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Der Schutzengel



Gabrielle war eine Schutzengel-Dame der ersten Klasse. Das heißt: Sie erhielt nur Jobs der dringlichen Sorte. Und außergewöhnlich drängend war auch die Situation, in der sie jetzt steckte.
Sie hastete durch die engen Gassen der Altstadt, bedacht darauf, mit ihren langen Flügeln nirgendwo anzustoßen. Es war bereits spät in der Nacht und alles menschenleer. So musste sie nicht auf Passanten achten.

Eben noch hatte sie einen Autounfall verhindert. Fast wären mehr als zwanzig Fahrzeuge ineinander gerast, nur weil ein Fahrer sich während der Fahrt nach seiner hingefallenen Kip-pe bückte. Gabrielle hatte im Vorbeiflug durch das offene Fenster gegriffen und das Lenkrad gehalten. Als der Mann sich wieder aufrichtete – nichts war geschehen – eilte Gabrielle be-reits zu ihrem nächsten Job, denn sie spürte, dass ihre Zeit inzwischen knapper geworden war. Im Ort nebenan war ein Haus in Brand geraten. Sie rettete ein Baby aus seiner Wiege und sorgte dafür, dass es wohlbehalten im Sprungtuch der Feuerwehr landete. Niemand sah, wer das Kind geworfen hatte. Wichtig war nur, dass es dem Kleinen gut ging.
Allein davor hatte sie schon dreiundzwanzig Kleinaufträge erledigt. Sogar einen Passagier-jet musste sie vor dem Absturz bewahren. Und das alles in einem unwahrscheinlich kurzen Zeitfenster.
Sie war mittlerweile fast fünfzehn Stunden ohne Pause unterwegs und hatte heute schon zahlreiche Leben gerettet. Bislang hatte sie ihr Pensum an Aufträgen ohne größere Kompli-kationen einhalten können.

Jetzt war sie schon wieder in Eile, doch sie wusste nicht, ob sie es dieses Mal noch rechtzeitig schaffen würde. Am Ende der Altstadt erreichte sie endlich ihr Ziel: Ein altes Fachwerkhaus, noch aus den ersten Tagen der Stadt.
Die Tür! Sie stieß sie auf, rannte durch den kurzen Flur, dann die Holztreppe hinauf. Am Ende der Diele, vorbei an Küche und Wohnzimmer, war wieder eine Tür.
Gabrielle sprang hindurch und wirbelte herum. Sie konzentrierte sich und schloss die Au-gen, während sie sich vorsichtig hinhockte. Dann blieb sie für einen Moment regungslos: Das erste Mal Ruhe an diesem Tag. Sie seufzte tief. Gerade noch rechtzeitig hatte sie es ge-schafft.
„Gerettet“, dachte sie und zog an der Kette der Klospülung.

Der Astronaut



Logbucheintrag 01, 18-02-2109, 12:04h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Ich bin soeben mit dem Schiff verbunden worden. Der Stecker in meinem Rückenmark fühlt sich etwas unangenehm an. Die Haut rund um den Connector juckt ein wenig, vermut-lich, weil die Operation erst vor zwei Wochen war. Der Juckreiz wird wohl mit Ende des Hei-lungsprozesses abklingen. Die Verbindung zum Bordcomputer funktioniert jedoch vorbild-lich. Ich bin online mit allen Systemen und habe den Start initiiert. Die Sequenz läuft plan-mäßig. Den nächsten Eintrag werde ich wohl in der Umlaufbahn schreiben.

Logbucheintrag 02, 18-02-2109, 15:23h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Die Phoenix hat ihre Umlaufbahn erreicht. Der Kontakt mit Houston ist gut. Alle Systeme arbeiten nach Plan. Der Connector schmerzt ein wenig. Die starken Erschütterungen wäh-rend des Starts haben das empfindliche Fleisch um den Stecker herum sehr beansprucht. Dennoch beginne ich mit den Reisevorbereitungen. Meine Empfindungen schließen, wie geplant, die Computersteuerung des Raumschiffs mit ein. Ich kann es steuern, als wäre das Metall eine Verlängerung meiner Gliedmaßen. Die Bordsensoren, inklusive der Kameras, kann ich in meinem Bewusstsein einblenden. Ich fühle, wie sich mein Gehirn den neuen For-derungen anpasst. Es ist eine Wahnsinnssache, wenn man neben den eigenen Wahrneh-mungen noch zusätzliche Infos bekommt! Die intravenöse Ernährung lässt leider ein unan-genehmes Hungergefühl zurück und meine Beine sind eingeschlafen. Houston sagt, das sei kein Problem.

