Leseprobe
Aus Kapitel 1:
Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, wusste ich, dass meine Mutter gemeinsam mit meiner Schwester und meinem neuen Stiefvater weg sein würde. Ich spielte auf dem Heimweg mit einem Jungen, und wir beschlossen, nachmittags weiter zu spielen. Zu Hause waren noch letzte Reste von den Festen. Ungespülte Teller stapelten sich im Waschbecken, vollgerauchte Aschenbecher standen in eingetrockneten Weinflecken auf den Tischen, die Katzen schliefen satt und glücklich zusammengerollt inmitten des Drecks. Anscheinend hatten sie die Teller ein bisschen vorgespült und sich die leckersten Reste von ihnen geklaut. Die Styroporkisten vom Partyservice stapelten sich in der Küche. Mir war ihr Wert nicht bekannt. Als der Junge nachmittags zum Spielen kam, spielten wir Zoo. Wir nahmen die Kisten als Käfige, hauten Löcher hinein, damit die Tiere atmen konnten, und reihten sie alle hübsch säuberlich auf. Den ganzen Tag spielten wir. Als er ging, ging ich ins Bett, die anderen waren noch nicht zurück und ich hatte nicht zu Abend gegessen.
Ich wurde wach, vom hysterischen Schimpfen meiner Mutter: „Dieses Kind ...“ Es ist komisch, aber in meiner Erinnerung war ich immer „dieses Kind“, irgendetwas Nicht-Zugehöriges, was zufällig mal da war. Meine Schwester war immer „meine Tochter“. Sie war ihre ganze Kindheit lang ein Traumkind, so ruhig, so unauffällig, dass sie an meinem Leben irgendwie total vorbeigegangen ist.
Es gab nie etwas gemeinsames, etwas, das uns verbunden hätte. Als kleine Einzelkämpferinnen buhlten wir, eine jede auf ihre Art, um die Liebe unserer Mutter und fanden dabei nicht zueinander.
So still wie sie war, so laut war ich. Ich war immer weg, in mir tobte es, ich fand mein Leben ungerecht, und das habe ich immer lautstark von mir gegeben. Heute weine ich leise.
Ich hatte Angst, als die Tür aufging, denn ich wusste, dass mich niemand fragen würde, wie mein Tag war, ob ich was gegessen hatte, ob es mir gut ging. Ich wurde von einer rauen, starken Hand am Nacken gepackt und an den Haaren aus dem Bett gezogen. Mein Stiefvater schleifte mich ins Wohnzimmer.
Meine Schwester saß still auf ihrem Stuhl und träumte sich in eine andere Welt. Ich weiß nicht, ob sie je auch nur ein bisschen von meiner Art zu leben verstanden hat. Definitiv hat sie immer verstanden, dass ich schwierig bin, und dass ich unserer Mutter viele Sorgen bereitete. Manchmal frage ich mich sogar, ob so mancher böser Gedanke durch ihren Kopf geht, wenn sie über den frühen Tod unserer Mutter nachdenkt.
Meine Mutter stand erst mit dem Rücken zu mir. Sie drehte sich schwer atmend um. Ein leicht alkoholischer Geruch strömte von ihr und meinem Stiefvater auf mich ein. Sie rauchte. Ihre Mimik war einer Theatermaske gleich zwanzig Jahre gealtert, ihre Figur war eine absonderliche Mischung aus graziler Dame und zerschlagener Frau. Sie sprach mit schwerer Stimme, sie schrie nicht, sie weinte schwermütig und hielt mir eine Predigt, die nicht enden wollte, und die – wie immer – allumfassend war. Die Wut über meinen Vater tauchte darin auf, über mein generelles Ich und überhaupt alles an mir. Immer wieder schaute sie meine Schwester und meinen Stiefvater bedeutungs- schwanger an, als ob sie dem noch schwerwiegendere Aspekte hinzufügen wollte. Sie beendete ihren Vortrag mit dem Satz: „Aber nun haben wir ja wieder einen Mann im Haus“, sie nickte meinem Stiefvater zu.
Er schob mich zurück in unser Kinderzimmer und legte mich über einen Stuhl. Ich weiß nicht mehr, ob es seine Hand oder sein Gürtel war, es erschien mir auf jeden Fall unendlich, und die Schmerzen zogen durch den ganzen Körper. Ich konnte so laut gar nicht schreien und weinen. Und ich weiß auch nicht mehr, was mehr wehtat, die Schläge oder dieses Gefühl des Alleinseins.
Ich war sieben Jahre alt. Heute glaube ich, dass das Alleinsein am stärksten schmerzte, neben dem Wissen, dass der Mann im Haus nicht für mich und somit auch nicht für mein Vertrauen da war.
Es war nie jemand da, der mir sagte, tu dies nicht, tu das nicht, hier ist dein Essen, wie war dein Tag. Unsere Mutter ist nie morgens mit uns aufgestanden und hat uns Früh- stück gemacht, wir hatten auch keine Brote dabei oder eine Mark, von der wir uns was kaufen konnten. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr aß ich nur, wenn mir etwas gegeben wurde. Dies bedeutete, dass ich an der Ganz- tagsschule mein Mittagessen bekam, und wenn meine Mutter gekocht hatte (das war abhängig von ihrer Stimmung und unserer finanziellen Situation) abends eine weitere Mahlzeit. Ich konnte Tage ohne Essen verbringen oder aber fressen wie ein Scheunendrescher.
Als ich vierzehn Jahre alt war, wurden die Lehrer darauf aufmerksam, dass ich unterernährt war. Zu dieser Zeit grassierte an unserer Schule eine Welle von Bulimie und Magersucht. Ihnen lag die Vermutung nahe, dass auch ich magersüchtig sei. Eine wirkliche Magersucht hatte ich nie. Es war nur Protest. Wenn ich den einen oder anderen Tag zu schwer oder zu ausweglos empfand, er mich wort- wörtlich angekotzt hat, kam es vor, dass ich eine Nacht über der Toilettenschüssel verbrachte und spuckte. Der Grund lag nie in einem Schönheitsideal. Vielmehr war es ein Signal, meine Art, die Außenwelt auf meine Innenwelt aufmerksam zu machen. Der Schönheitswahn und die harte Kritik mir selbst gegenüber kamen erst viele Jahre später. Dennoch ertappe ich mich heute noch dabei, dass ich mir wünsche abzunehmen, wenn es mir nicht gut geht. Das Gesicht kann man überschminken, eine schlackernde Hose bleibt sichtbar. Ich fühle mich verstanden, wenn jemand seine Hand vor den Mund schlägt und sagt: „Mein Gott, bist du dürr geworden.“
Copyright © ACABUS Verlag 2008-2010
Texte: erschienen im Acabus Verlag
ISBN: 978-3-941404-35-9
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe