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Wie gebannt starrte Frau Hoffmann durch ihr Fernglas. Sie lächelte. Das passierte Frau Hoffmann immer häufiger, seit sie beschlossen hatte, sich umzubringen. Der nackte Herr hieß in Frau Hoffmanns Fantasie inzwischen nicht mehr einfach nackter Herr, sondern Herr Peters. Sie war noch nie besonders kreativ gewesen, was sich in Herrn Peters Namen einmal mehr bestätigte.
Dennoch passte dieser Name zu ihm. Und das war noch nicht alles, er hatte eine Geschichte. Herr Peters arbeitete als freischaffender Journalist. Nach Frau Hoffmanns Auffassung war das ein aufregender und spannender Beruf, der sie immer fasziniert hatte, für den sie jedoch keinerlei Talent mitbrachte. Im Gegensatz zu ihr schien Herr Peters jedoch in höchstem Maße verbal versiert zu sein. Ein Mann, der nackt auf seinem Hometrainer lief, musste einfach einen außergewöhnlichen Beruf haben. Die Tatsache, dass er allein lebte, schien ihre Theorie noch zusätzlich zu bestätigen. Herr Peters war sein Leben lang nämlich beruflich sehr eingespannt gewesen. Auf einer seiner zahlreichen Reisen hatte er zwar sein Herz verloren, doch diese Liebe war nicht von Dauer gewesen. Bestimmt hatte er viele Kinder quer über den Erdball verstreut. Er war ein guter Liebhaber gewesen, und vielleicht wäre er das noch. Herr Peters war der typische Eigenbrödler. Er liebte es, allein zu sein. Er genoss seine eigene Gesell- schaft ebenso wie die anderer Menschen, wenn nicht noch mehr. Das bedeutete allerdings nicht, dass er kein offener und aufmerksamer Mensch war, denn das war er. Doch er war anders. Und er war stolz darauf.
Eine viertel Stunde später verschwand Herr Peters im Bad. Frau Hoffmann vermutete zumindest, dass er im Bad verschwand. Vielleicht ging er auch gleich zu Bett, oder trank einfach nur einen Schluck kaltes Wasser. Doch in dem Leben, das Frau Hoffmann für Herrn Peters geschaf- fen hatte, ging er ins Bad. Er duschte sich kühl, dann ging er mit einem Lächeln auf den Lippen zu Bett.
Das Licht in seiner Wohnung erlosch. Jedes Mal, wenn es bei Herrn Peters dunkel wurde, überkam Frau Hoffmann ein seltsames Bedauern. Sie sah ihn gerne. Er hatte eine Aura, die sie inspirierte. Manchmal wünschte sie sich, ihr
Leben wäre ein bisschen mehr wie seines, mit Ausnahme der vielen Kinder, denn die hätte sie schließlich selber bekommen müssen. Die Realität und ihre Fantasie waren inzwischen zu einer Einheit verschmolzen. Die Tatsache, dass Herr Peters vermutlich gar kein freischaffender Journalist und vielleicht sogar kinderlos war, kam ihr nicht einmal in den Sinn. Sie zündete sich eine Zigarette an und dieses Mal musste sie nicht husten. Diese Tatsache erfüllte sie, auch wenn das lächerlich war und Frau Hoffmann sich dieser Lächerlichkeit durchaus bewusst war, mit Stolz. Sie wanderte zur nächsten erleuchteten Wohnung. Sie entdeckte eine junge Frau, die regungslos auf einem Stuhl saß, das Telefon in ihrer linken Hand. Frau Hoffmann empfand tiefes Mitleid für die junge Frau. Sie war sich sicher, dass sie eine furchtbare Nachricht erhalten hatte.
Die Fassungslosigkeit der jungen Frau setzte Frau Hoffmann unerwartet zu, sie schnürte ihr regelrecht die Luft ab. Diesen leeren Ausdruck hatte Frau Hoffmann schon einmal gesehen. Sie hatte ihn sogar gespürt. Er erinnerte sie dunkel an etwas, das vor langer Zeit geschehen war, an etwas, woran sie unter keinen
Umständen erinnert werden wollte.
Frau Hoffmann empfand es als geschmacklos, in einer solchen Situation zu rauchen. Sie drückte die Zigarette aus, schaute den Stummel verächtlich an, dann wandte sie sich wieder der jungen Frau zu. Sie verspürte den Wunsch, sie in ihre Arme zu schließen. Dieser Wunsch erschreckte sie, denn es passte überhaupt nicht zu Frau Hoffmann, jemanden umarmen zu wollen. Im Gegenteil. Frau Hoff- manns sensomotorische Grenze hatte für gewöhnlich die Ausmaße Russlands.
Dieser Fakt stand in absolutem Widerspruch zu der Tatsache, dass Frau Hoffmann die junge Frau in die Arme nehmen wollte. Und doch war da dieser fast schon unerträglich starke Wunsch, ihr Trost spenden zu wollen.
Frau Hoffmann war nicht immer so gewesen. Sie hatte früher keine Berührungsängste gehabt. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass Frau Hoffmann einmal tatsächlich leidenschaftlich gewesen war. Zumindest fast. Doch seit dieser Zeit war viel geschehen. Ihr Leben hatte sie dazu gezwungen abzubiegen, es hatte Anderes für sie geplant. Und dieser Plan führte sie hierher, auf diesen Balkon in einem lieblosen Plattenbau, mit okker-senf- farbenen Wänden in den Fluren und einem Aufzug, der es verdient hätte, als scheußlichster Aufzug der Welt ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden.
Als Frau Hoffmann an diesem Abend im Bett lag, schien das Gewicht ihrer Gefühle sie noch fester in ihre viel zu weiche Matratze zu drücken. Die Last der Fassungslosigkeit der jungen Frau erinnerte Frau Hoffmann an den Tag in ihrem Leben, der alles unwiderruflich verändert hatte. Sie hatte sich selbst in der jungen Frau erkannt. So muss sie ausgesehen haben, als man es ihr mitgeteilt hatte. Und
auch in ihrem Fall war niemand da gewesen, der sie in die Arme hätte schließen können. Sie war allein gewesen. Und sie war es noch. Seit diesem Tag im November.

Copyright©ACABUS Verlag im Diplomica Verlag GmbH 1997-2010

Impressum

Texte: ISBN: 978-3-941404-75-5 erschienen im Acabus Verlag
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2010

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