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Prolog

Müde schloss ich die Tür zu meinem Elternhaus auf und betrat den dunklen Flur. Nach meiner Schicht bei Hensley’s war ich mit dem Auto ziellos umhergefahren. Nun zeigte meine Armbanduhr weit nach Mitternacht an.
Ich hatte meinen Gefährten gefunden. Mein Gefährte war ein Wolf.
Diese zwei Gedanken kreisten unentwegt in meinem Kopf. Ich wusste nicht, was ich mit den Informationen anfangen sollte. Mich freuen? Schreien? Die Flucht ergreifen?
Ich tapste durch den Flur, bog in die Küche ab und strebte schnurstracks den Küchentisch an. Wie erwartet stand dort eine Vorratsbox mit Chocolate-Chips-Cookies.
„Ah, Mom, ich vergöttere dich“, seufzend nahm ich mir einen Teller, legte fünf Plätzchen darauf und stellte ihn in die Mikrowelle.
Ich beobachte, wie er sich drehte, ehe ich mich abwandte, meine Jacke auszog, über einen Küchenstuhl hing und mir ein Glas kalte Milch einschüttete.
Als ich mich dann setzte und die Plätzchen verdrückte, überlegte ich, wie ich nun am Besten mit der Tatsache umging, nun einen Gefährten zu haben. Einen Gefährten, der nicht zu meinem Schwarm gehörte. Mein Vater würde ausrasten. Normal war er ein ruhiger besonnener Mann, er brauchte nie seine Stimme zu erheben, um seinen Willen durchzusetzen. Er erklärte mir und meinen Geschwistern einfach warum er der Meinung war, dass wir etwas falsch gemacht hatten und am Ende dachten wir wie er und akzeptierten demütig unsere Strafe.
Aber wenn ich einen Wolf zu meinem Schwarm brachte? Oh Gott, das war undenkbar! Wir paarten uns nicht außerhalb unserer Spezies, das war total verpönt. Nicht, weil wir Rassisten waren oder so. Doch wir Sperlinge blieben lieber unter uns. Die meisten Vogelwandler handelten so, das war einfach unsere Natur. Andere Wandler waren nicht unsere Feinde, Freunde allerdings auch nicht.
Also wie sollte ich meiner traditionsbewussten Familie eröffnen, dass meine andere Hälfte nicht Kevin, der Sohn unseres Alphas war, sondern ein Wolf aus dem Montgomery-Rudel?
Stöhnend barg ich meinen Kopf zwischen den Händen. Jeder kannte das Rudel von Kaden Montgomery, es war legendär. Schon als Junges hatte ich die Geschichten aufgesogen, die über den Alphawolf mit den silbernen Iriden kursierten. Er diskriminierte nicht, Wandler jeder Art waren willkommen. Mein Vater und seinesgleichen hielten ein gemischtes Rudel für schwach. Sie dachten, dass es falsch war und die Autorität des Alphas untergrub, besonders wenn man Einzelgänger aufnahm. Ich wusste, dass der sibirische Tiger, der bei ihnen lebte, Freiheiten genoss, die in keinem anderen Rudel geduldet würden.
Und nun war einer aus ihrer ungewöhnlichen Familie mein Gefährte. Zuerst hatte ich gedacht, der Hüne mit der blauschwarzen Mähne wäre es, da sie alle so dicht beieinanderstanden, doch dann hatte ich erkannt, dass es der etwas kleinere, schlankere Wolf hinter ihm war.
Storm! Schulterlange Haare, die wie das Gefieder eines Raben glänzten ebenso schwarze Augen, in denen man hilflos versank. Seine Aura hatte mich umgehauen. Ein echtes Mannsbild - und das genaue Gegenteil von mir! Wenn er mich in die Arme nahm, verschwand ich wahrscheinlich komplett. Was er alles mit mir anstellen könnte ... Ein erregender Schauer rann mir über den Rücken.
Ein Grund warum ich bisher nicht auf Kevins Werben eingegangen war, war, dass er mir zu sehr ähnelte. Nicht nur äußerlich. Nein, unser Wesen glich sich so sehr, dass wir Zwillinge hätten sein können. Ich hatte elf Geschwister, auf einen weiteren Bruder war ich nicht scharf. Storm wäre alles, nur kein Bruder.
Die Haustür wurde leise geöffnet, ich hörte das vorsichtige Trippeln kleiner Füße und grinste. Diana. Meine zweitjüngste Schwester, gerade mal neunzehn, konnte einfach nicht schleichen, obwohl sie nicht mehr wie eine Feder wog.
„Gib dir keine Mühe“, meldete ich mich.
„Dein Trampeln hört man meilenweit.“
Empört schnaubend stürmte sie in die Küche und verpasste mir einen Schlag gegen den Oberarm.
„Ich trampele nicht, ich schwebe.“
Sie setzte sich auf die Tischplatte, ließ die Beine baumeln und stibitzte das letzte Cookie von meinem Teller.
„Hey“, pikiert schnappte ich danach, doch es verschwand in Windeseile in ihrem Mund.
Zufrieden kauend, grinste sie mich breit an.
„Was mascht du hier“, nuschelte sie mit vollem Schnabel.
Ja, was machte ich hier? Das war mir selbst nicht ganz klar. Meine Sehnsucht zog mich zu meinem Gefährten, aber meine Vernunft redete unentwegt auf mich ein, dass ich bei meiner Familie, bei meinem Schwarm bleiben musste, dass das der einzige Weg war. Der Tradition folgen.
Entschied ich nämlich mit dem Herzen, dann wusste ich, dass ich meine Familie für immer verlor. Unwiderruflich. War die Bindung zu meinem Wolf das wert?

