Cover


Willi Voss
UnterGrund



LESEPROBE
© 2012 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten

Darstellung realer Vergangenheit des Autors und Hintergründe mit zeitgeschichtlichen
Personen. Ähnlichkeiten mit noch lebenden, nicht zeitgeschichtlichen Personen
sind zufällig und nicht gewollt.


Prolog



Als ich die maskierten Männer in den grünen Kampfanzügen erkannte und die ölig glänzenden
Maschinenwaffen auf uns gerichtet sah, hatte ich die Bestätigung, dass es reiner Wahnsinn ist, so kurz nach einem brüchigen Waffenstillstand die Front zu überschreiten. Wenigstens für einen Mann, der auf der anderen Seite steht.
Ich spürte eisige Kälte, die aus der Magengegend kam und durch den ganzen Körper fuhr, erkannte wie durch einen wehenden Schleier die Gesichter meiner Frau und des Kindes, deren weit aufgerissene Augen, aus denen die Angst schrie. Denn auch sie wussten, dass sie den Anfang ihres Sterbens miterlebten. Und deshalb stieg in uns die Verzweiflung hoch, eine Verzweiflung, derer wir nur Herr werden konnten, weil die Waffen uns dazu zwangen. Eine sich überschlagende Stimme: „Keine Bewegung, die Hände lassen, wo sie sind!“
Ich zog den Schlüssel und hob die Arme bis auf Schulterhöhe. Noch immer hatte ich diesen
Schleier vor meinen Augen, der ein vollständiges Begreifen der Wirklichkeit verhinderte. Da waren die frisch gewischte Steintreppe, das braune Holzgeländer, die uniformierten Falangisten mit ihren hinter olivgrünen Leinenmasken versteckten Gesichtern, die das Menschliche ihres Wesens verdeckten und verdeutlichten, dass sie nichts weiter sein wollten und konnten als Exekutoren der sie dirigierenden Macht.
Der Anführer schrie mich an, ich solle mich an die Wand stellen, mit dem Rücken zu ihm. Ich drehte mich um, fühlte mich plötzlich nackt, als der Lauf der Waffe sich zwischen meine Schulterblätter bohrte und routinierte Hände meinen Körper abtasteten.
„Wo ist deine Pistole?“
„Ich habe keine.“ Meine Stimme war belegt, ich räusperte mich. Aber es war die Angst in mir, und die ließ sich nicht so einfach wegräuspern.
„Kein Bum-Bum, he?“ Ein wissendes Lachen, die Hände glitten zum zweiten Mal über meinen
Körper, verharrten an den Hoden, drückten sie zusammen.
„Du kannst dich umdrehen. Hat deine Frau eine Waffe?“
„Natürlich nicht.“
„Das Mädchen?“ Er nickte unserer elfjährigen Tochter zu.
„Selbstverständlich nicht.“
Wieder das ekelhafte Lachen, das sich anhörte, als wüsste der Offizier alles besser. „Du hast auch niemals eine Waffe besessen, eh?“
Ich schwieg, weil mir klar war, dass die Kataeb mit Sicherheit nicht zufällig aufgetaucht waren.
Sie mussten Hinweise erhalten haben. Wenn, dann hatten sie die Wohnung bereits durchsucht und den Maschinenkarabiner, die Munition und die Handgranaten gefunden. Jedenfalls war es mir nicht gelungen, mit meinem Schlüssel das Türschloss zu öffnen. Offenbar hatte man den Zylinder kurzerhand ausgewechselt, um sicher zu sein, dass ich nicht hinein konnte.
„Nun? Hattest du Waffen?“ Er stieß mich an. Ich rang mir ein undeutliches Nein ab.
„Du lügst, du lügst fürchterlich, Deutscher.“ Er wandte sich Ellen und dem Kind zu, durchsuchte sie. Danach brachten sie uns nach draußen. Chancen zur Flucht gab es keine. Ich zählte siebzehn Milizionäre und vier Fahrzeuge.
Auf dem Weg zum Wagen entdeckte ich unseren Vermieter Monsieur Junes oben auf der Veranda.
In den Fäusten hielt er einen Kalaschnikov, den er theatralisch auf uns gerichtet hielt. Die Zeichen, die ich bei der Ankunft nicht beachtet hatte, wurden plötzlich lesbar: Der sonst überaus freundliche Monsieur hatte nicht gegrüßt. Er war ins Haus gestürzt. Kurze Zeit später hatte seine Frau den Kopf aus einem der Fenster gesteckt und mich feindselig fixiert. Sie, die von Anfang an nichts unversucht gelassen hatte, um mit mir ein Verhältnis zu beginnen.
Sie hatte Sohn und Tochter gerufen, die drüben bei den Großeltern Gitarre spielten. Stummes Vorbeigehen der Kinder. Ich hätte die Zeichen verstehen können und vielleicht auch müssen, aber ich war eingebunden in meine Gedanken und hatte nur einen Wunsch gehabt: so schnell wie möglich zurück nach Beirut, wo wir in sicherer Umgebung lebten. Offenbar hatte Junes während unserer Abwesenheit die Wohnung durchsucht, war auf die Waffen gestoßen und hatte den von Spionenfurcht hysterisierten Sicherheitsdienst der Kataeb Miliz informiert.
Sie würden uns vernehmen. Wie das endete, hatte ich oft genug gesehen. An bestialisch ermordeten Menschen, die noch im Tod das erlebte Grauen zeigten. Aber da hatte es sich um fremdes Leiden aus der Sicht des Zuschauers gehandelt. Hier aber waren wir selbst die Opfer.
Panik stieg in mir auf. Ich hätte schreien und davonlaufen mögen, aber ich sah Ellen und das Kind.
Sie waren hilflos und, glaubte ich, ohne mich verloren, obwohl ich mir zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr einbildete, Entscheidendes für sie tun zu können. Die Angst zerschnitt meine Überlegungen, und doch beherrschte ich mich, weil mein Verstand mir sagte, uns, mir könne das einfach nicht geschehen. Opfer sind immer die anderen.
Fast mechanisch gab ich dem Offizier die Wagenschlüssel.
„Was wollt ihr. Was haben wir getan, dass ihr uns wie Verbrecher behandelt?“ Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich wie ein Beschuldigter vor der Polizei verhielt. Offenbar wussten das auch die anderen. Sie schwiegen sich aus. Der Offizier am Lenkrad bugsierte das Auto aus dem schmalen Weg. Ich hatte den Eindruck, er lächelte unter der olivgrünen Maske.
„Nicht viel, Darling“, sagte er fröhlich, „nur einige Fragen stellen. Fünf Minuten, dann könnt ihr wieder gehen.“
Wir fuhren an der Villa des ehemaligen Außenministers Dahdah vorbei, die zu jenem Zeitpunkt von der Familie seines Bruders Antoine, dem Chef der Securité Generale, den man hier in den Bergen fast liebevoll „Le Colonel“ nannte, bewohnt war. Meine Blicke suchten das Gelände, den asphaltierten Parkplatz hinter dem pompösen Tor nach Frau Dahdah ab, aber es ließ sich kein Mensch sehen. Zwar parkte der grüne Pontiac vor der Freitreppe. Auf der Terrasse befanden sich die Sommermöbel und neben ihnen auf kleinen Tischen halbgefüllte Gläser, die Menschen jedoch blieben verschwunden. Möglicherweise absichtlich. Wenn auch Madame Dahdah zu den Mächtigen im Lande gehörte und uns eine gute Freundin gewesen war, war auch sie gegenüber der alles beherrschenden Falange machtlos. Das wird es sein, dachte ich. Sie sind hilflos, wie alle hilflos sind, die in diesem Land lebten, mit einem Krieg, dessen Gesetz von Anfang an Gesetzlosigkeit gewesen war. Aus dem Geplänkel des April und Mai war ein menschenfressender Moloch geworden.
Bib, unsere Tochter auf dem Rücksitz, weinte noch immer. Ein leises, schmerzhaftes Wimmern, das mir ins Herz schnitt. Ich lehnte mich zurück, streckte meine Hand aus, um das Gesicht des zehnjährigen Kindes zu streicheln. Die Waffe eines Soldaten schlug sie zur Seite. „Versuche es nicht noch einmal, Bastard!“ Ich versuchte es nicht. Ich starrte vor mich hin. Die Zähne zusammengepresst, den Kopf voller ängstlicher Gedanken, nahm ich die Muster des lederüberzogenen Armaturenbrettes in mich auf, als wäre es wichtig, Einzelheiten festzuhalten.
Der Wagen fuhr sehr schnell und von der regennassen Straße flog das Spritzwasser gegen die Seitenscheiben.
Du bist Deutscher, sagte ich mir. Das zählt in diesem verdammten Krieg. Man konnte
uns nicht wie die Moslems einfach über den Haufen schießen. Sie hatten mit diplomatischen Verwicklungen zu rechnen - und damit, dass sich die europäischen Geldgeber, die dafür sorgten, dass dieser Krieg verlängert wurde, unangenehme Fragen stellten. Denn es gab sie, die frommen Männer und Frauen, die, überzeugt, im Libanon werde das Christentum ausgerottet, Geld an die Milizen Pierre Gemajels und Camille Chamouns zahlten. Summen, die gegen Waffen eingetauscht wurden.
Der Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit in eine scharfe Kurve, schlidderte in den kleinen Ort Quattine, raste an den kleinen Geschäften auf der rechten Seite vorbei. Ein Mann winkte. Wir hatten bei ihm eingekauft, aber ich war nicht sicher, ob sein Gruß uns, unserem hier bekannten Wagen gegolten hatte. Schweigen bis Ghazir. Dort ein kurzer Halt vor dem Büro der Falange. Auf der Veranda saßen hinter Sandsackbarrikaden junge Milizionäre, die ihre Maschinenpistolen lässig über den Schultern hängen hatten. Der Mann am Steuer kurbelte das Fenster herunter.
