Christine Millman
Das Blut der Unsterblichen
Fantasy
LESEPROBE
© 2012 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebendenPersonen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Der Tag verblasste bereits, verlor sich im Grau der hereinbrechenden Dunkelheit. Schatten huschten aus den staubigen Ecken wie lichtscheues Getier, finstere Flecken im schwindenden Licht. Kristina tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Trübe Helligkeit ergoss sich über das Bett, verfing sich in den staubigen Ecken des Mobiliars. Das Licht beruhigte sie ein wenig, auch wenn es nicht die Angst vertreiben konnte, die sich wie ein Krebsgeschwür in ihr eingenistet hatte, die größer und größer wurde mit jeder Minute, die verstrich.
Sie sah sich um. Nichts rührte sich in der staubschweren Stille des Hotelzimmers. Selbst der Uhrzeiger kroch mit boshafter Langsamkeit über das Ziffernblatt, verwandelte die Sekunden in Stunden.
Wielange war Marcus schon fort? Eine Stunde? Zwei? Egal. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Ihr Blick fiel auf die Broschüre auf dem Nachttisch. Sights of London, darunter ein Bild von der London Bridge. Sie setzte sich auf, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und ergriff die Broschüre.
Die Seiten waren abgegriffen, Eselsohren zierten die Ränder und über die Mitte zog sich ein breiter Knick. Ungeduldig begann sie, durch die Seiten zu blättern, warf flüchtige Blicke auf Bilder vom Piccadilly Circus, Big Ben, Buckingham Palast und Madame Tussaud.
Ein altmodisches, schrilles Ringen unterbrach ihre halbherzigen Versuche, sich abzulenken. Sie fuhr herum und starrte mit klopfendem Herzen auf das Telefon. Die Broschüre sank auf ihren Schoß, als wäre sie plötzlich zu schwer, um sie zu halten. Zögernd griff sie nach dem Hörer und hob ab. „Hallo?“
Nichts. Nur das leise Rauschen der Telefonleitung.
„Hallo?“, fragte sie erneut. „Wer ist da?“ Ihre Stimme klang hohl, schien getragen von dem stummen Flehen um Antwort.
Bis auf ein leises Knacken blieb die Leitung still. Ein vernünftiger Mensch würde sicher sagen, dass sich einfach jemand verwählt hatte, doch sie wusste es besser. Sie hatten sie gefunden.
Und sie würden kommen. Waren wahrscheinlich schon auf dem Weg.
Immer wieder war sie ihnen entwischt, doch es war von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Glück verlassen würde. Und hier war sie nun, allein, in einer fremden Stadt, in dem schäbigen Zimmer eines billigen Motels. Niemand konnte ihr helfen. Niemand.
Mit bebenden Händen legte sie den Hörer auf, zerrte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Marcus’ Telefonnummer. Die Zahlenreihe erschien ihr unendlich lang, die Tasten winzig klein, kaum zu fassen mit ihren zitternden Fingern. Warum nur hatte sie die blöde Nummer nicht einprogrammiert?
Sie fluchte leise, zwang ihre Hände zur Ruhe und konzentrierte sich auf die Telefonnummer.
Endlich eine Verbindung. Sie hielt den Atem an. Die Mailbox antwortete.
„Marcus“, sagte sie, nachdem der Signalton ertönt war. „Wo bist du? Ich glaube, sie haben mich gefunden ...“
Ein scharrendes Geräusch auf dem Flur ließ sie innehalten. Ihr Blick flog zur Tür. „Ich glaube, sie sind schon da“, stieß sie atemlos hervor. „Bitte komm schnell. Bitte.“
Sie legte auf. Ihre Hände waren eiskalt, sämtliches Blut schien aus ihrem Körper gewichen zu sein.
Eine Weile starrte sie angsterfüllt zur Tür, wartete darauf, dass jemand versuchte, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Die Minuten verstrichen. Nichts geschah.
Sie atmete tief durch, versuchte, Mut zu fassen, bevor sie sich vom Bett schob und zur Tür schlich.
Vorsichtig legte sie ihren Kopf an das glatte Holz und lauschte. Stille. Hatte sie sich geirrt?
Sie trat zurück und schlich zum Fenster. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen. Zögerlich schob sie den Vorhang zur Seite und erschrak vor ihrem eigenen Gesicht, das sich im Fensterglas spiegelte.
Die verschwommenen Konturen glätteten die kleinen Fältchen um ihre bernsteinfarbenen Augen
und die Sorgenfalten auf der Stirn, löschten die Spuren, die vierzig Lebensjahre in ihrem Gesicht hinterlassen hatten.
Einen Augenblick lang betrachtete sie sich, suchte nach der Wahrheit in ihrer starren Miene, nach der Erkenntnis, ob sie leben würde oder sterben. Doch ihr Gesicht blieb ein bleicher, nichtssagender Fleck, umrahmt von einem ungekämmten Wust rotbrauner Haare. Mit einem abfälligen Schnauben wischte sie über ihr Spiegelbild, öffnete das Fenster, beugte sich vor und sah sich um. Keine Menschenseele weit und breit, nur Wiesen, saubere Einfamilienhäuser und heckenumsäumte Vorgärten.
Eine alte Ulme wuchs direkt neben dem Fenster. Leise schabten die Äste über den Fensterrahmen, als eine Brise durch die Blätter fuhr. Idyllisch würde so mancher sagen. Für Kristina jedoch war die vermeintliche Idylle trügerisch, denn ihre Verfolger konnten mit der Dunkelheit verschmelzen und sich völlig geräuschlos und so schnell bewegen, dass sie sie erst entdecken würde, wenn es zu spät war.
Plötzliche Todesangst schnürte ihr die Kehle zu. Jeder Schatten verbarg eine Gestalt.
