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Kapitel 1

Seufzend starrte Luke Dawson in den klaren Nachthimmel. Normalerweise gab es für den jungen Mann nichts Schöneres über den Ebenen des mittleren Westens. Am Horizont schien es, als würde sich das Himmelszelt pechschwarz um die unmerklich wogende Erde wickeln, sodass man das Gefühl hatte, dass Himmel und Land eins wurden. Eine unendliche Weite, die Luke stets das Gefühl von Freiheit vermittelte.
Oder wenn er in der gleißenden Mittagssonne auf den Feldern stand und beobachtete, wie sich der goldene Weizen sich im heißen Präriewind bog. Wohin das Auge auch sah, es gab nur das weite Blau des Himmels und das Grün und Gold der Felder.
Doch in diesen Tagen war sein Herz schwer und sein Rücken gebeugt. Das Heartland, wie die Einheimischen ihr Stückchen Paradies in den Weiten von Kansas nannten, litt unter einer nie gekannten Dürreperiode. Wenn in den nächsten zwei Wochen kein Regen kam ...
Luke scharrte mit der Stiefelspitze über den sandigen Boden. In Zeiten wie diesen bereute er, seinen Dad überredet zu haben, Weizen anzubauen, anstatt weiter Rinder zu züchten. Natürlich hätten sie als Rancher auch Probleme mit der Trockenheit, doch sie könnten das Vieh wenigsten verkaufen und den Verlust etwas eindämmen. Korn, das jedoch nicht geerntet werden konnte ...
Die schlurfenden Schritte seines Vaters rissen Luke aus seinen trüben Gedanken. Er drehte sich um und beobachtete sorgenvoll den mühsamen Gang seines Vaters. Jeden Tag fiel es Scott Dawson schwerer, sich zu bewegen. Jeder einzelne Knochen schmerzte. Doc Benson, der Tierarzt im Ort, hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, das wäre so mit alten Knochen. Nur, dass Lukes Vater erst dreiundvierzig war. Er wünschte, er könnte mit seinem Dad einfach nach Brownsville reisen und den dortigen Arzt aufsuchen. Doch das kostete 10 Dollar für sie beide. Die Zugfahrt plus die Gebühr für den Doktor erforderte Geld, das sie nicht besaßen.
„Na, bist du mal wieder am Träumen, Sohn?“
Schwer landete die schwielige Hand seines Vaters auf Lukes Schulter und drückte sie fest.
„Eher am beten, Dad“, murmelte er und blickte wieder hinaus in die Nacht.
Kein Stern am Himmel, selbst das Mondlicht schien heute fahl und blass.
„Hast du auch über meinen Vorschlag nachgedacht?“
Sein Vater stellte sich neben ihn und erschrocken bemerkte Luke, dass sein Vater erneut geschrumpft war. Vor einigen Jahren noch hatte sein Dad ihn überragt. Nun war es umgekehrt. Luke schluckte den Kloß in seinem Hals hinab und suchte stattdessen nach möglichst diplomatischen Worten, seinem Dad die Schnapsidee auszureden, einen Wünschelrutengänger zu holen.
„Ehrlich gesagt ...“, blaue Augen, die seine spiegelten, schauten ihn wissend an.
„Hokuspokus. Scharlatanerie. Alles Betrüger“, sprach Dad aus, was Luke dachte.
„Dad, ich ... Was soll das bringen? Selbst wenn einer von denen Wasser findet, das reicht vielleicht für Mums Kräuterbeete, aber nicht für unsere Felder. Wir brauchen Regen!“
Er raufte sich seine dunkelbraunen Haare, die sich im Nacken bereits kräuselten. Ein Haarschnitt war überfällig. Da musste Moses ran. Selbst für den Barbier im Ort reichte ihr Geld nicht. Aber Dads bester Freund war sowieso besser. Der Schwarze hatte der Familie von Scott Dawson gehört und war nach dem Krieg freigelassen worden. Doch anstatt woanders sein Glück zu suchen, war Moses bei Scott geblieben, mit dem er aufgewachsen war. Moses hatte geholfen ihn großzuziehen, nachdem seine Mum gestorben war. Da war Luke zwölf gewesen.
