„Haben wir denn schon eine Identifizierung?“ Kriminalhauptkommissar Kolbe blickte sich um. Offenbar fühlte sich niemand von seiner Frage angesprochen. In unmittelbarer Nähe stand Kommissar Franzke, in ein angeregtes Gespräch mit einem uniformierten Streifenpolizisten vertieft. Sonst beachtete ihn niemand.
Kolbe versuchte wie immer, einen ersten visuellen Eindruck von der Umgebung, vom Ort des Geschehens in sich aufzunehmen und in seinem Gedächtnis abzuspeichern. Obwohl das Freibad aufgrund des heutigen Vorfalls gesperrt war, wie ein Besuchermagnet sah es nicht gerade aus, selbst wenn man über das rostige Drehkreuz am Eingang, die ungepflegte sonnenverbrannte Rasenfläche, die baufälligen Umkleidekabinen, die bröckelnden Fliesen und die ramponierten und teilweise angekokelten Papierkörbe hinwegsah. Im hinteren Teil der Freifläche waren Reste des Fundaments einer alten Imbissbude zu erkennen, die vor einigen Jahren offenbar nach einem Brand abgerissen worden war. Die vom Feuer geschwärzte Grundfläche wurde bereits wieder von Unkräutern und Gräsern überwuchert, die in den Spalten und Ritzen des porösen Betons wurzelten. Obwohl er früher ebenfalls ein begeisterter Schwimmer gewesen war, hatte Kolbe diesem Berliner Freibad noch nie einen Besuch abgestattet. Ab und zu hatte er sich in den letzten Jahren berufsbedingt Bilder von Opfern und Videoaufzeichnungen der Prügeleien und Krawalle ansehen müssen, für die dieser Ort mittlerweile berüchtigt war. Das reichte ihm. Der skurrile Sprungturm war allerdings immer noch ein Blickfang. Kolbe verzog unwillkürlich das Gesicht zu einem gequälten Lächeln, als er an den medialen Hype dachte, den man zur Einweihung dieser futuristischen Konstruktion damals auf lokaler Ebene entfacht hatte. Ein weltbekannter US-amerikanischer Architekt hatte diesen Turm in Form einer Doppelhelix konstruiert. Von weitem ähnelte das 10 Meter hohe Bauwerk mit Wendeltreppe tatsächlich einem riesenhaft vergrößerten Modell der menschlichen DNA. Wie zu erwarten hatte man der Versuchung nicht widerstehen können, diese unkonventionelle Form der Konstruktion mit einer politisch genehmen Botschaft zu verknüpfen. Sprungturm der Humanität, so die offizielle Bezeichnung. Anwohner verballhornten ihn als Hammelsprungturm. Nachdem damals alle Pressefotografen ihre Bilder geknipst und die lokale Politprominenz abgezogen war, wurde das Freibad wieder zu dem Hot Spot der unerfreulichen Art, der es auch vorher schon gewesen war. Vor einigen Monaten hatte man Risse in einer der Wendeltreppen entdeckt, die die Stabilität beeinträchtigt und die Baufälligkeit der gesamten innovativen Konstruktion aufgezeigt hatten. Seitdem waren der Sprungturm und das ohnehin leckende Sprungbecken gesperrt, und die Stadt stritt sich über die Sanierungskosten mit dem Architekten, der wiederum der ausführenden Baufirma die Schuld zuschob, die ihrerseits die Haftung auf die beauftragten selbständigen Handwerker abwälzen wollte. Die übliche Geschichte eben, die sich in der einen oder anderen Variante bei öffentlichen Bauvorhaben stets aufs Neue wiederholte. Kolbe musste ein Gähnen unterdrücken.
Die umherschwirrenden Beamten der Spurensicherung gingen ihrer Arbeit nach, keiner fühlte sich bemüßigt, ihm zu antworten. Bloße Routine, einigermaßen kurios zwar, aber andererseits hat man auch schon interessantere Fälle gesehen, dachte Kolbe, als er am Beckenrand angelangt war, der bereits vorschriftsmäßig mit einem rot-weißen Absperrband gesichert war. Im leeren Becken waren einige Beamte der Spurensicherung damit beschäftigt, jeden Quadratzentimeter in der Umgebung der beiden dort in seltsam verkrümmter Haltung liegenden Toten akribisch abzusuchen.
