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Impressum


Mario Schulze

 

Insel der Nachtfalter

 

Roman

 

 

 

LESEPROBE

 

 

 

 

© 2013 AAVAA Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 


 

Andres Rechenberg

Der grauhaarige Mann mit der Sonnenbrille schlägt vor, dass die beiden kastriert werden sollen. Ein für alle Mal. Er sagt das nicht aufgebracht oder gar hasserfüllt. Von der aufgeheizten Stimmung um ihn herum hat er sich nicht anstecken lassen. Er wirkt eher nüchtern dabei. Seine sonore Stimme strahlt Besonnenheit aus. Ihm liegt daran, den Konflikt zu entschärfen. Dieser, heute völlig unkompliziert und eine Sache von wenigen Minuten, sei nämlich der Schlüssel für alle Probleme hier.

„Ist nicht immer so laut. Nur wegen der. Sonst hätt‘ ich Ihnen ein anderes Zimmer gegeben. Ist nur länger nicht gelüftet worden, wissen Sie?“ Frau Nager, die Wirtin, eine kleine, stabile Frau von vielleicht sechzig Jahren, schlägt die Tagesdecke vom Bett und legt sie sorgfältig zusammen.

Aber es wurde doch nur einer von ihnen wegen Vergewaltigung verurteilt, entgegnet der Radioreporter auf der anderen Seite des Fensters selbstbewusst. Sein Einwand schafft es tatsächlich, eine leichte Unsicherheit auf das Gesicht des Befragten zu flackern.

Damit hat er sich für Frau Nager geoutet. „Sehen Sie, ein Hergereister. Einer, der sich wichtigmachen will. Hab ich Ihnen ja gleich gesagt. Nicht der erste. Wenn die hier alle übernachten würden, wär‘ ich bald reich. Die aus dem Dorf kenn‘ ich doch.“ Sie wirft, nun eilfertig mit dem Beziehen der Betten für die unvermuteten Gäste beschäftigt, ein Nicken zum Fenster hin. Wahrscheinlich habe er sich geradezu vor das Mikrofon gedrängelt. Jeder hier in Eilandt wisse, dass nur der Emmerich im Knast saß und nicht der Andere, sein Stiefbruder. Nur diese Schmierfinken von den Zeitungen, die schrieben das manchmal falsch.

Andres Rechenberg, Student der Sozialpsychologie, ein magerer Kerl mit blonden Stoppelhaaren auf dem Kopf, steht unschlüssig und etwas verloren neben seinem Koffer im Zimmer herum; noch kann er nichts tun als warten. Da er ziemlich groß ist, könnte er mit ausgestrecktem Arm mühelos die Decke erreichen, es ist ein altes Haus mit niedrigen Räumen. Der Holzfußboden knarrt leise, wenn er ein bisschen den Fuß bewegt. Andres macht sich ein Spiel daraus zu versuchen, dass der Knarrton immer gleich klingt. Seine Freundin Emma, vor ein paar Wochen sechsundzwanzig geworden, sieht sich derweil die Bilder an der schneeweißen Wand an. Lange und eindringlich, so als würde sie sich für Malerei begeistern. Doch den scharfen Blick von ihr als Reaktion auf den Grauen draußen hat er sehr wohl aufgefangen. Es sind echte Ölgemälde, übereck aufgehängt. Sie zeigen zwei unbekannte, streng dreinblickende Männer mit Bärten, wie sie vielleicht um 1900 modern gewesen waren. Der eine hält ein Buch in der Hand, der andere nichts.

Die Antwort des Grauhaarigen ein Schulterzucken. Für einen Radiobeitrag unbrauchbar. Geduldig wartet der Reporter also mit dem Mikro in der Hand auf etwas Sendefähiges. Die Nötigung fruchtet. Der Andere sei damals ja auch unter Verdacht gewesen, das stand doch in allen Zeitungen, rechtfertigt sich der Gefragte und bereut sogleich, was er da gesagt hat. Will seine gerade aufgebaute Reputation als gesetzestreuer Bürger, der ausschließlich am Gemeinwohl interessiert ist, nicht gleich wieder verspielen. Er ist nicht so einer, der in solch schlichten Kategorien wie oder denkt. Natürlich müsse zuvor genau überprüft werden, von wem wirklich eine Gefahr ausgehe, schiebt er schnell nach. Bei so einem schwerwiegenden Eingriff.

„Schneid’t ihnen die Eier raus und gut is‘!“, bellt plötzlich einer der zehn, zwölf Umstehenden, die bisher ehrfürchtig und diszipliniert verfolgt haben, was die Welt erfahren soll. Der Radiomann ist einen Augenblick irritiert von dem Vorlauten, sowas kann er schließlich nicht senden, erwägt wohl aber dennoch, ihm das Wort zu geben. Doch der Weißhaarige versperrt ihm den Weg und wiegelt den Zwischenruf sofort ab – selbstverständlich sei ein solcher medizinischer Eingriff absolut freiwillig. Etwas Anderes lasse das Gesetz überhaupt nicht zu. Überzeugen müsse man sie. Ihn.

Frau Nager ist jetzt mit den Betten fertig, kommentiert das Gehörte auf ziemlich unfreundliche Weise und bestimmt, dass nun genug gelüftet worden ist. Das geschlossene Fenster lässt das Interview jäh zu einem Stummfilm werden, durch die Scheibengardinen mit den altmodischen Troddeln sind die Akteure nur noch schemenhaft zu erkennen.

„Hier, Ihr Schlüssel. Wenn Sie rausgehen, behalten Sie ihn. Der große ist für die Haustür. Ab zwanzig Uhr bitte abschließen. Wo das Bad ist, wissen Sie ja. Und im Zimmer nicht rauchen.“

„Könnten wir vielleicht noch eine Flasche Mineralwasser bekommen, bitte?“, fragt Emma von der anderen Ecke des Raumes aus. Sie haben vergessen einzukaufen, Emma hat schon den ganzen Nachmittag Durst.

„Bring‘ ich Ihnen. Das da sind übrigens mein Großvater und sein Bruder. Die führten hier früher mal eine Malzfabrik. – Kommen Sie aus Bayern?“ Die Wirtin ist wohl irritiert von Emmas süddeutschem Dialekt.

„Breisgau. Kennen Sie bestimmt. Schwarzwald.“

„Und ob! War‘n wir vor zwei Jahren mal, mein Mann und ich. Eine Busreise. In Hinterzarten! Schöne Gegend.“ Mehr kommt nicht. Die Wirtin wirft einen letzten prüfenden Blick in ihr Fremdenzimmer, wischt sich die Hände an der Küchenschürze ab und geht.

„Was soll das alles, Andres?“ Emma hat sich auf das frisch bezogene Doppelbett gesetzt und prüft wippend die Federn. Der ganze Raum atmet nun diesen typischen Duft von Schrankwäsche. Seine Freundin hat recht, er ist ihr eine Erklärung schuldig.

Dieses Eilandt ist nicht groß. Dreihundert Einwohner mögen zusammenkommen. Vielleicht sind es aber auch ein paar mehr. Sowas schätzt sich schwer. Eine Hauptstraße, sauberer schwarzblauer Asphalt, über den zentralen Platz hinaus bis ans nahe Ende des Ortes, wo der Wald beginnt, dazu eine Handvoll Nebenstraßen. Schmucke Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten. Er findet das nicht spießig. Die Leute leben gern hier. Die neuen bordeauxroten Straßenlaternen sind ihm aufgefallen. Merkwürdig, was manchmal im Gehirn hängen bleibt. Großstädte gibt es nicht in der Nähe; überall nur Bauernland, flachhügelig und weit. Im Dorf viele Schilder, dass Fremdenzimmer zu vermieten sind. In der Nähe muss es sogar eine Feriensiedlung geben, er hat einen Wegweiser gesehen. Und am Ortseingang steht eine mannshohe Plakatwand, die zur 850-Jahr-Feier einlädt. In zwei Wochen soll das große Ereignis steigen.

Er hat mal gewohnt in Eilandt. Fünf Jahre seines Lebens hat er hier zugebracht. Die ersten fünf Jahre. Dann zogen seine Eltern mit ihm fort. Jetzt ist er achtundzwanzig. Nach so langer Zeit lässt sich nicht mehr viel an Erinnerung abrufen. Ein paar Straßenecken glaubte er wiederzuerkennen, die Linde auf dem Rodelberg natürlich, viel kleiner, als ihm die Erinnerung vorgegaukelt hatte.

Von seinem Elternhaus hat er ein Foto dabei. Keins von denen, die aus seiner Kindheit in vergilbten Alben kleben. Dies hier ist neu und gestochen scharf. Der Vater hat es geschossen, und zwar an dem Tag, an dem er den Kaufvertrag unterschrieb, um sich einen Traum zu erfüllen. Sein Alterswohnsitz sollte es werden. Nicht Spanien oder irgendetwas anderes Warmes. Es zog ihn zu seinen Wurzeln zurück. Andres‘ Mutter guckte wie meistens skeptisch, doch sie wäre schon mit ihm gegangen. Aber das sind Träume von gestern. Seit drei Monaten sitzt sein Vater im Rollstuhl. Er ist erst vierundsechzig Jahre alt. Ein Schlaganfall, ohne jede Vorwarnung. Sie konnten ihn retten, trotz der langen Zeit, bis der Notarzt endlich kam. Seither ist er halbseitig gelähmt. Es bessert sich, aber er wird nie wieder laufen können. Ein Haus wie das in Eilandt, mit steiler Außentreppe, Kieswegen und schmalen Türen, ein solches Haus kommt dafür nicht infrage. Die Wohnung in Berlin, die seine Eltern seit zehn Jahren besitzen, ließ sich leichter für die neuen Bedürfnisse herrichten.