„Ich weiß, mein Junge. Pilgrim, Johnson, Edwards, wir ... Die Bank sitzt uns im Nacken.“
Sein Vater kratzte seinen Vollbart, der Blick war in die Dunkelheit gerichtet, doch Luke wusste, wie sehr er sich grämte. Das hier war sein Besitz, sein Land. Aus dem Nichts aufgebaut, nachdem die Familie in Georgia alles verloren hatte. Luke war hier geboren. Im Heartland. Er kannte nichts anderes, wollte auch nichts anderes. Dennoch ...
„Du hast recht, Dad. Wir sollten alles versuchen. Aufgeben ist keine Lösung! Versuchen wir es mit der Wünschelrute.“
Sein Dad strahlte ihn an und Luke wusste, er hatte die richtige Entscheidung getroffen.
„Du wirst sehen, dass es funktioniert. Unten in Texas soll der Junge wahre Wunder gewirkt haben. Fährst du morgen gleich in die Stadt und fragst ihn, wann er kommen kann? Das wird ein Spaß.“
Sein Dad rieb sich die Hände, aber Luke starrte ihn nur verständnislos an. Wovon um Himmels willen sprach sein Vater? Welcher Junge?
„Dad, wen meinst du?“
„Na, Colin Wilson.“
Luke wurde blass. Dann wurde ihm heiß. Immer, wenn der attraktive Bibliothekar im Spiel war, spielten seine Hormone verrückt. Er wollte diese Gefühle nicht, es war unnatürlich für einen Mann so zu empfinden. Es war an der Zeit, ein Mädchen zu finden und eine Familie zu gründen. Wenn da nicht die geheimen Fantasien wären, die sich alle um den blonden gutaussehenden Colin drehten und in denen sie sich küssten, sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen. Haut an Haut, Glied an Glied ...
Luke schluckte, die Worte kamen ihm kaum über die Lippen.
„Unser Bibliothekar ist der Wünschelrutengänger?“
„Ja natürlich. Sag bloß, du wusstest das nicht?“
„Ich hatte keine Ahnung“, krächzte Luke.
Bisher hatte er es erfolgreich geschafft, jeden näheren Kontakt mit dem verführerischen Mann zu vermeiden. Man sah sich ab und zu auf den Straßen der Stadt oder im Laden von Old Bill. Im Saloon hatte Luke ihn zum Glück noch nie gesehen. Obwohl, er selbst war schon fast drei Monate nicht mehr dort gewesen. Unnütze Geldverschwendung. Allerdings ...
Vielleicht sollte Luke bei den Mädchen von Madame Rousseau vorbeischauen, um den Druck abzubauen, ehe er Colin traf. Dann fiel es ihm bestimmt leichter, seine Triebe zu kontrollieren. Doch der Preis für ein Stelldichein war so hoch, wie die nächste Rate für die Bank. Drei, vier Pokerrunden könnten da helfen.
„Oh, beim Allmächtigen. Feuer! Es brennt schon wieder!“
Der Aufschrei seines Vaters fuhr Luke durch Mark und Bein. Er wirbelte herum und sah mit Grauen die lodernde Wand, die den Horizont im Süden erhellte. Nicht ihre Felder, dem Himmel sei Dank! Entweder die Walkers oder die Beechams. Eine Silhouette formte sich vor seinen Augen, ein Reiter preschte auf sie zu.
„Mr. Dawson! Luke! Bitte, kommen Sie schnell. Pa schickt mich. Die Farm der Beechams brennt!“
Adam, der älteste Sohn von Nathaniel Walker, zügelte sein Pferd kurz vor ihnen.
„Dad, sag Moses und Phil Bescheid. Sie sollen nach Norden zu dem Waldhain reiten und anfangen, eine Schneise zu graben. Das Feuer darf auf keinen Fall dorthin überspringen, sonst sind wir alle verloren.“
Luke wandte sich an Adam, dessen Stute unruhig schnaubte und tänzelte.
„Reite zurück. Ich folge dir mit Devil.“
Während er sprach, rannte Luke bereits zum Stall, um seinen Appaloosa Hengst zu holen. Sein Vater folgte weitaus langsamer.