 

Kapitel 1

Storm

 

Ich verzweifelte allmählich. War mit meinem Latein am Ende, wie die Menschen so treffend sagten. Blumen. Pralinen. Eine Einladung zu einem romantischen Diner. Ein Rundflug. Der Spatz reagierte entweder nicht oder die Geschenke kamen ungeöffnet zurück.
Aufgebracht kickte ich gegen die Veranda. Ich saß draußen vor meinem Cottage, genoss den erwachenden Tag. Die Sonne lugte hinter dem Horizont hervor, die Luft roch feucht und klar, mein Wolf machte auf Anhieb unzählige Beute aus. Doch ich vertröstete ihn. Nicht nur, da mir ganz andere Dinge im Kopf herumschwirrten, sondern auch, weil Kaden verboten hatte alleine zu jagen. Und so gut sie mir sonst tat, die Nähe meiner Rudelgefährten war mir zur Zeit unerträglich. Zudem war der Schrecken von Thorntons Attacke auf meinen Vater noch allzu präsent. Zu Glück erholte er sich schnell und Tyler wich nicht von seiner Seite.
Wehmut erfasste mich. Natürlich freute ich mich für Lightning, dass sein Gefährte ihn endlich erhört hatte. Gleichzeitig fragte ich mich, warum meiner so widerspenstig sein musste. Meine Ungeduld machte mich wahnsinnig. Zudem war da Angst. Vorrangig, dass Thornton und seine Psychopathen Jesse und seine Familie meinetwegen ins Visier nahmen. Und die unterschwellige Sorge, dass der Spatz sich weigerte, Teil eines Rudels voller Raubtiere zu werden.
Gras raschelte, ich knurrte unwillig. Laws und Donovans Duftmarke stieg mir in die Nase. Neugierige Wolfsbrut.
„Habt ihr nichts zu tun?“, rief ich ihnen zu, stand auf und lehnte mich an die Veranda.
Zwei dunkelgraue schlanke Leiber schoben sich aus ihrer Deckung. Ihr Fell schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne, sie strotzten vor Gesundheit und Kraft. Ich dachte an vergangene Zeiten, wo viele Wölfe - und andere Wandler - um ihr tägliches Überleben kämpfen mussten. Ich selbst würde längst nicht mehr existieren, hätte sich Lightning nicht meiner angenommen. Nach den Gesetzen des Rudels war ich dem Tode geweiht gewesen, doch mein Ziehvater hatte unermüdlich gekämpft und nun hatte ich beinahe ein Jahrtausend auf dem Buckel.
Und schaffte es nicht, meinen Gefährten für mich zu gewinnen.
„Oh oh, da ist einer wieder am Grübeln.“
„Vermutlich plant er das nächste romantische Candlelightdinner“, flachste Law, sprang lässig die Stufen zur Veranda hoch und knuffte mich in die Rippen.
Grollend drehte ich mich, nahm ihn spielerisch in den Schwitzkasten und knurrte: „Anstatt mich aufzuziehen, könntet ihr mir lieber helfen. Lukas‘ Vorschläge sind bis jetzt alle in die Hose gegangen.“
„Unser Schneeleopard weiß ja auch nicht, wie man es richtig macht. Es wird Zeit, dass Kellen ihn beansprucht.“
Grinsend ließ sich Donovan in meinen Stuhl fallen, bediente sich an meiner Thermoskanne Kaffee. Meine persönliche Droge. Ohne die Koffeinbombe ging für mich gar nichts. Dabei hatte das Zeug auf unseren Metabolismus gar keinen Einfluss. Es musste der Glaube daran sein.
Schnaufend stieß ich Law weg und nahm meinem Freund den Thermobecher aus der Hand, trank einen Schluck.
„Meins. Mach dir deinen eigenen!“