Hastig schloss sie das Fenster, zerrte die Vorhänge zu und schleppte sich zum Bett zurück. Es war aussichtslos. Sie konnte nicht fliehen, nur warten. Auf die Verfolger. Auf Marcus. Auf ein Ende. So oder so. Kraftlos sank sie auf die Matratze, starrte an die Decke und lauschte auf ein verräterisches Geräusch. Ein Ast tippte gegen das Fenster, wie Finger, die um Einlass begehrten. Ein dumpfes Klopfen, es hörte sich an wie leise Schritte auf dem Flur. Die Tür knackte.
So fest sie konnte presste sie die Hände auf die Ohren, wollte nicht hören, was als Nächstes geschah.
Sie wusste, wie es vonstattenging, hatte es schon am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Wie sehr es schmerzte, wenn die Reißzähne die Haut durchstießen, und sich in eine Arterie bohrten.
Der heftige Schwindel, die Hilflosigkeit und die Todesangst. Das Herz, wenn es begann, schneller und schneller zu schlagen, in dem verzweifelten Bemühen, ausreichend Blut in den Kreislauf zu pumpen, während das Leben aus dem Körper gesaugt wurde. Bis es schließlich aus dem Takt geriet, weil da nichts mehr war, was gepumpt werden konnte. Als Nächstes folgte die Ohnmacht, aufgrund des Blutverlusts und der damit verbundenen Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, und dann der Tod.
Tod! Unvorstellbar und doch unausweichliche Realität. Zumindest wenn Marcus nicht rechtzeitig zurückkam, um sie zu beschützen.
Siebzehn Jahre lang war sie ahnungslos gewesen, beobachtet und überwacht von Wesen, von deren Existenz sie nichts wusste, nichts wissen wollte. Und dann, ganz plötzlich, hatte sich ihr Leben in einen Albtraum verwandelt. Wegen ihrer Tochter Leila und wegen Marcus – dem Mann, den sie liebte, mehr als es für einen Menschen gut war.
Ein Bild perlte aus den Tiefen ihrer Erinnerung. Ein Bild von ihrem Gesicht, so jung und unwissend, damals, vor siebzehn Jahren, in der Nacht, als sie Marcus begegnet war …
1
Eine Nacht wie diese hält nichts Gutes bereit, pflegte ihr Großvater immer zu sagen, wenn nicht das kleinste Lüftchen wehte und selbst die Dunkelheit keine Erleichterung von der drückenden Hitze des Tages brachte.
Und er hatte recht, fand Kristina. In einer Nacht wie dieser war es am besten, sich nach einer kalten Dusche vor einen Ventilator zu setzen, und sich so wenig wie möglich zu bewegen. Das Fenster weit geöffnet, ein gutes Buch in der Hand, und keinesfalls das Haus verlassen, schon gar nicht, um in einen überfüllten Nachtklub zu gehen.
Doch Hitzewelle oder nicht, ihre Freundin Pia hatte sich in den Kopf gesetzt, auszugehen. Ihr neues Auto hätte Klimaanlage, sagte sie, genauso wie der Club.
Und so kam es, dass Kristina sich ungewollt vor dem Badezimmerspiegel wiederfand, wo sie versuchte, sich zu schminken, ohne dabei in Schweiß auszubrechen und damit alles wieder zu zerstören.
Ein nicht gerade leichtes Unterfangen, wenn man bedachte, dass sie eine Dachwohnung bewohnte, in der es, trotz beidseitig geöffneter Fenster, mindestens fünfunddreißig Grad waren. Da sie unter ihren langen Haaren noch mehr schwitzte, überlegte sie, einen Pferdeschwanz zu tragen, doch bei dem Gedanken an Pias vorwurfsvollen Blick entschied sie sich dagegen. Pia war klein und zierlich, doch was ihr an Größe fehlte, machte sie durch Überzeugungskraft und einen eisernen Willen wieder wett.
Die Klingel schlug an. Kristina öffnete rasch und huschte dann ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
„Komm einfach rein“, rief sie, als sie Pias Schritte vor der Tür hörte.
„Puh. Warum zur Hölle wohnst du nur im fünften Stock?“, jammerte Pia, schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrer blonden Lockenpracht gelöst hatte, und spähte ins Schlafzimmer.
„Das willst du anziehen?“
Kristina knöpfte den Jeansrock zu und schlüpfte in die weißen Ballerinas. „Wieso? Hast du was dagegen?“
„Das ist nicht gerade schick, oder?“
Kristina blickte an sich hinab und zuckte mit den Schultern. „Ich finde es okay.“
Pia seufzte theatralisch, trat vor den Kleiderschrank und begann ungeduldig, die Bügel herumzuschieben.
Schließlich zog sie eine weiß gepunktete, transparente Bluse heraus. „Hier. Zieh die an.
Die passt wenigstens zu den Schuhen.“
Vorsichtig, um den Lipgloss und den sorgfältig gezogenen Lidstrich nicht zu verschmieren, streifte Kristina das T-Shirt über den Kopf, warf es auf das Bett und griff nach der Bluse. „Der blaue BH passt aber nicht dazu, oder?“
Pia zog die Augenbrauen hoch. „Das fragst du noch? Hast du denn keinen weißen?“
Kristina öffnete die Schublade und zog einen Sport BH hervor.
„Meine Güte“, empörte Pia sich. „Doch nicht so ein Ungetüm.“
„Er ist immerhin weiß.“
„Und hässlich.“
„Stimmt“, gab Kristina zu und warf den BH auf das Bett neben das T-Shirt. Pia machte sich währenddessen eigenmächtig an der Schublade zu schaffen und zerrte einen cremefarbenen BH mit Spitzenbesatz heraus. „Zieh den an.“
Unter ihrem prüfenden Blick vollendete Kristina ihr Outfit und betrachtete sich dann im Spiegel.
