Aus Kapitel 8:
15:30 Uhr
Jetzt hatten sie also das Malheur. Noch eine Tote und schon wieder mit sexuellem Hintergrund. Und, was natürlich ansonsten noch niemand wissen konnte, Müller hatte es offensichtlich auch erwischt. Aber ob die Polizei hierzu überhaupt irgendwann mal Erkenntnisse erhalten würde, war ihm natürlich völlig unklar. Der Italiener hatte ihm hiervon am Telefon zwar erzählt, aber keine weitergehenden Erklärungen abgegeben. Wer weiß schon, in welchem Loch der Müller hatte verschwinden lassen.
Wie hatte er Paul Müller nur erwischen können? Und vor allem, was hatte er von ihm gewollt? Offensichtlich hatte er es aber nicht bekommen, denn die Sache war noch nicht zu Ende. Er hatte ihm gesagt, es sei jetzt wichtig, dass sie den zweiten Täter finden würden und er auch diesen dann wieder vor der Polizei in die Finger bekäme.
„Damit Sie den Scheißkerl ebenfalls noch umbringen können“, hatte er ihm ins Telefon gebrüllt.
„Na und“, kam die lapidare und eiskalte Antwort, „wäre das nicht verdient nach dem, was er mit dem Mädchen alles veranstaltet hat?“
„Aber Sie können doch nicht durch die Gegend laufen und einfach so Leute umbringen! Und ich helfe Ihnen dabei jedenfalls nicht mehr. Hätte ich gewusst, was sie vorhaben, hätten Sie von mir nicht eine einzige Information bekommen“, das sagte er sich zumindest in seiner Theorie vor.
„Wer hat denn überhaupt behauptet, dass ich den Typen umgebracht habe? Ich habe ihnen nur gesagt, dass er tot ist, mehr nicht. Und jetzt stellen Sie sich nicht so an, sonst sind Sie geliefert, das schwöre ich Ihnen“, war die drohende Reaktion des Italieners gewesen und die Angst war ihm dabei wieder eiskalt den Rücken runtergelaufen. Wie konnte er das nur abwenden? Musste er da wirklich ohne Ausweg mitspielen? Aber hier ging es nicht mehr nur noch um seinen Ruf, seine Stellung und sein Ansehen, hier ging es offensichtlich jetzt um wesentlich mehr, schlimmstenfalls sogar um seine Gesundheit oder gar sein Leben. Müller hatte er schon auf dem Gewissen und nun bedrohte dieser Scheißkerl tatsächlich auch sein Leben und er konnte überhaupt nichts dagegen tun. Er kannte ja nur diese Furcht einflößende Stimme vom Telefon und würde den Kerl nicht einmal erkennen, wenn er nur einen Meter entfernt von ihm stünde.
„Hören Sie gut zu“, sagte die Stimme am Telefon, jetzt wieder etwas ruhiger, „die beiden besitzen etwas, das mir gehört und das ich wieder haben will. Müller hatte es aber offensichtlich nicht, daher muss ich vor der Polizei mit dem anderen Typen reden. Wenn er mir mein Eigentum herausgibt, verschwinde ich und Sie sind aus dem Schneider. Also helfen Sie mir, dann sind Sie mich vielleicht schneller los als erhofft. Anderenfalls …“
Der Italiener hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen, sondern einfach nur mittendrin aufgelegt. Dramaturgisch geschickt, denn die unausgesprochene Drohung beflügelte automatisch die Fantasie seines Gesprächspartners und vergrößerte zusätzlich die ohnehin schon vorhandene Panik.
Aber nicht nur das. Zum allerersten Mal hatte dieser Mistkerl nicht aufgepasst. Er hatte ihn einwickeln und sich weiterhin seiner Mitarbeit versichern wollen und dabei war ihm dummerweise ein Fehler unterlaufen. Nur ein kleiner, aber der würde ihm möglicherweise in Zukunft noch richtiges Kopfzerbrechen bereiten.
∞ 17:00 Uhr ∞
Der Anruf kam gegen 16:15 Uhr und er kam von der zuständigen Polizeiinspektion 22 in Bogenhausen. Am Stauwehr in Öberföhring am Eingang des mittleren Isarkanals schwamm offensichtlich eine männliche Leiche im Wasser. Was hatten sie nur angestellt? Diese Woche gab es unnatürliche Tote wie im Sonderangebot. Eigentlich hatten Tanja und Stefan vorgehabt, am heutigen Samstag ausnahmsweise einmal etwas früher Schluss zu machen, denn die Fahndung nach Paul Müller lief und auch hinsichtlich der zweiten Toten waren alle Aufträge erteilt. Es würde jetzt mindestens bis morgen dauern, bis die ersten Erkenntnisse von SpuSi und Gerichtsmedizin vorlägen, deshalb hätten sie sich heute noch mal ein paar freie Stunden machen können.