Achselzuckend lehnte Donovan sich zurück, verschränkte die Arme im Genick und zeigte seine beeindruckenden Muskeln. Ihre Nacktheit störte sie nicht - mich auch nicht -, aber wie aus heiterem Himmel flitterte der Gedanke durch meinen Kopf, dass wenn Jesse erst mal hier lebte, ich keinen von ihnen so in seiner Nähe dulden würde. Das war reiner Instinkt des Wolfs, der die ungebundenen Rudelgefährten als Bedrohung ansah.
Meine Augen veränderten sich, meine Nägel formten sich zu Krallen. Ich stand kurz davor, mich zu wandeln, als plötzlich die Stimme unseres Alphas in meinen Ohren dröhnte: „Was ist denn hier los?“
Zornig wirbelte ich herum, mein Wolf sah eine Bedrohung in seinem Revier und ohne nachzudenken hechtete ich mich auf Kaden. Im Hintergrund hörte ich entsetztes Rufen, das Knurren von Wölfen. Silberne Iriden blitzten, eine mächtige Welle riss mich von den Füßen, noch im Sturz wandelte ich mich, sprang erneut los - und landete genau unter den Fängen meines Alphas. Knurrend biss er zu, fest, aber nicht verletzend. Es war dennoch so erschreckend, dass mein Wolf sich winselnd ergab und ich bis ins Mark erschrak. Was hatte ich getan?
Jaulend signalisierte ich meinem Alpha, dass ich mich ihm unterwarf und er ließ sofort von mir ab. Er heulte einmal kurz und durchdringend, dann wandelte er sich.
„Wandle dich!“
Dem Befehl konnte ich nichts entgegensetzen. Zitternd blieb ich auf dem Boden hocken, rollte mich zusammen. Was war nur in mich gefahren?
„Lasst uns allein!“
Kadens Tonfall duldete keinen Widerspruch. Kurz darauf spürte ich eine harte Hand im Nacken, er zog meinen Kopf hoch, starrte mich eindringlich an. Zuerst war der Blick unerbittlich, doch schließlich wurde er weicher und ich hörte auf zu zittern.
„Ich hätte es sehen müssen. Du stehst am Abgrund und ich habe versäumt, auf dich zu achten. Das wird nicht wieder vorkommen.“
Mein Alpha zog mich in eine feste Umarmung und ich klammerte mich wie ein Welpe an ihn, erschrocken und verwirrt und unendlich dankbar, dass er mich nach meinem Stunt nicht verstieß.
„Storm!“
Lightning. Ich rollte mich noch kleiner zusammen, schämte mich entsetzlich, dass ich so die Kontrolle verloren hatte.
„Oh mein Sohn.“
Wärme an meinem Rücken, Zuneigung und Trost. Mein Vater stützte mich und nach einigen Minuten atmete ich freier.
„Es tut mir leid, Alpha. Es kam wie aus dem Nichts. Ich verstehe nicht, wieso das passiert ist.“
„Paarungswahn. Normalerweise tritt der erst auf, wenn man ständig in der Nähe des Gefährten ist, doch ich nehme an, dass die angespannte Lage und Jesses Zurückweisung ihm Vorschub geleistet hat. Es wird Zeit, dem ein Ende zu setzen.“
„Aber wie?“
Hoffnungslos sah ich Kaden an. Ein tonnenschweres Gewicht schien mir den Brustkorb zu zerquetschen, jeder Atemzug eine Qual. War ich eben noch optimistisch gewesen, sah ich nun nur Einsamkeit und Schmerz für die Zukunft in mir.
„Du holst ihn. Mach ihm die brisante Lage klar. Den Luxus, um ihn zu werben, kannst du dir nicht mehr leisten.“
Fassungslos sah ich meinen Alpha an.
„Ich soll meinen Gefährten entführen?“

