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Im fortgeschrittenem Stadium der Bulimie



Zwischen meinem 16. und 17. Lebensjahr (1996-1997) war eigentlich eine ruhige Zeit. Ich war im letzten Schuljahr einer weiterführenden Schule und habe mich so einiger- maßen gut eingelebt. Sogar neue Freunde habe ich gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstand. Allerdings hatte ich wieder etwas zugenommen, was mir so gar nicht passte. Meine Fress- und Kotzattacken sind also trotz allem nicht weniger geworden. So langsam hatte ich mich schon daran gewöhnt. Die Krankheit war inzwischen ein Teil von mir geworden. Und ich wollte auch nichts dagegen unternehmen und diesen aufgeben.

Während meines 17. Lebensjahrs ist ein weiterer tiefer Schlag in meinem Leben geschehen. In diesem Jahr, 1997, hatte ich meine Abschlussprüfung, die ich, mit kleineren Einschränkungen durch meine Krankheit, gut gemeistert habe. Nun wusste ich aber auch nicht, wie es weitergehen sollte. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, ob ich nun eine Ausbildung anfangen, oder ob ich noch einmal die Schulbank für ein paar Jahre drücken sollte. Ich
habe mich für die Schule entschieden, auf der auch meine Schwester war. Aber eigentlich fragte, ich mich was ich auf der Schule überhaupt verloren hatte.

Nun fing alles wieder von Vorne an. Ich musste mich wieder neueinleben und Freunde finden. Womit ich mich sowieso so schwer getan habe. Ich habe mich wirklich gefragt, mit welchem Ziel ich eigentlich auf diese Schule gegangen bin. Weil ich nicht wusste welchen Beruf ich ergreifen soll? Damit ich erst einmal die nächsten vier Jahre aufgeräumt bin? Ich weiß es nicht. Meine Eltern waren von Anfang an dagegen, dass ich auf die Schule gehe, aber was hätte ich stattdessen machen sollen?

Schon nach ein paar Tagen auf der Schule fingen die ersten Probleme an. Zum einen kam ich mit dem Schulstoff nicht hinterher. Ich habe nichts von dem, was die Lehrer gesagt haben, verstanden. Meine Konzentration war auf einem Tiefpunkt angelangt. Ich wurde ständig von anderen Gedanken abgelenkt: „Werde ich neue Freunde finden?“, „Mögen mich die Leute in meiner Klasse?“, „Finden sie mich schön?“. Wer solche Gedanken hat, kann sich natürlich nicht auf den Schulstoff konzentrieren. Jedes Mal, wenn ich in die Schule gegangen bin, hatte ich wahnsinniges Herzrasen und habe angefangen zu zittern. Die Angst davor, zu versagen oder nicht geliebt zu werden, war so unerträglich. Fast jeden Abend habe ich mich bei
meiner Schwester ausgeweint, dass ich es nicht schaffen werde. Sie hat versucht mich zu trösten, aber es gelang ihr nicht. Dann habe ich wieder angefangen, die Schule zu schwänzen – was keine Lösung für das Problem war, sondern ein größeres Hindernis um mit dem Schulstoff mitzukommen. Dann hatte ich ein sehr schlimmes Erlebnis während einer Schulstunde. Dieses Erlebnis verfolgt mich heute noch teilweise und ich werde niemals vergessen, wie der Lehrer mich damals behandelt hat. Davon möchte ich ein bisschen erzählen.

Der Lehrer war schon dafür bekannt, seine Schüler hart ran zu nehmen. Nun hatte es auch mich getroffen. In dieser Stunde mussten wir ein Diagramm erläutern. Dazu hat er jemanden aufgerufen, und ich war nun an der Reihe, dies zu tun. Ich schaute also in mein Chemiebuch hinein, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mehr als ein Gestotter, das überhaupt keinen Sinn hatte, kam nicht aus mir heraus. Dementsprechend, aber im Grunde auch sehr überzogen, hat dann auch der Lehrer reagiert. Dafür hasse ich ihn heute noch.

Er hat mich vor der ganzen Klasse angeschrieen, wie dumm ich doch sei und wie ich überhaupt die Schule schaffen möchte. Es hat mir sehr zugesetzt, vor der ganzen Klasse beleidigt zu werden, und mir persönlich war es auch sehr peinlich. Doch was macht man, wenn man nur sehr wenig Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und ein geringes Selbstwertgefühl hat? Man glaubt fast alles, was einem gesagt wird. Ich habe letztendlich auch geglaubt, dass ich zu dumm für die Schule bin. Dies war mein letzter Tag auf dieser Schule. Es war auch eine Flucht. Ich hätte mich auch den Problemen stellen können, mich mehr anstrengen können. Aber ich hab den Sinn darin, überhaupt auf diese Schule zu gehen, nicht gesehen. Wenn man es genauer betrachtet, wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte. Ohne zu überlegen was ich in meiner Zukunft machen und erreichen möchte habe ich mich auf der Schule an- gemeldet. So, nun war der Ärger natürlich groß. Nun saß ich auf der Straße. Habe die Schule abgebrochen und wusste selbst nicht mehr, wie es weitergehen soll.

