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Leseprobe

Behutsam, als würden wir absinken in lang Vergessenes, näherten wir uns dem Dorf unten auf dem Grund. Der Motor schnurrte nur noch wie eine zufriedene Katze, aber die Sandkörner auf dem Weg schienen einzeln zu explodieren. Allmählich, im Diminuendo wi-chen die Akazien mit ihren weißen Blütenkerzen links und rechts respektvoll zurück, als hätten sie sich auf diesen Empfang lange vorbereitet. Vorsichtig wie Archäologen, die gerade im Begriff sind, einen Jahrtausende alten, unberührten Schatz zu heben, glitten wir den Sandweg hinab auf den Grund. Erste Häuser tauchten auf, grau, leblos, tot.
Die lange Brunnsuttenstraße hinunter zum Glockenturm an der Kreuzung lag wie eine Schlange vor uns, eingerahmt von Häusern nach Art der Straßendörfer, dicht aneinandergedrängt nebeneinan-der, ihre Fronten der einzigen Straße zugewandt, mit dahinterliegenden Wirtschaftsgebäuden, Scheuern, Gärten und Feldern.
Sollte ich mich an diese trostlose Straße erinnern, auf der damals Panzer siegessicher nach Osten zogen und einige Zeit später ganz andere Panzer siegreich heranrollten? Wie viele Völkerschaften mochten bereits diesen Weg gegangen sein, hin und zurück? Um 1250 herum, das hatte ich gelernt, sollen sie von Westen hergekommen sein, um in dieser Gegend sesshaft zu werden, denn es ist belegt, dass dieser Ort schon im Jahre 1192 eine Pfarre war. Die frühe Besiedlung ging der späteren Katastrophe von Unrecht und Vertrei-bung voraus.
Immer wieder rücksichtslose Wechsel nationaler Machtansprüche, plündernde, brandstiftende Hunnen, Kelten, römische Legionen, Slawen, kaiserliche Truppen und ungarisches Kriegsvolk prägten diesen Landstrich, zerstörten und befruchteten es gleichzeitig.
Mit diesen Gedanken beschäftigt erreichten wir den Glocken-turm, bogen scharf links in die Moßkowitzer Straße ein, gelangten zum Markplatz, dem Binderplatz, und ließen die Räder ausrollen. Der Wagen blieb mitten auf dem größten Platz der Welt einfach stehen. Aus. Stille.
„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen“, hatte der Unheimliche von der Tankstelle gesagt. Wir aber waren am Ziel ange-kommen.
Es war später Vormittag und strahlender Sonnenschein. Nichts bewegte sich um uns herum, das Dorf schien verlassen worden zu sein, wirkte wie ausgestorben. Aber wir hatten das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, misstrauisch, ängstlich, hinter zuge-zogenen Gardinen und mit gespitzten Ohren.
Mein „größter Platz der Welt“, in der Form eines unregelmäßigen Vierecks, als Marktplatz das lebhafteste Zentrum meiner Kindheit, Ursprung all meiner grundlegenden, prägenden Kindheitserlebnisse, war geschrumpft auf 15 mal 15 m und lag ohne Leben vor uns.
Erinnerungen an langhalsige Gänse und zweispännige Leiterwägen mit starken Rössern, an das Hüh und Hott von pfeifenrauchen-den Bauern auf dem Kutschbock, ihr Peitschen in der Luft, an Kühe und Ochsenfuhrwerke mit ihrer Last, an das Aroma der Maulbeer-bäume und an hochfliegende Schwalben wurden in mir lebendig.
Nichts davon regte sich jetzt.
Nur aus dem Schulgebäude kam, als wäre ich es selbst, ein etwa siebenjähriger Knabe, schaute kurz zum Lindenbaum hinauf – was suchte er da wohl? – lief dann verträumt, verspielt über die Straße zum Feuerwehrdepot hinüber, dann zur Milchgenossenschaft daneben, hinauf zum Kirchberg, dem abenteuerlichsten Hügel der Welt von mindestens zehn Meter Höhe, auf dem sich die altgotische Kirche von anno 1220, das massive, schlossähnliche Pfarrhaus von 1776 und der schon annähernd 700 Jahre alte, ummauerte Friedhof mit romanischem Beinhaus befanden. Hier, auf dem höchsten Berg der ganzen Gegend, setzten wir uns nieder und schauten auf den uns gegenüberliegenden Akazienhügel mit der darunterliegenden Müh-le, dem letzten Gebäude vor den beginnenden Weinkellern, auf das Haus Nr. 94.
Ich hatte den Weg des Knaben mit heftigster Anteilnahme ver-folgt, und auch meine Blicke blieben an der Mühle haften. Mir war, als sei ich es selbst, der gerade aus der Schule käme, hätte sehnsüchtig zum Lindenbaum hinaufgeschaut nach meiner ersten Uhr, die Frau Lehrerin vor Zorn aus dem Fenster geworfen hatte mit den Worten: „Du träumst schon wieder, Alois. Damit ist jetzt Schluss!“ Die Uhr, mein kostbarster Besitz, war für ewig im Duft des Lindenbaum hängen geblieben. Eine solche Uhr hatte ich nie wieder be-kommen!
„Lass uns zur Mühle hinübergehen“, unterbrach ich das Schwei-gen.
Der Weg über den Platz war im Zeitraffer von 50 Jahren die Überquerung bis zu jener Tür, durch die ich zuletzt als Neunjähriger gegangen war, ehe wir vertrieben wurden.