„Ruf Junieh an, George, sag ihnen, dass wir die Deutschen haben.“
Der junge Mann nickte. Auf seiner Stirn standen plötzlich tiefe Falten. Erinnerte er sich, dass er uns im Laden seines Vaters oft bedient hatte? Ich weiß es nicht. Der Wagen machte einen harten Satz nach vorne. Die Räder radierten den Asphalt. Anschließend schossen wir die abschüssige Strecke zur Ortschaft hinunter, durchfuhren mit jaulenden Reifen die vielen Kurven und gelangten auf die Zufahrt zur Autostraße. Von hier ab wandelte sich das Verhalten der Milizionäre. Wenn sie oben in den Bergen gespannt und nervös waren, zeigten s ie hier Gelassenheit und Freude. Sie lachten, machten Witze und freuten sich offenbar an ihrem Fang. Es war, als hätte die Aktion in Kfour noch schiefgehen können, hier unten an der Küste fühlten sie sich sicher. So sicher, dass der Offizier, der den Wagen lenkte, seine Waffe in die Ablage neben sich schob und Zigaretten hervorholte.
Er bremste hinter der Brücke.
„Wenn du zu fliehen versuchst, bist du tot“, sagte er leise. „Auf den Boden mit euch!“
Wir wurden nach unten gestoßen. Sie zogen mir die Jacke über den Kopf. Ellen schien sich zu sträuben. Das Kind weinte.
„Don't be afraid“, versuchte der Offizier Bib zu beruhigen. „Es dauert nicht lange, und du bist wieder frei. Nur fünf Minuten, Baby – Tell her“, zischte er mir zu. Ich spürte eine Hand an meinem Hals. „Mein Kamerad wird dich wie ein Schwein abstechen, wenn du es versuchst!“
Ich glaubte ihm, wurde in den Sitz gepresst, als der Wagen wieder anfuhr. Er jagte durch eine Rechtskurve. Ich versuchte, mir den Weg zu merken, aber sie waren geschickt, drehten, fuhren immer wieder im Kreis, bis ich tatsächlich nicht mehr wusste, ob wir nach Junieh hinein oder in Richtung Biblos fuhren. Es war ein ekelhaftes Gefühl, auf diese Art an ein unbekanntes Ziel gebracht zu werden. In diesem Augenblick, als ich blind und flach auf dem Sitz lag, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, endgültig ausgeliefert zu sein. Wir waren Opfer geworden.
Wie sehr erfuhr ich, als der Wagen nach etwa zwanzig Minuten Fahrt geparkt wurde. Die Beifahrertür flog auf. Der Mann neben mir stieg aus. Und dann ließen sie einen Schlag gegen meine Nieren los, der mir die Luft nahm. Zwei Männer rissen meine Arme nach hinten und schlossen Handschellen um die Gelenke.
„Steig aus!“
Der Tritt schleuderte mich gegen das Armaturenbrett, meine Brille zerbarst, und Splitter gruben sich in meine Wangen. Ich hatte nicht die Kraft, mich wieder zu erheben. Sie zogen mich an den Beinen aus dem Wagen. Ich prallte auf die Erde, wurde hochgezogen und bekam einen Schlag in den Nacken. Als ich aufstöhnte, landete eine Faust auf meinem Gesicht und trieb die Glassplitter noch tiefer in die Haut. Ich hörte die Stimmen meiner Frau und des Kindes, das Geklirr weiterer Handschellen und wusste, dass die Kataeb keinen Unterschied machten. Zum zweiten Mal stiegen Entsetzen und ein Gefühl der Panik in mir hoch. Wegen der auf dem Rücken angebrachten Handschellen waren Brust und Bauch ungeschützt; ich hasste das Gefühl, absolut hilflos und ausgeliefert zu sein. Während ich zwischen zwei Söldnern auf ein Haus zugeführt wurde, erlosch die Hoffnung in mir, der Offizier im Wagen könnte die Wahrheit gesagt haben. Ich wusste plötzlich, dass ich mit jedem Schritt dem gewaltsamen Tod näher kam.
Diese Erkenntnis traf mich vernichtend. Mein Körper schien zu schrumpfen. Es war, als bereitete er sich auf den Aufprall eines Geschosses vor, als nähme er eine kleinere Form an, um dem Schützen ein schwerer zu treffendes Ziel zu bieten. Ich hatte das Gefühl, in ein sengendes Feuer zu laufen.
Auch Bedauern war da, das Empfinden, die letzte Chance vertan zu haben, weil ich die Flucht nicht gewagt hatte. Wenn ich trotz meiner Todespanik ruhig weiterging, dann hatte das wenig mit Kaltblütigkeit zu tun. Ich begriff einfach, dass ich keine Gelegenheit mehr bekommen würde, mit eigener Kraft etwas zu ändern.
Ich setzte Schritt vor Schritt, die Sinne verstärkt auf die nur hörbare Umgebung gerichtet. Das Empfinden von Asphalt unter den Schuhen, Treppen, Absätze und wieder Treppen. Dann das schabende Gleiten eines Aufzuges, ein Gang, das schrille Läuten einer Glocke und das knarrende Öffnen einer Tür. Ich wurde in einen Raum gestoßen, von Händen aufgefangen und in einen winzigen Raum gedrängt, der offenbar eine Toilette war. Ein Knie prallte gegen meinen Unterleib. Ich wurde gegen eine Wand geschleudert, riss den Abortdeckel mit, fiel und schlug mit der Schulter auf den Boden. Sie trampelten auf mir herum, bis sich ein scharfer Gegenstand gegen meinen Hals presste und eine Stimme mir befahl aufzustehen.
Ich versuchte es, aber die gefesselten Hände fanden nirgends Halt. Ein Tritt gegen die Schenkel.
„Come on, Shermuda!“
Sie rissen mich hoch, setzten mich auf das Toilettenbecken. Sie richteten meinen Kopf geradeaus, eine andere Stimme fragte, ob ich durch die Jacke etwas erkennen könne. Ich verneinte. Kaum war das Wort ausgesprochen, explodierte eine Faust in meinem Gesicht. Mein Kopf flog gegen die Wand. Sie lachten.
Die Hilflosigkeit war nicht mehr zu ertragen. Ich musste mich einfach wehren. Ich tat es, indem ich die Beine hochriss und voller Wut und Hass nach vorne stieß. Ins Leere. Sie fassten meinen Kopf, bogen ihn nach unten. Und dann prügelten sie wie die Wahnsinnigen auf mich ein. Die Haut schien zu platzen. Ich sprang gegen sie an, riss an den Handschellen, musste Raum gewinnen, um mich verteidigen zu können. Klar, es war sinnlos, und vielleicht war es falsch, aber ich musste etwas gegen die Hilflosigkeit unternehmen, musste zeigen, dass ich ein Mensch war und Kraft in mir hatte. Einerlei, ob ich ihren Zorn durch Gegenwehr noch mehr anstachelte, sie wollten töten. Doch mein Überlebenstrieb zwang mich, auch in dieser aussichtslosen Situation noch aufzubegehren. Ich schmeckte mein Blut, roch den Atem der Männer, ihren Schweiß. Die Schläge kamen härter und schneller und schienen nicht mehr kontrolliert von der Überlegung, den Gefangenen zu zermürben, sondern von dem Willen, das Leben zu vernichten, das ihnen in die Hände gefallen war.
Ich stöhnte, erwartete die nächsten Schläge, war sicher, mein Leben zu verlieren, als die Stimme des Offiziers aus dem Wagen erklang.
„Wir schlagen dich tot, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst!“
So blödsinnig es war, ich lachte laut auf.
Schritte näherten sich, ein Mann sprach ein so schnelles Arabisch, das ich es nicht verstehen konnte.
Hände packten mich, hoben mich auf, setzten mich wieder auf das Toilettenbecken, begannen,
mir ein zweites Tuch um den Kopf zu wickeln.
„My dear, versuche nicht herauszufinden, wo du dich befindest. Sollten wir merken, dass du dir die Binde von den Augen nimmst, wirst du auf der Stelle erschossen. Hast du verstanden?“
„Ich habe verstanden. Was ich nicht verstehe, ist, warum wir hier sind.“
„Das wirst du noch“, sagte er kühl. „Wir geben dir einige Zeit zum Nachdenken. Wir wollen die Wahrheit. Welche Rolle du spielst. Solltest du die Hoffnung haben, uns austricksen zu können, begrabe sie. Wir haben Mittel, die Wahrheit aus dir herauszuholen. Und wir haben Leute hier gehabt, die uns angefleht haben, wir sollten sie töten.“
Ein Milizionär fasste meine Hand und führte mich aus dem Gelass in einen anderen Raum. Ich
hatte mich in eine Ecke auf den gefliesten Boden zu setzen. Schritte entfernten sich, und ich horchte in die plötzliche Stille hinein. Für Minuten glaubte ich, alleine zu sein, doch dann hörte ich den Atem eines Menschen, das leise Schmatzen, als Lippen sich öffneten. Ich wusste, dass ich beobachtet wurde.
Die Zeit verstrich, und ich hatte mit den Gedanken zu kämpfen, die mir sagten, dass ich am Ende angekommen war. Es war eine eher nüchterne Feststellung, Summe der Erfahrung, die ich im Lauf der letzten Monate gesammelt hatte. Dieser Krieg, dessen Brutalität keine Grenzen kannte, hatte nun auch nach uns gegriffen. Ich litt um Ellen und das Kind. Beide würden sterben, ohne zu wissen warum. Menschen, die ich liebte und die mich liebten, Menschen, die mir vertraut hatten und für ihr Vertrauen zahlen mussten. Ich hatte ihnen nie die ganze Wahrheit über mich erzählt. Es entsprach nicht unseren Spielregeln, Mitwisser zu haben. Und deshalb würden sie nicht einmal erfahren, weshalb
sie starben.