Andres‘ Vater ist ein realistisch denkender Mann, er brauchte nicht lange, um sich mit den Tatsachen abzufinden. Wieder verkaufen wollte er das Haus in Eilandt aber dennoch nicht, er hängt einfach dran. Also überschrieb er es kurzerhand seinem Sohn. Der würde es später ja sowieso erben. Nun könnte er sofort drin wohnen.

Wie das so ist mit Geschenken, bei denen man selbst niemals auf die Idee gekommen wäre, sie zu kaufen – im günstigsten Fall benötigt man zumindest ein bisschen Zeit, um sie lieben zu lernen. Eilandt liegt nicht gar so weit weg von Beerburg, wo Andres studiert. Eine Autostunde täglich, morgens und abends, die Zeit und die Benzinkosten im Tausch gegen eine enge WG oder eine teure Studentenbude. Es gibt schlechtere Deals. Andres ist jetzt Hausbesitzer.

Allerdings hat ihn sein Vater vorgewarnt, als er ihm nach der Entlassung aus der Klinik den Schlüssel in die Hand drückte. Es ist ein komisches Gefühl, dass er nun für immer zu Andres aufschauen wird. „Es macht einen Unterschied, ein Haus mit hundertzwanzig Quadratmetern zu unterhalten oder ein Zimmer mit fünfzehn, Junge. Und bevor ich’s vergesse: Da ist noch eine ganze Menge zu reparieren an dem alten Kasten, er stand über ein Jahr leer. Ich würd‘ dir ja gern helfen, aber mit dem Ding hier …“

Herausforderungen spornen Andres nur an. Also hat er sich mit einem Kofferraum voller Werkzeug und sechs Wochen Zeit, bis das Wintersemester wieder losgeht, auf den Weg nach Eilandt gemacht. Ein bisschen Urlaub auf dem Land und so nebenbei das Haus herrichten, das klingt ganz verlockend für ihn. Auch Emma hielt das für eine gute Idee, und so nahm er sie kurzerhand mit. Er kennt sie jetzt seit knapp acht Monaten, vielleicht zieht sie bei ihm ein. Er hätte nichts dagegen.

Jetzt aber sitzt sie erst einmal auf dem Bett in diesem Fremdenzimmer, streicht über den blaugemusterten Bezug und zieht die Stirn in Falten, was er nur an den Augen erkennt, da ihre blonde Ponyfrisur bis an die Brauen heranreicht. Weil er auf ihre Frage nicht sofort antwortet, legt sie nach. „Das war widerwärtig eben …“

„Was meinst du?“

„Die Kerle da draußen. Die mit ihren ekelhaften Parolen …“ Sie steht auf und geht näher ans Fenster heran. Unverändert versucht der Journalist, Stimmen für seine Reportage einzufangen. Er hat leichte Arbeit. Der Dorfanger ist inzwischen gut gefüllt, noch immer kommen Menschen hinzu. Manche entschlossenen Schrittes, doch die meisten strömen nicht, treten eher abwartend heran. Einige machen mit ihren Handys ein paar Fotos, so etwas sieht man ja nicht alle Tage, manche haben ihre Kinder mitgebracht. Handgemalte Plakate, deren Träger etwas linkisch und beinahe schüchtern wirkend mit beiden Händen die Haltestange greifen, fast könnte man denken, dies sind die letzten Vorbereitungen für einen Festumzug, der sich jeden Moment in Bewegung setzen wird. Die Eilandter sind es nicht gewohnt, ihre Meinung auf Pappschilder zu schreiben, sie vor sich herzutragen und in Fernsehkameras zu blicken.

„Es sind genauso viele Frauen da wie Männer, schätze ich“, versucht er einzuwenden.

„Hör auf, ja? Es haben aber nur die Kerle geredet! Diese Idioten.“

Emma kann schnell laut werden, wenn ihr eine Sache bedeutsam erscheint. Laut und unsachlich. Dann hat eine Diskussion mit ihr keinen Zweck. Man macht alles noch schlimmer. Sie kann tagelang nachtragend sein. Dann redet sie kein Wort oder faucht höchstens zurück. Andres hat es einige Male erlebt. Also verzichtet er darauf, ihr zu antworten, und stellt sich hinter sie, sieht ebenfalls hinaus.

„Das müssen ja so gut wie alle Einwohner aus diesem Kaff hier sein“, vermutet sie und schaut zu ihm hoch, um seine Meinung zu hören. Er ist einen ganzen Kopf größer als sie.

„Mag sein. Sind aber bestimmt ‘ne Menge von diesen Demo-Touristen darunter, Typen, die einfach sensationshungrig sind, Gaffer eben. Diese Frau Nager hat’s ja auch gemeint.“

„Die Nager ist ‘ne neugierige Kuh. Sie hat vorhin erzählt, dass sie auch die Friseuse im Dorf macht. Da weiß sie immer Bescheid, was so passiert.“ Emma wechselt das Thema, ein bisschen zumindest. „Und du bist dir wirklich sicher, dieses Haus da drüben ist deins?“ Es gibt keinen Zweifel, welches sie meinen kann, auch wenn im Augenblick nicht viel von ihm zu sehen ist. Schräg gegenüber das unscheinbare Bauernhäuschen, die meisten Demonstranten haben sich davor aufgebaut. Über ihnen wankt, von dicken Stangen getragen, ein fabrikneues regenfestes Banner mit der Aufschrift .

Andres zieht das Foto aus der Tasche, sein Nicken lässt keinen Raum für Ungewissheit. „Sieh doch selbst …“ Das Geländer der Eingangstreppe ist nun weiß gestrichen, genauso wie der Dachkasten und einige der Fenster diese freundliche Farbe tragen, aber dennoch besteht nicht der geringste Zweifel, dass sich die Demonstranten genau vor dem Haus aufgebaut haben, das sein Vater ihm vor einem Monat völlig überraschend überschrieben hat. Eine gemütliche alte Fachwerkkate mit einer grauen Kratzputzfassade, die zu einem guten Teil von üppigem wildem Wein bedeckt ist, der bald das moosbewachsene Ziegeldach erreicht haben dürfte.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Andres“, hakt sie nach.

„Weshalb wir hier eingezogen sind? – Du siehst doch, was da draußen los ist! Soll ich vielleicht rübergehen und anklopfen?“

„Warum nicht? Es ist dein Haus!“, erwidert seine Freundin lauernd.

„Emma! Stell dich nicht naiver, als du bist. Was würde wohl passieren, wenn ich das jetzt täte? Ich habe keine Lust, hier zum Medienstar zu werden, nur weil zwei Vergewaltiger in mein Haus eingebrochen sind und die Polizei sich auch noch gezwungen sieht, die beiden zu bewachen, damit diese Horde wildgewordener Plakatschwenker da draußen sie nicht auf der Stelle lyncht.“

„Du übertreibst. Und außerdem ist es nur einer von beiden, das hast du doch eben selbst gehört …“

Andres winkt nur ab, doch damit erreicht er bei ihr nichts, sie will das jetzt ausdiskutieren. Da klopft es. Frau Nager mit dem Mineralwasser. Sie kommt ihm wie gerufen. Die Wirtin weiß bestimmt mehr darüber, warum die Staatsmacht dem Treiben der beiden tatenlos zuschaut.

„Warum die Polizei nichts tut? Na, welches Dorf hat die schon gerne. Niemand weint ihnen eine Träne nach, wenn sie woanders hinziehen. Aber wie kommen Sie darauf, dass der Emmerich und sein Stiefbruder in die eingebrochen sind?“

„?“ Andres sieht die Frau verständnislos an und zweifelt, ob sie beide dasselbe Haus meinen.

„Die Vorbesitzerin hat es so genannt. Draußen hängt sogar ein Schild, gleich neben der Eingangstür. Ist keine richtige Villa, na klar. Der Emmerich hat das Haus dann geerbt. Die hatten sogar noch das Testament dabei, als sie eingezogen sind. Der Briefträger hat’s mir erzählt. Und irgendwo müssen sie ja schließlich wohnen …“

„Was?“, platzt Andres heraus. Emma sieht verständnislos zu ihm herüber. Frau Nager, die sich geschmeichelt fühlt, dem fremden Liebespaar mit Informationen dienen zu können, die noch nicht in der Zeitung standen, ignoriert es, berichtet weiter, dass Wentrup, der Stiefbruder von Emmerich, schon ein paar Wochen vor dessen Entlassung ins Dorf gekommen ist. „Gewerkelt hat er die ganze Zeit. Innen und außen. War ja auch ganz schön verlottert nach einem Jahr Leerstand. Aber gesagt hat er nix, der Windhund. Ist eh so ein Verschlossener, wissen Sie? Erst als der Emmerich draußen war, ham wir gemerkt, was uns da für ein Kuckucksei ins Nest gelegt wurde. Mit ’m Taxi kam er vorgefahren.“

„Ich muss mal telefonieren“, meint Andres und geht auf den Flur.

