Karl Plepelits
Du sollst nicht töten
Apostel Johannes ermittelt
Roman
LESEPROBE
© 2013 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Du sollst nicht töten, spricht der Herr.
Geliebte! Hört die Geschichte von Eros und Nikaia. Ihr sollt erkennen, wie sehr die Heiden in ihrem Denken verfinstert sind, wie sehr es nottut, sie in das Licht zu führen, in dem wir Christen wandeln. Denn die Zeit ist nahe.
Es geschah zu jener Zeit, als die Mutter unseres Herrn noch unter uns weilte. Sie lebte, wie er es am Kreuz befohlen hatte, mit mir wie mit einem Sohn zusammen. Wir bewohnten, gemeinsam mit meinen Jüngern, ein einsames Anwesen nahe Ephesos und führten ein beschauliches Leben in Liebe, Wahrheit, Frieden, Frömmigkeit, Gerechtigkeit.
In Ephesos weilte längere Zeit auch unser Bruder Paulus, um den Samen des Wortes Gottes zu säen und dieses unter allen Bewohnern der Provinz Asien, Juden wie Griechen, bekannt zu machen. Doch dann brach ein gewaltiger Aufruhr gegen ihn aus, und er musste sich wie ein Aussätziger vor der aufgebrachten Volksmenge verstecken und Ephesos überstürzt verlassen.
Zwei Tage dauerte es, ehe die Kunde von diesen Vorfällen bis zu uns drang. Sie erfüllte mich mit großer Sorge um die Gemeinde Christi. Begleitet von Simon, einem meiner Jünger, machte ich mich unverzüglich auf, um das Gefängnis der Stadt aufzusuchen und zu erkunden, ob Christen eingekerkert worden seien. Der Herr selbst hat uns ja aufgetragen, kranke und eingekerkerte Brüder zu besuchen, ihnen Trost zu spenden und ihnen nach Möglichkeit zu helfen.
Wer beschreibt meine Erleichterung, als sich herausstellte, dass doch keine Christen eingekerkert waren, weder in der Männer- noch in der Frauenabteilung. Dafür aber erschütterte mich etwas anderes über alle Maßen.
Während wir nämlich unter Führung einer Gefängniswärterin die Frauenabteilung durchforsteten, erregte eine junge Frau mit edlen Gesichtszügen und zerrauften blonden Haaren unsere Aufmerksamkeit. Die Füße mit einer Eisenkette gefesselt, hockte sie in einer dunklen Ecke und schluchzte herzzerreißend.
Auf meine Frage, welche Bewandtnis es mit dieser Frau habe, erklärte die Wärterin, sie sei des zweifachen Mordes angeklagt. Des Mordes an Ehemann und Kind. Diese Antwort erschütterte mich noch mehr, und in Gedanken fluchte ich dem Satan, der die Heiden in ihrer Unwissenheit immer wieder zum Bösen anstiftet.
Ich sprach die Gefangene an und redete ihr zu, ihre Verbrechen zu bereuen und sich zum wahren Gott zu bekehren. Sie aber schien mir nicht einmal zuzuhören.
Während ich so auf sie einredete, kam plötzlich ein junger Mann in höchster Aufregung hereingestürmt, stürzte auf sie zu, fasste sie mit beiden Händen an den Schultern, durchbohrte sie eine Weile stumm mit flammenden Blicken, brach selbst in Tränen aus. Da erschien mir unsere Anwesenheit vollends überflüssig und vergeblich. Unauffällig zogen wir uns zurück, nicht ohne während des Heimwegs mit Erbitterung das Vorhandensein des Bösen in der Welt und die Verworfenheit der Heiden zu beklagen. Denn wie spricht der Herr? Du sollst nicht töten
.