 

***

 

Jesse

 

Ich war platt. Es war Saleswoche bei uns und die Leute rannten uns die Bude ein. Obwohl ich nichts mehr wollte als nach Hause und die Füße hochlegen, strebte ich stattdessen Richtung Stadtpark. Eine Runde fliegen würde meine Lebensgeister wieder wecken. Zudem wollte ich vermeiden meiner Mum über den Weg zu laufen. Sie lag mir seit Jahren in den Ohren, mir einen anderen Job zu suchen, weil dieser angeblich zu anstrengend war.
Aber ich liebte ihn. Nur das ständige Wechseln behagte mir nicht. Doch ich konnte schlecht vierzig Jahre in ein und demselben Geschäft arbeiten, wenn ich nicht alterte.
Seufzend bog ich ab, schlenderte durch den Eingang zum Park. Dort atmete ich auf. Es war wie eine andere Welt. Lärm, Smog, Menschenandrang - Fehlanzeige! Suchend schaute ich mich um und entdeckte einen geeigneten Platz, wo ich meine Kleidung deponieren konnte. Man sollte meinen als Sperlinge, hätten wir es leichter unentdeckt zu bleiben als zum Beispiel Wölfe, doch das stimmte nur bedingt.
Und schon wieder spukte mir Storm durch den Kopf. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust. Das eine wollte sofort zu meinem Gefährten fliegen, sich bei ihm einnisten und anfangen ein Nest zu bauen, das jedem Sturm standhielt. Andererseits dachte ich an meine Familie. Ich wollte sie nicht verlieren, liebte meine Eltern und Geschwister über alles. Klar gingen sie mir zuweilen auf die Nerven und ihre ständigen Kuppelversuche ertrug ich nur mit Mühe und Not, doch sie nie mehr wiederzusehen war für mich unvorstellbar.
Ich hatte den ausladenden Kastanienbaum erreicht, schlüpfte aus meinen Klamotten, die ich am Stamm unter einem Laubhaufen versteckte. Dann streckte und reckte ich mich, dachte an mein Tier, sah mich währenddessen noch einmal versichernd um. Es war dunkel und der Teil des Parks menschenleer. Sehr gut.
Ich wandelte mich, genoss den Übergang, spürte, wie meine Probleme in den Hintergrund traten. Leider kam jetzt auch die Sehnsucht nach meinem Gefährten stärker durch. Für meinen Spatz war die Sache einfach: Die zweite Hälfte war gefunden, nun konnte die Balz beginnen.
Ich flatterte mit den Flügeln, hüpfte hin und her, ehe ich mich in die Lüfte schwang. Die Blätter raschelten, es wehte eine leichte Brise und ich ließ mich glücklich von ihr tragen, tschirpte fröhlich. Unzählige tierische Artgenossen antworteten mir trällernd, ich flog jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Als Wandler unterschied sich mein Sperling extrem von den reinen Tieren, besonders die Größe war auffällig, ich kam fast an eine Taube heran.
Selbstvergessen genoss ich den Wind in meinem Federkleid, die absolute Freiheit hoch in den Wolken. Dabei merkte ich gar nicht, welche Strecke ich zurücklegte. Aus der Ferne erklang Donnergrollen, der Wind frischte auf, eine heftige Bö brachte mich ins Schleudern. Hastig tarierte ich mich aus, ging in den Sinkflug. Erst jetzt registrierte ich, dass ich nicht nur den Park, sondern auch die Stadt weit hinter mir gelassen hatte und schalt mich einen Idioten. Zurückfliegen konnte ich vergessen.
Wütend auf mich selbst steuerte ich eine Baumgruppe an, die mit ihren ausladenden Ästen ein bequemes Ruheplätzchen bot. Der Wind frischte immer mehr auf, es donnerte ohrenbetäubend und ein greller Blitz spaltete den Himmel. Ich flog gerade auf einen geschützten Ast zu, als ein lautes Krachen ertönte. Entsetzt sah ich den darüberliegenden auf mich zukommen. Verzweifelt schlug ich mit den Flügeln, doch es war zu spät. Er streifte mich und gleißender Schmerz schoss in meinen rechten Flügel. Ich geriet ins Trudeln, der Boden rückte unaufhaltsam näher. Ich flatterte hilflos, die verbliebene Schwinge schaffte es nicht meinen Sturz aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen.
Mein letzter Gedanke galt meinem Gefährten und ich bedauerte zutiefst, ihn so ignoriert zu haben. Dann prallte ich auf.