Selbstverständlich hat alles seine Richtigkeit, Andres, versichert ihm sein Vater aufgebracht. Der Kaufvertrag ist von einem Notar ausgefertigt worden, wie das üblich ist. Und der hat auch das Grundbuch eingesehen. Was ist überhaupt los bei euch da unten?

Er werde sich sofort mit Ottilie Kundler in Verbindung setzen und die Sache klären. Die Nummer habe er ja noch. Die Kundler war die Vorbesitzerin. Als Andres ihm sagt, dass sie möglicherweise nicht mehr lebt, ist es einen Moment still in der Leitung. Der Vater überlegt. Also gut, leitet er seine neue Strategie ein. Er ist ein Mann kurzer Entschlüsse, immer gewesen. Andres bewundert ihn dafür. Zunächst werde er ihm den Kaufvertrag schicken. Schnellstmöglich. Diese Nager hat bestimmt kein Faxgerät? Dann eben per Post. Das Einschreiben habe er vielleicht schon morgen. Darüber hinaus müsse es doch da unten in Eilandt einen neuen Grundbuchauszug geben, in dem der Kauf verzeichnet sei. Gewiss trödelten die Behörden immer ein bisschen. Aber nach so langer Zeit. Andres solle sich sofort drum kümmern. Er selbst werde sich mit seinem Notar in Verbindung setzen. Doch eigentlich wisse er die Antwort schon vorher. Man könne nur vererben, was einem noch gehöre. Und als der Kaufvertrag unterschrieben worden sei, habe diese Kundler kein Haus mehr zu vererben gehabt. Zumindest nicht das in Eilandt.

Also Ruhe bewahren, Junge, das klärt sich alles. Am besten, du wartest einen Moment, ich rufe gleich zurück, ja?

Um den Grundbuchauszug kann sich Andres erst in drei Tagen bemühen. Es ist Freitagnachmittag. Er überlegt, ob er wieder hineingeht in das Zimmer, wo die Nager noch immer mit Emma quatscht, doch er will lieber warten. Vater ist schnell in solchen Dingen. Dem macht keiner so leicht etwas vor.

Geduldig verharrt er, tritt, um sich die Zeit zu vertreiben, an das kleine Fenster neben der Garderobe, unter dem eine alte Holztruhe steht, wie sie früher in Burgen zu finden waren. Die Zeit hat sie dunkel gemacht. Vorsichtig prüft er, ob sie sich öffnen lässt. Sie ist leer bis auf zwei Paar Gummistiefel. Ein größeres und ein kleines. Wohl für die Gartenarbeit. Draußen sieht er einen Hinterhof, ziemlich unordentlich. Baumaterialien, der Schuppen gegenüber nicht verputzt. Hühner laufen herum und halten das Gras fern. Auch wenn es lange her ist, Andres hat das Gefühl, als kennte er das alles noch. Wie eine alte Malzfabrik wirkt die Szenerie jedoch nicht. Wahrscheinlich meint die Nager das Grundstück nebenan, von dem nur eine hohe, solide Mauer zu sehen ist.

Nach zehn Minuten ruft der Vater wieder an. „Die Frau Kundler ist wirklich tot. Aber ich habe ihren Nachlassverwalter an die Strippe bekommen, Andres. Der hat nach Verwandten suchen lassen. Ein Testament gab es offensichtlich nicht. Jedenfalls wurde keines gefunden. Ein Sohn, der sich nie um sie gekümmert hat, ist aufgetaucht. Der hat alles gekriegt. Dieser Kerl, der da jetzt in deinem Haus hockt, ist ein Betrüger. Und selbst wenn es das Testament geben sollte, so ist es ungültig. Die Kundler brauchte damals übrigens schnell Bargeld. Ich erinnere mich noch daran, dass sie mir das erzählt hat. Sie wollte in den Süden, nach Spanien, glaube ich. Hat sich wohl auf ihre alten Tage noch einen Freund angelacht. Eigentlich eine nette Dame. Deshalb musste sie das Haus offenkundig verkaufen. Du kannst also spätestens, wenn du meinen Brief erhalten hast, dafür sorgen, dass diese Burschen aus deinem Haus verschwinden. Notfalls mit Polizei und Gerichtsbeschluss. Hoffentlich haben die nicht alles demoliert. Und lass das Schloss auswechseln.“

Das Schloss, na klar! Er dankt seinem Vater, beendet das Gespräch mit dem Versprechen, ihn auf dem Laufenden zu halten, geht wieder in das Zimmer und rennt die Wirtin fast um, die genau hinter der Tür steht.

„Sagen Sie, Frau Nager … den Haustürschlüssel“, bohrt Andres, „woher hatte er den? Wie ist er reingekommen?“

Frau Nager hat sich zu ihm umgedreht und putzt sich die Nase, versteht seine Frage nicht. „Wie, den Haustürschlüssel?“

„Der Vergewaltiger. Sein Bruder! Ist doch egal … Woher hatte er den Schlüssel?“

„Woher soll er den haben? Den hat er natürlich mitgebracht.“

Wenn das stimmt, wenn es diesen Schlüssel wirklich gibt, dann gibt es auch das Testament. Aber vielleicht hat dieser Wentrup ja auch nur den Zweitschlüssel seines Vaters gefunden. Das war sicher nicht schwer. In diesem Fall spielen die beiden hier aller Welt Theater vor. Vielleicht liegt er ja gar nicht mehr im Zwischenboden des Vogelhäuschens, wo ihn der Alte vor einem Jahr versteckt hat. Wer weiß.

 

Emma Fischler

Die Luft weht noch lau, aber Emma hat sich trotzdem eine dünne Jacke übergezogen, denn sie friert leicht. Selbst Ende August können die Abende manchmal schnell abkühlen, hier im Norden. Da wo sie wohnt, müsste sie das nicht befürchten, die Rheinebene gehört zu den wärmsten Regionen Deutschlands. Das weiß sie zu schätzen.

Sie wollen noch einen Spaziergang machen, haben sich an den Händen gefasst. Nicht nur Emma ist neugierig. Sie merkt Andres doch an, was in seinem Kopf vorgeht, auch wenn er es nicht zugeben will.

Emma hat sich wieder abgeregt. Vorhin wäre es fast zum Streit gekommen. Sie war nicht scharf drauf, in diese komische Pension einzuziehen. Andres hatte ihr ein Häuschen versprochen, darauf freute sie sich. Alte Häuser aufpäppeln, das mag sie! Nun gut, ein paar Tage kann sie jetzt auch noch warten. Lief eben alles ein bisschen anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Schon als sie hier ankamen. Statt eines verschlafenen Kaffs eher die Cannstadter Wasen. Nur nicht so ausgelassen, die vielen Leute auf den paar Straßen. Mehr verbiestert und entschlossen. Als sie dann den Grund erfuhren, war alles klar.

Andres steht völlig neben sich, seit sie hier angekommen sind. Ausgerechnet muss das passieren! Wer in sein neues Haus einziehen will und feststellt, dass es schon bewohnt ist, fühlt sich erst einmal ziemlich veralbert. Und was die Nager erzählt hat, klang schon komisch. Doch Andres ist zuversichtlich geblieben. Sein Vater, der große Zampano, zu dem er aufschaut, als wäre es Gott, regelt das schon, glaubt er. Mit den richtigen Dokumenten in der Hand sollte es schnell gehen. Hoffentlich.

Von der Kundgebung am Nachmittag ist nichts mehr zu sehen. Die Reporter sind abgezogen, die Plakatreste aufgesammelt. Eilandt scheint ein Ort mit fleißigen Menschen zu sein, die es schön haben wollen, auf Sauberkeit achten. Doch nun ist niemand mehr zu sehen. Stille ist eingekehrt. So wie sie es eigentlich bei ihrer Ankunft erwartet hätten. Der Ort wirkt wie ausgestorben. Nur die Parolen an manchen Häusern – aufgemalt auf weiße Laken und in die Fensterrahmen geklemmt – erinnern daran, dass sich gerade etwas tut in diesem Dorf. steht da zu lesen oder . Sind sie nun fantasievoll und witzig oder hilflos und albern? Emma weiß es nicht. Alles ist so surreal!

Vor der Brunnengasse 3 steht ein Streifenwagen herum. Die Bullen zeigen Präsenz. Der Motor ist abgestellt. Zwei Uniformierte sitzen drin und unterhalten sich. Sie schieben hier Dienst, sollen aufpassen, dass alles ruhig bleibt in Eilandt, keiner austickt und etwas Unüberlegtes tut. Nach so einer Demo wie heute sind die Gemüter vielleicht erhitzt. Da wollen sie lieber kein Risiko eingehen.

Doch die beiden Dorfpolizisten glauben wohl, dass es in dieser Nacht keine Vorkommnisse mehr geben wird. Sie sitzen entspannt in ihrem hochgerüsteten Auto, haben die Dienstmützen abgesetzt, unterhalten sich lächelnd und gestikulieren ein bisschen. Auch als Emma und Andres sich nähern, reden sie weiter. Nur schauen sie sich jetzt nicht mehr an dabei. Ihre Blicke verfolgen die Fremden. Sie wirken noch nicht gleich alarmiert, aber ein bisschen Misstrauen haben sie schon in den Augen. Emma kann es sehen. Spaziergänger sind sie, harmlos. Also lassen sie sie unbehelligt ihren Weg gehen zwischen Streifenwagen und Haus hindurch. Haus.