Zu Hause angekommen, berichteten wir den anderen von diesem Vorfall. Und da geschah etwas völlig Unerwartetes: Mutter Maria, die unserer Erzählung aufmerksam und mit immer größerer Betroffenheit zugehört hatte, teilte unseren Standpunkt überhaupt nicht, ja sie erteilte uns sogar eine milde Rüge. Warum wir uns denn nicht ein wenig mehr um die Angeklagte bemüht hätten? Warum wir so schnell aufgegeben hätten? Vielleicht habe die Gefangene nur unabsichtlich getötet. Vielleicht könnte sie gerettet werden, für das irdische Leben und, mag sein, auch für das Reich Gottes. Ihr (Marias) Sohn habe sich im Umgang mit den von der Gesellschaft Ausgestoßenen bei weitem nicht so zimperlich gezeigt, und das in Palästina, wo Männer und Frauen nicht frei miteinander umgehen dürfen wie hier bei den Griechen, sondern jeglichen Kontakt vermeiden, jedenfalls außerhalb des engsten Familienkreises, und wo Frauen tatsächlich als Menschen zweiter Klasse gelten.
Durch ihre Zurechtweisung beschämt, besuchten wir anderntags neuerlich die nach Mutter Marias Gefühl zu Unrecht des doppelten Verwandtenmordes Beschuldigte im Gefängnis und hatten, um es kurz zu machen, exakt denselben Erfolg. Als ich schon nahe daran war aufzugeben und nur aus Hochachtung vor Mutter Maria noch nicht die Geduld verloren hatte, erschien derselbe junge Mann, begrüßte die Gefangene auf dieselbe Weise wie tags zuvor. Diesmal zogen wir uns aber nicht sofort diskret zurück, sondern beschlossen, auf das Ende der Liebesszene zu warten, in der Hoffnung, mehr zu erfahren.
Wir hatten nicht lang zu warten. Der junge Mann wandte sich brüsk nach uns um, musterte uns von oben bis unten und sagte: „Seid ihr von Demetrios geschickt?“ Und das klang reichlich misstrauisch.
„Nein, nein“, stammelte Simon, und sobald ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte, sagte ich: „Von welchem Demetrios denn?“
„Ihrem Schwager.“
„Und wieso fragst du, ob wir von ihrem Schwager ...“
„Weil der sie ins Gefängnis hat stecken lassen.“
„Ach so. Nein, ursprünglich sind wir natürlich nicht ihretwegen hergekommen. Aber wir wurden auf sie aufmerksam, weil sie ein solches Bild des Jammers bot. Und dann erfuhren wir von der Wärterin, sie sei des Mordes an Ehemann und Kind angeklagt, und das hat uns zutiefst erschüttert. Die Sache ließ uns keine Ruhe, und darum haben wir uns entschlossen, heute wieder zu kommen und ... Vielleicht ist sie ja zu Unrecht angeklagt.“
„Sie ist zu Unrecht angeklagt. Nur ...“
„Nur, was?“
„Nun, die Sache ist die: Sie leugnet die Verbrechen gar nicht.“
„Sie gibt alles zu, was man ihr vorwirft?“
„Ja, ja.“ Und zu ihr gewandt, in einem Ton, den man trotzigen Kindern gegenüber gebraucht, um sie zur Vernunft zu bringen: „Komm, Nikaia, sag, dass man dich zu Unrecht anklagt.“
Sie schwieg, schüttelte nur den Kopf.
„Aber du hast es doch zuerst geleugnet. Warum denn jetzt auf einmal?“
Und Simon: „Wie sagst du? Sie hat es zuerst geleugnet?“
Und nun legte sich ein bedrückendes Schweigen über unsere seltsame Versammlung, gemildert nur durch das Gemurmel der anderen weiblichen Häftlinge, die, in einer Ecke zusammengedrängt, die Szene, die sich ihnen bot, atemlos verfolgten.
„Falls sie verurteilt wird“, sagte ich, mehr zu mir selbst, „dann sicherlich zum Schierlingsbecher.“
„Nicht wahr“, rief der junge Mann voller Entsetzen. „Das sage ich ihr ja auch ständig. Aber das scheint ihr vollkommen egal zu sein.“
„Nun, was sie braucht, ist Hilfe. So viel steht fest. Und wir sind ja heute eigens zu dem Zweck hergekommen, um zu prüfen, wie man ihr helfen könnte. Und ich weiß auch schon, wie.“
„Nämlich?“
„Wir werden uns an den zuständigen Archonten wenden und schauen, was sich da machen lässt.“
„Das ist aber sehr nett. Darf ich euch begleiten?“
„Klar. Ich bitte sogar darum.“
„Ist sie deine Geliebte?“, sagte ich zu dem jungen Mann, sobald wir auf die Straße getreten waren und den Weg zur Agora eingeschlagen hatten.
