"Ich werde hier wohl nicht mehr lange bleiben können", sagte mein Großvater und schaute an diesem Nachmittag, als wir im Garten bei den Tomatenpflanzen standen und die Ernte begutachteten, so bekümmert auf das Haus, wie ich ihn noch nicht erlebt habe.
Ich fragte ihn, was nicht in Ordnung sei, denn für mich sah alles aus wie immer. Und ich kenne dieses Haus seit meiner Kindheit.
"Irgendetwas ist unter dem Haus."
Ich fragte, wie er das meine, denn es ist nicht einmal unterkellert. Er aber schüttelte nur stumm den Kopf.
Das Haus war gewiss nicht mehr im besten Zustand. Vor zwei Jahren hatten wir das gesamte Dach erneuern müssen, weil es bei Regen ständig irgendwo tropfte. Er war mit seinen 77 Jahren noch mit mir raufgestiegen. Auch ein Anstrich wäre schon lange wieder einmal fällig. Er hatte es nach dem Krieg gebaut, mit dem Material, was sich beschaffen ließ und so blieb es ein kleines Haus, eingeschossig und ohne Keller. Sie hatten zusammen etwa 75 qm gehabt, er und Oma. Und seit sie vor 9 Jahren gestorben war, lebte er hier allein. Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, das winzige Zimmer, das früher meiner Mutter gehörte. Für mehr Kinder ist doch einfach kein Platz, soll Oma immer gesagt haben, denn Opa hatte sich noch einen Sohn gewünscht.
Im Sommer komme ich 3-4 mal in der Woche mit dem Fahrrad hier heraus. Eine gute halbe Stunde Weg ist es aus der Stadt. Er sieht kurz auf und nickt mir zu. Ich sitze einen Nachmittag und einen Abend lang unter einem Baum und lese, oder ich sitze einfach nur so da. Wo sonst kann man einfach nur so sitzen. Er jätet Unkraut. Manchmal jäte ich und er raucht seine Pfeife. Wenn ich gehe, nickt er wieder.
Auch vorgestern waren wir im Garten. Und dann sagte er plötzlich in seiner ruhigen Entschlossenheit, wie wenn er sich seiner Sache ganz sicher war:
"Wenn das so weiter geht, werden wir das Haus abbrennen müssen."
Ich glaubte, er habe den Verstand verloren, als ich das hörte.
"Das meinst du nicht ernst."
Ich hatte immer gehofft, selbst einmal hier zu leben. Ich war, um es ehrlich zu sagen, fest davon ausgegangen. So wie mein Großvater selbst, war mir auch dieses Haus schon immer alt vorgekommen, mit seinem hohen, rostigen, abweisenden Zaun und dem verwilderten Garten, der nur dort gepflegt war, wo wir sein Gemüse gepflanzt hatten. Die Straße hat auch heute noch keinen Bürgersteig und der Briefträger kommt nur jeden zweiten Tag. Es ist eben nicht wie in der Stadt. Es gibt noch Räume und es gibt noch eine Offenheit im Raum. Hier draußen ist noch eine Dimension, die von jedem selbst gefüllt werden muss.
Das Haus ist nicht einladend, genau das Gegenteil, aber eben das schätze ich daran. Man muss es sich erarbeiten. Es scheint spröde und unzugänglich, unfähig jemandem ein Zuhause zu geben.
"Ein Haus bauen, das ist mehr als ein paar Mauern hochziehen und ein Dach decken", so sagte mein Großvater. "Sich ein Zuhause zu bauen, das braucht eine andere Arbeit. Wohnen, sich einrichten können, das erfordert ein Sichöffnen; sich einlassen auf das, was da ist - auf einen Ort, eine Umgebung. Nur dann kann man auch etwas von diesem Ort empfangen. Wohnen in diesem Sinne kann man am besten allein."
Und ein andermal sagte er: "Hier kann keiner leben, außer mir und dir."
"Was war mit Oma?" fragte ich dann.