 

 

Kapitel 2

 Der Schmerz zerriss mich fast und bestätigte meine schlimmste Befürchtung: Mein Flügel war gebrochen. Ein hilfloses Krächzen drang aus meinem Schnabel. Ich war so ein Idiot! Wie ein dummes Küken, das noch nicht flügge war, hatte ich mich benommen.
Wie kam ich denn nun hier weg? Leider konnten Vögel sich bei gebrochenen Knochen nicht einfach zurückverwandeln wie zum Beispiel Säugetiere. Unsere Knochenstruktur war anders aufgebaut. Wenn ich mich verwandelte, blieb ich vielleicht flügellahm, weil ich irreparablen Schaden verursachte.
Als Mensch hätte ich jetzt geheult. Gut, dass mir das so erspart blieb. Verzweiflung ergriff mich dennoch. Ich konnte nicht fliegen, mich nicht verwandeln und das Gewitter tobte unvermindert. Ich saß hier fest. Ich verfluchte meine Torheit, als ich Geräusche wahrnahm, die nicht zum Tosen des Unwetters gehörten.
Eine Gruppe Teenager polterte durchs Unterholz. Sie suchten ebenso Schutz vor dem Wolkenbruch wie ich - ganz toll. So schnell ich konnte, hüpfte ich tiefer ins Dickicht, doch es war bereits zu spät. Ein Tritt traf mich, ich kreischte schmerzerfüllt, dann wurde es gnädig dunkel um mich herum.

 

***

 

Nervös musterte ich den Karton, den ich mühselig per Hand mit Muscheln dekoriert hatte - in Erinnerung an die Heimat. Die Zeit, an der wir an der unbewohnten Atlantikküste gelebt hatten, gehörte zu der schönsten meines Lebens. Als ich noch ein sorgloser Welpe gewesen war. Damals war alles noch unglaublich leicht, da hätte ich mir meinen Gefährten einfach schnappen können und fertig.
Unwillig schüttelte ich den Gedanken ab. Ich lebte nicht in der Vergangenheit. Entschlossen griff ich nach den Dingen, die den Karton füllen sollten. Dinge, die mir wichtig waren, die ich Jesse nahebringen wollte.
Ein Modellflugzeug - die getreue Nachbildung der Maschine, die draußen im Hangar stand. Ein Football, denn ich liebte den Sport - sowohl am Fernsehbildschirm als auch im Spiel mit meinen Rudelgefährten. Ein unscheinbares Notizbuch, das wie unzählige Vorgänger mein größtes Geheimnis enthielt - selbstverfasste Gedichte.
Dieses hier war sehr speziell, denn die Verse darin hatte ich alle für meinen Gefährten geschrieben. Ihm mein Herz zu Füßen gelegt und Einblick in meine Seele gewährt. Das war mein letzter Versuch, Jesse zu erreichen. Danach würde ich Kadens Rat befolgen und dem unwilligen Spatz keine Chance mehr geben, mich abzuweisen. Das Risiko, dass Thornton von ihm erfuhr, war einfach zu groß. Unvorstellbar, sollte er meinen Gefährten in die Finger kriegen. Grauen überfiel mich.
Hastig packte ich die restlichen Sachen in den Karton, klebte ihn zu und klemmte ihn mir unter den Arm. Dann stiefelte ich aus dem Cottage hinüber zur Garage, wo ich mir einen der SUVs aus dem Fuhrpark aussuchte. Jeder von uns besaß seine eigenen Autos und Motorräder, darüber hinaus gab es einige Wagen, die jeder von uns nutzen konnte.
„Na, auf Freiersfüßen?“
Donovan tauchte aus dem Nichts hinter mir auf, umschlang mich mit einem Arm und ich knurrte warnend. Mein Rudelgefährte wusste genau, dass ich das nicht mochte, trotzdem ärgerte er mich immer wieder.
„Der Karton ist ziemlich groß. Das müssen ja ‘ne Menge Geschenke sein. Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst? Weniger ist mehr, sagt man das nicht?“
Der Wolf grinste mich unbeschwert an, die Hände weiter auf meine Schultern gestützt. Ich widerstand dem Drang, ihn abzuschütteln. Er wollte mir nur Rückhalt geben, es war keine Provokation.
„Alpha ist der Ansicht, ich soll dich zum Haus von Jesses Familie begleiten. So als moralische Unterstützung. Sein Dad könnte Schwierigkeiten machen.“
Nun vollkommen ernst, sah Donovan mich an und ich nickte ergeben. Es war besser, wenn mich jemand begleitete. Würde mein Gefährte auch dieses Geschenk von mir zurückweisen, wusste ich nicht, wie mein Wolf darauf reagierte. Was Jesses Clan betraf: Die Spatzen sollten es ja nicht wagen, sich mit mir anzulegen.