Hatte ich mir diesen geschichtsträchtigen, von vielen Völkern und Kulturen befruchteten Ort zwischen Ost und West ausgesucht, um hier geboren zu werden, um mich zu dem, was ich geworden war, entfalten zu können? War der sich verströmende Geruch dieser Erde in mein Musizieren eingeflossen und so die Faszination der Menschen zu erklären? Zu lange hatte ich gebraucht, um zum Grund des Meeres, von dem ich aufgetaucht war, zurückzufinden! In die-sem Haus war ich geboren, hier erlebte ich meine Kindheit zwischen Mehlsäcken, dem Geräusch der mahlenden Mühlsteine, Akazienblüten und meinen drei Ziegen, die ich auf dem Kirchberg täglich hütete, zusammen mit einem Freund, den ich nie mehr wieder sah und dennoch nicht vergessen konnte.
Wir waren vor dem Haus stehengeblieben. Ich zögerte, an diese Tür zu klopfen. Sollte ich es überhaupt tun? Wer war hinter dieser Tür? Die Gardinen hatten sich schon länger bewegt.
Ich klopfte an. Das ganze Dorf schien es zu hören. Welche Ungeheuerlichkeit war da im Gange? Es tat sich nichts. Dann hörte ich schlürfende Schritte. Die Tür öffnete sich. Eine missmutige Alte mit ängstlichem Ausdruck und geduckter Haltung stand vor uns.
„Einen schönen guten Tag, ich komme aus …“, sagte ich. Weiter kam ich nicht. Die Alte schaute mich ungläubig an. Das auch für sie Unfassbare und doch zu lang Erwartete, Befürchtete, Unvermeidliche war nach 50 Jahren eingetreten. Als käme sie aus einem langen quälenden Alptraum, zeigte sie fassungslos mit ihrer Rechten auf den Boden, hielt inne, schaute mich an und deutete zweifelnd die Größe eines etwa neunjährigen Knaben an. Dann fragte sie zögernd: „Bist du der kleine Alois?“
Ich aber schaute über sie hinweg in den gekachelten, langen Flur und sah mich auf dem Flurboden spielen, draußen im geräumigen Hof herumtollen, hinübergehen zum Schweinestall mit meinen drei Schweinen und erinnerte mich an den beißenden Geruch. Nichts hatte sich verändert: der geschlossene Innenhof, vorne das Wohnhaus, auf der Rückseite die Ställe, mitten im Hof der Brunnen und hinten in die Ecke gedrückt, das Plumpsklo, und der Weg zur Küche und direkt in die Mühle.
Hier, in diese Küche trat ich nun ein. Die Alte machte mir fast untertänig, heuchlerisch Platz.
„Alles ist geblieben, wie es früher war …“, beeilte sich Maria, die Alte, ohne Aufforderung zu erklären. „Alles! Sogar dieselben Möbel stehen noch am gleichen Platz – wie damals! Hier, siehst du, die Kredenz, den Ofen mit den Ringen!“
Wie in Trance streiften meine Blicke durch den Raum. Meine Kindheit kam langsam auf mich zu, wurde gegenwärtig. Die dramatischen Ereignisse kurz vor der Vertreibung.
„Wir mussten alles bezahlen, alles hier“, redete die Alte auf mich ein. „An den Staat, an diesen Staat!“ Sie meinte damit wohl, dass sie die Mühle, den Garten, die Felder nicht geraubt hätten, sondern erworben durch harte Arbeit und eigenes Geld.
Ein weißhaariger Alter, Marias Mann, kam vom Hof her in den Flur. Wir sahen uns an, abtastend. Dieses hasserfüllte Gesicht, jetzt faltig und zermürbt, hatte ich schon einmal über mir gesehen, ja, die Mordlust und der stumme Schrei in diesen Augen – „Kreuzigt sie!“
Je länger ich die beiden Ergrauten ansah, desto deutlicher trat die Erinnerung hervor. Waren es nicht dieselben Menschen, inzwischen voller Angst gealtert, von denen meine Familie aus der Mühle in den hintersten Schweinestall zu den Schweinen gesperrt wurde, in den Kot der Schweine, während sie vorne als Herren lachend einzogen?
„Wir sind bettelarm, Alois, schau dich um! So ist es uns ergangen. Inzwischen sind wir alt und schwach“, jammerte der Weißhaarige.
„Unsere Rente reicht nicht einmal für das Grab.“ Und er fügte hinzu: „Wir mussten dem Staat alles bezahlen. Und ihr – ihr seid reich!“
Maria, die Alte, seine Frau, nickte. Sie stand an demselben Herd wie meine Mutter damals, schob ein Holzscheit in die Glut und rückte die Ringe auf der Herdplatte zurecht. Betroffen bemerkte ich, wie sich ihr Bild in mir veränderte und das besorgte Gesicht meiner Mutter auftauchte. Sie bot mir den Platz an, auf dem ich mit meinem größeren Bruder Hubert um die besten Happen auf dem Tisch ge-kämpft hatte – wie so oft in den glücklichen ahnungslosen Tagen meiner Kindheit zwischen dem Beginn des zweiten Weltkriegs 1939 und dem daraus folgenden lang anhaltenden Trauma der Vertreibung aus Olkowitz und Südmähren am 18. August 1945.

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Tag der Veröffentlichung: 18.02.2011

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