1



Es mag Menschen geben, die sich in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend zurückversetzen und plausibel erklären können, was sie zu dem gemacht hat, was sie gegenwärtig sind. Ich gehöre nicht dazu.
Ich muss wie ein Forscher vorgehen, der sein Objekt Schicht um Schicht freilegt.
Mein Zustand Jugend bietet sich mir als vages Bild unter einem Schleier. Vielleicht, weil ich mich nur mit Scham daran erinnere, einer jener gewesen zu sein, die in einer Woge von Verlierern als Flüchtling in das Land geschwemmt worden sind. Einem Land voller Menschen, deren erschrecktes Protestieren gegen die Iwans aus der Steppe mir immer noch in den Ohren liegt. Ohne Vater. Der saß irgendwo hinter Stacheldraht und fragte sich, welche Konsequenzen die eintätowierte Blutgruppe unter seinem Arm wohl haben mochte. Mit einer Mutter, die bemüht war, sich und ihre drei Söhne nach einer in Güterwagen verbrachten Odyssee durch die allgemeine Not zu lavieren.
Untergebracht waren wir in einem Barackenlager, in dem noch der Dunst jener nistete, die dort zuvor für die Rüstungsindustrie Zwangsarbeit geleistet hatten. Es hieß Talstraße und hatte einen direkten Zugang zu einem Gelände, das den Namen Judenfriedhof trug. Ein rechteckiges Stück Unkraut überwuchertes Land, auf dem Jahre später eine schlichte Zementsäule errichtet wurde. Auf deren Vorderseite war oben ein Davidstern und darunter fremdartige Messsinglettern angebracht, die oft abgebrochen, aber immer wieder von unbekannter Hand ersetzt wurden. Dahinter ein verwilderter Park, vom Hesperbach durchflossen, ein sich windendes Tal, Bergwerksstollen und das Geraune, da sei für den Krieg Entscheidendes geschehen. Man habe dort Waffen produziert, die leider nicht mehr zum Einsatz gekommen seien. Für mich schwer bedeutsames Land voller verborgener
Geheimnisse. Unser Land.
In den Büschen und Bächen rostende Stahlhelme, Gasmaskenbüchsen, Munition und im Abraum
eines Stollens ein verbogener Säbel, mit dem die Größeren später Äste von den Bäumen schlugen.
Hinter dem stacheldrahtbewehrten Maschendrahtzaun Reihen rostender Fliegerbomben, unzählige im Frost erstarrte gelbe Hühnerküken und Männer in schwarzen Ledermänteln, die Karabiner gegen dreiste Schrottdiebe schulterten. Und wenn das Radio sein Pausenzeichen sendete, grummelte es aus manchen Mündern verschwörerisch im Takt der Melodie: Und der Führer lebt doch!
Hin und wieder tauchten olivgrüne Lastwagen auf, von deren Ladeflächen Kleider, Schuhe und
Lebensmittel von Uniformierten zugeteilt wurden. Mit langen Kitteln Verhangene und Maskierte kämpften sich sprachlos durch die Räume, pulverten weißen Staub über Menschen und Räume und glotzten aus runden Glasaugen Sterbensfurcht in unsere Seelen. Blau gefrorene Hände, ein bullernder Kanonenofen, auf dem ein Wasserkessel summt, wirbelndes Geflocke vor dem Fenster, das Knallen von Türen, die vom Wind geschlagen werden. Dumpfe Schritte, die vor der Tür verharren, die knarrend aufspringt und ein großes, braunes Bündel einlässt, dessen Kopf von Skimütze, olivgrünem Schal und einer Kinnmaske eingehüllt ist. Schnee auf den Schultern. Grobe Stiefel unter den Säumen des Mantels. An der Hand einen Rucksack, der mit dem Schrei der Mutter auf den Dielenboden plumpst.
Sie umarmten sich. Er streichelte die Köpfe seiner größeren Söhne. Ich flüchtete unter den Tisch.
Sie lachten. Über mich. „Das ist er also“, sagte der im braunen Mantel, ging auf die Knie, rutschte zu mir hin. „Ich bin dein Papa“, sagte er.
„Nö“, soll ich gesagt haben, „ich hab keinen Papa“.
Doch, plötzlich hatte ich einen, der mit uns in den Wald ging, Stöcke schnitt, der Schachfiguren, Pferdchen und Kistchen schnitzte und nachts den Strohsack mit meiner Mutter und mir teilte. Hin und wieder nahm er uns mit in die Stadt. Er kannte nach Heu und Stroh und Dung duftende Hallen, in denen dicht an dicht Kühe standen und wo es blauflüssige Magermilch gab. Er wusste von Männern, die in Zeitungspapier gewickelten Speck abgaben, braute Bier, stellte aus irgendwelchen Ingredienzien im Kochtopf Honig her und legte im Eck vor der Baracke einen Gemüsegarten an, den er, als die Erntezeit kam, bis tief in die Nacht Knaster rauchend bewachte. Wir zogen über Felder, sammelten Ähren, Bucheckern, Haselnüsse, Pfefferminze. Hin und wieder kamen Männer, denen wie ihm die Kleider am Leib schlotterten, die ihn umarmten und sich freuten, ihn gesund zu sehen.
Fremdartige Namen fielen, sie tranken, sprachen von Kameraden, die gefallen, von anderen, die noch in Gefangenschaft waren. Sie tranken ihr Bier, rauchten selbst geschnittenen Tabak und versprachen, sich wiederzusehen. Wenn sie fort waren, die Kameraden, war dieses bange Schweigen in der Stube, das stumme Kopfschütteln meines Vaters und manchmal die Worte: Wir haben doch wie alle nur unsere Pflicht getan. In diesem Land, jedenfalls, sei kein Bleiben, es sei hoffnungslos, man werde es niemals mehr hochkommen lassen, wer noch kann, müsse sehen, dass er draußen was findet.
Argentinien oder Kanada, da werde man noch gebraucht. Aber die suchen doch, raunte es zurück, wollen alle zur Rechenschaft ziehen, die dabei waren.
Nach Kanada, nein, da gehen wir nicht hin, sagte meine Mutter. Woher du das nur hast? Aber sie füllten stapelweise Papiere aus, hefteten ihre Fotos in dafür vorgesehene Felder und dachten lange nach, ehe sie ihre Begründungen niederschrieben. Bärbel und August kamen, sie jung und strahlend, die mich nicht aus den Armen ließ, nach Rosen und Kernseife roch und mich küsste und mich Darling nannte und sagte, ach, wenn ich dich nur mitnehmen könnte! Ihr habt bald selbst welche, sagte Mutter, und dann wirst du wissen, welch eine Last sie sein können in diesen Zeiten. Vielleicht klappt es ja auch bei uns und wir werden uns dann da drüben wiedersehen. Bestimmt klappt es, sagte August, bei mir haben sie ja auch nichts gesagt, weil ich dabei gewesen bin. Die brauchen uns, weil wir ordentlich und fleißig sind. Ja, vielleicht, sagte mein Vater eher ängstlich als überzeugt, aber vielleicht kriege ich auch hier Arbeit im Bergwerk oder ich geh zu Karl nach Bayern auf Ziegelei, wir werden sehen.
Als dann die Papiere eintrafen, als feststand, dass sie nach Kanada einwandern durften, saßen sie bedrückt am Küchentisch, vor sich die Zeitung, der sie entnommen hatten, dass die kanadische Polizei einen SS-Mann bei der Einreise festgenommen hatte. In den heißen Nächten jenes Sommers, wenn sie glaubten, ihre Kinder schliefen, wuselten ihre Sorgen gegen die vor Hitze knisternden Wände, besonders die meiner Mutter, die wieder einmal eine Ahnung hatte und sicher war, es werde ein Unglück geschehen. Schon das Schiff würde mit Mann und Maus in den eisig schrecklichen Fluten versinken. Und wie immer setzte sie sich, deren Grundmuster aus elementarer Lebensangst gewoben war, mit ihrer stillen, aber zähen Obstruktion durch.
Erfüllt von tiefem Misstrauen gegen Unvertrautes, fühlte sie sich in der Gegenwart fremd, wohingegen die Zukunft für sie voller schrecklicher Gespenster war. Das kam nicht von Ungefähr, denn beständig, das hatte im Übrigen auch Vater in brutaldramatischer Weise erfahren, war für sie lediglich das Unbeständige gewesen.
Beide waren sogenannte Volksdeutsche. Ihre Familien waren Mitte des 19. Jahrhunderts nach Wolhynien eingewandert. Anfang des Ersten Weltkriegs in der Gegend von Rowno geboren, lernte Mutter schon als Kind die harte Wirklichkeit eines winzigen Bauernhofes kennen. Ihr Vater, der in der Gegend den Ruf eines unberechenbaren Familientyrannen hatte, herrschte auf der winzigen Bauernstelle mit der Knute. Nach diesem Krieg, berichtete sie, war der Hunger ein ständiger Begleiter.
