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Raj


Dunkelheit.
Ein Geruch von Alkohol und Zigarettenqualm steigt ihr in die Nase. Sie kneift ihre geschlossenen Augen weiter zusammen. Zieht den Gestank tief in die Nase ein. Aus Abscheu. Aber was bleibt ihr anderes übrig? Wenn sie atmen will?
Vorsichtig öffnet sie ihre Augen. Blickt sich um.
Dunkelheit.
Nichts scheint sich verändert zu haben. Ob sie die Augen geschlossen oder geöffnet hat.

Blind?
Nein. Nur nicht viel zu sehen. Umrisse sind zu erkennen. Lassen aber auf nichts hindeuten. Nur weiß sie nicht wo sie ist. Und was sie hier macht. Wie lange sie schon hier ist. Ob sie erst her geschleppt wurde. Oder her gekommen ist. Sie weiß nicht mal mehr warum sie hier ist. Ob es einen bestimmten Grund hat. Oder was sie gestern Abend getan hat. Wobei... Ist es abends? Morgens? Mittags? Sie sieht nichts. Der Raum hat keine Fester.

Ihr wird schlecht.
Durch das 'Nichts sehen' scheint es ihrem Magen nicht gut zu gehen. Es schlägt ihr auf den Magen. Irgendwas stimmt hier nicht. Doch alles ist klar. Ihre Gedanken. Ihre Sicht. Auch, wenn das im Dunkeln nicht sehr viel hilft.

Stunden vergehen.
Gefühlte Stunden rauschen an ihr vorbei. In denen sie immer wieder die Augen schließt um auszuruhen. Immer wieder versucht los zu kommen. Doch es gelingt ihr nicht. Sie scheint mit einem Seil irgendwo festgebunden zu sein.

Ein Knarren.
Erschrocken fährt sie hoch. Licht, am Ende des Raumes. Sie blinzelt. Das Licht scheint schon fast wieder zu hell zu sein.
Eine Tür ist aufgegangen.
Und die Person die eintritt macht neben sich das Licht an. Sie kneift die Augen zusammen. Erneut. Kann nicht einer das Licht wieder aus machen?

Ein Mann kommt auf sie zu.
„Raj?“

Der Mann grinst. „Was hast du erwartet, meine Liebe?“ Er tritt näher an sie heran. Bis er vor ihr zum Stehen kommt. Er zündet sich eine Zigarette an. Inhaliert den Stoff und pustet ihn ihr direkt ins Gesicht.
Sie hustet. „Seit wann rauchst du?“
„Schon immer. Du hast es nur nie bemerkt.“

Fassungslosigkeit.
Mit großen, neugierigen und ratlosen Augen schaut sie zu ihm hoch. Beobachtet ihn, wie er sich einmal umdreht und sich wieder von ihr entfernt. Als ob es das schon war. Als ob er sie wieder alleine lassen will.
Er lacht. „Du hast so einiges von mir nicht gewusst, meine Schöne.“
„Was...?“ Ihr stockt der Atem. Ihr fehlt die Sprache um mehr zu fragen. Sie versagt. Sie schwindet. Sie lässt sie ihm Stich. Jetzt, wo sie sie am meisten braucht.
„Ich hab dich gestern Abend, wie du schliefst, hier runter in den Keller geschleppt. Unsere Kinder sind bereits tot. Ein Kopfschuss hat genügt.“ Er hat sich inzwischen wieder umgedreht, kommt wieder auf sie zu.
Was?
Sie hört nicht richtig. Das kommt alles so einfach über seine Lippen. So unbeschwert. Als habe sie ihn darum gebeten. Darum gebeten so offen mit dem Tot ihrer Kinder umzugehen. Ihre Kinder umzubringen. Zu erschießen.

Sie schließt die Augen.
Schüttelt den Kopf. Das kann alles nicht wahr sein. Das alles ist nicht wahr. Das passiert in ihrer Fantasie. Aber warum fühlt es sich dann so echt an?

„Aber... Raj...“
Tränen verlassen ihre Augen. Was hat er getan? Was hat er nur getan?
Er kniet sich hinunter zu ihr und ein lauter dumpfer Knall ertönt...

„Aber Raj...“
Er imitiert sie. Kindisch. Ironisch. Verbittert. „Nichts, aber. Es war notwendig.“
Er steht wieder auf. Zieht wieder an seiner Zigarette und lacht einmal höhnisch auf. Gehässig. Befriedigt. Er scheint das erreicht zu haben was er wollte. Das seine Frau vor ihm kniet. Verzweifelt, frustriert, zerstört.

Ihre Wange glüht.
Der harte Schlag auf ihrer Wange hat sicher seine Spuren hinterlassen. Wenn noch nicht jetzt, dann sicher nach ein paar Stunden. Seine Hand fühlt sie immer noch auf der schmerzenden Wange.

