Erzählung eines Opfers
„Lale ist Tulpe. Wiederholen Sie bitte“, sage ich in meinem brüchigem Deutsch. „Lale“, wiederholt Erika Frösch. Und ehe ich sagen kann, dass sie das neugelernte Wort aufschreiben soll, hat sie es schon getan. Sie ist eine sehr gute Schülerin, aber sie hat einen fürchterlichen Mann. Nunja, wenigsten sind die Zwillinge gelungen. Die haben zum Glück mehr von der Mutter als vom Vater. Ach, wären doch nur Khalib und Saïda hier, meine armen Kinder.
Ich gebe Frau Frösch einige Übungen, die ich zum Thema Blumen vorbereitet habe.
Endlich wieder zu Hause, doch bald muss ich zu Fritz Stämpfli gehen: noch mehr unterrichten. Ich unterrichte ja gerne, so ist das nicht. Aber dieser Herr Stämpfli ist echt unheimlich… Er starrt mich immerzu an. Das macht mir Angst, dieser Blick macht mir Angst…
Ich esse Spätzli, ein Schweizerisches Gericht. Es sieht seltsam aus, eigentlich wie viele kleine, dicke, gelbe Maden…
Iiiih… würde ein Schweizer sagen.
Oh, ich muss los!
Ich klingle an Herrn Stämpflis Tür, nach weniger als einer Sekunde surrt ein Lautsprecher und ich kann rein. Während ich die Treppen hochsteige, ich nehme nie den Lift, lege ich mir die Worte zurecht. Ich spreche nicht gut Deutsch, doch bin ich dabei es zu lernen.
Herr Stämpfli steht schon an der Tür. Merhaba“, sagt er.
„Guten Tag“, antworte ich auf Deutsch. Er lässt mich in die Wohnung und wir setzen uns an wie immer an den grossenrunden Tisch. Er ist aus Dunkelbraunen Eichenholz gemacht, dazu gibt es passende Stühle. An der Wand hängen viele Wandteppiche und in einem Regal stehen die verrücktesten Dinge: eine Voodoopuppe aus Togo, zwei Goldbecher von den inkas, eine Walrossknochenkette vom Nordpol, getrocknete Seepferdchen aus Kroatien, mehrere weisse Muscheln aus Japan und etliche Amulette aus Mali.
„Also heute beginnen wir mit einem neuen Thema: Tiere. Ich habe einige Übungsblätter gemacht, hier.“ Ich gebe ihm die Blätter. Er beginnt mit den Aufgaben.
Später muss ich noch zu Jost Meier gehen, er ist Dirigent. Ich wasche zweimal pro Monat seine Kleider. Den Rest macht er selber. Wenn ich bei ihm in die Wohnung komme ist immer alles sauber und ordentlich. Herr Meier ist ein guter Mensch, er glaubt zwar nicht an Allah, oder an Gott, wie sie ihn hier nennen, aber er macht nichts Unehrliches.
„Wie sagt man Siebenschläfen?“, fragt Herr Stämpfli und reist mich aus meinen Gedanken.
„Yediuyuru“, sage ich etwas verwirrt. Diese frage kam sehr überraschend.
„So, das war es für heute. Die restlichen Übungsblätter sind als Aufgabe für die nächste Stunde.“ Ich lächle
freundlich. Er lächelt zurück und sagt: „ Einen Moment noch.“ Er verschwindet in seinem Zimmer und kommt gleich wieder zurück. Er hält was in der Hand. „Hier das ist für Sie.“ Mit diesen Worten hängt er es mir um den hals, dann zögert er und…
HILFE, er umarmt mich. Ich bin starr vor Schreck und kann mich nicht bewegen.
Herr Stämpfli lässt mich abrupt los und sagt: „Entschuldigung.“ Ich bekomme nur ein knappes: „Auf Wiedersehen“, heraus. Ich renne die Treppen hinunter und die Strasse entlang. Erst der Strassen weiter höre ich auf. Völlig ausser Atem gehe ich nach Hause. Ich werde ali nichts davon erzählen, er wird sich nur aufregen und mich nichts mehr alleine machen lassen. Ali hat schnell Angst um mich, er liebt mich sehr. Ich ihn auch. Und deshalb tut es mir weh, wenn ich sehe, wie er sich wegen den Kindern und mir quält. Er denkt, dass er als Vater und Ehemann versagt habe. Ich versuche deshalb mit Spälti zusammen Khalib und Saïda in die Schweiz zu holen, natürlich vermisse ich meine Kinder auch, doch ich weiss, dass wir sie bald wiedersehen werden. In Konya, wenn wir unsere Pension am Meer eröffnet haben. Dieses Wissen lindert meine Sehnsucht nach ihnen.
Fertig. Ich habe Herrn Meiers Wäsche gewaschen, das Abendessen gekocht und abgewaschen. Nun ist der Tag zu Ende und ich kann endlich schlafen…
Ich lege meine Hand in Alis und schon bin ich weg.
Heute ist der achte November, ein hässlicher Tag. Es gibt Nebel, was hier in Basel sehr selten ist, ausserdem regnet es. Pfui, ich bin froh wenn ich aus dieser scheusslichen Stadt heraus bin. Um acht Uhr kommt Herr Spälti, bis dann werde ich die Wäsche machen.
Ali geht jetzt. „Güle, güle!“, ruft er. Und antworte:“ Bis später, Schatz!“
Eine halbe Stunde später klingelt es an der Tür. Ich mache den Lautsprecher an und frage wer es sei. „Beat Spälti“, höre ich die dumpfe Antwort. Ich lass die Türe aufgehen, indem ich auf den roten Knopf neben der Tür drücke. Ich höre wie er heraufkommt: „Guten Tag“, sagt er, als er obenangekommen ist. Er sieht etwas traurig aus. „Kommen sie herein“, bitte ich ihn. Ich mag ihn nicht sonderlich, er ist hinterhältig und unzuverlässig.
Wir stehen in der Küche, während er mir etwas zu erklären versucht: „ Es tut mir wirklich leid Ai… ich meine Frau Aydin. Ich möchte nicht lange um den heissen Brei rumreden, also sage ich es gleich: Ich kann Ihre Kinder nicht in die Schweiz holen. Es ist unmöglich.“
Mit diesen Worten will er mich umarmen, aber ich möchte das nicht. Nein, ich weigere mich, also trete ich ihm unten rein. Dazu muss ich nur das Knie heben, da er so nah ist. Er stöhnt auf, währen ich ihn beschimpfe: „Sie dreckiges Schwein! Sie haben es schon die ganze Zeit gewusst!!! Ich hasse Sie wie
sonst niemanden auf der Welt. Und wie können Sie es auch nur in Erwägung ziehen mich zu umarmen?! Verschwinden Sie aus meiner Wohnung!“
Um meine Worte zu unterstreichen, spucke ich ihn an. Dann dreht er durch. Er zieht was aus seiner Jackentasche: eine Flasche Whisky oder Schnaps… Ich sehe es nicht.
Er hebt den Arm, ich bin starr vor Schreck. Ich will schreien und weglaufen, doch es geht einfach nicht!
Dann saust die Flasche auf mich herunter. Ich hätte starke Schmerzen erwartet, aber
ich nur spüre einen dumpfen Schmerz im Gesicht. Es ist nur ganz kurz. Dann wird mir schwarz vor Augen Meine letzten Gedanken sind: „ Ich habe versagt… versagt, als Mutter und als Ehefrau.“
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2009
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