Eine schulische Ausbildung war für sie weder vorgesehen noch finanzierbar. Zeit ihres Lebens litt sie darunter, nicht ausreichend Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Aber schön war sie, von zierlicher und wohlproportionierter Figur, mit langem, dunklem Haar, tiefbraunen Augen und elegantem Auftritt. Ein Kaufmann war von ihrem Talent so angetan, dass er ihre Eltern beschwor, ihm zu erlauben, ihr eine Tanzausbildung zu finanzieren. Zwei Jahre währte ihr Glück, dann musste sie zurück in das von Arbeit geprägte Ackerleben. In der Ziegelei lernte sie meinen Vater kennen, der dort als Meister tätig war. 1935 Heirat und das erste Kind, benannt nach dem damals populären englischen König Edward. 1937 kam eine Tochter hinzu, die jedoch zwei Jahre später starb.
1940 wurde die Familie als „wertvolles, deutsches Blut“ in den Warthegau „zur Stärkung des Reiches selbst“ hereingeholt. Das dritte Kind wird zwischen den noch nicht ganz ausgepackten Kisten und Koffern geboren und als Dank an den Führer für die neue Heimat Adolf benannt. Eine Strafmaßnahme, wie es sich zum Leidwesen meines deswegen gehänselten Bruders schon wenige Jahre später erweisen sollte.
Die Landnahme war auch nicht gerade ein Glücksgriff. Zusammen mit polnischen Zwangsarbeitern mühten sie sich, das Land in den Griff zu bekommen, hielten Geflügel, Schafe, ein bisschen Vieh und produzierten Rüben und Getreide mit dem von den Berliner Rasseideologen vorgegebenen Ziel, im Warthegau eine nationalsozialistische Mustergesellschaft zu etablieren. Kaum, dass die Gänse das recht sonderbare wolhynische Deutsch gelernt hatten, war die Herrlichkeit jedoch schon wieder vorbei: Drohend kündeten die Kanonen der Roten Armee von Heulen und Zähneklappern.
Eigene Erinnerungen aus jener Zeit sind rar, bestenfalls als Schatten und bebilderte Erzählungen erkennbar, von denen ich nicht so genau weiß, ob sie meinem Sehen entsprungen sind. Plastisch sehe ich wie mein ältester Bruder einen großen Reisekoffer anschleppt, sehe daraus unzählige Bündel Geld fallen, die sich zu Haufen türmen, höre das flehende Jammern meiner Mutter, ihre Verzweiflung, dieser Koffer werde uns alle ins größte Unglück noch werfen! „Das waren nur große Scheine“, berichtete mein Bruder Jahrzehnte später, „das waren Millionen, aber Mutti zwang mich, den Koffer wieder zurückzubringen. Dabei sind wir bei der Weiterfahrt nach Westen gar nicht mehr kontrolliert worden.“
Ich sehe das Innere des strohbedeckten Güterwagens, neben mir Mutter, meine Brüder, gegenüber die Drehers, die Plitts, die Julius, die sich später alle im Lager wiederfanden, sehe in einem grünen Rucksack Marmeladen bestrichene Brotscheiben, Emaillekannen, höre nur weibliche Stimmen, weil es noch immer keine Männer gibt, höre Schreie, Stahl auf Stahl knallen, als die Türen zugeschlagen wurden und es schlagartig Nacht ist. Ich klammere mich an meine Mutter, spüre ihre raue Handschuhhand in meinem Gesicht, tauche ab in eine andere Welt, in der aus sternförmig angebrachten Hähnen Wasser in Runde Becken voller schreiender Kinder rauscht, sehe blutbraune Holztüren, hinter denen Treppen nach unten in düstere, nach Zwiebeln riechende Erdbunker führen und die
wegen der in ihnen lauernden Kinderwürger strengstens verboten sind.
Überall witterte sie Gefahr für sich und die Ihren, auch dann noch, als ihr Mann sie mit seinem sehnigen Körper wie ein Schutzwall sicherte. Er fand Arbeit unter Tage auf der Zeche Pörtingssiepen am Baldeneysee, und zweimal im Jahr rollte ein rußender Lastwagen vor die Baracke und schüttete Haufen schwarz glänzender Deputatkohle durchsetzt mit faserigem Grubenholz vor die Schwelle. Und dann erhielt er auch noch braunverpackte Pakete, in denen Wieler Korn, Danziger Goldwasser, Cadbury´s Schokolade, Corned Beef, Fruchtdrops, Lucky Strike Cigarettes, blättriger, in Celophan gepackter Tobacco american blend, Dosensuppe und dry fruits in länglichen Kartons gestapelt waren. Kostbare, duftende Sachen, für die unsere Nachbarn Schlange standen, in den Händen Eimer für die Kohle und das Holz. In den hohlen Gesichtern Wunderblicke ob des vom Himmel gefallenen Mannas, verteilt von knotigen Vaterhänden, in deren Narben Kohlenstaub dunkle Male tätowiert hatte. Man stand noch füreinander ein. Und die aus dem Osten, die mit den grünbraunen Skimützen und der sonderbaren Russkisprache sowieso. Weil sie nur sich und vielleicht noch die mit ihnen im Lager untergebrachten „Ausgebombten“ als Freunde hatten. Von den „Hiesigen“ wussten sie sich gehasst. Die waren überzeugt, die Last des Oorlogs alleine getragen zu haben, während diese Beutegermanen ihn verschuldet und außerdem kläglich verloren hatten.
Hinter dem Lagerzaun, da war Feindesland, da waren die Satten, die gar nicht so satt waren. Da waren die Gerechten, die so gerecht gar nicht waren. Da waren die, vor denen unsere Leute die Mützen in die Hand nahmen und sich anschickten, jene Verbeugungen zu machen, die s ie während der verflossenen großen Jahre da draußen im Neuland nicht nötig gehabt hatten. Das Lager, das war für sie der Splittergraben, die Deckung, aber auch der Ausweis ihrer Minderwertigkeit. Deshalb blickten sie sehnsüchtig durch den rostenden Stacheldraht hinaus ins fremde Territorium. Sprachen dauernd davon, eine Wohnung in jenen Häusern haben zu wollen, durch deren gemauerte Wände ihr Leben und Sterben nicht zu hören war, die, Stein für Stein gebaut an ordentlichen Straßen standen, von deren festem Pflaster der Gesang von Stiefeln, Hufen und Reifen an die Ohren pladderte, und die, das glaubte man, irgendwann einmal die ersehnte Anerkennung bringen würde.
Die Ordnung jener Tage im Lager war anarchisch. Einige hielten Hühner, Kaninchen, fütterten versteckt in festungsartigen Koben ihr Schwein, andere rissen Kabel und Rohre aus Hallen und Häusern, um sie als Schrott zu verkaufen. Frau Hemmrich, Hure genannt, handelte mit Waren, die sie angeblich von den englischen Besatzern gegen Nummern eintauschte. Jene Bande von Jugendlichen, der auch mein ältester Bruder angehörte, entführte unter riesigem Spektakel ein fettes, in höchster Not quiekendes Schwein aus dem Stall eines Bauern. Sie schleiften es, geknebelt an einen Gott-mit-uns-Koppel durch den Nordpark in die Katakomben der Engels-Werke. Bald wehten Bratendüfte durch das Lager.
Eisernes Schweigen, als die Polizei ausschwärmte und vergeblich nach den Tätern und Denunzianten forschte. Was sie fanden, waren Knöchelchen in einem Abflussschacht. Aber die, das war schnell heraus, gehörten eher zur Gattung der Feldhasen und Kaninchen, möglich auch, dass sie das plötzliche Verschwinden und den Verbleib der Nettelbeckschen Katze erklärten. Die Not war eben groß, und gut möglich, dass die Rotweiße als Dachhase unter den Deckel und die eiweißentwöhnten Mägen der seltsamen Familie wanderte. Denn auch aus deren Zweizimmerbehausung war der Geruch eines Bratens in die Frühlingsluft gestiegen, das, obwohl aus der Familie keiner an dem Schweineraub und der Verteilung beteiligt gewesen war.
Der Alte, ein rotschöpfig sommersprossiger Hutzelmann mit Brille und gebeugten Rücken, galt sowieso nicht als richtiger Mann. Er war zu viel Etepetete, hatte sich in der Etappe dickegetan und ward nie gesehen, wenn es um die lagerimmanente Volkssolidarität ging. Es hieß, er habe sich seine Hochnäsigkeit als medizinischer Helfer in dieser Anstalt verdient, was so schön anrüchig klang, wenngleich sich niemals herausstellte und niemand sagen konnte, um welche es sich denn gehandelt haben könnte.