Er lachte hellauf. „Aber wo denkst du hin? Sie ist doch meine Milchschwester.“
„Ach so. Ist sie Sklavin?“
„Ich bin Sklave. Sie ist eine Freigeborene. Wir sind im selben Haus aufgewachsen und lieben uns wie Bruder und Schwester. Und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie Mann und Kind ermordet haben soll.“
„Aha. Was sagen denn ihre übrigen Angehörigen dazu?“
„Dasselbe. Sie sind in größter Sorge um sie, vor allem ihr Vater. Der grämt sich so sehr, dass er im Augenblick dem Tod näher ist als dem Leben. Ihre Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben.“
„Wie heißt er denn?“
„Androkles.“
„Hm, kenne ich nicht. Aus seiner Familie dürfte niemand bei uns sein. Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?“
„Eros.“
„Oh, was für ein hübscher Name. Dieser junge Mann hier heißt Simon, und ich Johannes. Und deine Milchschwester ...“
„Heißt Nikaia.“
„Und ihr Mann und ihr Kind. Sind sie wirklich tot, von wem auch immer ermordet?“
„Ja. Angeblich.“
„Und wie sind sie ermordet worden?“
„Ihr Mann durch einen Pfeilschuss. Von hinten. Auf der Jagd. Wie ihr Kind ermordet worden ist, weiß ich nicht.“
„Auf der Jagd?“
„Ja. Die Jagd ist ihre große Leidenschaft. Ihr Vater hat sie schon als kleines Mädchen häufig auf die Jagd mitgenommen, und sie hat es perfekt gelernt, mit Pfeil und Bogen umzugehen.“
„Du meinst, sie kann gut schießen? Sie verfehlt ihr Ziel nicht?“
„Ganz richtig. Und glaub mir, ich kann das beurteilen. Ich habe oft genug daran teilgenommen. Wie sie da mit ihrer kurzen Tunika durch die Wälder streifte – ha, man hätte glauben können, die Göttin Artemis leibhaftig zu sehen. So hübsch sah sie aus.“
„Soso. Die Göttin Artemis leibhaftig.“
„Apropos. Vor zwei Jahren war Nikaia Priesterin der Artemis.“
„Du meinst, sie bekleidete das Amt einer Oberpriesterin im Tempel der Artemis von Ephesos?“
„Genau, als jungfräuliche Priesterin der jungfräulichen Göttin.“
„Da war sie also noch unverheiratet?“
„Ganz richtig. Aber damals lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Und das kam so. Der Artemistempel von Patmos entsandte eine Festgesandtschaft zu unserem Artemistempel, und dieser entsandte daraufhin eine Festgesandtschaft nach Patmos, natürlich unter Nikaias Leitung. Und darum fuhren auch ihr Vater Androkles und andere Mitglieder unserer Familie mit.“
„Du auch?“
„Richtig. Ich auch. Außerdem Philon, einer der angesehensten Bürger unserer Stadt, und seine inzwischen verstorbene Frau Doris.“
„Philon? Besitzt der nicht in den Bergen südlich von Ephesos ein ausgedehntes Landgut?“
„Genau. Und dazu eines auf Patmos. Auf diesem lebte damals ein außergewöhnlich hübscher junger Sklave mit Namen Stephanos. Und als man nach dem Opferfest zu einer Jagd aufbrach, nahm man ihn mit, damit er Nikaia als Begleiter und Helfer zur Seite stehe. Er aber verliebte sich in die schöne Jungfrau, und sie verliebte sich in den feschen Jüngling. Aber noch jemand verliebte sich in ihn: Doris.“
„Die Frau des Philon? War die nicht viel älter als er?“
