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Am frühen Abend erreichen wir die Klinik. Ich kann
es kaum fassen. Hirsau war bei uns Jugendlichen immer
verschrien, im Scherz sagte man das eine oder andere Mal, wenn du so weitermachst, dann kommst zu den Irren nach Hirsau. Hirsau, die Irrenanstalt. Und ich mittendrin. Meine Güte, was passiert da nur mit mir. Ich werde von einem netten Pfleger auf mein Zimmer auf der Station 31 gebracht, ein Arzt komme später und schaue nach mir, sagt er, ich solle jetzt erst einmal in Ruhe auspacken und ankommen.

Staunend über die schöne Gegend stehe ich am Fenster, Tränen laufen mir übers Gesicht, was ist nur passiert? Warum musste ich so tief sinken? Bin ich etwa verrückt? Warum weist mein Arzt mich ein? Ich habe ihm immer vertraut und schon das ein oder andere aus meinem schweren Leben erzählt, warum denkt er, ich sei verrückt und müsse nach Hirsau? Die Tränen wollen nicht enden. Bin ich nun auch noch eine Heulsuse? Ich zeige niemals Tränen, nicht ich. Also Kontenance Susanne, halte die Stellung. Schnell wische ich die Tränen weg, besinne mich, packe meine zuhause schnell gepackte Tasche aus und lege mich auf mein Bett.

Mit mir im Zimmer sind noch zwei Frauen, ob die auch
verrückt sind? Womöglich rennen die nachts mit einem ich-kann-mich-damit-nicht-umbringen-stumpfen Messer auf mich los, oh Gott, wo bin ich gelandet? Ich habe doch immer funktioniert, was ist nur geschehen?

Mein Handy klingelt, eine flüsternde Stimme erklingt
am anderen Ende, es ist Wolfi. Er haucht leise: ich kann nicht so laut reden, Rosa ist oben, ich vermisse dich und ich liebe dich … Hm, ich liebe dich … ich bin also doch verrückt. Wie kann ich es zulassen, dass ein verheirateter, 65-jähriger Mann sich in mich verliebt? Ich bin verrückt! Ich bin es wirklich!

Ein Klopfen an der Tür rettet mich aus meinen ich-bringe- mich-lieber-um-Gedanken. Ein netter junger Arzt stellt sich mir vor, er sei nur der notdiensthabende Arzt, da es Freitagabend sei und man mit mir deutlich früher gerechnet habe. Ja, stimmt, mein Arzt hatte bereits um halb eins in Hirsau angerufen, doch Wolfi und Rosa bestanden darauf, dass ich noch mit zu ihnen gehe und flugs einen selbstgebackenen Kuchen bei ihnen esse. Dass es inzwischen halb sechs geworden ist, habe ich nicht bemerkt, ich bekam ja auch eine die-ist-für-Verrückte- Beruhigungsspritze. Da ist mir ohnehin alles egal. Der Arzt sagt, er werde mich von dem Normoc auf ein anderes Valium setzen und später müsse man davon unbedingt wegkommen, denn das mache abhängig. Mir doch scheißegal, ich schlucke was ihr wollt, ich will hier raus!

Der Pfleger macht mich noch mit der Station vertraut.
Er führt mich den langen Gang entlang und ich staune, auf dieser Station müssen so an die 40 Verrückte sein. Ich schaue in das Esszimmer, wo alle einträchtig zusammen- sitzen, mich freundlich grüßend angaffen, um dann schnell wieder ihr Brot in die Backen zu stopfen. Hm, Verrückte sehen eigentlich gar nicht aus wie Verrückte, sicher sind die alle ruhig gestellt durch abhängig machende Medi- kamente, ja, so muss es sein.

Der Pfleger ruft bereits ein zweites Mal meinen Namen, als ich bemerke, dass ich mal wieder meine Gedanken habe schweifen lassen. Aufmerksam, jedenfalls tue ich so, folge ich ihm. Kapiert habe ich nichts, diese Normoc sind schon tolle Medikamente, da hat man so eine leck-mich- am-Arsch-Stimmung, die einen rund um die Uhr grinsen lässt. Ich glaube, wenn der Pfleger mir jetzt sagen würde, dass er mich hasst, würde ich genauso grinsen wie wenn er sagen würde, dass er sich in mich verliebt hat. Was soll’s, ich bin eben verrückt. Am Ende gehe ich vielleicht auch mit einem stumpfen Messer auf andere los, vielleicht sollte ich mir sicherheitshalber eines mit aufs Zimmer nehmen, zum Schutz, man weiß ja nie …

„Frau Küppers!“ ...ja, ich komme ja schon. Ich lalle
und schwanke, komme aber doch im Behandlungszimmer
an. Der Pfleger braucht noch ein paar Daten von mir. Wie soll ich denn jetzt noch wissen, wer oder was ich bin … was denkt der bloß? Die Normoc machen mich doch nicht allwissend, gerade so bekomme ich noch die Adresse von meiner Freundin als Ansprechpartnerin zusammen, bei der Telefonnummer hört es dann schon auf, soll er doch im Telefonbuch schauen. Ich will heim!
Die Nacht ist anstrengend, zu dritt in einem Zimmer,
wie in einer Zelle – so stelle ich mir das jedenfalls vor – die eine redet im Schlaf, die andere schnarcht … Ach Gott, was bin ich verrückt, da liege ich in Hirsau in der Irren- anstalt im Bett. Die Nachtschwester schaut immer wieder besorgt zu mir rein. Irgendwann ist es ihr dann doch zu blöd und sie besteht darauf, dass ich ein Schlafmittel nehme, ich müsse schließlich wenigstens ein paar Stunden schlafen.

Es ist sieben Uhr, unsanft werde ich geweckt, man
warte auf mich im Esszimmer. Bah, ich will nicht bei
den Verrückten essen, bitte, bitte nicht. Der Pfleger
lässt sich von meinem Gejammer beeindrucken und bringt mir das Essen aufs Zimmer. Puh, noch mal Glück gehabt. Wenig später kommt der notdiensthabende Arzt zu mir und fragt, wie es mir geht. Prächtig, kann ich nun wieder heim? Warum lacht der nur? Ich fand das gar nicht so lustig, ich will wirklich heim. Doch schnell merke ich, warum er lacht. Ich kann kaum laufen, jede Bewegung ist verlangsamt, wie in Zeitlupe, und ich falle erschöpft auf mein Bett.

Copyright © ACABUS Verlag im Diplomica Verlag GmbH, 2010


Impressum

Texte: erschienen im Acabus Verlag ISBN: 978-3-941404-36-6
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2010

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