Den Mann in der Familie spielte seine ihn um Haupteslänge überragende, ebenfalls rothaarige, bis auf die Knochen abgemagerte Frau, die ihn und die Kinder wie ein verlorenes Fähnlein einen jeden Nachmittag wie an einem Strick hinter sich her in die Stadt zog, wo es, wie gemunkelt wurde, bessergestellte Verwandte gab.
Sohn Fredie, die Knochenklapper, wurde trotz der Feindseligkeit seiner Eltern den übrigen Lagerbewohnern gegenüber mein erster Freund, allerdings für die eher verhaltenen Spiele, da ihm jede Annäherung an heftige Bewegung, Schmutz oder Zerstörung bei Androhung fürchterlichster Prügel verboten war. Die erträglichere setzte es, wenn er oder seine Schwester sich in verdächtiger Weise in der Nähe des Lebensmittelschrankes bewegten. Umso lieber kam er zu uns, wo insoweit extreme Liberalität herrschte und es sozusagen Pflicht war, sich den Bauch auch außerhalb der Mahlzeiten bis zum Rückschlagventil vollzuschlagen.
Nicht zu gebrauchen – wegen Gefahr und Schmutz – war er bei der Beobachtung jener Gruppe
von Jugendlichen, zu denen mein damals etwa fünfzehnjähriger ältester Bruder und Leute zählten, die mir als Dübel, Schorsch, Raffzahn und Rübezahl in Erinnerung sind. Die standen mitten im harten Leben, besaßen Messer, Pistolen, Gewehre, und, erklärtermaßen für die Verteidigung gegen die Banden aus den OT-Baracken und der Röttgenstraße, sogenannte Fletschen. Das waren aus Astgabeln und Reifengummi hergestellte Katapulte, mit denen sie im Eisenwerk organisierte Stahlsterne, die Kützen hießen, gnadenlos gegen ihre zahlreichen Feinde, hin und wieder auch gegen die Wächter einsetzten, die versuchten, ihnen das Schrottstehlen zu verwehren.
Mit großen Augen und voller Bewunderung schlich ich ihnen trotz des Risikos, unsanft fortgejagt zu werden, nach und beobachtete ihre imponierenden Mutproben. Von Baum zu Baum hechten, über Brückengeländer balancieren, gefundene Munition zur Explosion bringen, Bergwerksstollen durchsuchen und nicht zuletzt mit abenteuerlich zusammengebauten Booten Bäche und Teiche zu erkunden, waren einige der Dinge, die mich über alle Maßen zum Mitmachen reizten. Aber ich war zu jung, war der Köttel, der schimpflich nach Hause zu Muttern gejagt wurde, der Pimpf, bei dem noch die Eierschalen hinter den Ohren feucht waren und der deshalb die Grenze zum Paradies nicht überschreiten durfte. Da half kein Jammern und kein Flehen. Auch mein Bruder, der in der Bande eine führende Rolle spielte, duldete in gnadenloser Gruppentreue noch nicht mal die Spur einer Ausnahme. Da draußen war er Feind, der nur dann zum Freund wurde, wenn er mit uns Nebenmenschen am Küchentisch Suppe löffelte und uns als Mitglieder seiner Familie wahrnahm.
Aber es gab Zeiten, da brauchten sie so Winzlinge wie mich. Wenn es galt, Lumpen für die Pille zu sammeln, mit der sie auf dem schwarzen Abraum der Engelswerke Fußball kämpften, auf Tore schossen, die aus rostenden Ofenrohren gebaut waren und sich in ihre Einzelteile zerlegten, sobald der schwere Ball dagegen knallte. Oder wenn es galt, durch die schmalen Luken in Ställe zu kriechen, um Hühner und Bauern um ihre Eier zu bringen. Oder wenn es darum ging, den englischen Soldaten Zigaretten aus den Landrovern zu klauen. Aber das waren Pakte auf Zeit, zu unserer Menschwerdung wenig tauglich. Für eine Verbrüderung war die Kluft zwischen denen, die noch in der Hitlerjugend und deshalb die tollen Hechte waren und uns mickrigen End- und Nachkriegsnullen zu groß.
Ein bisschen Anerkennung gewährten sie, als wir Pimpfe gegen den verhassten Lagerverwalter die erste erfolgreiche Schlacht gewannen. Der Mann hieß Steinhaus, wohnte im ehemaligen Kommandohaus der Anlage und stelzte in einem hautengen, uniformähnlichen Gewand und auf Hochglanz polierten Schaftstiefeln herum. Ein hoch aufgeschossener Kerl, der, eine Weidengerte unter dem Arm geklemmt, unerwartet wie ein Gewitter auftauchte und grollend Vergehen unterstellte, die oft genug nicht begangen worden waren. Es reichte, in der Nähe seines Hauses schnell zu laufen, zu schreien und zu kreischen, um Opfer seiner Rute zu werden. Entgehen konnten wir ihm nur, wenn wir schneller als er waren.
So gefürchtet Steinhaus war, so sehr wurde er auch Opfer vieler Streiche. Besonders abends, wenn er sich zur Ruhe begeben hatte, schlugen wir gegen seine Fenster. Wie aufgezogen schoss er dann nach draußen und versuchte, der Übeltäter Herr zu werden, die sich längst aus dem Staub gemacht hatten. Bis auf dieses eine Mal, als wir einen Kessel voller Jauche über der Tür auf der Dachrinne platzierten, ihn durch eine Schnur mit der Türklinke verbanden, mit geradezu todesmütigem Übermut Steinhaus-Scheißebauch kreischten und kleine Steine gegen die Fenster seiner Wohnung prasseln ließen.
Die Tür flog auf. Steinhaus stürzte heraus. Der Schwung der Tür riss den Kübel mit. Der stinkende Segen ergoss sich über den Lagerverwalter, der Sekunden lang wohl in Erwartung des finalen Todesschlags erstarrte, ehe er einen so grellen, angsterfüllten Schrei in die Nacht gellte, dass die Leute aus der gegenüberliegenden Baracke in den Hof stürmten, um nachzusehen, wem dort draußen bei lebendigem Leibe die Haut von den Knochen gezogen wurde.
Unser Gelächter hallte in die Nacht und warf sich als von den Sternen zurückgeworfenes Echo wie eine Rotte spottender Racheengel in Steinhausens gedemütigtes Genick, mischte sich mit dem schadenfrohen Gejohle der vorverurteilenden und beängstigend schnell anwachsenden Jury: Gepeinigt seist du, verdammter Mistkerl, der du uns so oft aus niederen Beweggründen gepiesackt hast, ergötzend, wie dir die Scheiße vom Kopf über die hohe Nase in den Kragen rutscht, mögest du endlich zur Besinnung kommen und ein Mensch sein unter Menschen.
Wurde er nicht. Überzeugt, Opfer einer Verschwörung geworden zu sein, ging er von da an noch schärfer und besonders gegen uns Kinder vor, deren Stimmen er wohl durch Schrecken und Odeldunst als Beweis unserer Teilnahme an dem Attentat gewertet hatte. Wir waren jetzt erst recht Freiwild, auf das er seinen gesamten Zorn lenkte. Für mich bedeutete dies mehrmalige Prügel, die ich dadurch vergalt, dass ich ihm ein Bajonett zwischen die Speichen seines Vorderrades schob, als er mit einigem Tempo die Talstraße herunter radelte. Der Sturzflug, mit dem er über die Lenkstange segelte, war mindestens ebenso lang Gesprächsstoff wie die Bremsspur, die er auf dem im Hespertal gewonnenen Rollsplitt hinterließ.
Mag sein, dass die hilflos in der Luft verbrachte Zeit ihn von da an zahmer werden ließ. Ich glaube jedoch, dass es der grausige Unfall war, der wenige Sekunden später an gleicher Stelle den Kopf und das Leben unseres Nachbarn Max Bergers forderte. Der kam mit seiner knatternden NSU den Berg herunter, während ihm von unten ein mit Stahlblechen beladener Lastwagen entgegenkam.
Maxens Kopf segelte, von einem der seitwärts überstehenden Bleche vom Rumpf geschnitten, über den Stacheldrahtzaun auf das unkrautüberwucherte Gelände der Eisenwerke Engels, während der blutspritzende Rumpf und das Motorrad weiterfuhren, bis sie von der links aufragenden Friedhofsmauer gestoppt wurden.
Einige Tage später – wir hatten Maxens Leichnam, der wundersamerweise wieder den Kopf an der richtigen Stelle sitzen hatte, mehrmals in der Friedhofskapelle des katholischen Friedhofs mit großer Ehrfurcht besichtigt – entschwand Steinhaus wie ein Phantom aus unserem Leben: Es gab ihn einfach nicht mehr und niemand vermochte zu sagen, wohin er gegangen war.
Aber neues Geld kam unter die Leute.