Pia hatte recht. Sie sah viel eleganter aus als zuvor.
„Perfekt. Jetzt lass uns endlich gehen“, drängte Pia.
Kristina schnappte ihre Handtasche und folgte ihrer Freundin die Treppe hinab zu einem nagelneuen, feuerroten Ford Fiesta.
„Der Knaller, was?“, sagte Pia stolz. „Hab’ ihn vorgestern erst abgeholt. Neunzig PS, Zentralverriegelung, Servolenkung, automatische Fensterheber und sogar eine Klimaanlage.“
Schwungvoll öffnete sie die Fahrertür und warf sich auf den Sitz. „Steig ein. Ich will dir zeigen, wie der über die Straßen braust.“
Als sie dreißig Minuten später vor dem Nachtklub hielten, stürzte Kristina aus dem Wagen und atmete erleichtert auf. Pia fuhr wie eine Verrückte.
Nachdem sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte, blickte sie sich um. Der Club sah recht einladend aus, zumindest von außen. Eine Marquise spannte sich über einen roten Teppich, was dem Eingangsbereich des restaurierten Backsteingebäudes einen Hauch von Luxus verlieh. Zwei Türsteher standen mit vor der Brust verschränkten Armen davor und sortierten die Gäste. Kristina und Pia passierten sie ohne Probleme.
Auch wenn der Club, laut Pia, als eine neuartige Mischung aus Cocktailbar und Diskothek angepriesen wurde, sah der Innenraum aus wie viele andere auch, fand zumindest Kristina. Eine mit Neonlicht beschienene Bar, eine Tanzfläche, laute Musik und zu wenig Sitzplätze. Die mannshohen Kunstpalmen fand sie nicht karibisch, sondern einfach nur kitschig. Zudem erinnerte sie die spärliche Beleuchtung eher an ein Bordell. Wenigstens funktionierte die Klimaanlage. Die Temperatur war, trotz der vielen Menschen, angenehm.
„Wollen wir an die Bar gehen?“, fragte Pia.
Kristina schüttelte den Kopf. An der Bar zu stehen bedeutete, dass man angesprochen werden
wollte, doch sie wollte nicht angesprochen werden, sie wollte sich einfach nur hinsetzen, einen Drink schlürfen und darauf warten, dass die Zeit verging.
Pia seufzte resigniert. „Du bist heute wirklich nicht in Stimmung, was?“
Gemeinsam schoben sie sich durch die Menge und spähten nach einem freien Tisch. In Nähe der Tanzfläche wurden sie fündig. Erleichtert sank Kristina in den Korbstuhl.
„Ich hole uns was zu trinken“, rief Pia, warf ihre Handtasche auf einen Stuhl und eilte davon.
Kristina beobachtete, wie sie in der Menge verschwand, und wandte sich dann der Tanzfläche zu.
Der Bass dröhnte unangenehm laut in ihren Ohren, und ein eisiger Luftzug aus der Klimaanlage wehte permanent über sie hinweg und verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie rutschte einen Stuhl weiter, was jedoch keine spürbare Verbesserung brachte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Pia sich abmühte, die Getränke unbeschadet durch das Gedränge zu balancieren und überlegte, ob sie ihr helfen sollte, entschied sich aber dagegen. Immerhin war es Pias Schuld, dass sie den Abend in diesem blöden Club verbringen musste.
„Long Island Icetea. Hast du vor, mich betrunken zu machen?“, schrie sie, während ihre Freundin die Getränke abstellte.
Pia lachte. „Du bist heute Abend so angespannt. Der Drink wird dir helfen, lockerer zu werden.“
„Was?“ Kristina hatte kein Wort verstanden. Das Wummern der Lautsprecher übertönte alles, was weiter als zwanzig Zentimeter von ihrem Ohr entfernt war.
Pia beugte sich zu ihr hinab. „Trink es, dann fühlst du dich bestimmt besser.“
Pias Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Obwohl Kristina nicht allzu viel für alkoholische Aufmunterungsversuche übrig hatte, konnte sie tatsächlich eine Auflockerung gebrauchen.
Sie prosteten einander zu und tranken einen Schluck. Pia bewegte ihren Kopf im Rhythmus der Musik und ließ den Blick über die Gäste schweifen.
„Suchst du jemanden?“, fragte Kristina.
„Was?“, schrie Pia.
Kristina winkte ab. Sie hatte keine Lust, jeden Satz zweimal zu wiederholen. Stattdessen rührte sie in ihrem Glas herum, betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit und fragte sich, wie ein derart hochprozentiges Gemisch so harmlos schmecken konnte.
Plötzlich stieß Pia einen freudigen Ruf aus.
„Was ist?“, fragte Kristina und folgte Pias aufgeregtem Blick, konnte aber nichts Aufsehenerregendes entdecken.
„… ist Paul … bin … wieder da“, rief Pia, schnappte ihre Handtasche und eilte davon.
Verwirrt blickte Kristina ihr nach. Sie hatte nicht alles verstanden, doch der Name Paul genügte ihr. Nach Pias eigenen Angaben handelte es sich um ihren Traummann. Wenn er also tatsächlich hier war, stand zu befürchten, dass ihre Freundin in den nächsten ein bis zwei Stunden nicht an den Tisch zurückkehren würde. Ihre Stimmung verdüsterte sich, da half auch kein Long Island Icetea, und wohl zum hundertsten Mal fragte sie sich, warum sie sich hatte überreden lassen, Pia zu begleiten.
Wahrscheinlich war sie von vorneherein nur darauf aus gewesen, Paul zu treffen und hatte sie nur als Alibi mitgeschleppt.
