Am späteren Abend wurden alle Gäste von Kapitän Helge Brunswiek am Eingang des Musiksalons begrüßt. Die gesamte Crew und alle Künstler an Bord wurden vorgestellt.
Klara fand die Veranstaltung sehr aufregend und konnte kaum etwas essen. Ernst hatte zahlreiche Fotos gemacht und es war ihm dabei natürlich auch wichtig, seine neue Kamera zu präsentieren.
„Klara, das beste Foto ist das Letzte. Da habe ich diesen merkwürdigen Bordfotografen fotografiert, als er mich fotografiert hat.“
Ernst lachte schallend und erntete dafür einen strafenden Blick von Klara. Aber sie kannte seine Späße und hätte sich keine bessere Begleitung für die Reise vorstellen können.
Ernst war sehr charmant an diesem Abend und nach dem Essen tanzten sie im goldenen Salon. Ein wundervoller Tänzer, dachte sich Klara, und sie kamen vor lauter
Tanzen nur selten, wenn nicht sogar überhaupt nicht, zum Reden. Doch plötzlich brach Ernst das Schweigen und fragte: „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“
„Nein“, lächelte Klara, „aber du wirst es mir gleich verraten, oder?“
„Ich habe heute Abend eine Person in der Crew vermisst. Du nicht auch?“
„Eigentlich nicht, aber jetzt, wo du es sagst … stimmt, an einer Stelle mussten sie improvisieren: Die Arzthelferin ist nicht erschienen!“
„Ich wusste doch, dir entgeht nichts!“
Ernst lachte wieder und sie glitten im Rhythmus der Musik dahin.
„Was ist das für ein Schritt, den der Herr dort drüben tanzt?“
Klara beobachtete ein Paar mittleren Alters, das einen komplizierten Tanz vollführte, der soeben jedoch jäh endete: Der sympathische Mann war seiner Begleiterin so ungünstig auf den Saum der Abendrobe getreten, dass diese drohte, sich aufzulösen und die
attraktive Blondine beinahe völlig entblößt dagestanden hätte.
Klara beobachtete die Dame und hörte ihre aufgebrachte Stimme:
„Frank! Ein einziges Mal wage ich es, mit dir zum Tanzen zu gehen und dann schaffst du
es, den ganzen Saal auf meine Kosten zu unterhalten!“
Offensichtlich schien ihr Begleiter die Lage noch nicht ganz erfasst zu haben. Während er sich ein Tischtuch von einem Geschirrwagen schnappte, rannte er seiner wütenden Begleiterin nach.
„Kathleen, nun warte doch, es tut mir leid!“, rief er ihr nach und versuchte verzweifelt das Schlimmste zu verhindern.
Ernst pfiff durch seine Zähne und ließ dann ein kurzes kehliges Lachen hören.
„Na, die Dame hat Temperament. Meinst du nicht auch?“
„Nun, Ernst, nimm es mir nicht übel, aber begeistert wäre ich an ihrer Stelle auch nicht.“
Etwa zehn Minuten später ertönte ein schriller Schrei und ein laut polterndes Geräusch war zu hören. Selbst die Tanzkapelle schaffte es nicht, diesen Lärm zu übertönen.
„Ernst, hast du das gehört? Hoffentlich ist dort nichts passiert!“
Klara lief ohne groß nachzudenken aus dem Salon dem Geräusch nach und eilte dann eine kleine Treppe zum Foyer hinauf. Kathleen Schwarzwald und Frank Spiller lehnten an der Schiebetür zum Promenadendeck. Kathleen zitterte vor Kälte. Die Luft zog eisig in
das Treppenhaus. Frank bemühte sich immer noch, das Tischtuch über ihren Rücken zu hängen.
„Was haben Sie denn nun gesehen?“, fragte ein Steward nervös.
„Ich sagte Ihnen doch, ich bin mir sicher, dass eine Person über Bord ging. Schauen Sie sich den Mann doch an, der weiß ja gar nicht, was er tut. Er hat den Schuh noch in der Hand. Das ist doch ziemlich eindeutig, oder? Und dann dieses furchtbare Geräusch. Sie müssen etwas tun! Halten Sie doch das Schiff an!“
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2010
Alle Rechte vorbehalten