„Ja, Sir!“, hörte er Adam rufen und schon galoppierte der Junge auf seinem Pferd davon.
In Windeseile war Luke bei der Box von Devil, seine Gedanken jagten. Es war bereits das vierte Mal in diesem Sommer, dass die Felder der Farmer in dieser Gegend brannten. Sie hatten es mit einem Feuerteufel zu tun. Der gescheckte Hengst tänzelte aufgeregt und kam schnaubend auf ihn zu. Auffordernd stupste er Luke an, auf der Suche nach einem Stück Zucker.
„Später, mein Freund. Jetzt müssen wir uns beeilen. Komm.“
Willig folgte ihm der Hengst aus der Box. Luke zäumte ihn auf, auf einen Sattel verzichtete er, den brauchte er nicht. Minuten später preschten sie aus dem Stall. Als er am Haus vorbeigaloppierte, sah er, wie Moses und Phil mit Spitzhacken und Schaufeln bewaffnet den Weg durch die Felder zum Hain hinaufliefen. Der hünenhafte Schwarze hob den Arm.
„Sei vorsichtig, Luke. Achte immer auf den Wind“, warnte ihn der Mann, der wie ein zweiter Vater für ihn war.
„Ich passe auf, versprochen.“
Wie der gerade erwähnte Wind flog Devil über die Felder, Luke tief über den Hals des Hengstes gebeugt. Aufregung peitschte durch seine Adern, die bevorstehende Herausforderung war eine willkommene Abwechslung von seinen sündigen Gedanken.


Im Morgengrauen wusch Luke sich erschöpft am Brunnen der Beechams den Ruß aus dem Gesicht und vom Oberkörper. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte. Ale er sich umdrehte, stand Luisa Beecham, die zwölfjährige Tochter, vor ihm und reichte ihm einen Becher mit duftendem Kaffee.
„Ma sagt, das Frühstück ist fertig“, sie lächelte ihn schüchtern an.
„Richte ihr meinen Dank aus, aber ich muss nach Hause. Die Arbeit wartet.“
Eine halbe Lüge. Die Beechams waren zu sechst, es war äußerst großzügig von ihnen, ihre kargen Vorräte zu teilen. Sollte Luke nun mitessen, würden die Kinder garantiert nicht genug bekommen. Das wäre falsch.
„Was ist mit Ihnen, Mr. Walker? Adam?“
„Danke, Luisa, meine Frau wartet bestimmt schon voller Sorge auf uns. Ein anderes Mal sehr gerne. Die besten Grüße an deine Ma.“
„Danke. Wiedersehen.“
Leichtfüßig hüpfte sie davon.
Nate Walker trat zu ihm, als Luke in sein Hemd schlüpfte.
„Luke, auf ein Wort.“
Die Miene seines Freundes war grimmig verzogen. Er wusste, was der Mann sagen wollte.
„Ich weiß, Nate. Das war knapp. Beim nächsten Mal haben wir vielleicht nicht so ein Glück.“
Da der Wind günstig gestanden ist, war es ihnen gelungen, durch ein Gegenfeuer und mehrere Schneisen den Brand zu ersticken. Aber darauf konnten sie nicht immer hoffen.
Sein Gegenüber nickte.
„Wir brauchen die Unterstützung der Armee. Der Sheriff hat nicht genug Deputies, um Wachposten aufzustellen. Wir müssen den Brandstifter so schnell wie möglich stellen.“
„Und selbst wenn, würde er es sowieso nicht tun“, antwortete Luke bitter.
„Wären wir reiche Rancher, würde er sich überschlagen mit Hilfsangeboten. Wir müssen das alleine organisieren. Das nächste Fort ist in Kansas City, die haben Wichtigeres zu tun. Und selbst wenn sie uns Verstärkung schicken würden ...“
„Ist unser Land in Schutt und Asche gelegt, macht diese Bestie in dem Tempo weiter. Er wird dreister, kommt immer näher an die Häuser heran. Was, wenn er das nächste Mal einen Stall oder eine Scheune anzündet?“
Sollte er nur kommen. Luke würde dem Bastard zeigen, was es hieß, ins Heartland einzufallen.