 

Eine Stunde später stand mein Tier kurz davor, Amok zu laufen. Das Federvieh wagte es tatsächlich sich mit mir, respektive mit meinem Rudel, anzulegen. Jesses Mom war zwar höflich und zuvorkommend gewesen, hatte jedoch weder das Geschenk angenommen noch mir gesagt, wo ich Jesse finden könnte.
„Mein Sohn hat bereits einen Gefährten. Er ist mit dem nächsten Alpha unseres Clans verlobt“, hatte sie mir eiskalt mitgeteilt.
Das Schlimme? Ich hatte keine Lüge gerochen. Ihre Überraschung über mein Auftauchen hatte sie dagegen nur schlecht kaschieren können. Jesse hatte seiner Familie also nichts von unserer Gefährtenbindung erzählt. Das tat weh. Mein Wolf heulte anklagend, drängte nach vorn. Er wollte nicht mehr warten und auch ich war mit meiner Geduld am Ende.
Schon hatte ich den Türgriff in der Hand, wollte aussteigen, doch Donovan packte mich am Arm.
„Stopp. Kontrolliere erst mal deinen Wolf, ehe du nochmal mit Jesses Mom sprichst. Du musst sie überzeugen, dass du die beste Wahl für ihren Sohn bist. Als knurrende geifernde Bestie gelingt dir das hundertpro nicht.“
Widerwillig ließ ich mich zurückhalten. Er hatte recht, zum Teufel. Aber der Drang, meinen Gefährten endlich in mein Territorium zu bringen, drohte, mich zu überwältigen. Einzig allein die Tatsache, dass Jesse wirklich nicht zuhause war, beruhigte mich etwas. Doch gleichzeitig flammte Sorge in mir auf. Seine Schicht war längst beendet, wieso war er noch nicht da?
Beunruhigt stieg ich aus und musterte den Himmel, wo sich bedrohliche Wolken auftürmten. Jesse würde doch hoffentlich bei solch einem Wetter keinen Streifzug unternehmen? Entschlossen stapfte ich erneut auf sein Elternhaus zu. Alarmiert stürzte Donovan mir hinterher.
„Was hast du vor?“
Grollend schaute ich ihn an, zeigte auf die dunkle Masse am Horizont.
„Da braut sich was zusammen. Was, wenn Jesse beschlossen hat, nach Hause zu fliegen? Es kann ihm sonst was passieren!“
„Storm, versteh das jetzt nicht falsch, aber er ist ein Vogel. Er weiß, was er in solch einer Situation tun muss. Und außerdem weißt du gar nicht, ob er wirklich in der Luft ist. Vielleich muss er länger arbeiten.“
Klar, das konnte alles sein, mein Instinkt sagte allerdings etwas anderes. Der schlug gerade Alarm. Deshalb ließ ich Donovan links liegen, stiefelte zum Haus und hämmerte energisch an die Tür. Mein Rudelgefährte spürte offenbar, dass er mich besser gewähren ließ, denn er stellte sich schweigend neben mich. Ich klopfte ein zweites Mal. Ein drittes Mal.
Nichts rührte sich. Die ignorierten mich! Entschlossen, die Tür notfalls einzutreten, sah ich verwundert, wie Donovan ein Werkzeugetui zückte.
„Gestattest du?“
Grinsend trat ich beiseite. Keiner knackte ein Schloss so schnell wie der Wolf, den ich voller Stolz Bruder nannte. Nur Sekunden später klickte es und ich schob die Tür vorsichtig auf. Eine lautstarke Diskussion war im Gange, ich erkannte die Stimme von Jesses Mom, eine fremde männliche und eine zweite weibliche, noch sehr junge. Die Mutter meines Gefährten hörte sich verzweifelt an und alarmiert stürmte ich vorwärts.
„Bitte Chandler, es ist das Beste. Gib deine starrsinnige Haltung auf und denk an sein Glück. Zwinge ihn nicht, eine Bindung einzugehen, die ihn unglücklich macht!“