Diese zwei jungen Männer, die in ihrem derzeitigen Zustand nur noch entfernt an Menschen erinnerten, hatten sich offenbar letzte Nacht Zutritt zum Freibad verschafft und waren von einer oberen Plattform des Turms in das leere Becken gesprungen, so der bisherige Stand der Informationen, die man ihm, dem leitenden Ermittler vor der Übergabe des Falls übermittelt hatte.
Wenigstens kam er so mal wieder tagsüber an die frische Luft. Gelangweilt schob sich Kolbe den letzten Bissen eines Dinkelbrötchens in den Mund und kaute bedächtig. Vor dem überhasteten Aufbruch in der Wache des KDD hatte er trotz einer beginnenden Migräne noch so viel Geistesgegenwart besessen, nach einem trockenen Brötchen zu greifen, es in Ermangelung eines griffbereiten Messers mit bloßen Händen in der Mitte aufzureißen und mit der letzten Käsescheibe zu belegen, die er im Kühlschrank des Pausenraums noch entdecken konnte. Beim Kriminaldauerdienst konnte man niemals wissen, wie lange ein Einsatz vor Ort nach Alarmierung des Teams dauern würde. Könnte schnell gehen oder auch nicht. Je nachdem, ob Suizid, Unfall oder Fremdverschulden vorlag. Wie auch immer, mit leerem Magen war das stupide Elend des täglichen Dienstes nicht zu ertragen. Kolbe hatte jedenfalls noch nicht gefrühstückt. Und wer wusste schon, ob man später noch die Gelegenheit bekam, sich etwas Essbares hinter die Kiemen zu schieben. Ein Käsebrötchen, dazu reichlich schwarzen Kaffee, das reichte notfalls, um seinen Motor eine Weile am Laufen zu halten. Möglichst auch Mehrkorn- oder Dinkelbrötchen, denn er hasste diese industriell vorgefertigten weißen Backformlinge von gummiartiger Konsistenz, die man den hiesigen naiven Käufern oft als Brötchen oder Semmeln unterschob.
Hauptkommissar Kolbe unterbrach seinen Gedankengang und wandte sich nun direkt an seinen Kollegen, Kommissar Franzke, der etwa eine Viertelstunde vor ihm eingetroffen sein musste und neben einem der Streifenpolizisten am rot-weißen Absperrband herumlungerte. „Hallo? Würde sich jetzt vielleicht mal jemand bequemen, mir zu antworten? Sind nun die beiden Toten schon identifiziert?“
Kolbe schätzte Franzke nicht besonders. Er hielt seinen Kollegen für einen Schleimer und Karrieristen, der zu jenen gehörte, die aus einem für Kolbe unerfindlichen Grund stets bemüht waren, nach oben hin zu buckeln und dabei ihre besondere Dienstbeflissenheit unter Beweis zu stellen. Widerwärtig. Sein Kollege würde es sicher noch weit bringen. Weiter als er selbst jedenfalls, was auch nicht besonders schwierig wäre, dachte Kolbe nun leicht amüsiert.
Kommissar Franzke unterbrach sein Gespräch abrupt und tat überrascht: „Sorry, Chef, hatte Sie noch gar nicht bemerkt. Nein, die Identität der Toten ließ sich noch nicht feststellen. Keine Ausweise, keine persönlichen Sachen. Aber die Kollegen suchen noch das ganze Gelände innerhalb der Umzäunung ab. Man kann nie wissen.“ Franzke wies auf den Streifenpolizisten.
„Ich hab mich gerade mit einem der zwei Kollegen von der Streife unterhalten, die die Toten aufgefunden haben.“ Er wies auf den neben ihm stehenden Streifenpolizisten.
„Gut.“ Kolbe seufzte. „Dann setzen Sie mich bitte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2015
ISBN: 978-3-7396-0832-7
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Widmung:
"Multiversum": Zum Gedenken an K. H. J. -
"Zündmodus": Einem ungenannten Freund gewidmet