„Wir sollten ein Treffen der Farmer organisieren. Vielleicht können wir ja eine Nachtwache auf die Beine stellen.“
„Ich spreche mit Sara, sie kann im Bibelkreis für Freiwillige aus der Stadt werben. Reverend James hilft uns bestimmt dabei.“
Nate klopfte ihm auf die Schulter.
„Wir sehen uns, Luke. Passt auf euch auf.“
„Ihr auf euch auch“, erwiderte Luke und sah zu, wie die Walkers auf ihre Pferde stiegen und davonritten. Die Hufe donnerten über den Boden und wirbelten anstatt Staub Asche auf. Die Erde weinte heute. Nachdenklich betrachtete er den fast weißen Himmel. Die Sonne brannte bereits unerbittlich, es war weit und breit keine Wolke zu sehen. Auch heute würde es wieder nicht regnen.
Wenn nicht bald ein Wunder geschah,
oder sie eine Wasserader fanden ...
Seufzend ging Luke zu Devil, der ihn schnaubend begrüßte und sich genüsslich von ihm die Nüstern streicheln ließ. Heute Nacht war er an seine Grenzen getrieben worden. Er befürchtete jedoch, Colin Wilson gegenüberzutreten, würde ihn weit über diese hinaustreiben.

 

Kapitel 2

 

Vorsichtig wischte Colin über den kostbaren Einband von ‚Der scharlachrote Buchstabe‘ von Nathaniel Hawthorne. Einmal im Monat war es seine Aufgabe, alle Bücher von Staub zu befreien. Für diese Aufgabe blieb er auch gerne länger in der Bibliothek, denn während der Öffnung am Tage war das natürlich nicht möglich.
Obwohl hier in der Provinz kamen höchstens zwei, drei Besucher. Pro Woche. Die Leute hier hatten andere Dinge zu tun, als zu lesen. Colin seufzte und seine Hand mit dem Staubwedel sank hinab. Bedauernd dachte er an seine glanzvolle Zeit in der Staatsbibliothek von Houston zurück. Eine ehrenvolle Aufgabe war es gewesen. Lesungen organisieren, Schulklassen herumführen, Kopien von zerfallenden Werken anfertigen.
Aus und vorbei! Seine Hand umklammerte den Stiel so hart, dass seine Knöchel weiß wurden. Seine eigene Schuld! Weil er seine verbotenen Gelüste nicht im Zaum hatte halten können. Ausgerechnet der Sohn des neuen Direktors. Ein Spiel mit dem Feuer, welches Colin zum Glück nur die Anstellung gekostet hatte. Eine Anstellung, für die er hart gekämpft hatte. Auch wenn Städter teilweise toleranter waren, mit gemischtem Blut war eine Karriere – welcher Art auch immer – zumeist ausgeschlossen. Man sah ihm zwar nicht an, dass zu einem Viertel Cherokeeblut in ihm floss, doch jeder wusste, wer seine Mutter war. Die Tochter eines legendären Häuptlings und einer britischen Adeligen. Das hatte ihm gleichermaßen Türen geöffnet und andere permanent verschlossen gehalten. Aber Colin hatte sich durchgebissen. Und dann dieser dumme Fehler!
Nun saß er in diesem elendigen Kaff fest. Und als ob das noch nicht genug Strafe war, wurde er schon wieder in Versuchung geführt. Von einem Cowboy wie man sich ihn erträumte. Groß, breitschultrig, ein knackiger Hintern ...
„Hör auf, Colin“; schalt er sich.
Er legte den Staubwedel weg und nahm das Buch, um es an seinen Platz zurückzustellen. Es war egal, wie sehr er sich nach der kraftvollen Umarmung eines Mannes sehnte. Colins erklärtes Ziel war es, die Strafversetzung so würdevoll wie möglich zu überstehen und dann an die Staatsbibliothek zurückzukehren. Er gehörte in die Großstadt. Wo das Leben pulsierte. Bildung und Kultur großgeschrieben wurden. Das Leben hier im sogenannten Wilden Westen, das war nichts für ihn.