„Natürlich. Aber das hinderte sie nicht, sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Sie verfolgte ihn bis zu seinem Wohnhaus, das er gemeinsam mit seinen Eltern, einfachen Landarbeitern, bewohnte. Und denen eröffnete sie, dass sie ihn nach Ephesos mitnehmen werde. Da sagten sie, sie freuten sich zwar für ihn. Andererseits tue es ihnen sehr leid, ihn zu verlieren, weil sie ihn wie einen leiblichen Sohn liebten. Er sei aber nicht ihr leiblicher Sohn, sondern ein Findelkind. Und sie zeigten ihr die Erkennungszeichen, die ihm mitgegeben worden waren, als er ausgesetzt wurde. Da erbleichte Doris, denn sie erkannte diese als ihre eigenen. Sie zeigte sie ihrem Mann, und da erbleichte auch er. Ihm wurde klar, dass er seinen jüngsten Sohn wiedergefunden hatte, den er als Neugeborenes hatte aussetzen lassen. Sie hatten damals nämlich schon drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, und fanden, damit sei es genug. Als ihnen zuletzt noch dieser Sohn geboren wurde, ließen sie ihn aussetzen und gaben ihm Schmucksachen mit. Sie sollten entweder als Erkennungszeichen oder als Grabbeigaben dienen. Aber dann starben an ein und demselben Tag der ältere Sohn und die Tochter an der gleichen Krankheit; nur der jüngere Sohn, Demetrios, blieb ihnen erhalten. Und nun war ihnen Stephanos – den Namen hatte er von seinen Zieheltern erhalten – durch die Vorsehung der Götter als eine zweite Stütze seines Alters gerettet worden. Und sie umarmten und küssten ihn und baten ihn, ihnen wegen der Aussetzung nicht böse zu sein, denn dazu hätten sie sich nicht freiwillig entschlossen, sondern unter dem Zwang des Schicksals. Und dann wandte sich Philon an seinen anderen Sohn und ermahnte ihn, sich nichts daraus zu machen, dass er jetzt statt des ganzen Vermögens nur die Hälfte erben werde, denn für verständige Menschen gebe es kein größeres Gut als einen Bruder. Und so kam Stephanos doch nach Ephesos, nun aber als freier Mann, und man baute ihm auf seiner zukünftigen Hälfte des ausgedehnten Landgutes südlich der Stadt eine eigene prächtige Villa mit viel Personal und Wohnhäusern für dieses Personal in der Nähe. Und sobald Nikaias Jahr im Tempel abgelaufen war, hielt er um ihre Hand an, und es wurde Hochzeit gefeiert. Und kaum mehr als ein Jahr später wurde ihnen ein Sohn geboren, den sie nach seinem Großvater Philon nannten. Das ist jetzt ungefähr einen Monat her.“
Simon: „Das ist also offenbar das Kind ...“
Eros: „Sehr richtig. Das ist das Kind, das sie angeblich ermordet hat.“
Simon: „Und dieser Stephanos, das ist der Ehemann ...“
Eros: „Genau. Der Ehemann, den sie angeblich ermordet hat.“
Ich: „Sehr traurig, dies alles. Was weiß man eigentlich über die näheren Umstände dieser Morde?“
Eros: „Das war so. Vor drei Tagen sollte zu Nikaias Ehren eine Jagd stattfinden. Das war schon seit längerem geplant. Teilnehmen sollten an dieser Jagd außer ihr selbst und Stephanos noch Philons anderer Sohn Demetrios mit seiner Frau.“
Simon: „Aha, der ist also auch verheiratet?“
Eros: „O ja, sogar schon zum zweiten Mal. Er ist ja fast zehn Jahre älter als sein wiedergefundener Bruder.“
Ich: „Und er hat ebenfalls Kinder?“
Eros: „Nein, bisher nicht, weder von der ersten noch von der zweiten Frau.“
Ich: „Übrigens, bevor ich’s vergesse: Hat er eigentlich die Mahnungen seines Vaters befolgt?“
Eros: „O ja. Jedenfalls ist er, soviel ich weiß, immer freundlich zu ihm gewesen und hat sich ihm gegenüber immer korrekt verhalten. Jawohl, korrekt und liebevoll, auch Nikaia gegenüber.“
Simon: „Und seine Frau?“
