Cover

Geboren in eine Großfamilie mit sieben Menschen, besonders erwartet und begrüßt von der vierjährigen Schwester Gertraud, lebenslang Traudchen genannt.
Nach Überstehen meiner Babykoliken im geschäftigen Haushalt der Familie - meine Eltern Gertrud und Alfred führten eine Bäckerei und Konditorei - fühlte ich mich geborgen.

Mein Vater wäre gerne Pfarrer geworden, gestand er mir einmal. Er mußte sich aber - es war 1915 und Krieg - dem "Wunsch" seines Vaters beugen und das Bäcker- und Konditorhandwerk erlernen. Dafür las er aber viel von Poesie bis Nietzsche.

Mein Großvater Robert, von Beruf Schriftsetzer, Sanitätssergeant und Polizeiwachtmeister zeigte mir viele handwerkliche Fertigkeiten, die er von seinem Vater, einem Zimmermann gelernt hatte. Alle seine Fähigkeiten wurden in dem großen Geschäftshaushalt dankbar angenommen, besonders von meiner Mutter, denn mein Vater verstand sich vornehmlich auf die Herstellung köstlicher Backwaren, von denen mir keine nicht gemundet hat. Mit Hammer und Zollstock verstand sich mein Großvater - wie schon gesagt - besser. Seine Werkstatt war in den riesigen Kellerräumen unter unserer Wohnung und den Geschäftsräumen. Dort waren auch die Pupenstube, der Puppenherd, Puppenbett und Puppenwagen, die Märklin-Eisenbahn, die Autobahn, die "Laterna Magica" (ein Bildwerfer) und der Filmprojektor ständig greifbar. Auch einen Schrank mit Gesellschaftsspielen gab es dort.

Mein Vater, den ich sehr gern hatte, war tagsüber in der Backstube und im Laden beschäftigt. Großmutter schaffte in der Küche, meine Mutter im Laden. Beide waren immer für mich da. Auch die Gesellen und unser Mädchen Grete wollten den Sohn vom "Meester" nicht links liegen lassen.

Aber auf den nahegelegenen Humannplatz führte mich mein Großvater und bewachte dort mein Spiel mit den anderen Kindern.

Ostern 1942 sollte ich eingeschult werden. Dass es in der Schule schön ist, wußte ich von meiner Schwester. Wir besuchten dasselbe Schulgebäude, wurden aber getrennt in Mädchen- und Jungen- Klassen unterrichtet. Nur wenige Monate brachte mich mein Großvater zur Schule und holte mich dort ab. Dann kam er nicht mehr. Nur noch einmal suchte er unseren Haushalt, seine alte Wirkungsstätte auf und ging dann für immer nach Hause. "Heute ist Vater gestorben", sagte mein Vater. Bei der Trauerfeier im Krematorium Wedding sah ich erstmals erstaunt die Erwachsenen weinen, bis dahin dachte ich, so etwas tun nur die Kinder.

Nun war mein Vater oft mit mir zusammen und ich merkte, dass ich ihn noch mehr liebte, als meinen Großvater. Mutter und Großmutter liebte ich ohnehin, das fand man jedenfalls natürlich. Denn zu dieser Zeit war es unschicklich, dass Männer Gefühle zeigten.

Nur ein Jahr konnte ich die 21. Volksschule im Bezirk Prenzlauer Berg besuchen, die positive Vorraussage für meine Zukunft auf meinem Zeugnis durch meinen von mir hoch geschätzten Klassenlehrer hat sich erfüllt.

Meine Mutter war mit meiner Schwester und mir in Pommern auf Urlaub als uns ein Anruf meines Vaters aus Berlin erreichte, dass die Kinderlandverschickung in Berlin ausgerufen worden sei. Meine Schwester würde mit ihrer Klasse und Klassenlehrerin nach Schlesien verschickt und ich mit meiner Schulklasse ins Saarland. Zunächst sollten wir drei nicht nach Berlin zurückkommen, sondern in Pommern bleiben. Er erreichte anschließend, dass unser Aufenthalt dort als Kinderlandverschickung anerkannt wurde. Mein Vater führte mit seiner Mutter unsere Bäckerei und Konditorei weiter.