Missmutig schob sie mit dem Strohhalm die Eiswürfel in ihrem Glas herum und überlegte, ob sie genug Geld für ein Taxi dabei hatte. Sie beschloss, auf die Toilette zu gehen, um nachzusehen.
Während sie nach ihrer Handtasche griff, beugte sich unvermittelt eine Gestalt zu ihr hinab und murmelte ihr etwas ins Ohr. Die Stimme klang sehr angenehm, tief und weich und hatte einen leichten Akzent. Kristina drehte sich um und blickte in dunkle Augen, die in dem Dämmerlicht fast schwarz wirkten. Der Fremde hatte schwarzes, schulterlanges Haar, ein längliches Gesicht und schmale Lippen, deren strenge Kontur von einem einnehmenden Lächeln abgemildert wurde. Eine Reihe strahlend weißer Zähne und zwei Grübchen auf den Wangen vervollständigten das Bild. Sie fand ihn attraktiv, sehr sogar, doch da sie seine Worte nicht verstanden hatte, schüttelte sie vorsichtshalber den Kopf.
Er nickte, deutete eine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen. Kristina blickte ihm neugierig nach. Sein Gang war geschmeidig und irgendwie sexy. Er durchquerte den Raum und verschwand im Schatten einer Kunstpalme. Sie runzelte die Stirn und starrte auf den dunklen Schemen neben dem Plastikgrün, bis ihr bewusst wurde, dass er sie wahrscheinlich besser sehen konnte, als sie ihn.
Schnell sah sie weg, erhob sich und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch zu der schmalen Treppe, die in den Keller mit den Sanitäranlagen führte. Vor der Tür hatte sich eine lange Schlange gebildet, was ihr ein entnervtes Augenrollen entlockte. Während sie auf eine freie Kabine wartete, grübelte sie über Pias Qualitäten als Freundin und den Mann, der sie angesprochen hatte, nach.
Trotz ihrer schlechten Laune hatte er ihr Interesse geweckt, und sie hoffte, dass er sie noch einmal ansprechen würde. Ein Flirt würde den Abend sicher erträglicher gestalten und sie könnte sich das Taxigeld sparen. Als sie endlich an der Reihe war, beeilte sie sich mit dem Toilettengang, legte noch ein wenig Lipgloss auf, sowie einen Spritzer Parfüm und begab sich nach oben zurück. Sie schlenderte absichtlich nahe an der Kunstpalme vorbei, konnte den Fremden aber nirgends entdecken.
Wahrscheinlich sprach er schon die nächste attraktive Brünette an.
Enttäuscht setzte sie sich an ihren Tisch und griff nach dem Drink. In ihrer Eile hatte sie sogar vergessen, ihr Geld zu zählen. Verdammt.
Zu ihrer Rechten erspähte sie einen muskulösen Mann, der neben der Tanzfläche stand und sie ungeniert musterte. Die Ärmel seines T-Shirts spannten sich über Oberarme, die so dick waren wie ihre Schenkel. Als er sah, dass sie seine Blicke bemerkt hatte, grinste er breit, hob sein Glas und prostete ihr zu. Kristina erwiderte sein Lächeln gequält und hoffte inständig, dass er nicht auf die Idee kommen würde, sie anzusprechen. Um ihm ihr Desinteresse zu signalisieren, reagierte sie nicht auf seine Geste und sah eilig in eine andere Richtung. Doch die Tatsache, dass sie seine Blicke bemerkt hatte, war anscheinend Aufforderung genug, denn schon strich er sich über die gegelten Haare und steuerte zielstrebig auf sie zu.
Hilfe suchend blickte sie sich nach Pia um und verfluchte sie innerlich für ihr Verschwinden.
Traummann hin oder her, sobald sie wieder zu Hause wären, würde sie ein ernstes Wort mit ihrer Freundin reden müssen. Eine Gestalt schob sich in ihr Blickfeld und beugte sich zu ihr hinab.
„Darf ich dich um diesen Tanz bitten?“
Sie erschrak und hob ruckartig den Kopf. Da war er wieder, ihr attraktiver Fremder. Ihr Herz machte einen Sprung und sie war auf einmal nervös.
„Ja, gerne“, sagte sie, obwohl ein langsames Lied gespielt wurde.
Normalerweise mochte sie es nicht, einem Unbekannten so nahe zu kommen, doch der Muskelprotz hatte sie unvorsichtig werden lassen. Sie nutzte den kurzen Weg zur Tanzfläche, um ihn ein wenig näher in Augenschein zu nehmen. Er war von durchschnittlicher Größe, trug Jeans, schwarze Lederschuhe und ein anthrazitfarbenes Hemd. Unter seinem karamellfarbenen Teint sah er irgendwie blass aus, als hätte er eine schwere Krankheit überstanden und wäre noch immer ein wenig angeschlagen.
Er hielt inne, umfasste ihre Taille und zog sie zu sich heran. Zögerlich legte sie die Arme um seinen Hals, versuchte, so weit wie möglich Abstand zu halten. Er grinste über ihre Unbeholfenheit.
Im Gegensatz zu ihr wirkte er völlig entspannt.
„Wie heißt du?“, fragte er.
„Kristina, und du?“
„Mein Name ist Marcus.“
Sie bemerkte nun deutlich den leichten Akzent, mit dem er sprach. Eine Mischung aus Englisch und etwas, was sie nicht zu bestimmen vermochte. Spanisch vielleicht. „Woher kommst du?“, fragte sie.
„Ich komme aus den Vereinigten Staaten von Amerika“, antwortete er. „Doch meine Mutter war
Kubanerin“, fügte er auf ihren überraschten Blick hinzu.