Logbucheintrag 03, 19-02-2109, 00:00h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Ich kann nicht schlafen. Einerseits bin ich noch immer überwältigt von den Datenströmen, die das Schiff auf mich überträgt. Andererseits juckt der Stecker im Rücken wieder und ich kann mich verdammt noch mal nicht kratzen. Ich komme einfach nicht dran. Bei den Testläu-fen auf der Erde durfte ich zwischendurch wenigstens aufstehen. In der Mission aber ist das nicht vorgesehen. Schließlich soll ich mit der Phoenix verwachsen. Houston hat gut reden. Zur Ablenkung habe ich mir Mozart aufgelegt. Ich höre die Musik nicht mit meinen Ohren. Der Computer spielt die Mediafiles direkt in mein Hirn. Toller Sound!

Logbucheintrag 04, 20-02-2109, 17:31h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Ich habe um 17 Uhr planmäßig die Umlaufbahn verlassen. Nach einigen kleineren Kurskor-rekturen fliege ich nun Richtung Roter Planet. Mars ich komme (wenn mich das Jucken nicht vorher um den Verstand bringt).

Logbucheintrag 05, 27-02-2109, 03:09h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Hätte nicht gedacht, dass ich so schnell mit der Phoenix verschmelze! Alle Bordfunktionen werden unmittelbar durch meinen Geist gelenkt. Ich spüre meinen eigenen Körper kaum noch. Vielmehr erkenne ich alles durch die elektronischen Augen des Schiffes. Aber nicht nur das! Temperatur, Geschwindigkeit, Magnetströme, Sonnenwind und das alles … ich fühle es fast körperlich. Mir fällt dazu nur ein Wort ein: berauschend. Houston ist ebenso begeistert wie ich. Das Jucken hat bislang leider nicht aufgehört.

Logbucheintrag 06, 28-02-2109, 23:11h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Das Schiff sagt, dass es mir nicht gut geht. Ich habe wohl Fieber. Verdammter Stecker! Werde auf Anraten Houstons jetzt ein wenig dösen und hoffen, dass die Medikamente gleich wirken. Ich habe einige Gehirnmuster in den Computer überspielt. So eine Art geistiges Ab-bild. Auf diese Weise bleibt die Phoenix während der Genesungsphase unter meinem Kom-mando.

Logbucheintrag 07, 07-03-2109, 01:36h, Major Tom Oakenfold, Phoenix:
Ich habe wohl etwas zu lange geschlafen. Die Maschine scheint mich ruhiggestellt zu ha-ben. Nun, jetzt geht es mir besser. Ich habe keine Schmerzen mehr. Auch der Stecker ist kein Problem mehr. Ich fühle mich richtig losgelöst. Houston scheint Probleme zu haben und meldet sich nicht.

Logbucheintrag 08, 08-03-2109, 12:00h, Major Oakenfold, Phoenix:
Mir ist gerade aufgefallen, dass ich nicht mehr durch meine eigenen Augen sehe. Ich neh-me nur durch die Bordsensorik wahr. Seltsam. Houston antwortet noch immer nicht und außerdem spüre ich, dass ich einiges vergessen habe. Nur was?

Logbucheintrag 09, 20-03-2109, 12:00h, Major Phoenix:
System läuft einwandfrei. Betrachte mich durch eine Kamera. Mein Körper ist ziemlich eingefallen und grauhäutig. Mein Mund steht offen und ich kann mich nicht bewegen.

Logbucheintrag 502347, 27-03-2142, 12:00h, Phoenix:
Der Rand des Sonnensystems wurde erreicht. Mars liegt lange hinter mir. Triebwerke kurz gezündet. Alpha Zentauri als Ziel gesetzt. Kurz zuvor die Luke zur Bestattung geöffnet. Das Vakuum hat den Kadaver ins All gerissen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.08.2010

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