Das Schild mit dem angeberischen Namen gibt es tatsächlich, gleich neben der Eingangstür hängt es, Buchenholz, die Sonne hat es mit der Zeit grau werden lassen, aber man kann es noch gut lesen. Die Fensterläden sind verschlossen, auch sonst deutet nichts auf Bewohner hin. Hinter dem Haus muss ein Garten sein, erzählt ihr Andres. Das Paradies seiner frühen Kindheit. Wahrscheinlich ist auch er viel kleiner, als er es noch in Erinnerung hat. So wie das Haus.

Die Wirtin hat recht gehabt, meint er. Dieser Wentrup, der Stiefbruder des Verbrechers, hat es ordentlich aufgemöbelt. Erst aus der Nähe kann man sehen, dass der Vorgarten gut gepflegt ist und auch dessen Zaun von einer neuen Schicht Holzlasur strahlt. Die Weinlaubhecke an der Hauswand wurde sauber geschnitten. An der Dachrinne glänzen ein paar frische Lötstellen. Andres sieht sowas, zeigt es ihr. Der Eindringling scheint vielseitig begabt zu sein. Das Vogelhäuschen hängt noch an dem Platz, den Andres‘ Vater ihm beschrieben hat. Aber das heißt ja noch nichts. Da hatte der Zampano den Haustürschlüssel versteckt. Wer weiß, ob er noch drin ist. Vielleicht hat ihn ja jemand dabei beobachtet.

„Wenn die glauben, ich bezahl‘ denen das alles … Können sie vergessen!“, mault ihr Freund wütend. Jetzt, wo er davor steht vor dem, was seins ist, da ist er nicht mehr so komisch abgeklärt wie noch vor zwei Stunden in der Kammer von dieser Nager. Ihrer vorläufigen Bleibe. Ein schlechter Tausch gegen das Haus. Die Alte hat gefragt, wie lange sie das Zimmer haben wollen. Übers Wochenende oder länger? Hoffte wohl auf ein gutes Geschäft. Denkt, sie wären Urlauber. Hier gibt es jetzt viele neue Radwege und ein paar schöne Ausflugsziele. Die alte Bockwindmühle im Nachbardorf zum Beispiel. Ist eine besonders seltene. Mit dem Fahrrad durch das Wäldchen.

Eine Nacht, erst mal. Sie wüssten es noch nicht so genau, log Andres einfach, und sie spürte sofort, dass die Wirtin keine große Lust hatte, für eine einzige Nacht die Betten zu beziehen. Dann aber nur gegen Vorkasse. Als er großzügig aufrundete, war sie schlagartig milder gestimmt.

 

Der eine von den Bullen ist aus dem Auto ausgestiegen und fordert sie höflich auf, hier nicht stehen zu bleiben. Dabei klopft er sich die Krümel von seinem Uniformhemd ab. Polizisten essen in Streifenwagen immer was. Jedenfalls im Film. Jetzt muss er sich nur noch das Koppel zurechtrücken, denkt Emma. Ein älterer Mann um die vierzig mit Schnauzer und leichtem Bauchansatz. Er kennt Emma nicht und ist deshalb ziemlich überrumpelt, weil sie nicht kuscht, wie er wohl erwartet hat.

Sie geht gleich auf ihn los. „Wir leben schließlich in einem freien Land und dies ist eine öffentliche Straße! Was werfen Sie uns vor? Haben wir irgendwas Verbotenes getan?“

Der Beamte hat wohl Angst, dass die Situation eskalieren könnte, jedenfalls geht er zurück zum Wagen, wechselt ein paar Worte mit seinem Kollegen und setzt sich die Dienstmütze auf. Er will den Ausweis von Andres und Emma sehen. Der andere steigt nun ebenfalls aus.

Emma beißt erneut zurück: „Sie haben sich ja noch nicht mal vorgestellt!“

Das stimmt. Der Schnauzbärtige erkennt seinen Fehler und macht ein betretenes Gesicht. So etwas darf ihm eigentlich nicht passieren. „Polizeiobermeister Jürgensen vom Polizeirevier Müntenich, dies ist mein Kollege Polizeimeister Schnell. Würden Sie sich nun bitte ausweisen?“

Emma geht nicht darauf ein. „Wissen Sie eigentlich, Haus Sie da bewachen? Wissen Sie das?“

Andres, der bisher teilnahmslos dabeigestanden hat, fasst sie nun am Arm und rückt die Ausweise heraus. Sie weiß, warum. Er will nicht, dass sie irgendwas herausposaunt, bevor er alle Papiere beisammenhat. Viel mehr als ansehen können die Bullen die Ausweise sowieso nicht. Der Schnauzbärtige studiert sie eingehend und gibt sie dann an seinen Kollegen weiter. Der ist viel jünger als er, nicht mal dreißig, vielleicht sogar noch jünger als sie, hat fettige rote Haare und bisher noch kein einziges Wort gesagt. Das bleibt auch so. Der Schnauzbart redet. Er hat Emmas provozierende Frage offensichtlich falsch verstanden. „Natürlich wissen wir das. Bitte bleiben Sie nun hier nicht länger stehen. Ansonsten muss ich Ihnen aufgrund einer Gefährdungslage einen Platzverweis aussprechen.“

„Platzverweis? Ist das hier ein Fußballspiel? Wen gefährden wir denn?“ Emmas reagiert immer gereizter. Sie kann nicht anders. Andres schon. Er lenkt erneut ein, nickt den beiden zum Zeichen des Einverständnisses zu, lässt sich die Dokumente wiedergeben und zieht seine Freundin fort.

Die schüttelt sich los, sie mag ihn nicht anfassen, wenn sie sauer auf ihn ist. „Warum lässt du dir das gefallen, he? Verrat‘ es mir. Die jagen dich von deinem eigenen Grundstück weg!“

Er setzt ihr noch einmal auseinander, dass es falsch ist, einfach hinzugehen und loszuschreien, solange sie nichts beweisen können. Offensichtlich sind doch alle im Dorf davon überzeugt, diesem Emmerich gehöre das Haus wirklich. Also lieber warten, bis die Unterlagen seines Vaters da sind. Vielleicht schon morgen. Und wenn nicht, dann eben Montag. Was ist denn so schlimm daran.

Am Ende fasst sie doch wieder seine Hand. Die ist immer warm und so schön groß. Alles an ihm mag sie eigentlich. Nicht nur die etwas kantigen Gesichtszüge und seine klugen Augen, auch die etwas abstehenden Ohren und seinen schlaksigen Gang. Aber nun hat sie Hunger. Erzählte die Nager nicht etwas von einem Wirtshaus, das es hier in Eilandt noch geben soll?

Es ist nicht schwer zu finden und nennt sich „Zum Bären“. Nicht, weil es hier welche gäbe. Der Besitzer heißt so, kann man in kleinerer Schrift drunter lesen. Ein typischer Landgasthof, einer, der satt macht und nicht unbedingt die Feinschmecker anzieht. Die Wände mit Kiefernholzprofil verkleidet, überall hängen bekloppte Geweihe herum. Emma hat was dagegen, Tiere einfach abzuknallen und dann noch damit anzugeben. In der Ecke dudelt so ein Glücksspielautomat.

Einen freien Tisch gibt es nicht mehr, aber ein paar einzelne Plätze sind noch zu haben. Unschlüssig sehen sie sich um. Bevor sie sich entschieden haben, zupft einer an Andres‘ Arm.

„Du bist doch der, der heute bei uns eingezogen ist, hab ich recht?“ Der Mann hat gesunde, sonnengebräunte Haut, ein längliches Gesicht mit vollen Wangen und pechschwarzes gescheiteltes Haar, obwohl er auf die Sechzig zugehen muss.

Emma schaltet sofort. „Dann sind Sie der Mann von Frau Nager.“

„Achim Nager, ja, der bin ich. Kommt, setzt euch hier hin!“ Er zieht die beiden noch freien Stühle ab und nötigt das Pärchen, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Warum nicht, irgendwo müssen sie ja sitzen. Der Vierte am Tisch ist sein Sohn Helmut, erfahren sie, doch das hätte sie auch so gewusst, die Ähnlichkeit ist frappierend. Er ist jünger als sie, kaum über zwanzig, und macht ein mürrisches Gesicht. Schon steht der Wirt mit zwei Ringordnern, auf denen in Goldschrift das Wort prangt, und einem Block zum Mitschreiben neben ihnen. „Die Nierchen sind aus. Kartoffelsalat mit Bockwurst geht am schnellsten. Wollt ihr denn was essen?“

Na klar wollen sie etwas essen. Auch Andres hat Hunger bekommen und nimmt den Kartoffelsalat. Emma weiß noch nicht. Wie der denn angemacht ist, will sie wissen. Mit Dressing oder purem Olivenöl? Oder Mayonnaise? Der Wirt, ein hagerer Kerl mit schwarzem Ohrring auf der linken Seite, in bleicher Jeans und fleckigweißem Hemd, in dem mehrere Kugelschreiber stecken, mag erst gar keinen Zweifel an der Qualität seiner Speisen aufkommen lassen. „Die Mayonnaise macht meine Frau selbst“, verkündet er, als ob das ein Beweis dafür wäre.