Die Menschen hier kämpften täglich um ihr Überleben und wussten nicht, was sie am nächsten Morgen erwartete. Seufzend begann Colin gewissenhaft die Öllampen zu löschen. Schaudernd dachte er an die Unterhaltung heute Mittag im Saloon, wo er stets seinen Lunch zu sich nahm. Ein Feuerteufel trieb sein Unwesen in der Gegend. Noch gab es keine Opfer zu beklagen, aber die Farmer befürchteten eine Eskalation. Colin sah das genauso. Jeder Kriminelle fing klein an und übte erst einmal, ehe er den großen Coup wagte. Nicht auszudenken, was eine Feuersbrunst anrichten könnte. Sie könnte den ganzen Ort vernichten.
Colin ging Richtung Eingang, wo die letzten beiden Lampen brannten, als er ein Klacken hörte. Er erstarrte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Brandstifter ausgerechnet hierherkam, doch seiner Angst war das herzlich egal.
Es klopfte laut und er zuckte zusammen. Sein Herz pochte wie wild, als er von der Tür zurückwich. Erneut hämmerte jemand gegen das Holz. Niemand kam um diese Uhrzeit her. Wollte man ihn überfallen?
„Hallo, ist noch einer hier? Ich habe das Licht gesehen.“
Colin stand wie angewurzelt da. Sein Herz wummerte weiter, diesmal aus völlig anderen Gründen. Das war jetzt nicht wahr! Wieso testete ihn das Schicksal so gnadenlos?
„Mr. Wilson? Hier ist Luke Dawson. Ich würde Sie gerne etwas fragen.“
Die rauchige Stimme löste einen Ansturm von Emotionen in ihm aus, die Colin am liebsten ausmerzen wollte, es jedoch nicht schaffte. Verdammt, wieso war er so schwach?
„Einen Augenblick, bitte.“
Hatte seine Stimme geschwankt? Hoffentlich nicht. Der Mann durfte auf keinen Fall merken, wie sehr er sich danach sehnte, seinen Mund auf die schmalen Lippen zu pressen. Durch die so seidig aussehenden Haare zu wühlen. Seine Nase in der Halsbeuge zu vergraben und tief den Duft nach Mann und Schweiß einatmen.
Nichts davon würde jemals geschehen, sonst fände Colin sich vermutlich baumelnd am nächsten Baum wieder. Das musste er sich nur die ganze Zeit vor Augen halten. Mit zitternden Fingern zog er sein Jackett glatt und trat zur Tür.
Den Riegel zurückschieben und den Schlüssel herumdrehen geschah in wenigen Sekunden und dann stand der Mann vor ihm, der ihm schlaflose Nächte bereitete.
„Guten Abend. Mr. Dawson. Was kann ich zu so später Stunde für Sie tun? Die Bibliothek hat längst geschlossen.“
Die Worte kamen tadelnd heraus und am liebsten hätte Colin sich die Zunge abgebissen. Lukes Lächeln fiel etwas in sich zusammen und der Mann riss sich seinen Hut vom Kopf.
„Guten Abend. Mr. Wilson. Entschuldigen Sie mein ungestümes Auftreten. Es handelt sich um einen Notfall.“
Irritiert sah Colin den Cowboy an, während er versuchte, ihn nicht mit den Augen aufzufressen. Das war ein Kraftakt, denn Luke sah zum Anbeißen aus. Die Haare zerzaust, das niedliche Grübchen, das er behielt, auch wenn er kaum lächelte, der verführerische Blick auf die sonnengebräunte muskulöse Brust, da er sein Hemd nicht komplett geschlossen hatte. Er war fast unbehaart, so wie Colin es mochte ...
‚Schluss, Schluss, Schluss!‘
Seine Hose wurde eindeutig zu eng, ihm war heiß und Colin hoffte, man sah ihm nicht an, wie aufgewühlt er war. Er musste sich unbedingt zusammenreißen.
„Ein Notfall? Mr. Dawson, ich wüsste nicht, wie ich Ihnen bei einem solchen behilflich sein könnte?“
„Ähm“, Luke drehte seinen Hut in den Händen.
