«, antwortete der junge Kollege. »Die Kleidung, der Schmuck, die Handtasche mit Papieren und Geld, alles lag säuberlich zusammengelegt und aufgeschichtet neben ihr. Die Sachen sind schon auf dem Weg ins Labor.« Er klappte seinen Notizblock auf. »Sie heißt Helga Theresa Steinburg, ist achtundfünfzig Jahre alt und wohnt ganz in der Nähe, in der Sterntalerstraße.«

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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2011

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