Eros: „Aber ja. Drum sind sie ja auch auf die Idee gekommen, eine Jagd zu veranstalten, um Nikaia eine Freude zu machen.“
Ich: „Ach ja, die Jagd. Also, vor drei Tagen sind Stephanos mit Nikaia und Stephanos’ älterer Bruder Demetrios mit seiner Frau auf die Jagd gegangen.“
Eros: „Nein. Demetrios war verhindert.“
Ich: „Da hat also die Jagd doch nicht stattgefunden? Jetzt kenne ich mich gar nicht mehr aus.“
Eros: „O doch, aber eben ohne Demetrios und seine Frau.“
Simon: „Vor drei Tagen? Ist das vielleicht zufällig derselbe Demetrios, der jenen Volksaufruhr vor drei Tagen angezettelt hat? Und den du gemeint hast, als du fragtest, ob uns Demetrios ins Gefängnis geschickt habe?“
„Genau“, erwiderte unser junger Begleiter mit demselben Enthusiasmus, den Lehrer erkennen zu lassen pflegen, wenn sie merken, dass ihre Schüler etwas begriffen haben. „Ihr müsst nämlich wissen, dass der alte Philon eine der Silberschmieden besitzt, in denen Souvenirs hergestellt werden, vor allem Nachbildungen unseres Artemistempels und der Artemis selbst. Inzwischen leitet sein älterer Sohn Demetrios den Betrieb. Und ausgerechnet vor drei Tagen, also genau an dem Tag, der schon seit längerem für die Jagd mit Stephanos und Nikaia bestimmt war, rief Demetrios seine Arbeiter zusammen und hetzte sie gegen einen gewissen Paulus auf. Dieser Paulus, ein Jude aus Tarsus, wie es heißt, treibt sich seit einiger Zeit in unserer Stadt herum und versucht den Leuten weiszumachen, dass das gar keine Götter seien, die von Menschenhand fabrizierten Figuren. Versteht ihr das?“
Simon, leise kichernd: „O ja, sehr gut sogar.“
Eros: „Ah, ihr seid sicher Philosophen. Richtig?“
Ich: „Ach, bitte, erzähl lieber weiter. Wir sind ja schon bald da.“
Eros: „Stimmt. Nun, ihr könnt euch sicher lebhaft vorstellen, was für ein Groll sich im Laufe der Zeit bei den Silberschmieden gegen diesen Paulus aufgestaut haben muss. Schließlich untergräbt er durch solche atheistischen Umtriebe das weltweite Ansehen des Tempels, ja das der Göttin selbst, und ihnen verdirbt er das Geschäft und macht sie arbeitslos. Jedenfalls gerieten sie durch die Worte des Demetrios in maßlose Erregung und schrien: Groß ist Artemis von Ephesos. Hierauf stürmten sie geschlossen hinaus auf die Straße, zogen von Silberschmiede zu Silberschmiede, wiegelten ihre Kollegen auf und veranlassten sie, sich ihnen anzuschließen. Und so wälzte sich ein immer größer werdender Zug von Silberschmieden brüllend durch die Straßen und versetzte die ganze Stadt in Aufruhr. Und dann hörte man auf einmal den Schrei: In die Volksversammlung, und die Menge wiederholte ihn wie aus einem Munde, und alles strömte dem großen Theater zu. In Windeseile hatte sich dieses gefüllt mit Männern und mit Frauen; denn an dieser Volksversammlung nahmen auch die Frauen teil. Eine Zeitlang herrschte großes Durcheinander, aber dann schrien plötzlich alle wie aus einem Munde: Groß ist Artemis von Ephesos. Und das schrien sie zwei Stunden lang. Irgendeiner von den Archonten beruhigte sie schließlich und hielt ihnen eine schöne Ansprache, in der er Demetrios und seine Kollegen aufforderte, die Gerichte zu bemühen, falls sie gegen irgendjemanden eine Beschwerde hätten, und löste die Volksversammlung auf. Und so ist diese ganze Aufregung letztlich im Sand verlaufen, zumal dieser Paulus auf einmal wie vom Erdboden verschluckt war. Aber trotzdem gelang es Demetrios, die Gerichte zu bemühen. Denn noch am selben Tag erhob er Anklage gegen Nikaia. Inzwischen hatte ja diese verhängnisvolle Jagd stattgefunden, und Demetrios beschuldigte Nikaia, Stephanos hinterrücks mit einem Pfeil erschossen zu haben, während er vorpreschte, um einen Hirsch zu erlegen.“