Bei einer Flucht ist man erst einmal erleichtert, wenn man vor den Problemen flieht, aber man flieht bei einer Flucht auch ohne Ziel. So war es letztendlich auch bei mir. Nun war ich 17 Jahre alt und wusste nicht einmal, welchen Beruf ich ergreifen möchte. Also habe ich erst ein- zweimal die Woche in einem Supermarkt als Regalauffüllerin ge- arbeitet. Und ich konnte meine Essstörung in vollen Zügen auskosten. Soziale Kontakte und Freunde hatte ich zu der Zeit überhaupt nicht mehr. Das einzig Interessante für mich war zu der Zeit nur noch meine Essstörung. Nicht einmal um meine Zukunft habe ich mir Gedanken gemacht, sie war mir egal und der Wunsch des Sterbens wurde immer größer. Ich verkapselte mich immer mehr in mich selbst und bin nur noch selten unter Menschen gegangen. Ich habe immer mehr Angst vor Menschen bekommen, die mich beleidigen oder über mich reden könnten, also bin ich lieber zu Hause geblieben.

Meine Bulimie hatte zu der Zeit ihren Höhepunkt erreicht. Drei bis vier Fress- und Kotzattacken täglich waren keine Seltenheit mehr. Um mal einen Einblick zu bekommen, wie ein Tag einer Bulimie Kranken ablaufen kann, beschreibe ich jetzt einen kompletten Tagesablauf. Ich muss aber immer wieder dazu sagen, dass es meine Erfahrung war. Diese Krankheit ist so individuell, deshalb lässt sie sich auch so schwierig behandeln. Jeder Erkrankte erlebt diese Sucht auf seine Art und Weise.

Hier nun mein Tagesablauf:
Meistens bin ich aufgestanden, wenn alle von meiner Familie gerade auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich hatte extreme Schuldgefühle, weil ich zu Hause war und nichts arbeitete und sie mussten jeden Tag hart arbeiten. Sobald sie aus dem Haus waren, habe ich mich wieder für zwei Stunden hingelegt. Als ich dann wieder aufwachte, ging ich auf die Suche nach Nahrung. Nahrung war für mich nicht gleich Nahrung um zu überleben. Nein, Nahrung war für mich Mittel zum Zweck, um meine innere Leere und Hoffnungslosigkeit zu füllen oder zu unterdrücken.

Wenn nicht genügend Essen zuhause war, habe ich Geld von meiner Mutter genommen und bin dann in unseren Tante-Emma- Laden im Dorf gegangen. Dort habe ich dann auch schnell mal 40,-DM (damals noch DM) liegen gelassen. Voll gepackt und glücklich bin ich dann nach Hause gelaufen. Mein Vater war meistens zuhause
in seinem Büro. Er hat nie etwas bemerkt. Dann habe ich mir das ganze Essen zubereitet. Und mir alles auf meinen Schreibtisch gestellt. Es musste auch immer ein Liter Flüssigkeit bereit stehen, den ich dann nach dem Essen getrunken habe. Durch die große Menge Flüssigkeit konnte die große Masse an Nahrung leichter erbrochen werden.

Jeder wird sich jetzt bestimmt fragen, wie so eine Masse an Nahrung aussieht. Ein kleiner Einblick dazu: ein halber geschnittener Brotlaib, bestrichen mit viel Butter, drei bis vier Scheiben Schinken pro Brotscheibe, zweimal Käse, ein Glas Nutella, ein gehäufter Teller Spaghetti Bolognese mit Käse, dazu noch ein Liter Flüssigkeit. An einen Fress- und Kotzanfall kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich habe einmal eine komplette Eistorte von 1,2 Kilogramm ge- gessen und diese dann auch sofort erbrechen müssen, weil die Spannung im Magen so groß geworden war. Bei den Fressanfällen ist es so, dass man isst so viel man kann, bis man nicht mehr gerade stehen kann. Es ist wirklich so, man isst so viel, bis das Essen fast schon von alleine hoch- kommt. Wenn man dann so eine Masse gegessen hat, ist man nicht mehr in der Lage, gerade zu stehen und man muss sofort erbrechen, weil es unerträglich und teilweise auch schmerzhaft ist, so eine Masse im Magen zu haben.


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Impressum

Texte: erschienen im Acabus Verlag ISBN: 978-3-941404-83-0
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2010

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