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EIN GEMURMELTES „EPILEPSIE“

Schon im Krankenhaus murmelte der Arzt beim ab- schließenden Gespräch etwas von einem Anfallsleiden, einer Epilepsie. Noch ehe ich nachhaken konnte relati- vierte er diese Diagnose, indem er in einem Nebensatz erwähnte, dass sich das auswachsen könne.

Nach einem Jahr Anfallsfreiheit könnte man die Medika- mente wieder reduzieren und Andreas würde ein normales Leben führen können. Wie die meisten Menschen in einer solchen Situation habe ich die Diagnose zwar gehört, aber sie bei der Aussicht, dass sich alles „auswachsen“ könnte, sofort wieder verdrängt. Und doch, so ganz nebenbei, war ich dann Mutter eines Sohnes, der epileptische Anfälle hatte. Das war in Ordnung, damit konnte ich klarkommen, es gab Schlimmeres. Es gab ja noch die Hoffnung, dass alles bald wieder vorbei sein könnte. Wir würden das schon irgendwie schaffen.
Ich begann mich mit Literatur einzudecken. Von Patien- tenbroschüren, die bestenfalls freundlichzurückhaltend formuliert waren, über verwirrende Patientenliteratur aus der Buchhandlung las ich alles.
Mir persönlich half das zu keiner Zeit. Damals war das so, heute mag es anders sein. Also habe ich mir Fachbücher besorgt, vor allem um dem Fachchinesisch der Ärzte gewachsen zu sein. Ich habe mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht getraut, nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe.

Ich wälzte also diese Literatur, immer am Abend oder in der Nacht, wenn Andreas schlief. Ich erfuhr, dass Epilepsie eine Erkrankung des Gehirns ist, dessen Symptome die Anfälle sind, dass sie unter Fallsucht bekannt ist, dass sie chronisch ist, dass sie verschwinden kann, dass sie bleiben kann, dass die Anfälle unterschiedlich aussehen. Ich fand alles in den Büchern, nur nicht die Anfälle meines Sohnes.

Er schien verschiedene Anfallsarten zu sammeln wie andere Menschen Briefmarken, dann wiederum wechselte er sie wie Männer ihre Hemden. Er krampfte in großen, generalisierten Anfällen, bei denen der ganze Körper zuckte. Die Arme, Beine und der Kopf bewegten sich fast rhythmisch und mit einer Wucht, die für so einen kleinen Kerl unglaublich heftig war.
Er krampfte in kleinen Anfällen, bei denen er „nur“ blaue Lippen bekam und nicht ansprechbar war. Später, als er laufen konnte, blieb er plötzlich stehen, hob sanft die Arme und nickte ebenso sanft dazu. Er bekam Anfälle, die sich nur in einer Körperhälfte abspielten.

Solche, von denen er halbseitig gelähmt war, was sich dann ungefähr eine Stunde nach dem Anfall auflöste. Er bekam große Anfälle, nach denen er einfach aufstand und weiterspielte, aber auch solche, nach denen er stunden- lang schlief. Als er erwachsen war, bekam er Anfälle, die ihn, riesig wie er geworden war, wie einen Baum fällten und es erforderlich machten, dass er zum Schutz seines Kopfes einen Helm trug. Er hatte Zeiten, in denen er einige Tage lang keinen einzigen sichtbaren Anfall hatte, aber auch Zeiten, in denen er fünf große, generalisierte Anfalle und dazwischen jede Menge kleinere Anfälle hatte.

Die großen, generalisierten Anfälle waren bis ins kleinste Detail in den Büchern beschrieben, aber die vielen kleinen suchte ich vergebens. Allerdings halten sich wohl die wenigsten Symptome an Vorgaben aus Lehrbüchern, und so dachte ich mir noch nicht allzu viel dabei, dass an- scheinend keine Beschreibung alle Facetten der Krankheit meines Sohnes abdeckte.

Internet gab es zu dieser Zeit noch lange nicht. Ich redete mir selbst gut zu, dass schon alles seine Richtigkeit hatte. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl, eine Ahnung, dass die einfach Diagnose „Epilepsie“ noch nicht alles war, zumal sie einfach nicht hundertprozentig passte.

Vorsichtshalber erzählte ich den Ärzten von den kleinen Zuckungen, den scheinbaren Abwesenheiten und den blauen Lippen. Im Laufe der Zeit erkannte ich nicht nur jeden noch so kleinen Anfall bei meinem Sohn, sondern auch die Zweifel in den Augen der Ärzte. Meine Beschrei- bungen standen ja in keinem Lehrbuch. Irgendwann hatte ich dann wohl den Schriftzug auf der Stirn: „Hysterische Mutter, nicht allzu ernst nehmen.“ Ich will nicht in Abrede stellen, dass man als Mutter eines kranken Kindes auch irgendwann mal hysterisch werden kann. Von den vielen Müttern mit schwerkranken Kindern, denen ich im Laufe der Zeit begegnet bin, war aber meiner Erinnerung nach keine einzige hysterisch. Mütter mit kranken Kindern wissen in diesen schweren Zeiten sehr genau, worauf es ankommt: einen kühlen Kopf bewahren.
Zum Wohle unserer Kinder, aber auch zum Wohle der Geschwister und der ganzen Familie.

Ich musste mich den unumstößlichen Fakten stellen: Andreas litt an einer Krankheit. Nichts auf der Welt hätte das ändern können. Es hätte sich nicht geändert, wenn ich durchgedreht wäre und es hätte sich auch nicht geändert, wenn ich daran verzweifelt wäre.
Also versuchte ich, das Beste daraus zu machen. Das Beste ist jedoch relativ, es ändert sich im Laufe der Zeit immer wieder.

Andreas war mein Kind und es gab keinen Zweifel
daran, dass ich für ihn bis ans Ende der Welt gegangen wäre. Nun, ich hätte dann zwar am Ende der Welt ge- standen, aber gebracht hätte es mir gar nichts. Seine Krankheit wäre immer noch da gewesen. Ich sage immer „die Krankheit“, aber das war es bis dato wirklich für mich: eine Krankheit ohne Namen. Natürlich versuchten die Ärzte, ihr einen zu geben, aber egal welchen sie ein- setzten, keiner passte wirklich.




©ACABUS Verlag im Diplomica Verlag GmbH 1997-2010

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Texte: erschienen im Acabus Verlag ISBN: 978-3-941404-10-6
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2010

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