„Was für eine exotische Mischung“, erwiderte sie. „Und was machst du hier? Was verschlägt dich in diesen Teil der Welt?“
„Ich bin geschäftlich hier. Ich arbeite im IT-Bereich für einen großen Energietechnik Konzern.“
Kristina hatte keine Ahnung, was genau die Arbeit im IT-Bereich bedeutete und suchte nach einer unverfänglichen Antwort. „Das klingt interessant.“
Er lachte. „Ich danke dir für die höflichen Worte. Der IT-Bereich steckt noch in den Kinderschuhen und ist nicht für jeden ein Begriff. Mit was verbringst du deine Zeit?“
Während er das sagte, schob er seine Hand tiefer und zog sie noch ein wenig näher. Kristina erschauerte.
Ihre Haut prickelte, als würden Ameisen über ihren Körper wandern.
„Ich ... äh ... ich bin Logopädin“, stotterte sie.
Nervös schaute sie zur Seite. War es hier so heiß oder kam ihr das nur so vor?
„Macht dich meine Nähe nervös? Das liegt nicht in meiner Absicht“, sagte er. „Du bist ungemein attraktiv, Kristina, eigentlich bin ich derjenige, der nervös sein sollte.“
Kristina warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Glaubte er etwa, er könnte sie mit Komplimenten gefügig machen?
Er ignorierte ihren Blick und zog sie stattdessen noch näher zu sich heran. Mittlerweile tanzten sie so eng, als wären sie an der Hüfte zusammengewachsen. Kristinas Gedanken überschlugen sich.
Sollte sie diese Nähe zulassen? Ganz offensichtlich versuchte er, sie zu verführen. Wäre es nicht besser, ihn in seine Schranken zu verweisen?
Marcus betrachtete sie unverhohlen, während sie seinen Blick mied und stattdessen an die Wand in seinem Rücken starrte.
„Sieh mich an“, flüsterte er. Sein kühler Atem kitzelte an ihrem Ohr. Die Stimme vibrierte durch ihren Körper, jagte Schauer über ihren Rücken. Was geschah nur mit ihr? „Warum?“
„Ich will sehen, ob du es auch fühlst.“
Eigenartigerweise wusste sie genau, was er meinte, was noch verstörender war als die Tatsache, dass sie diese Vertraulichkeit überhaupt zuließ. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Dunkel waren seine Augen, fast schwarz, mit einer rötlich schimmernden Pupille. Wie ein Tunnel in dessen Tiefen ein fernes Feuer glimmte. Er starrte sie so eindringlich an, dass sie sich regelrecht entblößt vorkam, als könne er direkt in ihre Seele blicken und nicht nur ihr wahres Ich, sondern auch ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte erkennen. Plötzlich drang die Musik nur noch wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Die Zeit verlangsamte sich, verwandelte sich in ein verzögertes Abbild der Wirklichkeit. Mit jeder Faser spürte sie seine Nähe, so fremd und gleichzeitig so vertraut.
Als das Lied irgendwann zu Ende war - vielleicht waren es auch mehrere Lieder gewesen - standen sie noch eine ganze Weile eng umschlungen beieinander. In Kristinas Kopf summte es wie in einem Bienenstock und sie fühlte sich seltsam entrückt, wie aus einem Traum erwacht. Verwirrt löste sie sich von ihm und eilte zu ihrem Tisch zurück, der noch immer verwaist am Rande der Tanzfläche stand.
Marcus folgte ihr. „Darf ich dir Gesellschaft leisten?“
„Ja, natürlich“, antwortete sie. Wie könnte sie es nicht wollen, nach dem Tanz eben?
Er bemühte sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch die laute Musik machte eine flüssige Unterhaltung unmöglich. Jeden zweiten Satz beantwortete sie mit einem „was?“, oder „wie bitte?
Das war ihr umso peinlicher da er, im Gegensatz zu ihr, keinerlei Verständigungsprobleme zu haben schien. Nie fragte er nach und verstand alles, was sie von sich gab. Weil sie die Gesprächsversuche anstrengend und peinlich fand, schlug sie einen weiteren Tanz vor. Marcus erhob sich mit einem „sehr gerne“ und führte sie auf die Tanzfläche zurück.
Es erstaunte sie, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich an ihn schmiegte und wie sehr sie es genoss, und fragte sich flüchtig, ob er ihr vielleicht etwas in den Drink gemischt hatte.
Nach dem Tanz startete Marcus einen weiteren Versuch, eine halbwegs flüssige Unterhaltung zu führen, doch auch der zweite Versuch misslang kläglich. Nach quälenden dreißig Minuten, in denen Kristina immer wieder mehrere Anläufe gebraucht hatte, um einen einzigen Satz zu verstehen, kapitulierte sie.
„Ich muss hier raus“, sagte sie genervt. Das war ihr plötzlich klar geworden, und noch ehe sie weiter darüber nachgedacht hatte, hatte sie es auch schon ausgesprochen. Sie wollte gehen, unbedingt und so schnell wie möglich.
Er seufzte. „Ich bin froh, dass du das sagst, denn mir geht es ebenso. Wo ist deine Freundin? Musst du ihr Bescheid geben?“
„Nein, sie kommt schon klar.“
„Das ist gut. Wollen wir gehen?“ Er erhob sich und deutete Richtung Ausgang.
Kristina zuckte mit den Schultern, schnappte ihre Handtasche und folgte ihm nach draußen. Er führte sie zu einem schwarzen Mercedes, der direkt neben dem Gebäude geparkt war.
„Wie protzig“, bemerkte Kristina, die bei dem Anblick der Limousine unwillkürlich an ihren alten Golf denken musste. „Darfst du hier überhaupt parken oder ist das ein Privileg für Mercedesfahrer?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich kenne den Besitzer des Clubs und darf seinen Privatparkplatz nutzen.“
Kristina, die Männern mit teuren Autos eher ablehnend gegenüberstand, hob die Augenbrauen und grinste abfällig. „Du bist also ein Mann mit Mercedes und guten Beziehungen. Dich sollte ich mir wohl halten.“
„Du machst dich über mich lustig“, stellte Marcus fest.