„Warum hast du das getan?“
Die Frage ist so leise gestellt, dass sie befürchtet er hat sie gar nicht gehört. Sie war gehaucht. Unter Tränen der Verzweiflung. Ihre Kinder sollen tot sein? Sie waren doch noch so jung. 2 und 4 Jahre. Kein Alter um dem Tot in die Arme zu springen.
Wieder lacht Raj.
„Warum ich das getan hab? Keine Ahnung. Weil es sich befreiend anfühlt? Weil es notwendig war?...“ Er dreht sich wieder zu ihr. Bleibt aber stehen. Sieht zu ihr hinunter. „...Ich musste es tun. So bin ich. Das liegt in meiner Natur. Ich bin nie lange mit jemandem zusammen. Das ich dich geheiratet habe, die Kinder. All das... All das bin nicht ich. Ich musste das abschalten. Ich musste sie ausschalten. Und dich muss ich auch...“ Er spricht es nicht aus. Sieht sie intensiv an.

Sie schüttelt mit dem Kopf.
„Das musst du nicht. Du liebst mich.“ Verzweifelt sieht sie ihn an.
Wieder hallt sein Lachen im Keller auf. „Ich muss. Sonst tust du es.“
„Ich werde dich nicht umbringen, Raj. Das kann ich nicht.“
„Du kannst. Ich hab deine Kinder erschossen.“
„Unsere...“
„Was auch immer.“

Sie würde ihn umbringen.
Eigentlich weiß sie, dass er recht hat. Er hat ihre Kinder umgebracht. Er hat sie Gott verdammt nochmal umgebracht. Umgebracht. Er hat sie auf dem Gewissen. Und das lässt ihn Lachen? Erfreut sein? Was zum Henker ist in den Raj gefahren, der sie liebt? Geliebt hat. Was auch immer... Er hatte so was nie getan. Er hat ihr die Liebe geschworen, die Ehe, die Treue. Einfach alles. Er war nie so wie jetzt. So hart, so provokant, so gehässig, so blutrünstig. So absolut nicht Raj. Ihr Raj. Ihr Raj war einfach anders.

„Raj...“
„Nichts Raj... Es ist aus Radha. Aus. Hörst du!?“ Ein lachen gleitet ihm über die Lippen.

Ihr rinnen die Tränen die Wange hinab.
„Dann schieß. Du hast die Waffe doch sicher hier. Erschieß mich mit der selben Waffe, mit der du unsere Kinder auf dem Gewissen hast. Schieß schon.“

Wut übermannt sie.
Es kocht regelrecht in ihrer Brust. Es sprudelt ihre Kehle hinauf. Und wartet darauf, dass sie ihr Luft lässt. Auf der Stelle. „Schieß, du Schwein. Aber glaube nicht, das ich dir das jeh verzeihe. Glaube nicht, dass du ruhe hast. Ich mach dir das Leben schwer. Also schieß.“

Er lacht erneut.
„Als ob du das könntest. Du bist dann tot. Mein Püppchen. Tot.“ Er steht wieder vor ihr. Warum auf einmal? Sie hat ihn gar nicht her kommen gehört oder gesehen. Er kniet sich erneut zu ihr hinunter. Umfasst mit einer Hand ihr Gesicht. Und zieht es zu sich. „Tot.“ Er sieht ihr direkt in die Augen. Lächelt schwach. „Mein süßes Püppchen.“
Eine weitere Träne verliert sich aus ihrem Auge.
Er drückt seine Lippen auf ihre. Küsst sie. Hart und doch leidenschaftlich.

Er steht wieder auf. Zückt seine Waffe, aus einer der hinteren Hosentaschen. Hält ihr dann die Waffe an die Schläfe. Ein leises Lachen verliert seine Lippen. Wieder.
„Das Lachen wird dir noch vergehen. Ich liebe dich!“, haucht sie...


Tief zieht sie Luft ein.
Erheben ihren Oberkörper. Sitzt kerzengerade im Bett. Erwacht aus ihrem Schlaf. Schwer und schnell atmet sie ein und aus. Das Herz schlägt ihr bis zur Brust.

Ein Traum.
Ein gottverdammter Traum. Nichts als ein Traum. Was zum Teufel träumt sie da nur? Sie schüttelt mit dem Kopf. Wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Traum war so real. Ging ihr so unter die Haut. Sie sieht zur Seite. Zur anderen Seite des Bettes. Und da liegt er. Friedlich am schlafen. Ihr Mann. Raj.

Sie kuschelt sich an ihn. Drückt ihn fest an sich.
Er legt den Arm um sie.
„Hast du schlecht geträumt?“, nuschelt er ihm Schlaf. Sie nickt. „Von dir. Du hast unsere Kinder umgebracht und wolltest auch mich umbringen.“
Er zieht sie weiter zu sich.
„Was für ein Traum. Was Träumst du, Schatz? Schlaf wieder ein.“
Erneut nickt sie.
Schließt die Augen. Sie tut was er sagt. Beruhigt. Mit einem Lächeln.

Er öffnet die Augen.
Schaut zur Decke hinauf. Und ein Lächeln gleitet ihm über die Lippen. Gehässig. Und verheißungsvoll.

Raj.

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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2012

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