Simon: „Und außerdem ihr Kind ermordet zu haben.“
Eros: „Nein. Mit dieser Beschuldigung rückte er erst am nächsten Tag heraus.“
Simon: „Aha, also hat man dessen Leiche erst später entdeckt.“
Eros: „Offenbar. Aber das Merkwürdige und Bestürzende daran, ich habe es ja schon erwähnt: Ursprünglich hat Nikaia die Beschuldigung, ihren Mann ermordet zu haben, entschieden zurückgewiesen. Doch seitdem sie mit der zusätzlichen Beschuldigung konfrontiert wird, auch ihr Kind ermordet zu haben, gibt sie alles zu.“
Unterdessen hatten wir die Agora erreicht, wo die Archonten des Staates Ephesos ihre Amtslokale haben. Wir meldeten uns bei dem für Rechtssachen zuständigen Archonten an, trugen ihm unser Anliegen vor und fragten, was da zu tun sei. Seine Antwort traf uns wie ein Keulenschlag: Nichts. Solange die Angeklagte alles, was ihr vorgeworfen werde, aus freien Stücken zugebe, habe sie als schuldig zu gelten, und damit basta.
Während wir, enttäuscht, entmutigt, wie gelähmt, in die Säulenhalle hinaustraten, wurde Eros von einer eleganten Dame angesprochen. Ob denn das stimme, was man sich gerüchteweise erzähle? Dass seine Milchschwester Ehemann und Kind in den Hades befördert habe?
Ja, in der Tat, stammelte Eros sichtlich verlegen. So laute jedenfalls die Anklage.
„Entsetzlich. Wer hätte das gedacht. Den Ehemann, das versteht man ja noch zur Not. Aber das eigene Kind? Das geht nun wirklich zu weit.“
„Wieso ... Wieso kann man verstehen, dass eine Frau ihren Ehemann ... Also, wenn ich einmal eine Frau habe ...“
„Ja, du. Du bist ja ein anständiger Kerl. Aber Stephanos. Mit dem möchte ich nicht verheiratet gewesen sein.“
„Aber, aber. Was hast du denn an ihm auszusetzen?“
„Weißt du denn nicht, wie er’s getrieben hat?“
„Nein. Wie denn?“
„Na, gar zu bunt. Erstens soll er mit allen seinen Sklavinnen ... Aber gut, da wollen wir großzügig sein. Und zweitens scheint er eine besondere Vorliebe für Frauen aus der guten Gesellschaft gehabt zu haben. Nur mich hat er immer übersehen.“
„Übersehen?“
„Ich meine, als Frau hat er mich nicht einmal wahrgenommen.“
„Soso. Ist das die berühmte weibliche Logik?“
„Ach, Eros. Du musst noch viel lernen.“
„O nein, ich verstehe dich recht gut. Dich plagt der Neid.“
„Der Neid? Dass ich nicht lache.“
„So? Aber sag doch, warst du vor drei Tagen vielleicht zufällig auf einer Jagd?“
„Na, glaubst du etwa, ich habe ihn erschossen und das Kind noch dazu? Lächerlich.“
Sie drehte sich brüsk um und rauschte grußlos davon.
Ich hatte atemlos zugehört und begehrte nun zu wissen, wer das gewesen sei. Eros’ Antwort: Musa, die Inhaberin eines der vornehmsten Restaurants der Stadt.
„Und habe ich dich richtig verstanden? Du glaubst, sie könnte die Morde ...“
„Hm, glauben ist zu viel gesagt. Aber wieso eigentlich nicht? Ein Motiv hat sie selbst genannt. Wir brauchen nur zu eruieren, wo sie sich an diesem Tag aufgehalten hat.“
„Na, wer weiß, wie viele Frauen sich sonst noch von diesem Weiberhelden übersehen fühlen“, sagte Simon.
