In einer Zeit, noch lange bevor das Erdöl die Welt erobern wird, reitet Scheich Rashid al Shebab mit seinem Begleiter Hassan durch die steinige Wüstenlandschaft Nordafrikas. Wie auch bei den Reisen zuvor, erholen sich die beiden auch diesmal wieder an dem gemauerten Brunnen, der schon so vielen Reisenden vor ihnen das lebensnotwendige Nass in dieser trockenen Steinwüste gespendet hatte. Genauso wie früher, nimmt Scheich Rashid al Shebab auch diesmal das getrocknete Fleisch, um es zwischen sich und seinen Begleiter Hassan aufzuteilen, da sie sich noch vor dem anstrengenden Aufstieg auf den Pass stärken wollen.
Dummerweise schneidet sich Scheich Rashid al Shebab dabei tief in den linken Handballen. Schmerzgeplagt und wütend über sein Schicksal, springt er um den Brunnen, während er alle, gerade noch erlaubten Wehklagen hervor bringt. Hassan, sein Begleiter, versucht ihn zu beruhigen: „Herr, auch wenn die Wunde schmerzt und ihr euch über euer Ungeschick ärgert, so vergesst nicht, dass euch dieses Missgeschick nicht einfach nur so passiert ist. Die Götter wissen warum ihr euch verletzt habt. Sie lassen nichts ohne Grund passieren. Alles im Leben hat seinen Sinn.“
Diese Besserwisserei erzürnt Scheich Rashid al Shebab noch mehr. Wild gestikulierend springt er auf seinen Begleiter zu, um ihn wutentbrannt in den tiefen Wasserbrunnen zu stoßen. Die Zornesröte noch im Gesicht, wischt sich Scheich Rashid al Shebab das Blut von der linken Hand. Dann nimmt er das Kamel von Hassan, bindet dieses an seinem Kamel fest, und reitet davon.
Schon bald darauf entdeckt Scheich Rashid al Shebab eine Gruppe von eigenartig gekleideten Gestalten, die direkt auf ihn zukommen. Obwohl er es mit der Angst zu tun bekommt, versucht er nicht zu fliehen, da er mit seinem müden Kamel ohnehin keine Chance hätte. Scheich Rashid al Shebab ergibt sich kampflos seinem Schicksal. Die düsteren, bewaffneten Gestalten nehmen ihn wortlos in ihre Mitte. Unmissverständlich geben sie ihm zu verstehen, dass er sie begleiten solle. Scheich Rashid al Shebab fügt sich und folgt den dunklen Gestalten schweigend über einen langen steilen Pfad zu ihrem schwer zugänglichen Versteck in den Bergen. Dort angekommen, wird Rashid sogleich dem Anführer vorgeführt. Dieser verlangt von ihm, sich auszuziehen. Widerwillig nimmt er erneut sein Schicksal hin. Als er nackt vor der Meute steht, wird er vom Anführer von oben bis unten gemustert. Er kommt sich vor wie auf einem orientalischen Viehmarkt, auf dem jedes Stück Vieh vor dem Schlachten ebenfalls von allen Seiten begutachtet wird. Als der Anführer die frische Wunde an seiner linken Hand entdeckt, zuckt er zusammen. „Er ist unbrauchbar. Eine Verletzung an der linken Hand“, verkündet er mit kräftiger, bestimmender Stimme. Dies war offensichtlich Grund genug, um Scheich Rashid al Shebab aus dem Versteck zu werfen. Aufgrund seiner Verletzung an der linken Hand war er als Opfergabe unbrauchbar.
Glücklich, noch mal mit dem Leben davon gekommen zu sein, erinnert sich Rashid wieder an die Aussage seines Begleiters Hassan. So wie es scheint, hat ihm die einst unnötige Verletzung gerade das Leben gerettet.
Getrieben vom schlechten Gewissen reitet Scheich Rashid al Shebab so schnell er nur kann zurück zum Brunnen, um seinen treuen Begleiter aus dem ungerechtfertigten Verließ zu befreien. Als dieser endlich befreit war, entschuldigt sich Scheich Rashid al Shebab mehrmals bei Hassan, während er ihm erzählt, was passiert war. Hassan unterbricht ihn jedoch recht rasch: „Ihr braucht euch bei mir nicht zu entschuldigen, Herr. Wie schon gesagt, alles im Leben hat seinen Sinn. So hatte es auch einen Sinn, dass ihr mich in den Brunnen gestoßen habt, denn wäre ich mit euch weiter geritten, dann wäre ich für deren Glauben geopfert worden. Demnach habe ich euch für mein Leben zu danken."
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2009
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Widmung:
Eine mündlich überlieferte Geschichte