Mein Wolf sah rot. Er sah in dem kleineren Mann, der Jesse verblüffend ähnlich sah, nur älter, eine Bedrohung für den Bund mit unserem Gefährten. Meine Krallen fuhren aus, ich schoss vor, packte den Spatz an der Kehle. Die Frauen im Raum keuchten erschrocken, dann spürte ich einen Arm um meinen Hals. Donovan versuchte, mich von Jesses Dad wegzureißen, mein Tier und ich sträubten uns jedoch. Ich warf den Kopf herum, fixierte den anderen mit einem harten Blick, knurrte drohend. Der weniger dominante Wolf konnte mir nicht lange standhalten, kämpfte aber dennoch.
„Tu das nicht, Storm. Denk nach. Was würde Jesse sagen, wenn du seinen Vater verletzt? Das wird ihn ganz bestimmt nicht für dich einnehmen!“
Grollend wandte ich mich dem Mann zu, der nach der Meinung meines Wolfs zwischen mir und meinem Gefährten stand. Trotzig fixierte er mich, mit dunklen Augen, die genauso aussahen wie Jesses ...
Abrupt ließ ich ihn los. Von mir angewidert starrte ich auf das Blut an meinen Krallen und schüttelte mich. Der Paarungswahn hatte bereits begonnen.
„Das wird nicht wieder vorkommen“, entschuldigte ich mich sowohl bei Donovan als auch bei dem Sperling, der mich nun verächtlich musterte.
„Und das soll das Beste für unseren Sohn sein? Ein Raubtier, das seinen niederen Instinkten folgt? Wer weiß, was er mit unserem Jesse anstellt!“
Die Implikation, ich wäre eine Gefahr für meinen Gefährten, ließ meinen Zorn wieder aufflammen. Ehe die Situation eskalieren konnte, bekam ich Schützenhilfe von der jungen Frau, deren Ähnlichkeit mit Jesse ebenfalls frappierend war.
„Besser ein leidenschaftlicher Wolf, der ihn bis aufs Blut verteidigt als die Schlaftablette, die der Clan bestimmt hat!“
Mit funkelnden Augen und die Hände in die Hüften gestemmt baute sich das zierliche Persönchen vor dem Spatz auf, der sie verwirrt ansah.
„Marcus ist ein guter Mann. Zuverlässig und loyal.“
„Ja, ist er. Und zudem stinklangweilig“, kommentierte das Mädchen trocken.
Trotz der ernsten Lage musste ich schmunzeln. Plötzliches lautes Donnergrollen ließ mich alarmiert nach draußen stürmen. Im gleichen Moment entriegelte der Himmel seine Schleusen.
„Egal welche Differenzen wir haben, sagen Sie mir bitte wenigstens, ob Sie wissen, wo ihr Sohn ist? Er würde bei diesem Wetter doch nicht fliegen, oder?“
Jesses Mom erbleichte, das Mädchen starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Sein Vater öffnete den Mund, klappte ihn jedoch sofort wieder zu.
„Ich muss kurz telefonieren. Kommen Sie mit“, wandte er sich überraschend an mich.
„Helen, mach dir keine Sorgen, der Junge ist vernünftig. Er hat sich bestimmt nur verquatscht. Du kennst ihn doch.“
Der Blick, den er mir zuwarf, sagte jedoch etwas völlig anderes. Er eilte mir voraus, öffnete eine Tür am Ende des Flurs und bat mich in den Raum.
„Ich nehme an, dass Adam Thornton kein Unbekannter für Sie ist?“, begann der Spatz ohne Umschweife.
Mir gefror das Blut in den Adern, starrte den Mann vermutlich fassungslos an.
„Nein“, antwortete ich tonlos.
„Ich habe nichts gegen Sie persönlich, Storm. Oder gegen Raubtierwandler. Im Gegenteil. Ihr Alpha Kaden genießt in unseren Kreisen einen hervorragenden Ruf. Doch wir müssen unsere Familien und unseren Clan beschützen. Niemand vom Rat unternimmt etwas gegen diesen Psychopathen, sie lassen ihn schalten und walten, wie er will.“