Für mich begannen 17 Monate Naturerlebnis. Intensiv beschäftigte ich mich mit Tieren und Pflanzen, die ich zuvor nur aus Büchern kannte.

Schulunterricht hatte ich zusammen mit meiner Schwester bei der Hauslehrerin Frau Hofrat Welter auf dem Rittergut Turzig.
Als die Kinder des Rittergutsbesitzers nach Hameln ins Internat gingen, ging Frau Hofrat zurück in ihre Heimatstadt Dresden. Wir erhielten zusammen mit den Dorfkindern Unterricht in der einklassigen Dorfschule durch die Junglehrerin Fräulein K..

Weil 1944 alle deutschen Frauen zur Arbeit dienstverpflichtet wurden, konnte meine Mutter dafür in der Gastronomie des Rittergutes arbeiten.
Aus Berlin kamen zwei Freundinnen der gnädigen Frau, Frau Rechtsanwalt Köllner und die Schauspielerin Karin Evans und leisteten dort ihre Dienstverpflichtung ab.

Diese, vornehmlich für uns Kinder, schöne Zeit, wurde überschattet als mein Vater zur Armee einberufen wurde. Mit 43 Jahren sollte er Bäcker für die Wehrmacht ausbilden. Als er Anfang Januar 1945 von seinem Besuch bei uns nach Berlin zurückfuhr, legte er die Verantwortung für Mutter und Schwester in meine achtjährigen Kinderhände. "Du bist jetzt der Mann in der Familie, achte auf Mutter und Schwester."

Nun packten wir unsere Habe in Rucksäcke, die meine Mutter aus Handtüchern und Jalousiegurten genäht hatte. Unsere schönen Hochglanzkoffer waren für die Flucht, die wir vier Wochen später antreten mußten, nicht geeignet.
Mit vielen Menschen aus Ostpreußen fuhren wir in einem Güterzug westwärts, flüchtend vor der anrückenden roten Armee. "Ihr habt es gut", sagten sie, "ihr fahrt nach Hause und wir heim ins Reich, aber in die Fremde." Über sieben Monate dauerte die Rückfahrt über eine Entfernung von nur dreihundert Kilometern mit unzähligen Unterbrechungen und Aufenthalten. Von Kontakten mit der siegreichen roten Armee begleitet, mit dem langsamen Begreifen, dass wir Verlierer waren.

Die Grenze von Posen-Westpreußen in die Mark Brandenburg mussten wir zu Fuss überschreiten. Es war die zukünftige deutsch-polnische Grenze. Nur noch wenige Stunden mit einem Personenzug ohne Fensterscheiben fuhren wir über Eberswalde und Bernau zum Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen. Unbeschreiblich, das Trümmerfeld um den Bahnhof. Mein Blick ruhte auf dem ausgebrannten Kirchturm der Himmelfahrtskirche und dem dahinter sich erhebenden Bunker mit den vier Türmen und den vier Flakgeschützen. Zwei Stationen mit der S-Bahn, ebenfalls ohne Fensterscheiben, brachten uns zum Bahnhof Prenzlauer Allee, unserem Heimatbahnhof.
Meine Mutter brach zusammen, als sie im Torbogen des Bahnhofs von unserem Friseur erfuhr, dass mein Vater seit einem Vierteljahr tot war.
Als meine Großmutter uns zusammen mit einer Freundin der Familie die Tür öffnete, erkannte ich beide nicht, weil sie so ausgehungert und verhärmt aussahen.

Ich stand bei meiner Mutter im Laden, der jetzt nur Brotverkaufsstelle war, als ein Kunde den Laden betrat. "Manfred, hast du den Mann nicht erkannt, der hier eben ein Brot gekauft hat?" "Nein, Mutti." "Das war dein so verehrter Lehrer, Herr Kehrer. Er darf nicht mehr unterrichten und muss Steine klopfen, weil er in der Partei (NSDAP) war."