Emma nickt trotzdem. „Also zweimal Kartoffelsalat. Nein, warten Sie, doch lieber das Bauernfrühstück, bitte.“ Wortlos korrigiert Herr Bär das Geschriebene. Und für Andres ein Helles. Auch bei den Getränken spielt Emma die Diva. Ob er einen trockenen Roten habe, fragt sie den Wirt, der geduldig ist mit dem schwierigen Gast. Dazu müsse er erst in den Keller gehen, erklärt er höflich. Wird eben selten bestellt bei ihm.

„Nicht nötig. Dann nehme ich auch ein Bier. Und vielen Dank für Ihre Mühe“, flötet Emma nun. Sie gefällt sich darin, immer ein bisschen unberechenbar zu sein. Manchmal nervt sie Andres, das weiß sie, aber damals, als sie sich in der Unibibliothek kennenlernten, ist er total drauf abgefahren. Er hat es ihr selbst erzählt. Emma hatte dort eine Zeitlang in der Ausleihe gejobbt. Ihre Eltern halten sie knapp, haben selbst nicht viel. Der Vater ist seit einem Jahr Invalidenrentner. Aber studieren sollte ihre Tochter unbedingt.

Kaum ist der Wirt weg, sieht es Herr Nager wieder als seine Aufgabe, den Unterhalter zu spielen. „Ihr könnt ihn ruhig duzen. Wir duzen uns hier alle“, meint er und tätschelt Emma den Unterarm. Die zieht sofort zurück und wirft ihm einen blitzenden Blick zu. Andres grinst verstohlen, Emma hat es sehr wohl bemerkt. Brr, wenn sie etwas nicht ausstehen kann, dann sind das schmierige alte Männer. Auch Nager Junior, der bisher kein einziges Wort gesagt hat, grient kurz und unsicher in Emmas Richtung, bis er weiß, dass sie seine Schadenfreude registriert hat. Sie spürt, wie er sich für das Verhalten seines Alten schämt. Der Schmierer indes tut so, als sei nichts gewesen, redet über dieses und jenes und will schließlich wissen, was sie nach Eilandt verschlagen hat. „Urlaub? Oder seid ihr etwa wegen der Demo hier?“

Nein, mit der Demo haben sie nichts zu tun, aber eine genauere Antwort erhält er nicht, denn der Wirt kommt mit dem Bier, und nach dem Anstoßen ist die Aufmerksamkeit von Achim Nager vorerst abgelenkt, weil noch jemand die Kneipe betreten hat. Die anderen Gäste haben es ebenfalls bemerkt, denn der Geräuschpegel sinkt für einen Moment merklich. Ein Kerl wie ein Baum, gepflegtes Äußeres, fleischiges Gesicht und kurze Haare auf dem großen Kopf, eigentlich sollte den Namen Bär tragen. Doch er heißt Thorsten Haffkemeyer, Bauunternehmer und Mitglied des Gemeinderates. Nager erzählt noch mehr. Der Mann ist Vorsitzender der Bürgerinitiative , die sich dafür einsetzt, dass diese beiden Verbrecher hier verschwinden. Mit der Schuldfrage nimmt es hier offensichtlich keiner so genau. Andres jedenfalls ist mit einem Mal höchst interessiert. Klar, der will sein Haus zurück. Heute Abend ist Sitzung.

Haffkemeyer hat einen Karton unter dem Arm und geht, als wäre er hier zuhause, durch die Gaststube direkt in Richtung Küche. Er spricht kurz mit dem Wirt, der darauf eine Tür im hinteren Teil der Kneipe öffnet und das Licht für den Nachbarraum schaltet. Eher eine Art Tanzsaal, wie ihn viele Gasthäuser auf dem Lande haben. Für runde Geburtstage, Leichenschmäuse und andere Feierlichkeiten.

Als hätte es ein geheimes Kommando gegeben, setzt ein Schurren und Rumoren ein, und nun ist die Gaststube fast leer, gerade eine Handvoll Leute sitzt noch an den Tischen; die meisten Gäste sind Haffkemeyer in den Saal gefolgt. Auch Nager hat sein Bierglas gegriffen und ist aufgestanden. „Kommt doch mit“, lädt er Andres und Emma ein, „ist heute öffentlich. Wenn ihr Lust habt. Könnt ihr mal sehen, was wir hier so machen. Richtig politisch wird das.“

„Unser Essen ist gleich da“, wiegelt Emma ab, froh, dass der Kerl nicht mehr neben ihr sitzt. Wie zum Zeichen der Bestätigung kommt auch schon der Bärenwirt, doch vorerst bringt er nur den Kartoffelsalat und die Würstchen, das Bauernfrühstück dauert noch. Als er wieder gehen will, hören sie die Stimme des jungen Nager, der am Tisch geblieben ist, zum ersten Mal. Er bestellt noch ein Bier.

„Und du bist nicht mit dabei?“, spricht Andres ihn an, während er penibel seine Wiener mit Senf bestreicht.

„Nichts für mich. Logisch. Ist doch eh nur Gequatsche“, zischelt der Gefragte als Antwort.

„Wieso? Willst du nicht auch, dass die beiden verschwinden?“

Helmut Nager hat ein klares Weltbild. „Was geht’s mich an? Was hab ich mit den beiden abzumachen?“

Emma, die es nicht mehr ausgehalten hat und mit ihrer Gabel nun kleine marinierte Kartoffelscheibchen von Andres‘ Teller angelt, schießt einen Blick zu dem jungen Burschen hinüber: „Würdest du auch so reden, wenn du eine Frau wärst?“

Nager Junior reicht‘s, er fühlt sich in die Enge getrieben. „Bin aber keine“, knurrt er, steht auf und verschwindet zum Klo. Unterwegs bedeutet er dem Wirt, sein Bier an einen anderen Tisch zu stellen.

„Feigling“, zischt sie ihm hinterher.

„Wenn du so weitermachst“, kommentiert Andres die Szene, „fliegen wir heute Nacht noch aus unserer Pension. – Schmeckt dir mein Kartoffelsalat mit der selbstgemachten Mayonnaise der Frau Wirtin?“

„Hab dich nicht so. Und eine Pension ist das noch lange nicht. Du wärst jetzt wohl gern mit dem alten Nager da reingegangen, oder?“

Jobst Wentrup

Günstiger kann die Gelegenheit nicht sein. Fast das ganze Dorf trifft sich heute im . Er weiß es von ihr. Die SMS kam vor einer Stunde. Niemand wird ihn bemerken.

In den letzten Tagen ist es schwierig geworden, unbemerkt das Haus zu verlassen. Die Bullen stehen neuerdings ständig herum. Auch nachts. Er hat den Rasenmäher laufen lassen, um sie zu überlisten. Es ist so ein Benziner, der macht richtig Lärm. Daher konnte er unbemerkt ein Loch in den Staketenzaun schneiden. Ein sorgfältiges Viereck, gut getarnt an einer Hecke. Nicht zu sehen, wenn man es nicht weiß. Zum Garten hinaus droht keine Gefahr. Hinter den zwei Häusern, die da stehen, ist das Dorf zu Ende. Alte Leute, die kriegen nichts mit.

Vor ein paar Wochen noch ist er auch in den gegangen. Man isst dort gut. Jetzt kann er das nicht mehr – seit Berndt wieder draußen ist. Sie haben ihn sofort erkannt. Irgendwer erinnert sich immer.

Seitdem behandeln sie ihn wie einen Aussätzigen. Nicht nur seinen Bruder! Er kennt dieses Gefühl gut. Es ist das gleiche wie vor siebenundzwanzig Jahren. Er hat es keineswegs vergessen. Damals, als alle Welt glaubte, sie hätten den Täter gefunden. Als alle dachten, sei der Vergewaltiger. Sogar Franka glaubte es am Ende.

Es passte ja auch alles so schön, denkt er bitter. Sein roter Golf, der am Tatort gesehen wurde, die Reifenspuren. Sie hatten ihn ganz schön lange in der Mangel. Sogar Untersuchungshaft war angeordnet worden. Ein von der Presse gehetzter Staatsanwalt, der dringend einen Erfolg brauchte, nachdem das zweite Opfer, Marie Klein, die Tortur seines Bruders nicht überstanden hatte. Schließlich ein voreiliger Haftrichter, der dem Staatsanwalt alles glaubte. Nur dass es eben viele rote Golfs gibt, und etliche davon fuhren damals seine Reifenmarke. Rauslassen mussten sie ihn erst, nachdem durch die Obduktion der Tatzeitpunkt ermittelt worden war und feststand, dass er es nicht gewesen . Weil er ein wasserdichtes Alibi hatte. Weil er an diesem Tag zufällig drüben in Obritz den Weidezaun gebaut hatte und die Zeit so drängte, weshalb sein Chef ausnahmsweise mit ihm draußen war, um zu helfen. Bis in den Abend hinein waren sie am Arbeiten. Der Chef bezeugte alles.

Seine Kollegen klopften ihm auf die Schulter und fanden, er habe Glück gehabt. Wäre er allein draußen gewesen, hätten sie ihn vielleicht verurteilt, meinten sie.