„Aber wir nicht“, knurrte ich ihn an.
„Unser Rudel jagt Thornton und wird ihn zur Strecke bringen.“
„Das behaupteten schon viele. Sie sind alle tot.“
Das klang so resigniert und hoffnungslos, dass mein Wolf die Ohren spitzte. Meine Wut flaute ab. Das dominante Raubtier in mir wollte dem Sperling Zuwendung spenden, ihn sogar in den Arm nehmen. Seltsam. Allerdings hütete ich mich, dergleichen zu tun. Jesses Vater gehörte nicht zum Rudel und er war das Oberhaupt seiner Familie. Eine solche Geste meinerseits würde er als herablassend ansehen und mir womöglich den Kopf abreißen.
„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Von einem kleinen glücklichen Rudel. Von Eltern, die ihre Jungen vergötterten. Von einem Tag, an dem sich der Sand an der Küste, wo wir lebten, rot färbte. Vom Sohn eines Alphas, der über sich selbst hinauswuchs und viele Leben rettete. Von einem verlorenen Welpen, der ohne den anderen Wolf keine Überlebenschancen gehabt hätte.“
Einen Moment überwältigten mich die Erinnerungen. Und sollten noch einmal tausend Jahre vergehen, der Tag an dem Thorntons machthungriger Vater unser Rudel zerstörte, mir die Eltern nahm, stand mir so klar vor Augen, als wäre es erst gestern passiert. Und genauso scharf war der Schmerz.
„Der Wolf ist Lightning, der Beta von Alpha Kaden. Ich kenne die Geschichte, wenn auch aus der anderen Perspektive“, der Spatz trat auf mich zu und legte eine Hand auf meine Schulter.
Mein Tier akzeptierte die Berührung überraschend und ich entspannte mich etwas.
„Ich fühle mit Ihnen. Solch ein Verlust ist eine ewig währende Pein in der Seele. Das möchte ich Jesse ersparen. Er soll sich nicht ständig sorgen müssen, ob sein Gefährte den nächsten Tag überlebt. Die Angst würde ihn zerreißen.“
Mein Zorn flammte wieder auf, knurrend schüttelte ich den Spatz ab, fixierte ihn mit einem wütenden Blick, unter dem er sich unbehaglich wand und mir schließlich auswich. Mein Wolf grollte zufrieden.
Jesses Vater erholte sich rasch.
„Das ist jetzt erstmal egal. Wir müssen meinen Sohn finden. Ich befürchte nämlich, dass er tatsächlich geflogen ist. Geht ihm viel im Kopf herum, ist das das Einzige, was ihm hilft. Frei zu sein und durch die Lüfte zu fliegen.“
Ich schluckte angestrengt.
„Ich bin Pilot und auch wenn das kaum miteinander vergleichbar ist, ich verstehe dieses Gefühl von Freiheit, welches man nur beim Fliegen findet.“
Mit schwerem Herzen wandte ich mich ab. Mein Gefährte war meinetwegen in Gefahr. Die Tatsache, dass wir füreinander bestimmt waren, hatte ihn jede Vorsicht vergessen lassen.
„Ich trommle eine Suchmannschaft zusammen. Gibt es eine besondere Strecke, die er gern benutzt?“
„Hätte er die genommen, müsste er längst zuhause sein.“
Die Besorgnis des Sperlings zerrte an meiner Beherrschung. Sollte ich Jesse nicht finden und retten können, würde ich daran zugrundegehen.

 

Impressum

Texte: Dani Merati
Bildmaterialien: shutterstock Nr. 263186315; shutterstock Nr. 296890640; Shutterstock Nr. 1286518393
Cover: Dani Merati
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2017

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