18



Im Schnee ertrinken, aufgefressen zu werden vom augenfeindlichen Weiss, das sich über Hunderte von Kilometern hielt. In ihm nur die kriechenden Punkte der Fahrzeuge, die sich durch das Land quälten. Der Körper erschöpft sich. Die Nerven drohen zu zerspringen, weil das Fahren die letzten Kraftreserven erfordert, der Wille keine Rast zulässt. Es ist eine Frist gesetzt. Und innerhalb dieser Frist hatten Besatzung und Fahrzeug an der Grenze zu sein.
Bis Ankara war es, für türkische Verhältnisse, recht gut gegangen. Höhere Geschwindigkeiten waren möglich gewesen. Aber dann kam ein Stück Straße, das aus rohem Schotter bestand. Die Autos zogen riesige Staubfahnen hinter sich her. Steine schlugen gegen die Karosserie, bis der Schnee kam. Massen, wie ich sie zuvor niemals gesehen hatte. Sie trieben als dichte Wand auf einen zu, verhinderten, dass man den Vordermann sah. Erschrecken, wenn aus der Wand heraus Busse mit wahnsinniger Geschwindigkeit zum Überholen ansetzten und Matsch gleich tonnenweise über uns warfen.
Das Fahren erforderte höchstes Geschick und wurde zur Schwerstarbeit für Körper und Geist. Die dauernde Konzentration übertrug sich auch auf den Beifahrer, der nicht schlafen konnte, obwohl die Müdigkeit ihn zermürbte. Da war die Gefahr, jeden Augenblick abzugleiten, zermalmt zu werden.
Man blieb wach, um rettend zur Stelle sein zu können, wenn das Erwartete eintrat. Wir wurden reizbar. Kleinigkeiten, die vorher keine Bedeutung hatten, waren plötzlich Anlass heftiger Streitereien, die uns jedoch schon nach wenigen Minuten wieder leidtaten. Wir kämpften gegen die wilde Natur, bekämpften uns mit dem sicheren Instinkt, nur durch Aufputschen aller Reserven durchhalten zu können. Kaffee und Zitrone, das Allheilmittel gegen den Schlaf, versagte, obwohl wir ihn immer stärker aufbrühen ließen. Alles versagte. Um uns. In uns. Wir wurden reduziert auf das, was man Lebenserhaltungstrieb nennt, auf den Kern unserer Existenz, den Menschen, der sich behaupten muss, weil die Angst vor der Vernichtung größer ist, als die Furcht vor den Gewalten.
Stunden um Stunden der starre Blick in die Unveränderlichkeit der Natur. Schnee, der wie aus Rutschen aus dem Himmel fällt und dem Auge keine Abwechslung bietet. Konzentration auf den winzigen Ausschnitt, der sich durch die Windschutzscheibe eher erahnen denn wahrnehmen lässt, immer die Erwartung im Bewusstsein, überrollt zu werden von den mächtigen Lastfahrzeugen, die wie vorsintflutliche Ungeheuer Breschen in das undurchsichtige Weiss schlagen. Am Anfang Schaudern, wenn man die Trümmer der Busse am Rande des Weges sieht, in denen die zerschlagenen Körper der Passagiere gesucht werden. Später nur der Stoßseufzer, noch nicht in ihrem Zustand, die Erleichterung, nicht selbst betroffen zu sein. Es ist wie Krieg: Kampf ums Überleben mit dem Willen, siegreich zu bleiben. Und doch, mit der Härte des Gegners wächst das Durchsetzungsvermögen,
steigert sich die Unbeugsamkeit. Nur nicht aufgeben, kämpfen, kämpfen ...
Wir haben mehr tausend Kilometer hinter uns gebracht. Es sind vielleicht nur noch einige hundert bis zum Ziel. Mit jeder Radumdrehung werden es weniger. Wir können hoffen im Kampf gegen die Hindernisse, hoffen, es werde sich bessern, weil eben eine Verschlechterung fast unmöglich ist.
Während wir fahren, fehlt die Zeit, Ellen und das Kind zu bewundern, die beide nicht jammern, sondern bedingungslos mitkämpfen, helfen, meine Moral hochzuhalten. Bib vor allem, die still duldet und sich bemüht, uns nicht zur Last zu fallen. Ellen, die Stunde um Stunde am Steuer sitzt, den Wagen über die glatte Straße steuert, nur hin und wieder die Hand nach einer Zigarette ausstreckt, die ich ihr zwischen die Lippen schiebe. Es ist ja nicht nur die Natur, die uns quält, es ist die Furcht, am Steuer erwischt zu werden, ohne einen Führerschein vorweisen zu können. Auf der schmalen Strecke gibt es reichlich Kontrollen und wir wissen, wie schlimm es ausgeht, in der Türkei auch nur die kleinste Gesetzesverletzung zu begehen. Es zerstörte den Plan, unsere Hoffnung, im Nahen Osten
Ruhe zu finden.
So wechseln wir, obwohl sie eigentlich noch die relative Ruhe auf dem Beifahrersitz beanspruchen kann. Klaglos nimmt sie es hin, bis die Nerven versagen, sie anhält und den Kopf auf das Steuer sinken lässt, mit den Fäusten trommelt und es hinausschreit: Es geht nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr!
Ich übernehme, sehe den Stau. Sehe im Dunst die Uniformen, lasse den Wagen langsamer werden, zwinge sie, wieder an das Steuer zu gehen. Eine Kontrolle. Wir haben die Papiere vorzuweisen, die dieses Mal trotz des Eintrags standhalten, fahren weiter. Und ich habe die billige Genugtuung, recht behalten zu haben, während sie am Steuer sitzt und sich entschuldigt für ihr Versagen, das keines ist.
Das Schneetreiben hört auf. Weiss, wie mit grellen Tüchern überdeckt die karstige Landschaft.
Das Weiss dringt in unsere Hirne, zwingt sich in jede Faser des Körpers. Es ist wie Hypnose: Wir können uns nicht befreien von dem Rasen der Schneemassen, die uns verfolgen, was wir auch unternehmen. Wir zählen die Kilometer in Hunderten. Und wir sagen uns, wir werden es bald geschafft haben. Auf der Karte sieht es ja nicht so schlimm aus. Einige Zentimeter nur, dann kommen wir in den warmen Teil der Türkei, in den schneefreien.
Zwei Tage im Schnee, der zum Albtraum wird. Aber dann erlöst uns die plötzliche Farbe. Erde ist wieder Erde und Stein wieder Stein. Die Straßen bleiben schmal und zerfahren, aber es sind welche, die unseren Reifen Halt geben.
Ein Gefühl, das noch heute Dankbarkeit vermittelt, ein herrliches, zu wissen, die Reifen fassen den Untergrund. Wir sprechen wieder miteinander, sind irgendwie erlöst. Das lässt uns Worte finden und den Mut, bei einem Restaurant zu halten, Gekochtes zu essen, zu trinken, die Thermoskannen mit starkem Kaffee auffüllen zu lassen, auf die Toilette zu gehen, wenn sie auch vor Schmutz starrt.
Obwohl wir auch jetzt nicht schlafen, erholen wir uns. Der Gang zum Wagen wird zur Folter, weil wir wissen, dass er uns zum Kämpfen zwingen wird. Aber wir sind bereit, unser Ziel zu erstürmen.
Uns bleibt nichts anderes.
In Adana machen wir Rast. Ellen hat die Auflage, den Hauptübergang Harim nach Syrien zu benutzen.
Wir beschließen, den auf der Karte kleiner aussehenden Kilis zu nehmen in der Hoffnung,
dort eher Möglichkeiten zu einer Überquerung zu finden. Auch hier wollen wir nachts anfahren, obwohl uns die Erfahrung sagt, die Nacht bringe weniger andere Passanten, die Grenzsoldaten haben mehr Zeit zur Kontrolle. Einerseits. Andererseits rechnen wir mit der hier orientalischeren Mentalität der Menschen, die den Schlaf als etwas Heiliges empfinden. Den der anderen, besonders aber den eigenen. Wir erreichen die Station gegen dreiundzwanzig Uhr.
Die Männer sind freundlich, lassen sich die Pässe geben. Ich liege wieder auf dem Rücksitz, das Kind auf mir. Hier haben wir richtig kalkuliert. Es sind Orientalen arabischen Einschlags, die leiser zu sprechen sich bemühen, als sie das scheinbar schlafende Mädchen entdecken. Aber wir hören Bedauern: Das sei nicht der richtige Übergang. Ellen müsse die Hauptstelle Harim nehmen. Ich meine, das bedauernde Achselzucken sehen zu können. Der Offizier entschuldigt sich, dass es so sei, aber ihm seien die Hände gebunden.
Wir fahren zurück. Kleine Dörfer, in denen das elektrische Licht noch keinen Einzug gehalten hat.
Durch eine Nacht ohne Leben, wie es scheint. Wir fragen uns, welche Bedeutung es wohl haben mag, auf einen bestimmten Grenzübergang verwiesen zu werden. Ob die Beamten oben an der griechischen Grenze sich mit denen hier in Harim abgesprochen haben?
Ich habe Bedenken, erneut auf dem Rücksitz mitzufahren, sage, dass ich vor der Station aussteigen und die Grenze zu Fuß überqueren werde.
„Die Türkei hat einige Tausend Kilometer Grenze. Sie ist also nicht in der Lage, sie Meter für Meter zu bewachen.“ Eine Logik, die gut ist, denken wir.
„Drüben in Syrien brauchen wir uns dann nicht mehr zu verstecken“, sage ich. „Die Syrer unterstützen die Palästinenser. Wir haben Beweise bei uns, dass wir zu ihnen gehören. Du wirst sehen, wir werden keine Schwierigkeiten haben.“