Sie zuckte mit den Schultern. Er öffnete die Beifahrertür und bedeute ihr, einzusteigen. „Mach dir keine falschen Vorstellungen, es handelt sich um einen Firmenwagen.“
Kristina beäugte das Wageninnere und der Gedanke, wie leichtsinnig es doch war, mit einem
Fremden zu fahren, streifte ihr Bewusstsein, doch schnell verdrängte sie die Bedenken und ließ sich stattdessen auf das kühle Leder gleiten. Ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen bei der Vorstellung, was ihre Freundinnen dazu sagen würden, allen voran Pia, die ihre Männer grundsätzlich nach der Höhe ihres Einkommens auswählte.
„Soll ich dich nach Hause bringen oder möchtest du noch irgendwo anders hingehen?“, fragte er.
Kristina dachte an den Kriminalroman, den sie sich am Tag zuvor gekauft hatte, an den Ventilator neben ihrem Bett und daran, dass sie sowieso nicht hatte ausgehen wollen. „Wenn du mich nach Hause fahren könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“
Marcus startete den Wagen. „Wo wohnst du?“
„Ich zeig’ dir den Weg“, sagte Kristina.
Kaum hatte er den Parkplatz verlassen, stellte sie entsetzt fest, dass er noch schneller fuhr als Pia.
Im ersten Moment überwog das Staunen darüber, dass dies überhaupt möglich war, doch schnell wich ihre Überraschung echter Angst. Kurz vor ihrem achten Geburtstag war ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und sie verspürte keine Lust, sein Schicksal zu teilen.
„Hast du es eilig?“, fragte sie.
„Nein, wieso?“
„Weil du so rast.“
Marcus lächelte entschuldigend. „Tut mir leid, ich habe einen Hang zu schnellem Autofahren, doch sei unbesorgt, ich fahre ausgesprochen sicher.“
Kristina schnaubte. „Das sagen alle, bevor sie sich unversehens in einem Leichensack wiederfinden.“
Er lachte und drosselte das Tempo. Kristina atmete auf. Die Gefahr war vorerst gebannt. Blieb nur zu hoffen, dass es sich bei ihrem attraktiven Fahrer nicht um einen Verrückten handelte. Bisher schien er recht vernünftig zu sein. Ein wenig seltsam in seiner Ausdrucksweise, aber höflich und charmant. Die Art, wie er an ihren Lippen hing und jedes ihrer Worte aufsog, als wären sie eine persönliche Offenbarung für ihn, gab ihr das Gefühl, dass sich noch nie jemand so ernsthaft und ehrlich für sie interessiert hatte, wie dieser Mann. Ob das nicht zugleich ein Grund zur Besorgnis war, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen. Auf jedem Fall war es schmeichelhaft.
Vor ihrem Zuhause stoppte er den Wagen. Mit dem Verstummen des Motors verstummten auch
ihre Gespräche und eine plötzliche Befangenheit machte sich breit. Kristina blickte aus dem Fenster und betrachtete die Nachtfalter, die um die Straßenlaternen flatterten. Bleiches Licht floss in zentrischen Kreisen über den Gehweg.
„Also gut Kristina, einer von uns muss ja den Anfang machen“, sagte er in die Stille hinein. „Darf ich noch auf einen Kaffee mit in deine Wohnung kommen?“
Kristina schnaubte. „Ja klar, Kaffee, gute Idee.“
Marcus zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ist meine Frage unschicklich? Ich dachte, das wäre die übliche Vorgehensweise in einer solchen Situation.“
Unwillkürlich musste sie grinsen. Es hatte tatsächlich den Anschein, als würde er das zum ersten Mal machen. „Kaffee ist das Synonym für etwas ganz anderes, weißt du das denn nicht?“
„Ich verstehe“, sagte Marcus. „Das war nicht besonders geschickt von mir. Ich möchte einfach nicht, dass der Abend jetzt schon endet.“
Während er redete, bewunderte Kristina seine entzückenden Grübchen und fragte sich, wie sich seine Lippen wohl anfühlten. „Das möchte ich auch nicht“, sagte sie. „Aber bist du dir wirklich sicher, dass du nicht versuchen würdest, mich zu verführen?“
Marcus nickte. „Selbstverständlich.“
Sie näherte sich seinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter, eine für sie ungewöhnlich kühne Geste.
Sein Atem streifte ihre Wange. Ihre Haut begann, zu prickeln und in ihren Ohren rauschte das Blut.
Sie kannte das Gefühl, das ihren Körper durchflutete, kannte es gut, auch wenn es sie nicht allzu oft überfiel. Begehren.
„Nicht einmal ein Kuss?“, flüsterte sie.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Im nächsten Augenblick legte sie ihre Lippen auf die Seinen.
Zuerst schien er überrascht, doch dann zog er sie an sich und erwiderte den Kuss. Seine Lippen waren fest und kühl und schmeckten nach geschmolzenem Schnee. Sie wollte versinken in diesem Kuss, wollte ihre Vernunft über Bord werfen und einfach nur tun, was sie fühlte. Doch die besonnene Kristina gewann die Oberhand. Es war nicht richtig, sich einem Fremden an den Hals zu werfen.
Widerwillig löste sie sich von ihm.
„Lügner“, wisperte sie und lehnte sich auf den Beifahrersitz zurück. Zarte Röte überzog ihre Wangen.
„Das war eine gemeine Falle“, stellte er fest.