„Ja, vielleicht sollten wir dieser Frage auf den Grund gehen“, sagte ich. „Ehe es zu spät ist.“
Mit Feuereifer begrüßte Eros meinen Vorschlag und schlug seinerseits vor, als Erstes das Wohnhaus des Philon aufzusuchen, wo ja auch Demetrios wohne und Stephanos zusammen mit Nikaia gewohnt habe. Vielleicht, dass dort ein wichtiger Hinweis zu entdecken sei.
Auf dem Weg dorthin wurden wir von neuem aufgehalten. Ein schwer beladener Mann, der, ohne nach links oder nach rechts zu schauen, eine steile Seitengasse herabgepoltert kam, rannte uns beinahe nieder. Er blieb stehen, schaute uns erschrocken an und rief freudig überrascht: „Johannes. Also, du bist noch bei uns?“
„Oh, sei gegrüßt, geliebter Midas. Wieso sollte ich denn nicht mehr bei euch sein?“
„Weil uns Paulus verlassen hat. Er ist bei Nacht und Nebel abgereist.“
„Wie? Paulus ist abgereist? Das wusste ich nicht.“
„Ich habe es selber eben erst erfahren. Ich wusste nur, dass er seit jenem Aufruhr vor drei Tagen verschollen war und an der Volksversammlung gar nicht teilgenommen hat. Angeblich haben ihn seine Jünger nicht hingehen lassen. Na, und jetzt ist er weg. Dabei war das alles vollkommen harmlos. Ich muss schon sagen, wir sind alle sehr enttäuscht. Nur gut, dass wir dich noch haben. Du verlässt uns doch nicht ebenfalls?“
„Keine Angst. Ich verlasse euch nicht.“
Als wir nach dieser Begegnung weitereilen wollten, stand Eros wie angewurzelt, schaute mich mit großen Augen an und sagte: „He, steckst du denn mit diesem Paulus unter einer Decke?“
Ich musste herzlich lachen. „Nun, das ist zwar nicht ganz der passende Ausdruck. Aber in der Sache hast du recht.“
„Und ich dachte, du bist ein Philosoph. Simon auch?“
„Freilich. Aber mach dir nichts draus. Wir haben vieles mit den Philosophen gemein.“
„Da gehörst du also derselben jüdischen Sekte an wie Paulus?“
„Richtig. Wir sind Christen.“
„Christen? Über die habe ich schon allerhand gehört.“
„Nichts Gutes, nehme ich an?“
„Du sagst es. Stimmt’s denn nicht?“
„Hast du schon einmal einen Christen persönlich kennen gelernt?“
„Nein, das nicht. Also, dass ausgerechnet ihr Christen seid, zwei so nette Kerle, die Menschen in Not spontan helfen. Wer hätte das gedacht.“
„Du dachtest wahrscheinlich, wir Christen seien wilde Ungeheuer, vor denen man sich in Acht nehmen müsse, wie?“
Im Haus des Philon wurden wir in einen schattigen Hof geführt. Dort strömten die Bediensteten zusammen und überschütteten Eros mit ihrer Anteilnahme. Wir labten uns an den rasch aufgetragenen Speisen und Getränken, und ich bat, ein paar Fragen stellen zu dürfen.
Seid ihr vollzählig versammelt?
Antwort: Ja, soweit wir in der Stadt geblieben sind. Der Rest des Personals befindet sich „auf dem Lande“, desgleichen die „Herren“.
Hatte Stephanos Feinde?
Bestimmt nicht. Er war allseits beliebt.
Hat er vor jener verhängnisvollen Jagd Befürchtungen geäußert oder ein irgendwie verändertes Verhalten erkennen lassen?
Weder, noch.
Oder Nikaia?
Nein.
Und es gab auch sonst keine ungewöhnlichen oder merkwürdigen Vorfälle?
Nein.
Und das Kind, Klein-Philon? War es gesund?
Völlig gesund.
Wurde es von Nikaia selbst gestillt oder von einer Amme?
Von einer Amme.
Und wie heißt diese Amme?
Melitta. Befindet sich zurzeit „auf dem Lande“.
Wie ist Klein-Philon gestorben?
Schulterzucken. Kopfschütteln. Geräuschvolles Schnäuzen.
Als wir das Haus verließen, stand fest: Die Nachforschungen müssen weitergehen. Und wo? Ganz klar: „Auf dem Lande“, sprich, auf dem Landgut des Philon.
Dies war also unser nächstes Ziel. Und jetzt waren wir froh, eine Stärkung zu uns genommen zu haben, denn vor uns lag ein langer und zum Teil ansteigender Weg. Mir und Simon war er übrigens nicht unbekannt. Unser eigenes Wohnhaus liegt nicht allzu weit vom Landgut des Philon entfernt.
Während wir so dahinwanderten und uns dabei über das rätselhafte Verhängnis, das die unglückliche Nikaia getroffen hatte, den Kopf zerbrachen, kamen wir zu einer Stelle, wo wir uns, wie weiland Herakles am Scheideweg, entscheiden mussten, welchen Weg wir einschlagen wollten: Den zur alten Villa des Philon, die damals Demetrios mit seiner Frau bewohnte, oder den zur neuen Villa des Stephanos. Da wir uns inzwischen entschlossen hatten, als erstes Melitta, die Amme von Klein-Philon, zu befragen, entschieden wir uns für den Weg zu Letzterer. Wir nahmen es als gegeben an, dass diese in der Nähe der Villa des Stephanos wohnte.
Dies erwies sich jedoch als Irrtum. Vor der prächtigen neuen Villa angekommen, stießen wir auf spielende Kinder und fragten sie nach Melitta. Sie starrten uns mit großen Augen an und deuteten wortlos in die Richtung eines felsigen Hügels, hinter dem wir die alte Villa wussten.
Dort stießen wir abermals auf Kinder. Die brachen auf unsere Frage in ein sagenhaftes Geschrei aus, rannten auf eines der für die Landarbeiter errichteten Häuser zu und schrien so lange vor dessen Eingang, bis die Tür aufging und eine Frau heraustrat. Wir waren unterdessen nachgekommen, und ich fragte, ob sie Melitta sei.
Ja, das sei sie, erwiderte sie mürrisch. Was wir denn von ihr wollten?
Ob das stimme, dass sie die Amme von Nikaias verstorbenem Kind gewesen sei?
Sie starrte mich mit offenem Mund an, drehte sich jäh um und knallte die Tür hinter sich zu.
Während es mir vor Verblüffung den Atem verschlug und die Kinder in Gekicher ausbrachen, sagte eine tiefe Stimme hinter uns: „Was wollt ihr denn von ihr?“
Erschrocken drehten wir uns um und sahen hinter uns einen Mann stehen.
„Die hält uns für Gespenster“, erwiderte Eros. „Ist das nicht zu komisch?“
Und Simon: „Ach, wir haben sie nur was gefragt.“
Und ich: „Ob sie die Amme von Nikaias verstorbenem Kind gewesen sei.“
Und Eros: „Und daraufhin starrt sie uns an wie Gespenster und verbarrikadiert sich im Haus.“
„Ja, eine Tragödie“, murmelte der Mann. „Das muss sie schwer getroffen haben. Ja, ja, die Ammen sind alle gleich: Wenn ihnen ein Kind wegstirbt, werden sie immer ganz wunderlich. Das habe ich schon des Öfteren erlebt.“
Und ich: „Wir wollten ja nur wissen, wie das Kind gestorben ist oder woran.“
„Wieso wollt ihr das wissen?“
Und Eros: „Weil Nikaia meine Milchschwester ist.“
Und ich: „Wir sind nämlich überzeugt, dass sie unschuldig ist.“
Der Mann zuckte mit den Schultern und machte eine ungläubige Grimasse. „Na, wenn ihr davon überzeugt seid, dann redet ihr am besten mit Demetrios, unserem Herrn.“
Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind
in den Formaten Taschenbuch und
Taschenbuch mit extra großer Schrift
sowie als eBook erhältlich.
Bestellen Sie bequem und deutschlandweit
versandkostenfrei über unsere Website:
www.aavaa.de
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern
über unser ständig wachsendes Sortiment.
www.aavaa-verlag.com
Texte: Karl Plepelits
Bildmaterialien: AAVAA Verlag
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2013
Alle Rechte vorbehalten