Nicht nur die S-Bahn hatte keine Fensterscheiben sondern auch unser Klassenraum. Da es Winter war, konnten wir in der Kälte nicht schreiben. Unser Lehrer war der Kantor, der Paul-Gerhardt-Kirche, der uns durch das Lernen und Singen vieler Lieder etwas Wärme verschaffte. Er war es dann auch, der uns in der wenigstens beheizten Eckkneipe Hoff einen Unterschlupf verschaffte. Nun konnten wir mit unseren Bleistiften auf bereits einseitig bedruckten Blättern etwas Schreiben üben. Für wie gefährdet uns die Erwachsenen hielten, wurde mir bewusst bei der Weihnachtsfeier des Bezirksamtes "Rettet das Kind!".

Meine Schwester schloss die Schule ab und erlernte den Beruf des Vesicherungskaufmanns bei der Allianz Lebensversicherung. Meine Mutter heiratete einen Bäckermeister, um das Geschäft wieder eröffnen zu können. Leider war die Eheschließung ein Mißerfolg und nach eineinhalb Jahren wurde ich durch ihren Tod mit dreizehn Jahren Vollwaise. Dass ich bei meinem Umzug zum Vormund nach Reinickendorf den Statbezirk wechselte, bedeutete auch einen Wechsel von Ostberlin nach Westberlin. Dieser Vorgang hatte noch nicht die Bedeutung, die er einige Jahre später haben sollte.
Nach zehnmonatiger Jugendarbeitslosigkeit erhielt ich durch Fürsprache eine Lehrstelle bei den AEG-Fabriken Reinickendorf. Die Lehre beendete ich nach dreieinhalb Jahren erfolgreich als Mechaniker. Mein gemütlichster Berufsschullehrer rheinischer Herkunft sagte nicht nur einmal:" Junge, du mußt unbedingt Lehrer werden." Am letzten Schultag schleifte er mich zum Schulleiter und legte ihm ans Herz: "Dieser Junge muss Lehrer werden, haben sie ein Auge auf ihn". Ein Lehrer ohne Abitur zu werden, schien mir unmöglich. Die Oberrealschule hatte ich nach der neunten Klasse mit Versetzungsvermerk verlassen und nahm nun mit dreiundzwanzig Jahren den Schulbesuch in der zehnten Klasse des Berliner Abendgymnasiums wieder auf. 48 Stunden wöchentliche Arbeitszeit und 20 Stunden Gymnasialunterricht, das war eine Schinderei. Spaß machte nur der Unterricht am Gymnasium.

Viele meiner Lehrer verehrte ich und sie waren mir ein Vorbild. Nach vier Jahren hatte ich das Abitur, die allgemeine Hochschulreife, in der Tasche.
Inzwischen hatte ich mich mehrmals verliebt und im September 1960 geheiratet.
Turbulent war die Zeit. Ein Freund flüchtete mit Familie aus der DDR nach Reinickendorf. Am zwölften August 1961 erhielten meine Frau und ich Besuch von meiner Schwester und meinem Schwager aus Treptow. Mein Schwager war Lehrer und Mitglied der SED, daher wußte er, dass wir uns eine Weile nicht sehen würden, was er uns auch sagte. "Die Grenzen zwischen Ost- und West- Berlin werden geschlossen". Kaum zu glauben...

Als ich mich anschickte Vater zu werden, war ich bereits Student des Lehramts und 28 Jahre alt, als ich Papa einer süßen Tochter wurde. Viele befürchteten, dass ich das Studium abbrechen würde. Wir Eltern der kleinen Susanne sorgten für einen erfolgreichen Abschluß.

Sechs Jahre danach bekam Susanne ihr Brüderchen Christopher.
Nun können sie sich lieben und streiten.

Nach zweijähriger Vorbereitungszeit als Referendar begann mein 34-jähriges Lehrerdasein vom Studienrat zum Studiendirektor.


Nachdem ich über dreißig Jahre geredet habe, habe ich nun Lust, etwas zu schreiben.
"Ich danke Ihnen, dass sie mir ihr Ohr geliehen haben. Sie können es an der Garderobe wieder abholen," würde mein verehrter Freund Heinz Erhardt nun sagen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Kinder und Enkelkinder.

Nächste Seite
Seite 1 /