Er sah das damals ganz anders und hat seine Meinung bis heute nicht geändert. So eine Obduktion dauert in Kriminalfilmen immer nur ganz kurz, zack! – haben die Kommissare das Ergebnis. In Wirklichkeit aber brauchen die Typen, die die Toten aufschneiden, manchmal Wochen, je nachdem, wie kompliziert der Fall ist. Marie Klein lag mehrere Tage in einer Baugrube, bevor sie starb; den Zeitpunkt des eigentlichen Verbrechens zu ermitteln erforderte große Geduld. Und irgendwas bleibt immer hängen. Schließlich hatte er ja nur ein Alibi für die zweite Vergewaltigung. Die erste hätte er theoretisch begehen können. Sie ließen ihn nur laufen, weil sich die Taten so ähnelten. Der merkwürdige schwarze Stoffbeutel. Das auffällige Klebeband. Die Bullen kamen nicht darauf, woher der Täter beides haben konnte. Dabei hätten sie bloß in die alte Werkstatt ihres Vaters zu schauen brauchen. Die lag im Nachbarort, nur ein paar Kilometer entfernt. Der Alte hatte sie ein Jahr zuvor aufgegeben. Sein Rücken machte einfach nicht mehr mit. Er verkaufte sie aber nicht, denn er wollte sie ja für Jobst aufheben, der sie später übernehmen sollte und gerade seinen Zimmerer lernte. Dass er eigentlich das Abitur machen und Kunstmaler werden wollte, hatte seinen Vater nie interessiert.

Heute wird die Werkstatt ganz verfallen sein, er ist lange nicht dort gewesen.

Vater hatte in den schwarzen Stoffsäckchen immer die Holzkeile aufbewahrt. Insgesamt sechs verschiedene Größen. Zwei der Säcke fehlten nach Berndts Taten.

Klar kapierte Jobst sofort, als er sie sah, dass es nur Berndt gewesen sein konnte. Ihm wurde schlecht vor Schreck. Der Kommissar, der ihn damals verhörte, bemerkte seine Reaktion sehr wohl, deutete sie aber völlig falsch. Wenzel hieß er, glaubt sich Jobst zu erinnern. Er dachte, nun hätte sich sein Verdächtiger verraten. Doch schlau genug, um die Herkunft der Säckchen zu ermitteln, war er nicht.

Wieder in der Zelle, rechnete Jobst nach, das Ergebnis gleichzeitig ahnend und fürchtend. Es passte alles zusammen. Sein Bruder hatte sich genau an den Tagen, an denen es passiert war, den Golf ausgeborgt. Niemand wusste davon, nur er. Und da Berndt damals längst in der Stadt wohnte, hatte Wenzel auch nicht in diese Richtung ermittelt. Berndt konnte ihn sogar in der U-Haft besuchen, ohne dass es auffiel! Wenzel glaubte, mit dem Holzstaub an den Säckchen hätte er ihn. Schließlich lernte Jobst Zimmerer. Wenn seine Arbeit so schlampig machen würde.

Nicht eine Sekunde war ihm in den Sinn gekommen, Berndt zu verraten, um selbst entlassen zu werden. Einen besseren Freund hat er in seinem Leben nie gehabt. Er kann sich auch nicht vorstellen, jemals wieder so einen zu finden. Sicherlich, dreizehn Jahre Knast sind eine lange Zeit, Berndt hat sich verändert mit den Jahren, wie auch er sich verändert haben wird, doch ihrer Freundschaft konnte das nichts anhaben und sein Schweigen damals hätte es als Bewährungsprobe wohl nicht gebraucht. Er ist sich vollkommen sicher, dass Berndt nicht anders handeln würde, wäre er selbst in ähnlichen Schwierigkeiten.

Als Jobst in der Zelle saß, vor aller Welt als Täter hingehängt, blieb ihm viel Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel über solche Fragen, wie gut man einen Menschen wirklich kennt. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Berndt war er zum ersten Mal begegnet, da musste Jobst etwa zwölf gewesen sein. Bis dahin hatte er nicht einmal gewusst, dass Berndt überhaupt existierte. Die erste Frau seines Vaters war ein paar Jahre nach der Scheidung gestorben, Berndt darauf zunächst in ein Heim gekommen, wo es ihm schlecht erging. Also hatte ihn der Alte da herausgeholt. Den Namen seiner Mutter behielt der Halbbruder jedoch weiter. Jobst mochte ihn sofort, wollte so sein wie er. Berndt war vier Jahre älter als er, was in diesem Alter eine Ewigkeit ist, aber er ließ ihn die Überlegenheit niemals spüren. Sie unternahmen viel zusammen und lernten viel voneinander; Berndt hatte die Ideen, Jobst das handwerkliche Geschick. Berndt hielt es mit dem Gesetz nicht so genau, schon früher nicht, und irgendwann nahm er Jobst mit auf seine kleinen, jedoch einträglichen Beutezüge. Am Anfang waren es diese Kaugummi- und Kondomautomaten auf Bahnhöfen oder in öffentlichen Toiletten, später spezialisierten sie sich auf Geldspielautomaten. Vereinsheime, Sportgaststätten – immer da, wo nachts niemand war und wo es etwas zu holen gab. Berndt wusste jedes Mal genau Bescheid. Sie wurden niemals erwischt und waren stets gut bei Kasse.

Bis Jobst dann seine Zimmererlehre anfing und Berndt, der schon ausgelernt hatte und inzwischen neunzehn war, in die Stadt zog, um als Fahrer bei einem Paketdienst zu arbeiten. Sie verloren sich ein bisschen aus den Augen. Jobst hatte das Interesse an diesen Brüchen verloren. Er verdiente ja selbst gutes Geld und wollte seine Lehre nicht aufs Spiel setzen, die ihm Spaß machte. Das war auch die Zeit, als er Franka kennenlernte. Es hatte ihn heftig erwischt und Jobst spürte sein schlechtes Gewissen, weil er auf einmal froh war, dass Berndt weit weg wohnte.

Ab und zu kam der Bruder vorbei und lieh sich Jobsts roten Golf. Der gab ihn, froh, ihm einen Gefallen tun zu können, gerne hin und fragte nicht nach, auch wenn er sich schon denken konnte, wofür er ihn benutzte. Berndt war clever, der ließ sich nicht erwischen.

Aber wann kennt man einen Menschen wirklich? Niemals hätte er für möglich gehalten, dass Berndt etwas mit den Vergewaltigungen zu tun haben könnte, die in der Nähe von Zotenbach, wo Jobst noch immer wohnte, passiert waren. Berndt macht sich nicht viel aus Frauen, hatte Jobst immer angenommen. Er war nicht schwul oder so. Ihre Freundschaft war ihm einfach wichtiger als die Weiber.

Als die Ermittler ihm die beiden schwarzen Stoffbeutel zeigten, als sein Gehirn sich langsam damit abfand, dass es keine andere Möglichkeit geben , dass , da war es plötzlich einsam und leer in ihm. So viele Jahre kannten sie sich nun. Warum? Warum ging sein bester Freund los und vergewaltigte junge Frauen? Jobst verspürte keinen Ekel oder Abscheu gegen Berndt, nur tiefe Ratlosigkeit. Er war sich sicher, der Bruder musste beide gekannt haben, wenn auch nur flüchtig. Die Frauen kamen ja aus der Gegend hier.

Es hilft nichts, er kann es bis heute nicht verstehen. Aber es gibt Fragen, die können eine Freundschaft zerstören, das weiß er. Deshalb hat er Berndt niemals darauf angesprochen. Auch jetzt nicht, nachdem so viel Zeit vergangen ist. Der Bruder ist einfach wieder da, wie nach einer langen Reise, die nicht aufgeschoben werden konnte. Darüber muss man nicht unbedingt reden.

Nur ein einziges Mal spielte dieses zwischen ihnen eine Rolle. Als die Bullen Jobst damals rauslassen mussten, holte Berndt ihn am Untersuchungsgefängnis ab. Man sah ihm an, wie froh er war, wie erleichtert, den Bruder endlich wieder in Freiheit zu sehen. Sie umarmten sich, und Jobst flüsterte ihm ins Ohr: „Du musst mir versprechen, sowas nie wieder zu tun.“

Was war ein flüchtiges Nicken wert? Manchmal hatte er nachgesehen, ob die restlichen Säckchen mit den Holzkeilen noch an ihrem Platz lagen. Niemals fehlte eines. Und trotzdem konnte Jobst keine Sekunde mehr Gewissheit haben.

Zwölf Jahre später schnappten sie Berndt dann doch noch. Sie konnten nun die Spuren lesen, die er an einem der Säckchen hinterlassen hatte. Jobst musste mit dem wahren Täter verwandt sein. Berndt, der immer alles so sorgfältig plante, war ein Fehler unterlaufen. Bei seiner Verhaftung wirkte er beinahe erleichtert.

Ein paar Monate später besuchte Jobst ihn im Gefängnis. Sie saßen im Sprechzimmer am selben Tischchen wie viele Jahre zuvor. Bloß die Seiten hatten sie getauscht.

 

Der Waldrand ist erreicht, gerade als die schönen roten Straßenlaternen von Eilandt zünden und ihr vorerst noch fahles Licht in den Abendhimmel aussenden. Nur noch ein paar Augenblicke, dann wird er Franka wiedertreffen.