Er wirkte nervös. Nein, eher unbehaglich. Als wollte er gar nicht hier sein. Nun da waren sie schon zwei. Colin wäre jetzt auch lieber woanders und nicht in der Nähe dieser Versuchung.
„Sie wissen sicher über die Situation der Farmer hier Bescheid. Die anhaltende Dürre ...“
„Und die grässlichen Brandstiftungen. Eine schwere Zeit für sie.“
„Ja. Ja, das ist es“, Luke kratzte sich am Dreitagebart und sah ihn dann eindringlich an.
Der Blick aus den blauen Iriden bohrte sich in Colin, bis tief in seine Seele. Es lag eine so abgrundtiefe Verzweiflung darin, ein Flehen, dass jede seiner Barrieren durchbrach. Egal, was der Mann brauchte, er würde es ihm geben.
„Mein Dad sagt, Sie sind ... Sie haben große Erfahrung als Wünschelrutengänger drüben in Texas.“
Der Cowboy räusperte sich und Colin starrte ihn verdattert an. Er hätte nicht gedacht, dass er einen gewissen Ruf besaß. Zudem hatte er das gar nicht oft gemacht. Sein Onkel, der Schamane des Stammes, hatte ihm die Kunst des Wasserfindens als kleiner Junge gezeigt und wie Jungs so waren, hatte ihn das alles fasziniert. Und als vor drei Jahren eine Dürreperiode in Texas herrschte und die Rinder der Rancher wie die Fliegen starben, hatte er das alte Wissen auf Bitten seines Vaters hervorgekramt und war unverhofft erfolgreich gewesen. Zumindest hatten die Leute das geglaubt. Colin bezweifelte, dass sein damaliger Fund einer Wasserader den zweiwöchigen Dauerregen ausgelöst hatte. Es war Hokuspokus und er kein kleiner Junge mehr, deshalb ...
„Ich hatte Glück“, schwächte er Lukes Aussage bescheiden ab.
„Sie haben bei einem Farmer im nächsten County eine Wasserader gefunden. Sie konnten einen Brunnen graben und bewässern fast die Hälfte ihres Ackerlandes durch das Grundwasser.“
Colin erinnerte sich. Der Mann war im Laden von Old Bill in ihn hineingestolpert und er hatte sich als alter Bekannter seines Vaters erwiesen ...
„Nun, das war ein Gefallen. Ich bin Bibliothekar und ...“
„Mr. Wilson, Colin, bitte. Sie sind vielleicht unsere einzige Hoffnung.“
Eine Hand legte sich auf seinen Unterarm. Wie hypnotisiert senkte sich Colins Blick auf die Stelle, wo die starken gebräunten Finger den Stoff seiner Kleidung zu versengen schienen. Er erschauerte und wich reflexartig zurück.
Luke zog seine Hand weg und entfernte sich ein Stück von ihm.
„Verzeihen Sie mein ungestümes Auftreten. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Bitte, würden Sie darüber nachdenken, uns zu helfen? Ohne Wasser wird das Heartland in wenigen Wochen nicht mehr existieren. Das ist meine Heimat und ich gebe sie nicht kampflos auf!“
Der große Mann zitterte förmlich und Colin spürte dessen Liebe für das Land beinahe selbst. Und genau deshalb zögerte er. Wäre es jemand, der ihm nichts bedeutete, hätte er bereits ohne zu zögern Ja gesagt.
Moment! Bedeutete? War er nun völlig verrückt geworden? Er kannte Luke Dawson doch überhaupt nicht. Nur, weil er insgeheim für ihn schwärmte, waren da keine tiefergehenden Gefühle im Spiel. Also konnte er ihnen helfen und vielleicht hatte er ja noch einmal Glück.
„Einverstanden. Ich tue es. Ich komme morgen vorbei.“
Lukes Augen leuchteten auf, das attraktive Gesicht erstrahlte und Colin war hingerissen.
Verloren.
Hoffnungslos verloren.
Das war nicht nur Versuchung. Das war Amors Pfeil mitten ins Herz.

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.08.2020

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