„Ich wollte nur meinen Standpunkt klarmachen. Männer sind nie ehrlich, wenn es darum geht, was sie wirklich wollen. Ihr würdet einer Frau alles erzählen, nur um sie rumzukriegen, ihr würdet sogar den Ahnungslosen spielen“, erwiderte sie.
„Du glaubst also, dass ich dich nur rumkriegen will, wie du es nennst?“
„Selbstverständlich.“
Marcus schüttelte den Kopf. „Ich leugne nicht, dass ich dich begehre, doch ich bin nicht nur darauf aus, dich zu verführen. Du faszinierst mich. Frag mich nicht warum, aber du hast etwas an dir, was mich magisch anzieht.“
Kristina antwortete nicht. Von magischer Anziehungskraft oder gar Liebe auf den ersten Blick hielt sie nicht viel. Sie senkte den Kopf und spielte mit dem Mondsteinring an ihrem Finger, während sie das Für und Wider eines One-Night-Stands erwog. Diese brachten normalerweise weder Befriedigung noch eine dauerhafte Beziehung. Allerdings hatte sie sich bisher auch noch nie so stark von jemandem angezogen gefühlt. Sie schnaubte. Allem Anschein nach war auch sie ein Opfer dieser zweifelhaften Anziehungskraft.
„Ich halte normalerweise nichts von One-Night-Stands“, sagte sie.
„Glaubst du etwa, dass ich ständig mit irgendwelchen Frauen nach Hause gehe?“, fragte er erstaunt.
Kristina winkte ab. „Vergiss es, du musst dich nicht rechtfertigen. Was ich tue, tue ich, weil ich es will und nicht wegen deiner Beteuerungen. Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass zwischen uns etwas laufen wird, auch wenn ich dich mit in meine Wohnung nehme.“
„Ich mache es einfacher für uns“, erwiderte er. „Ich verspreche dir hiermit, heute Nacht nicht mir dir zu schlafen, selbst wenn du mir dein Einverständnis signalisieren solltest.“
Sie lachte. „Na gut, wir werden sehen ob du, was dieses Versprechen betrifft, genauso standhaft bleibst wie bei dem Kuss.“
„Es war nur ein Kuss, mit dem du mich überrumpelt hast, doch das wird dir nicht noch einmal gelingen.“
Sie stiegen aus und schlenderten zur Haustür. Während Kristina in der Handtasche nach dem
Hausschlüssel suchte, strich Marcus mit den Fingerspitzen über ihren Rücken. Seine Berührung war so zart wie ein Windhauch und verursachte ihr eine Gänsehaut, die sich über den gesamten Körper verteilte. Schnell zog sie den Schlüssel hervor und öffnete die Haustür.
„Ich wohne im fünften Stock“, sagte sie knapp und begann, die Stufen zu erklimmen. Sie war an die vielen Treppenstufen gewöhnt, doch die meisten ihrer Gäste schnauften und keuchten, bis sie oben ankamen. Marcus jedoch lief leichtfüßig neben ihr her und ließ keine, wie auch immer gearteten, Anzeichen von Anstrengung erkennen. Entweder trieb er Ausdauersport oder er vermochte die Anstrengung geschickt zu verbergen. Sie musterte ihn heimlich. Im grellen Licht des Flurs sah er besorgniserregend blass aus, fast schon kränklich, und doch schien er eine ausgezeichnete Kondition zu haben.
Ein wenig zögerlich folgte er ihr in ihre Wohnung hinein, hielt im Flur inne und sah sich um. „Du malst.“
„Ja, eines meiner Hobbys“, erwiderte Kristina, während sie den Hausschlüssel an den Haken an der Wand hängte.
Marcus trat an ein großes Ölgemälde im Flur heran. Es zeigte eine abstrahierte Frau in einer riesigen blauen Blase. Sie hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen und hockte zusammengekauert da.
„Sie sieht traurig aus und einsam“, stellte er fest. „Es gefällt mir. Man kann erkennen, dass du inspiriert bist. Hast du je daran gedacht, Kunst zu studieren?“
Kristina zuckte die Schultern. „Ja schon, aber meine Großeltern hielten es für keine gute Idee.“
„Deine Großeltern?“
„Meine Eltern sind jung gestorben. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen“, erklärte sie.
„Das tut mir leid.“
„Es ist lange her.“ Sie wollte nicht über ihre Vergangenheit sprechen, nicht in diesem Augenblick und nicht mit ihm.
„Bereust du es?“, fragte er.
„Was?“
„Dass du nicht Kunst studiert hast?“
Kristina zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Manchmal schon.“
Er trat auf sie zu und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Du bist noch jung, du könntest es immer noch tun. Heißt es nicht, lebe deine Träume, bevor es zu spät ist?“
Kristina schnaubte. „Ich habe keine Träume.“
„Jeder Mensch hat Träume“, entgegnete er.
„Ich nicht.“
„Warum nicht?“
„Wer keine Träume hat, dem können sie auch nicht genommen werden.“
Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Wie kann jemand so jung und schon so desillusioniert sein?“
„Wie kann jemand so jung sein und daherreden wie ein alter Mann?“, entgegnete Kristina unwirsch.
Plötzlich blickte Marcus betreten drein. „Ich wollte dich nicht verärgern. Tut mir leid.“
„Ist schon gut. Es ist nur ein Thema, über das ich nicht allzu gerne spreche.“
„Ich verstehe.“ Einen Augenblick lang betrachtete er sie, wie ein abstraktes Gemälde, dessen Sinn er nicht verstand. Dann trat er auf sie zu.
Kristina wich zurück. „Soll ich uns einen Kaffee machen?“, fragte sie nervös. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass er sie jetzt küsste.