Und jetzt das, ein dritter Toter. Wer das noch auffangen sollte, war Stefan momentan völlig schleierhaft. Aber Rumjammern half nicht, dachte er, schon Richtung Auto hetzend, mit Tanja nur zwei Schritte hinter sich im Windschatten. Auf dem Weg nach Oberföhring hingen beide ihren Gedanken nach, die unabhängig voneinander aber in die gleiche Richtung zielten – noch ein Mordfall und sie kämen bis August nicht mehr ins Bett. Sie bogen links auf die Heinrich-Mann-Allee ab, die unmittelbar bis zum Stauwehr führte. Auch dort fanden sie wieder das übliche Aufgebot an Einsatzfahrzeugen der Kollegen in Uniform vor, die schon von Weitem an ihrem grellen Rundumlicht erkennbar waren.
Die Leiche war gerade aus dem Wasser geborgen worden. Beide Kommissare näherten sich der Stelle, an der der tote Körper abgelegt worden war. Stefan sprach, seinen Dienstausweis vorzeigend, den nächststehenden Polizisten an, ob schon irgendwelche Erkenntnisse vorlägen. Bevor dieser noch verneinen konnte, hörte er den überraschten Ruf Tanjas, die sich bereits über den Toten gebeugt hatte: „Mein Gott, es ist Paul Müller!“ Stefan trat sofort hinzu, um sich den Toten anzusehen.
„Tatsächlich! So eine verdammte Schweinerei. Und was hat er da auf seinem Mund?“ Ein näherer Blick zeigte, dass über dem Mund des Toten ein breiter Klebestreifen klebte, so dass es dem Mann in keinem Falle möglich gewesen war, den Mund zu öffnen. Hier hatte jemand dafür gesorgt, dass Müller nicht mehr reden oder gar rufen konnte, vielleicht, aber das musste erst die spätere Untersuchung zeigen, hatte er sogar noch einen entsprechenden Knebel im Mund. Seine Arme lagen unter seinem Körper und wurden dort durch den völlig verhedderten Trenchcoat zusammengehalten. Versuche, die Arme hinter dem Rücken hervorzuziehen, blieben zunächst erfolglos, bis schließlich festgestellt wurde, dass beide Arme mit einem Seil straff aneinander gefesselt waren. Und damit stand dann wohl auch zweifelsfrei fest, dass Paul Müller in jedem Falle nicht plötzlich und überraschend an spontaner menschlicher Selbstentzündung gestorben war. Mord schien offensichtlich und damit war dann K11 schon wieder im Rennen.
Da war Müller gestern Abend vor der Polizei ausgerückt, um dann offenbar unmittelbar in die Arme seines Mörders zu laufen. Hatte er sich etwa mit dem zweiten gesuchten Täter getroffen, nachdem die Polizei bei ihm gewesen und ihn offensichtlich in Panik versetzt hatte? Dann hatte er sich aber bestens im Griff gehabt und eine fantastische Schauspielleistung hingelegt, denn Stefan hätte Stein und Bein geschworen, dass Müller gestern Nachmittag durch den Alkohol völlig außer Gefecht gesetzt war. Auf den ersten Blick waren äußerlich keine Gewaltanwendungen zu erkennen. Aber wenn solche dennoch vorhanden sein sollten, würde die Gerichtsmedizin dies schon feststellen. Jedenfalls hatte der Mörder Paul Müller dann in der Isar versenkt, denn mit nach hinten gefesselten Händen und der vollständigen Kleidung am Körper war es nicht möglich, sich längere Zeit in einem Fluss über Wasser zu halten. Und nach Hilfe hatte er auch nicht mehr rufen können.
„Das ist ja eine Riesenschweinerei“, entfuhr es Tanja. „Was machen wir denn jetzt? Den einen Täter nahezu überführt, und schon ist er tot. Vielleicht hat sein Partner ihn abserviert, um die Verbindung zu ihm zu unterbrechen. Jedenfalls müssen wir jetzt wieder nahezu bei Null anfangen. Was für eine Enttäuschung!“
„Weißt du Tanja, ich hatte da letzte Nacht eine Vision. Darin bin ich einen gigantischen Bagger gefahren, so ein richtiges Monsterteil mit mannshohen Rädern und einer riesigen Schaufel vorne dran. Das hat richtig Laune gemacht“, sagte Stefan, dessen abwesender Blick langsam über die Flusslandschaft und den Kanal glitt. Tanja folgte neugierig diesem Blick in der Hoffnung auf eine tiefschürfende Erkenntnis, konnte aber weder in dem, was sie sah, noch in den Worten ihres Partners einen unmittelbaren Zusammenhang erkennen.
„Und, was soll das bedeuten?“, fragte sie schließlich ein wenig ungeduldig, weil sie irgendwie die Pointe noch nicht kapierte und er sie gerade mal mächtig auf die Folter spannte.
„Ich glaube ehrlich, das war ein Zeichen. Das sollte mir sagen, dass ich als Bauarbeiter ganz bestimmt glücklicher werden könnte. Diesen Scheiß hier halte ich nämlich auf Dauer nicht mehr aus!“
Gott sei Dank. Tanja hatte schon befürchtet, es könnte was Schlimmeres sein.
„Na dann komm mal, du angehender Bauarbeiter“, sagte sie daraufhin trocken und mit einem leichten Grinsen. „Hier können wir im Moment ohnehin nichts ausrichten. Die anwesenden Kollegen des Dauerdienstes und der KT haben das soweit schon im Griff. Lass uns zu Mike fahren und da weinen wir beide uns gegenseitig dann ein bisschen Trost zu.“
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2011
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