Sie glaubt mir, wie ich überzeugt von meinen Worten bin. Gut einen Kilometer vor der Station steige ich aus, schlage mich in die Büsche, steige empor, ohne mich noch einmal umzudrehen. Der Wagen rollt weiter. Ich bin alleine. Zum ersten Mal ohne Ellen und das Kind. Es ist ein Alleinsein voller Fragen: Wird der Übergang gelingen?
Ich halte mich in der Deckung der Büsche, erreiche die Kuppe des Hanges und sehe vor mir eine Schlucht, die mit dichten Büschen bewachsen ist. Keine Mühe, durch sie hindurchzukommen. In der Senke ein Bach, der zu breit ist, um ihn überspringen zu können. Ich wate hindurch, schwitze, obwohl die Temperaturen nicht hoch sind. Es ist die ungewohnte Kraftanstrengung. Ellen wird die Grenze erreicht haben, sage ich mir, male mir aus, wie sie, befreit von der Gefahr, die ich hervorrufe, selbstsicherer auftreten kann. Und auch Bib wird freier sein, wenn sie die Beamten sieht. Nein, die beiden werden keine Schwierigkeiten bekommen.
Ich kletterte den Hang hinter dem Bach hoch, bemühte mich, zunächst dicht an der Zufahrtsstraße zu bleiben, um lokalisieren zu können, wo die Grenze überhaupt verläuft. Ich rutsche immer wieder ab, mache Pausen, um zu lauschen, denn noch immer fehlt mir die Brille. Ich sehe nicht gut. Menschen, die zwischen Bäumen stehen, könnte ich nicht ausfindig machen. Also muss ich mich mehr auf mein Gehör verlassen. Die Kuppe bietet einen guten Ausblick. Geschwungene Hänge, die wie Tierrücken aussehen. Hier kein so dichter Bewuchs. Schlanke Kiefern, die in den Himmel streben.
Nur wenige Äste daran. Dazwischen Kahlschläge. Ich halte mich nach links, um Deckung zu finden.
Ellen wird die Passkontrolle bereits hinter sich haben und auf die syrische Station zufahren, denke ich, während ich mich hinlege und versuche, das Keuchen der Lungen zu bekämpfen. Ich brauche viel Zeit. Ich brauche Orientierungshilfen. Wo überhaupt verläuft diese unsichtbare Linie, die zwei Länder voneinander trennt? Ich schiebe mich voran, versuche, die Straße zu erreichen. Aber nach dorthin ist das Land abgeholzt. Es wäre blanker Wahnsinn, dort die Überquerung zu versuchen. Also bleibe ich zwischen den Pflanzen, überquere einen zweiten Bach. Vor mir ein unendlich langer Hügelrücken, der steil nach oben weist. Ich bin am Anfang, ducke mich an den Fuß eines Baumstumpfes
und entdecke gleichzeitig kleine, nissenhüttenartige Bauten, die den Kamm bedecken. Ich
kann keine Erklärung dafür finden, vermute, es handle sich um Kohlenmeiler.
Ich warte. Die Spuren am Hang, die von Fahrzeugen herrühren, beweisen mir, dass hier gearbeitet wurde. Holzfäller müssen es wohl gewesen sein.
Ich haste weiter. Geduckt, weil es steil aufwärts geht. Die Meiler gehen mir nicht aus dem Sinn.
Ich bin neugierig, um was es sich handelt, möchte sie untersuchen, strebe einem zu und entdecke den Soldaten, der aus einem Strauchdickicht kommt und sich die Hose zuknöpft. Er geht auf einen der Meiler zu und verschwindet darin. Jetzt weiß ich, was es ist. Bunker der türkischen Armee. Ich liege am Hang, sehe, dass der direkte Zugang zur anderen Seite versperrt ist, krieche zurück bis an den Bach, wate landeinwärts im plätschernden Wasser weiter. Sträucher schützen mich. Ich fluche, weil ich die Brille verloren habe. Ohne gute Sicht ist man nur die Hälfte wert, man kann allzuleicht überrascht werden. Aber was bleibt mir?
Der Bach windet sich nach Süden. Ich folge ihm. Links und rechts Hügel. Oben die Bunker. Die Hänge kahl geschlagen. Keine Vermutung, wo die Grenze verläuft. Es ist zehn Uhr morgens. Die Sonne steht am Himmel. Soldaten sehe ich nicht. Stecken weitere in den Bunkern? Ich kann es kaum glauben. Diese Bauten sehen nicht wie Dauerunterkünfte aus.
Ellen wird bereits in Syrien sein, vermute ich. Und ich muss hinüber. Ich muss es schaffen. Das ist es. Der Bach enttäuscht mich. Er läuft ins Landesinnere hinein. Ich verlasse ihn, halte mich südlich, nutze die Stämme der Bäume, um Deckung zu finden, befinde mich genau in der Mitte zwischen den Hügeln und peile einen dunklen Felsen an, der mir genügend Schutz vor neugierigen Blicken bieten kann.
Ich husche darauf zu, verharre in seinem Schatten. Nichts rührt sich. Offenbar sind die Bunker nicht besetzt. Ich erhebe mich. Wieder ein kurzer Lauf, der mich an einen Busch bringt. Warten. Es geschieht nichts. War das die Grenze?
Vor mir ein Hang, der kahl wie ein Teller ist. Ich habe nicht den Mut, ihn direkt anzugehen, zumal auf der anderen Seite weitere dieser Bunker zu erkennen sind. Wie Kleckse an einer hellen Wand.
Also halte ich mich in der Senke rechts, beherrsche den Drang, einfach loszurennen, zwinge mich, ruhig zu gehen in der Erwartung, durch einen Zuruf aufgehalten zu werden.
Nichts geschieht.
Ich finde eine Stelle, die genügend Bewuchs hat, um den Aufstieg wagen zu können. Es dauert eine gute halbe Stunde, ehe ich oben bin, stoße auf einen viel begangenen Weg, der genau auf der Hügelkuppe verläuft. Und ich ahne, dass dies die Grenze ist.
Unter mir der bewaldete Hang. Durch die Baumreihen zeigt sich eine Weide, die eingezäunt ist.
Ein breiter Streifen, der Schwierigkeiten verursachen wird, weil er von beiden Seiten eingesehen werden kann. Ich steige hinab. Im weichen Mutterboden bleiben die Spuren meiner Schuhe.
Bin ich bereits in Syrien?
Ich erreiche die Grasfläche. Rechts, gut fünfhundert Meter entfernt, schimmern weiße Gebäude hindurch. Ich meine, einen Fahnenmast zu erkennen, das Tuch, das schwarz und grün zu sein scheint. Die syrische Station? Ich wittere wie ein Tier, das seinen Verfolgern entgehen will. Kann man mich von den Gebäuden aus erkennen, wenn ich die Weide überschreite?
Und wenn ich krieche?
Das Gras ist nicht hoch. Ich beschließe, mich wie ein Lurch zu bewegen.
Ellen wird längst die Grenze bereits passiert haben, denke ich. Wahrscheinlich wartet sie auf der anderen Seite, fragt sich, was aus mir geworden ist.
Ich robbe durch das Gras. Meter um Meter. Es dauert und ist kein Vergnügen. Ich brauche für den Streifen, der gut dreihundert Meter breit ist, fast zwanzig Minuten, erreiche den Zaun. Stacheldraht.
Ich krieche hindurch, bin zwischen Eichenbüschen, atme auf. Der Instinkt sagt mir, in Syrien zu sein. Ich bilde mir ein, eine andere Luft zu atmen. Eine weichere, eine Luft, die voller Freiheit ist.
Ich breche durch die Büsche, laufe, während die Erleichterung mich lachen lässt. Ich muss es geschafft haben!
Nach gut fünf Minuten die Straße. Schmal und asphaltiert. Links und rechts Bäume. Ich bleibe stehen, beobachte. Rechts die Gebäude. Ich erkenne den Fahnenmast deutlicher. Es ist die syrische Flagge.
Dennoch will ich sicher sein, halte mich dicht an der Straße und gehe landeinwärts. Nach gut einem Kilometer eine Abzweigung. Ein Weg führt steil nach oben. Im Knick ein an einem Eisenmast angebrachtes blaues Schild mit weißen Lettern. Arabische Schriftzeichen. Es ist also Syrien.
Ich setze mich in das Gebüsch, ziehe Zigaretten hervor und brenne eine an. Ich rauche. Ich habe es geschafft.
Der Übergang hat über zwei Stunden gedauert. Wo ist Ellen? Ich gehe zurück bis dicht in die Nähe der Station. Hat man sie nicht durchgelassen? Warum wartet sie nicht? Ist sie weiter ins Landesinnere gefahren? Die Zeit verrinnt. Furcht, sie zu verpassen, ergreift mich. Ich beschließe, der Straße zu folgen. Laufe, werde schneller und schneller. Mehrere Kilometer werden es, bis ich eine Ortschaft durchquere.
Der Rückweg. Die Station. Ich setze mich, rauche, esse Brombeeren, die neben mir wachsen. Ich warte und starre auf die Straße, über die dann und wann ein Auto rollt. Nach Aleppo oder Hamaa.
Ellen kommt nicht.
Es ist hoher Mittag, als sich der weiße Benz nähert. Ich bleibe in den Sträuchern, während Erleichterung mich ergreift. Sie ist durch. Der Wagen rollt ungewöhnlich langsam. Ich mache ihr den Vorwurf, zu langsam zu sein. Kein Fahrzeug wird in diesem Tempo eine Grenze verlassen, wenn mit ihm nicht etwas faul ist. Ich nehme mir vor, es ihr zu sagen, als ich ihr blondes Haar erkenne.
Die Scheibe ist unten. Sie hat den linken Arm heraushängen. Ich sehe den Uniformierten auf dem Beifahrersitz erst, als ich bereit bin, auf die Straße zu treten. Er wird deutlicher je näher der Wagen kommt. Ein, ich bin sicher, syrischer Grenzbeamter. Was bedeutet das? Und wo ist Bib? Sie ist nicht im Fahrzeug.
Also ist etwas faul. Ich verharre in meinem Versteck. Der Wagen rollt vorbei, gerät außer Sicht.
Nach wenigen Minuten kehrt er zurück. Das Gesicht Ellens ist ganz deutlich zu erkennen. Es ist ein Sorgengesicht ...