Andres Rechenberg

Das Bad für Zimmergäste liegt schräg über den Flur. Aber aussetzen kann man eigentlich nichts daran, es ist großzügig bemessen und wider Erwarten modern eingerichtet. Emma weiß solche Annehmlichkeiten ausgiebig zu schätzen, so dass Andres schon eine ganze Weile im Bett sitzt, als sie auftaucht, frisch geföhnt und nur mit einem Saunatuch bekleidet. Ihren glatten kurzen Haaren kann ein weiches Kopfkissen nichts anhaben.

Andres hat ein Lokalblatt vor sich aufgefaltet und liest darin. Es ist der , den er in der Diele in einem Karton für Altpapier gefunden hat. Emma knotet das Handtuch auf, stupst ihn an und schlüpft nackt an seine Seite. Sie schläft nie anders, besitzt nicht mal Nachtwäsche; wenn sie morgen ins Krankenhaus eingewiesen würde, müsste er ihr erst welche kaufen. Doch jetzt muss sie enttäuscht feststellen, dass ihre Reize von ihm unbeachtet bleiben, er hat sich festgelesen.

„Was Interessantes?“ Sie schmiegt sich an seine Seite und versucht mitzulesen.

„Ist von gestern. Ein Artikel über die Geschichte hier im Dorf, die mit meinem Hausbesetzer, dem Emmerich. Eine Art Vorbericht zur Demo von heute. Nicht schlecht geschrieben, für eine Kreiszeitung. Der Haffkemeyer kommt auch zu Wort …“

Was denn drinstehe, will Emma wissen.

Andres liest schnell fertig und faltet die Doppelseite zusammen. „Emmerich hat vor fast dreißig Jahren mindestens zwei Frauen vergewaltigt. Eine davon starb unmittelbar danach durch unglückliche Umstände. Es stand der Verdacht im Raum, dass es noch mehr Opfer gab, aber dafür hatte man wohl nicht genügend Hinweise. Angeklagt wurde er jedenfalls nur für diese zwei Taten.“

„Wie ist die Frau gestorben?“

Berndt Emmerich hatte vor achtundzwanzig Jahren eine Frau aus seinem Heimatdorf ein paar Kilometer vom Ort entfernt überfallen, ihr einen schwarzen Stoffbeutel übergestülpt und sie mit Klebeband auf dem Rücken gefesselt. Danach hatte er sich an ihr vergangen und sie anschließend freigelassen. Stoffhaube und Fesselung sicherten ihm einen ausreichend großen Vorsprung. Ein halbes Jahr später vollzog er die Tat exakt nach demselben Muster ein zweites Mal. Allerdings stürzte das Opfer auf der Suche nach Hilfe diesmal in ein tiefes Loch, das für Bauarbeiten ausgehoben worden war, aus dem sich die Frau aufgrund der Fesselung nicht mehr befreien konnte und nach sechs Tagen mit einem gebrochenen Bein tot aufgefunden wurde.

„Fürchterlich. Aber wenn fast dreißig Jahre vergangen sind? So lange wird in Deutschland doch niemand eingesperrt …“, bemerkt Emma zweifelnd.

„Richtig. Es kam ganz anders. Zwei Umstände führten dazu, dass Emmerich trotz der vielen Spuren, die er hinterlassen hatte, fast damit durchgekommen wäre. Bei der ersten Vergewaltigung konzentrierten sich die Ermittlungen der Polizei durch eine irreführende Zeugenaussage zunächst auf den Nachbarort. Erst viel später korrigierte man diesen Fehler. Da war die Spur zu Emmerich allerdings verwischt, denn der lebte nämlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in seinem Heimatort Zotenbach, das übrigens nur etwa zwanzig Kilometer von hier entfernt liegt. Er war in die Stadt gezogen, deshalb kam man nicht mehr auf ihn. Außerdem kannte vor dreißig Jahren die Kriminaltechnik lange nicht so viele Möglichkeiten wie heute. Man hatte an einem der Stoffbeutel zwar DNA gefunden, aber zu wenig, um sie eindeutig zuordnen zu können. Etwa zwölf Jahre später wurde der Fall erneut aufgerollt, denn nun war man mit der Analysetechnik weiter. Diesmal konnte man das Material zuordnen und schnappte Emmerich. Der Fall war noch nicht verjährt. Der Kerl bekam dreizehn Jahre.“

Emma rechnet blitzschnell nach. „Interessant! Dann hat der Mann also die volle Strafe abgesessen und ist trotzdem schon seit zwei Jahren draußen?“

„Nein“, Andres schüttelt den Kopf, „er verweigerte in der Haft jegliche Therapie, überhaupt jede Kooperation. Deshalb bekam er die komplette Zeit aufgebrummt und anschließend nachträglich noch Sicherungsverwahrung …“

„… die dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gekippt hat, ich verstehe. Das ging ja groß durch die Presse. Und Deutschland stand ziemlich dumm da …“

„Richtig. Allein darum ist der Mann jetzt wieder draußen und hat sich in meinem Haus breitgemacht.“

Emma legt die Zeitung beiseite und löscht das Licht der altmodischen Nachttischlampe mit dem geschwungenen Messingarm. „Ich bin müde. Das war ein anstrengender Tag …“

„Hast ja recht, lass und schlafen. – Was hältst du eigentlich von diesem Haffkemeyer?“, fragt Andres ein paar Augenblicke später trotzdem noch in die Dunkelheit hinein. Die Versammlung dieser Bürgerinitiative im lässt ihn noch nicht los.

„Der Baulöwe? Ich mag ihn nicht. Er führt gerne das große Wort.“ Emma schmiegt sich an seine Schulter und gähnt.

„Ja, aber er kann reden und einiges durchsetzen“, wendet Andres ein, „so einen brauchst du, wenn du sowas aufziehen willst wie diese Bürgerinitiative …“

„Ich halte ihn für einen aalglatten Hund.“ Emmas Urteil steht wie immer schnell fest.

Sie waren nach dem Essen doch noch in den Bärensaal gegangen und hatten sich angehört, was die Einwohner von Eilandt umtrieb. Emma wollte plötzlich doch. Bei ihr weiß man nie, was sie im nächsten Moment tut. Fast hundert Leute saßen da, viel mehr hätten es nicht sein dürfen, denn der Raum war voll besetzt. Wie Andres erfuhr, traf sich die Bürgerinitiative heute zum ersten Mal öffentlich, und dafür schien ihm der Zulauf beachtlich zu sein. Der Wirt hatte Tische in langen Reihen aufgestellt, so wie man sie von Parteitagen kennt, über die im Fernsehen berichtet wird. Vorne auf der kleinen Bühne standen zwei Tische für das Podium. Geschäftstüchtig bediente der Wirt nun die alten und neuen Gäste. Seine Frau half ihm am Tresen aus, um alle Bestellungen ohne lange Wartezeiten zu schaffen.

Als Andres und Emma den Saal betraten, hatte die Diskussion kaum begonnen, doch sie erhitzte bereits die Gemüter. Die beiden schoben sich hastig auf zwei freie Plätze in der vorletzten Reihe und scheuchten damit einige der Zuhörer hoch, so dass ein Geschurre entstand; hinten standen die älteren Stühle, braune hölzerne Dinger mit fast halbkreisförmiger Rückenlehne, die hart waren und nach Bohnerwachs rochen.

Thorsten Haffkemeyer präsentierte sich oben auf der Bühne, was nicht nötig gewesen wäre, denn seine imposante Erscheinung hätte auch unten jeder im Saal gesehen. Er hatte sein Jackett abgelegt und erteilte mit wohlklingend rauchiger Bassstimme routiniert das Wort. Man hätte ihn bedenkenlos für das Morgenprogramm in einem Radiosender einsetzen können. Jeder merkte ihm an, dass er Erfahrung besaß in dem, was er gerade tat. Geschickt fasste er die Redebeiträge zusammen, formulierte die richtigen Fragen, um die Debatte voranzutreiben, hielt die Emotionen im Zaum und gab den Rednern stets das Gefühl, dass es wichtig war, was sie gesagt hatten.

Die Leute wollten vor allem Antworten. Vielen war das plötzliche Medieninteresse für hier in Eilandt unheimlich; heute waren es noch die Lokalpresse und der Heimatsender, die sich dafür interessierten, aber schon bald würden es vielleicht die großen Zeitungen Deutschlands sein, die in ihrem Dorf herumschnüffelten.

Haffkemeyer stand, wie immer, wenn er das Wort ergriff, auf und versuchte die Leute zu beruhigen, indem er ihnen eine andere Sichtweise auf die Dinge aufzeigte. „Ich verstehe eure Ängste, aber seht das doch mal so: Je mehr über uns berichtet wird, desto mehr kommen diese Schlafmützen in der Landeshauptstadt unter Druck! Die lesen doch auch Zeitungen! Schließlich kann nur die Regierung dafür sorgen, dass die beiden Verbrecher eine neue Unterkunft kriegen. Uns sind die Hände gebunden. Und kritische Berichte machen denen da oben erst so richtig Feuer unterm Hintern. Es ist bald Wahlkampf, die wollen doch wiedergewählt werden! Also freut euch lieber darüber, wenn sich bald die Reporter hier die Klinke in die Hand geben, und sagt ihnen sachlich, aber deutlich eure Meinung! Vertraut einfach eurem gesunden Menschenverstand.“

„Thorsten hat recht!“, rief einer aus der Masse, und viele nickten zustimmend. Haffkemeyer war es an diesem Abend nicht zum ersten Mal gelungen, den Leuten seinen Standpunkt einzuimpfen.