„Nein“, flüsterte er und vergrub seine Hände in ihrem Haar. Langsam beugte er sich zu ihr hinab und legte seinen Mund auf ihren. Ganz zart zuerst, vorsichtig, so als befürchtete er, sie zu verschrecken, wenn er jetzt zu ungestüm wäre. Seine Zunge fuhr über ihre Lippen, die sich ihm bereitwillig öffneten. Heiße Wellen jagten durch ihren Körper. Die Intensität ihrer Gefühle erstaunte sie. Lag es an dem Long Island Icetea oder reagierte ihr Körper so stark auf seine Nähe?
Marcus’ Hände glitten über ihre Taille, bis hinauf zu ihrer Brust. Kristinas Atem beschleunigte sich. Ein leichter Schwindel ließ sie schwanken. Er drückte sie gegen die Wand, presste sich an sie und begann, ihren Hals zu küssen. Kristina stöhnte leise. Jeder vernünftige Gedanke wurde von ihrer Begierde niedergerungen. Ich will ihn, dachte sie nur und schlang die Arme um seinen Hals.
Plötzlich ließ er sie los und wich zurück. Kristina öffnete die Augen und sah ihn verwirrt an. Die Adern unter seiner Haut waren deutlich zu erkennen und seine tiefschwarzen Augen fixierten sie derart eindringlich und hungrig, dass sie für einen Augenblick ganz beklommen wurde. Er starrte sie an wie ein Besessener.
„Was ist los?“, fragte sie.
Er schluckte. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals jemanden so begehrt zu haben wie dich in diesem Moment.“ Seine Stimme klang gepresst.
„Warum hörst du dann auf?“
„Weil ich … weil ich dir nicht wehtun möchte.“
Seine Worte fühlten sich an wie eine kalte Dusche. Sie runzelte die Stirn. „Was willst du mir damit sagen? Hast du merkwürdige sexuelle Vorlieben oder bist du ein Psychopath oder so etwas in der Art?“
Marcus lachte kurz und freudlos. „Lieber Himmel, nein. So habe ich das nicht gemeint. Aber es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe.“
Ernüchtert hob Kristina die Augenbrauen. Sie wollte nicht, dass er ging. „Warum sagst du das? Du musst nicht gehen.“
Er wandte sich ab. „Doch. Ich habe es dir versprochen.“
Scheiß auf das Versprechen, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie sprach es nicht aus. Ein bitterer Geschmack stieg ihre Kehle hinauf, ein Anflug von Übelkeit, begleitet von einem dumpfen Pochen hinter ihren Schläfen. Sie rieb sich über die Stirn.
„Was hast du?“, fragte er.
Sie winkte ab. „Nichts, mir ist nur irgendwie komisch.“
Er griff nach ihrer Hand. „Sei unbesorgt, das wird gleich vergehen.“
„Woher willst du das wissen?“
Er lächelte freudlos. „Vertrau mir, ich weiß es.“
Kristina löste ihre Hand aus seiner. „Wenn du das sagst.“
Er ignorierte die Herablassung in ihrer Stimme. „Würdest du mir bitte deine Telefonnummer geben, bevor ich gehe?“
„Okay. Warte hier“, sagte sie nach kurzem Zögern, schob sich an ihm vorbei und lief in das angrenzende Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag ein Block mit Klebezetteln. Sie fischte einen Kugelschreiber aus der Schublade und notierte ihre Telefonnummer. Anschließend kehrte sie in den Flur zurück und reichte ihm den Zettel.
„Ich danke dir. Wenn du nichts dagegen hast, rufe ich dich im Laufe des Tages an“, sagte er.
„Wenn es das ist, was du möchtest“, erwiderte sie betont gleichgültig.
„Das ist genau, was ich möchte.“ Er umfasste ihre Taille und versuchte, sie wieder in seine Arme zu ziehen, doch Kristina entwand sich seinem Griff. Seine Zurückweisung hatte sie verletzt. Außerdem war ihr schwindlig.
Sichtlich enttäuscht ließ er die Arme sinken. „Ich gehe jetzt besser.“
„Okay.“
„Ich wünsche dir eine gute Nacht und werde dich auf jedem Fall heute noch anrufen“, versprach er.
„Tu das“, erwiderte sie gleichmütig.
Er beugte sich vor, als wollte er sie küssen, wich jedoch wieder zurück. Dann ging er, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stand Kristina noch einen Moment unschlüssig im Flur. Er hatte sein Versprechen gehalten, doch wäre es ihr weitaus lieber gewesen, wenn er es gebrochen hätte, denn dann würde sie sich nicht so verdammt unbefriedigt fühlen. Sie lief in das Badezimmer, schminkte sich ab, putzte die Zähne und ging zu Bett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, dafür war sie viel zu aufgewühlt. Etwas an diesem Mann faszinierte sie, zog sie in seinen Bann und ließ sie nicht mehr los. Zum ersten Mal verstand sie Frauen, die behaupteten, einem Mann verfallen gewesen zu sein, denn genau das war das Gefühl, welches sie gerade empfand. Sie könnte ihm verfallen, sich in ihn verlieben, ihn vielleicht sogar lieben. Sie schnaubte, schloss die Augen und versuchte, diese unsinnigen Gedanken aus ihrem Kopf zu drängen.
Immerhin war sie eine erwachsene Frau und kein hormongesteuerter Teenager. Es war völlig
abwegig und lächerlich dieser flüchtigen Begegnung eine derartige Bedeutung beizumessen. Weder war er der Mann ihres Lebens, noch würde sie ihm verfallen. Er war bedeutungslos, genauso bedeutungslos, wie all die anderen flüchtigen Bekanntschaften. Trotzig rollte sie sich in ihre Decke und schlief ein.
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Texte: Christine Millmann
Bildmaterialien: AAVAA
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2013
Alle Rechte vorbehalten