Willi Voss
Bibliographie:

Kriminalromane
1981 Tränen schützen nicht vor Mord (Bastei 36059) OA
1982 Kein Platz an der Sonne (Bastei 37003) OA
1983 Wo Rauch ist (Bastei 37008) OA
1983 Frost im Blut (Bastei 37016) OA
1984 Der stirbt von selbst (Bastei 37022) OA
1984 So schön, so tot (Bastei 37027) OA
1985 Der Fahnder (TV-Novel) (Bastei 13039) OA
1985 Keine Tränen für das Opfer (Bastei 37033) OA
1986 Requiem für einen gefallenen Engel (Bastei 37039) OA
1986 Das Gangsterliebchen (Bastei 37047) OA
1987 Die glitzernde Falle (Bastei 19510) OA
1988 Tränen schützen nicht vor Mord / Frost im Blut , Ullstein
1988 Das Gesetz des Dschungels (Ullstein 10565) OA
1989 Asphalt (Ullstein 10619) OA
1990 Die Nacht, der Tod (Ullstein 10658) OA
1992 Bluthunde (Ullstein 10700) OA

Thriller
1979 Geblendet, Schweizer Verlagshaus, OA HC
1983 Gegner, Schweizer Verlagshaus, OA HC
1986 Auch Narren sterben einsam (Bastei 10778) OA
1986 Signum F, Verlag Rehkugler & Voss (Ullstein 22126) OA
1989 Cotrasena F, Ediciones Planeta, Barcelona, Übersetzung
2003 Gegner, Mediaprovo, Weingarten, HC (überarb. Fassung des Titels von 1983)
2003 Auch Narren sterben einsam, Mediaprovo, Weingarten, HC (überarb. Fassung des Titels von
1986)
2003 Die Nacht, der Tod, Mediaprovo, Weingarten, HC (überarb. Fassung des Titels von 1990)
2009 Pforte des Todes, Pendragon, Bielefeld, Broschur, ISBN 978-3-86532-154-1
Fernsehen
1992 Tatort, Stoevers Fall (Serienfilm, 90 Min, NDR) (Drehbuch: Willi Voss, Regie: Jürgen Roland)
mit Manfred Krug
1994 Tatort, Singvogel (Serienfilm, 90 Min, NDR) (Drehbuch: Willi Voss, Regie: Michael Knof)
mit Manfred Krug EA 23.05.1994 in der ARD
1992 Grosstadtrevier, Der Flußpirat (Serienepisode, 45 Min, NDR) (Drehbuch: Willi Voss, Regie:
Udo Witte)
1992 Grosstadtrevier, Auf Gift gebaut (Serienepisode, 50 Min, NDR) (Drehbuch: Willi Voss, Regie:
Udo Witte) EA 03.11.1992
1995 Grosstadtrevier, Crahskids (Serienepisode, 60 Min, NDR) (Drehbuch: Willi Voss, Regie:
Dietrich Haugk) EA 07.02.1995 auf ARD Vorabend / WH 31.01.1998 ARD


Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind
in den Formaten Taschenbuch und
Taschenbuch mit extra großer Schrift
sowie als eBook erhältlich.
Bestellen Sie bequem und deutschlandweit
versandkostenfrei über unsere Website:
www.aavaa-verlag.com
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern
über unser ständig wachsendes Sortiment.
www.aavaa-verlag.com


Impressum

Texte: Willi Voss
Bildmaterialien: AAVAA
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /