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Das hätte der Koch besser nicht gesagt, denn wie jeder ungesund lebende Mensch hegte auch Peter Kolustro ein tief verwurzeltes Ressentiment gegenüber Ärzten. Und so wirbelte er mit einer Heftigkeit herum, dass es den armen Koch beinahe zu Boden geschleudert hätte und brüllte: „Niemals wird ein Arzt die Schwelle meines Hauses ...”
Er japste. „Niemals! Diese Quacksalber! Knechte der Pharmaindustrie! Blutsauger!”
Er hechelte und keuchte und schnaufte für einige Sekunden wie ein degenerierter Mops. Dann war es auch schon wieder vorbei. Das hieß, er spürte, dass er sich für den Moment nicht mehr erlauben konnte. Also sagte er: „Na kommen Sie, Alfons, vergessen wir die Bibliothek. Den Port kann ich ebenso gut im Schlafzimmer trinken.”
Das erste Glas Portwein entfaltete umgehend seine beruhigende, ausgleichende Wirkung. Es handelte sich um einen OLD TAWNY, dem feinsten aller „wood ports”, ein dreißig Jahre altes Spitzenprodukt von NOVAL AND TAYLOR. Dessen fast likörähnliche Glattheit im Abgang und wunderbar fein strukturierte Zartheit entrückten Herrn Kolustro jedes Mal aufs Neue und vermochten, ihn mit geradezu magischer Wirkung die Unbill der Welt vergessen zu lassen. Er genoss eine Flasche dieses Elixiers. Dann, von jäher Mattigkeit überfallen, legte er sich ins Bett und versank unmittelbar in tiefen Schlaf.
Irgendwann drang in die gedankenlose Finsternis seines Schlafes ein gleißender Lichtstrahl ein. Kolustro blinzelte verwundert und musste im nächsten Moment mit noch größerer Verwunderung feststellen, dass er sich in einer Art Tunnel oder Röhre befand.
Das blendende Licht fiel von jenseits der Röhre ein. Und: Er war nicht allein! Drei oder vier Gestalten, von denen ein seltsam unbestimmbares Leuchten ausging, ganz als besäßen sie einen Kern aus rotglühendem Eisen, der durch die porzellanene Mattigkeit ihrer Haut und ihrer fließenden Gewänder hindurchschimmerte, sah er langsam auf das Licht zugehen. Peter Kolustro erschrak: Waren das ... Engel? Flügel hatten sie jedenfalls keine, soweit er es ...
„Ich begrüße Sie!”
Peter Kolustro drehte sich erschrocken um. Eines dieser Wesen hatte sich ihm unbemerkt von hinten genähert. Sein Gesicht sah aus wie das Dürer-Porträt eines Hermaphroditen. Wie die anderen trug auch er - es? - ein weich fließendes weißes Gewand. Er lächelte - nicht unbedingt freundlich, eher von enervierter Güte durch- setzt, sodass sein nächster Schritt schwer zu erraten war.
„Bin ich tot?”, fragte Kolustro.
„In einem Sinn, den Ihre Medizin ‚klinisch’ nennt - ja”, antwortete der Engel.
„Um Gottes Willen!”, entfuhr es Peter Kolustro.
Der Engel hingegen nickte nur und lächelte. „So könnte man es auch ausdrücken.”
„Und was ist mit Allah und all den anderen?”
„Ein Dichter Ihres Kulturkreises hat einmal gesagt, der Name sei nichts mehr als Schall und Rauch - und nicht einmal das gibt es bei uns.”
„Aber es ist schon ... ich weiß nicht ... beeindruckend oder ... überraschend? Ich meine, dass hier tatsächlich alles so aussieht wie auf dem Bild von Hieronymus Bosch.”
„Nein, nein”, lächelte der Engel mit angestrengter Milde, „umgekehrt wird ein ... ein ...”
„... ein Schuh daraus?”, wagte Kolustro vorzuschlagen.
„Ja genau”, bestätigte der Engel. „Entschuldigen Sie, ich habe immer gewisse Schwierigkeiten mit diesen abstrakten Dingen. -
Nun, wenn Sie einen Tunnel erwarten, weshalb sollten Sie dann keinen kriegen? Seit vor einigen Jahren ein klinisch Toter, den wir zurückgeschickt haben, dieses Bild der menschlichen Öffentlichkeit mitgeteilt hat - warum nicht? Die wahre Erinnerung stellt sich ohnedies erst im klaren, reinen Licht des absoluten Seins ein. Und was Hieronymus Bosch angeht ...” Er stockte.
„Tut mir leid, ich bin nicht befugt, weitere Angaben zu machen.”
„Schade ... Jedenfalls ist es tröstlich, dass es tatsächlich ein Leben nach dem Tod gibt.”
Daraufhin sah ihn der Engel lange schweigend an. Dann
wurde er förmlich: „Ich habe den Auftrag, Sie über folgende Sachverhalte zu unterrichten: Man sieht Sie ...”
„Man?”, unterbrach Peter Kolustro unwillkürlich.
„Ich werde mich nicht in Details ergehen, Herr Kolustro!”
„Entschuldigen Sie.”
„Man sieht Sie”, nahm der Engel den Faden wieder auf, „als die Fleisch gewordene Durchkreuzung des göttlichen Willens. Mit anderen Worten: Sie sollten im Alter von fünfzig Jahren sterben. Das sind Sie ja auch - wenigstens beinahe. Obwohl wir hier selbstverständlich keine starren Regeln oder Gesetze kennen.
Gott, wie Sie jenes ... wie Sie ... IHN nennen, ist das Gesetz.
Ohne ein Morgen gibt es keine Berichtigungen, also auch keinen Irrtum, weder Kontinuität, Chronologie noch Regression, sondern nur die unverbrüchliche Tatsache des Seins als solchem, das seine Freiheit aus sich selbst heraus schöpft.”
Es machte fast den Eindruck, als atme der Engel tief durch. „Obwohl dies alles so ist, haben Sie, Herr Kolustro, es gewagt, sich gegen das Natürliche aufzulehnen.”
„W-was soll ich ...?”
„Indem Sie das Natürliche dadurch negierten, dass Sie die Einrichtung des Schlafes, die normalerweise eine für den Menschen lebensnotwendige und natürliche ist, auf eine Weise pervertiert haben, die der Revolte bedenklich nahe kommt.”
Der Engel wurde jetzt sehr ernst. „Ihr Leben, Herr Kolustro, ist dem Bösen geweiht!”
Peter Kolustro erschrak. „Was denn, böse? Ich? Was habe ich denn getan? ... Gut”, räumte er ein, „ich war manchmal vielleicht ein bisschen sarkastisch, möglicherweise auch zynisch - aber böse?”
„Sie verwenden den Begriff falsch”, erläuterte der Engel.
„Verbrechen beispielsweise sind nicht widernatürlich, also auch nicht böse im eigentlichen Sinne des Wortes. Vielleicht kennen Sie den Ausspruch einer Seele, die vor einiger Zeit unter dem Namen Augustinus auf der Erde gelebt hat: ‚Nichts geschieht gegen die Natur!’ Sie aber haben einen Teilaspekt des Natürlichen, dessen, was Sie ‚Schöpfung’ nennen, dafür missbraucht, es widernatürlich werden zu lassen, und das muss bestraft werden.
Sie haben sich Ihrem Schicksal durch Schlaf entzogen. Würden wir das durchgehen lassen, müsste ...” - der Engel lächelte - „ ... ja, dann müsste der Himmel einstürzen! Das nämlich ist das Böse: Die natürliche Ordnung stürzen zu wollen. Doch da Sie sich der Folgen Ihres Tuns nicht bewusst waren, wird Ihnen Milde zuteil und Sie dürfen zurückkehren.”
„Zurückkehren?” Obwohl Peter Kolustro diese Eröffnung
einerseits schon erleichterte, empfand er auf der anderen Seite doch auch eine gewisse Enttäuschung. Sterben müsste er schließlich in jedem Fall. Nur wollte ihm scheinen, dass ihm der letale Abgang - oder doch zumindest der erste Schritt zu dessen Vollendung - diesmal recht gut geglückt war. Konnte er wissen, wie es beim zweiten Mal verlaufen würde? Womöglich unter Schmerzen in geistesverwirrtem Zustand? Dem Engel gegenüber, der ohnedies von seinen Vorbehalten zu wissen schien, äußerte er sich dazu freilich nicht. Es kam ihm schon auch ein wenig frivol vor, auf seinem Tod zu beharren.
„Ein Jahr und zehn Tage lang”, fuhr der Engel fort, „sollen Sie ohne Schlaf bleiben und so den Ausgleich wieder herstellen.”
„Ein Jahr?”, rief Peter Kolustro.
„... und zehn Tage”, vollendete der Engel, „ja.”
„Aber ich dachte, ich sollte mit fünfzig sterben? In einem Jahr ...”
„... und zehn Tagen ...”
„... bin ich einundfünfzig!”
„... und zehn Tage. - Wie ich schon sagte, es gibt bei uns keine starren Regeln und Gesetze im menschlichen Sinn, und der Begriff der Quantität ist hier sowieso völlig irrelevant. Es geht sozusagen um einen ausschließlich qualitativen ... sagen wir: Ausgleich. Leider darf ich Ihnen dazu nicht mehr sagen”, wehrte der Engel mit gebieterischer Geste ab. „Das Gespräch ist beendet. Leben Sie wohl, Herr Kolustro!”
Copyright © ACABUS Verlag im Diplomica Verlag GmbH, 2010
Texte: erschienen im Acabus Verlag
ISBN: 978-3-941404-86-1
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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