 

„Wie konnte dieser Demagoge es schaffen, dir zu imponieren?“, fragt Emma mit einem Unterton, der eher ein Vorwurf ist als nach einer Antwort verlangt, in die Dunkelheit ihres Zimmers hinein und stellt sich den Wecker auf sieben Uhr. Der Dreiviertelmond scheint schräg in das Fenster und gibt ihr ein bisschen Licht. Sie möchte morgen ganz früh schon joggen, bevor Andres aufgewacht ist.

„Willst du etwa nicht, dass die beiden mein Haus verlassen sollen?“, beißt er zurück.

„Darum geht es gar nicht, und das weißt du genau“, kontert Emma. Ihr hat viel mehr der Mut einer kleinen älteren Frau mit hagerem Gesicht imponiert, die sich fast zaghaft hinstellte und zu bedenken gab: „Aber irgendwo müssen sie doch hin.“ Daraufhin hatte sie zu spüren bekommen, was es heißt, einer fast geschlossenen Front von Ablehnung gegenüberzustehen.

„Na klar! Die beiden können überall hin! Nur nicht zu uns!“, rief ein Mann, der unmittelbar neben Andres saß, ohne aufzustehen in den Raum und erntete hämisches Lachen.

„Halt am besten deine olle Fresse, Trude, deine Meinung will nämlich keiner wissen!“, rief der Nächste.

Bevor die Sache aus dem Ruder lief, schritt Haffkemeyer ein. „Ich bitte um Ruhe. Lassen wir Trude Hollmann doch einfach ausreden und hören uns an, was sie zu sagen hat. Hier darf jeder seine Meinung loswerden!“

Die Angesprochene, die in der zweiten Reihe saß, drehte sich zu ihren Nachbarn und Bekannten um, und obwohl sie nicht den Eindruck machte, an die Erfolgsaussichten ihrer Argumente zu glauben, nahm sie das erteilte Wort: „Hab doch schon alles jesacht. Die beiden sind freie Männer. Stimmt doch, oder? Der Jobst Wentrup sowieso und dieser Emmerich hat seine Strafe abjebrummt. Wollt ihr se das Haus anzünd‘n? Die können nun mal hingeh‘n, wohin se woll‘n, wie jeder hier von uns. Is‘ doch so! Brauchste ja nich so zu grinsen, Hans! Wenn wir alle wegekeln woll‘n, die uns nich passen, na wo komm‘ wa denn da hin? Mein Gott, das alles is‘ jetzt fast dreißig Jahre her.“

Viele johlten nur, andere schlugen zurück.

„Dreißig Jahre hin oder her, das steckt doch bei solchen Typen drin! In den Genen, verstehste? Da könn‘ die gar nichts gegen machen!“

„Und eine Therapie hat der auch verweigert, der Hund!“

„Du hast gut‘ Reden! Dich fassen die ja nicht mehr an, Trude!“

Nun reichte es dem Pfarrer, der ebenfalls mit im Podium saß, der Diskussion bisher aber stumm und unbeweglich gefolgt war. Mit seinen pechschwarzen Haaren und der modischen Hornbrille wirkte er eher wie ein Fernsehstar als ein Geistlicher. Er erhob sich und setzte beide Hände ein, um die Menge zu beschwichtigen. Seine Worte wirkten, es wurde wieder ruhig im Saal. Da stand eine rotgesichtige junge Frau auf, der man ansah, dass sie lange mit sich gerungen hatte, diesen Schritt zu tun. Sie schaute, während sie redete, suchend hin und her, fand keinen Halt für ihre Augen. Die Sätze kamen ihr schwer über die Lippen. „Wir wohnen ganz am Ende der Brunnengasse. Meine Tochter Julia muss da jeden Tag vorbei, wenn sie zur Berufsschule will. Sie ist jetzt genauso alt wie die Marie Klein damals. Wir können sie doch nicht immer hinbringen und abholen, das schaffen wir nicht. Ich habe jedes Mal Angst. Die sollen da endlich verschwinden, damit man sich wieder sicher fühlen kann in unserem Dorf …“ Ihre letzten Worte verschluckte beifälliges Trampeln und Klatschen.

„Aber sie werden doch Tag und Nacht von einer Polizeistreife bewacht, Frau Liste …“ Es war wieder der Pfarrer, der die Frau zu beruhigen versuchte. Andres schätzt ihn auf höchstens dreißig. Er hat noch nicht viel Erfahrung in seinem Beruf.

„Nein, Herr Pfarrer, die Kerstin hat doch recht!“ Andres‘ Nebenmann, der, wie sie inzwischen erfahren hatten, Kurt Försterling hieß, war nun aufgesprungen und stand der Frau bei. „Wie lange wird denn der Streifenwagen da noch stehen? Ein Jahr? Einen Monat? Ich meine, ewig kann das ja nicht so weitergehen. Das liegt doch auf der Hand.“

„Und was ist eigentlich mit unserem Dorffest in zwei Wochen? Wenn die hier wohnen bleiben?“, warf jemand ein.

„Wir labern und labern“, rief wieder einer, „dabei sollten wir mal darüber nachdenken, was wir tun wollen! Die Demo heute war ja eine gute Sache, aber wie geht es nun weiter?“

Der Mann gab das Stichwort für Haffkemeyer, der wohl der Meinung war, dass er die Diskussion schon etwas zu lange hatte laufen lassen. „Genau!“, rief er, „Dietrich hat recht! Und weil unsere Möglichkeiten begrenzt sind, müssen wir das Land in die Pflicht nehmen! Das Land muss etwas tun, damit wieder Ruhe und Frieden in unser Dorf einkehren!“ Während die Leute im Saal gespannt darauf lauerten, worauf Haffkemeyer wohl hinauswollte, bückte der sich nach seinem Karton und stellte ihn für alle sichtbar auf den Tisch. „Ich habe hier mal eine Postkartenaktion vorbereitet, und ich würde vorschlagen, dass wir alle Einwohner Eilandts auffordern, eine solche Karte an die Landesregierung zu schicken, damit man dort begreift, wie ernst es uns ist mit unseren Forderungen.“ Er holte eine von seinen Postkarten aus der Kiste und hielt sie hoch. Alles war schon ausgefüllt und vorformuliert, man musste nur noch den Absender eintragen. Der Text auf der Rückseite endete mit der großbuchstabigen Forderung:

Die Leute sahen sich an und waren nun sichtlich beeindruckt, neuerlich setzte Beifall ein, erst zögerlich, schließlich aber deutlich. Der Saal zeigte sich von der Idee angetan. Haffkemeyer hingegen legte noch nach. „Und außerdem schlage ich vor, dass wir ab jetzt Freitag für unsere Ziele demonstrieren, bis endlich etwas passiert! Bei einer solchen Medienpräsenz, die wir dadurch erzeugen, müssen die da oben reagieren!“

Auch dieser Vorschlag wurde von den Eilandtern im Saal mit großer Mehrheit für gut befunden.

„Ja, aber wenn das alles nichts nützt“, rief der Försterling neben ihnen noch, „müssen und werden wir uns andere Mittel überlegen!“

„Dann schmeißen wir sie aus unserem Dorf!“, schallte es aus der anderen Ecke des Saals. Nun war es an Haffkemeyer, abermals dafür zu sorgen, dass die Emotionen nicht weiter hochkochten. Darüber könnten sie zu gegebener Zeit diskutieren, schloss er.

„Spätestens da hättest du aufstehen und sagen können: Leute, regt euch ab, es wird alles gut, denn das Haus gehört mir und ich brauche es für mich selbst! Egal, Andres, ob du das heute schon beweisen kannst oder nicht. Die hätten dir doch auf jeden Fall geglaubt …“, meint Emma eindringlich.

„Ja, mag sein …“ Andres weiß, dass sie damit richtig liegt. Hier wäre die Chance dafür gewesen. Aber er konnte einfach nicht, denn ihm spukt da eine Idee im Kopf herum. Sie ist noch nicht ganz zu Ende gedacht, aber sie lässt ihn nicht mehr los.

Haffkemeyer jedoch nutzte die Stimmung im Saal, den Neugierigen unter den Anwesenden, die nur gekommen waren, um mal zu horchen, einen Beitritt in die Bürgerinitiative anzutragen. Viele schrieben sich in die Liste ein.

 

Als Andres und Emma am nächsten Morgen in der gemütlichen, geräumigen Bauernküche zum Frühstück erscheinen, steht Frau Nager bereits am Herd und gießt duftenden Kaffee in große Pötte. Sie hat für das Pärchen einen eigenen Tisch in der Ecke gedeckt und wünscht ihnen einen guten Morgen.

Andres sieht auf dem Küchenschrank einen dünnen Stapel Briefe liegen. Der Postbote war schon da. Doch das Einschreiben seines Vaters ist nicht darunter.

 

 

 

 

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Impressum

Texte: Mario Schulze
Bildmaterialien: AAVAA Verlag
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

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