"Nun ja, auch sie ist ausgezogen." Und er lächelte schmerzlich dabei. Das Haus zu verlassen bedeutete, ihn zu verlassen. Meine Mutter war mit 17 in die Stadt gezogen, um die Oberschule zu besuchen. Sie sagte "Für eine Schrebergartenlaube ist es ganz passabel" und verdrehte die Augen zum Himmel. Und manchmal sagte sie auch "Der alte Kauz".
"Was ist nicht in Ordnung mit dem Haus?" fragte ich ihn vorgestern zum zweiten Mal.
"Wenn ich das wüsste. Es ist so verdammt sonderbar."
Er ging ohne eine weitere Erklärung hinein und schien zu erwarten, dass ich ihm folge. Mir wurde plötzlich bewusst, dass er sich auch bei meinem letzten Besuch schon ein wenig merkwürdig verhalten hatte. Das war vor 3 Tagen gewesen. Ich war mit einem vollen Armee-Rucksack gekommen, darin seine Einkäufe. Noch nie hatte ich ihn so nervös gesehen. Er saß keine 5 Minuten auf dem Küchenstuhl, dann stand er auf und ging ins Wohnzimmer. Auch in seinem Sessel hielt es ihn nicht länger. Wieder stand er auf und ging langsam im Zimmer auf und ab. Er ging in den Garten, kam wieder herein, ging wieder hinaus. Es war wie eine Zwangshandlung.
Alte Menschen werden manchmal unruhig, sagte meine Mutter am selben Abend, als sie Wörter wie "seltsam" oder "verwirrt" vermeiden wollte.
Ich folgte ihm ins Wohnzimmer und ich konnte kaum fassen, was ich dort sah. Er hatte die Möbel umgestellt, die so lange ich denken konnte stets an dem selben Platz gestanden hatten.
"Wo ist der andere Sessel?" fragte ich. Er hatte zwei schöne Polstersessel gehabt, seinen und den von Oma. Jetzt war nur noch einer da und er hatte ihn ganz nach rechts an die Wand geschoben.
"Ich musste ihn wegwerfen." sagte er nur knapp.
Der Tisch stand an der linken Wand, aber so weit in die Ecke geschoben, dass man kaum mehr richtig daran sitzen konnte. Die Möbel schienen für irgend etwas Platz zu machen, das mitten im Zimmer war oder seiner Ansicht nach sein sollte.
"Komm her", sagte er. "Es ist wie eine Wasserader, die unter dem Haus verläuft. Aber es ist kein Wasser, es ist etwas anderes. Etwas, das ausströmt."
"Was heißt ´ausströmt´?"
"Leg mal deine Hand hier hin." Er deutete auf eine Stelle auf dem Fußboden mitten im Zimmer.
"Und was soll dann passieren?"
"Mach es einfach."
Ich legte meine Hand auf den Boden und sah ihn fragend an.
"Man merkt es nicht sofort. Lass sie ein paar Minuten liegen."
Wieder fiel mir auf, wie unruhig er war. Genau wie schon bei meinem letzten Besuch schien er nicht lange an einer Stelle still stehen zu können. Er trat von einem Fuß auf den anderen, wie ein ungeduldiges Kind. Er ging zwei Schritte, blieb stehen, ging wieder zurück. Bewegliche Ziele sind schwerer zu treffen, ging es mir durch den Kopf, ohne dass ich etwas damit anfangen konnte. Ich musste husten und dachte, dass er mal wieder hier drin lüften sollte und als ich aufblickte, stellte ich fest, dass das Fenster weit geöffnet war. Ich sah nach draußen, ein paar einzelne Wolken zogen schnell am Himmel vorbei, ständig in Bewegung, so wie er, und dann registrierte ich, dass meine rechte Handfläche brannte wie bei einer starken Hautreizung.
Hatte das gerade angefangen oder habe ich es erst jetzt bemerkt? Ich riss erschrocken die Hand vom Boden hoch, als hätte ich auf eine Herdplatte gefasst, aber ich spürte keine Hitze, obwohl die Handfläche gerötet war wie von einem Sonnenbrand. Ich starrte sie an und rieb sie an meiner Hose. Das Brennen ließ daraufhin etwas nach.
"Haste gemerkt?"
Ich drehte mich nach ihm um. Er stand in der Tür, nachdem er schon zweimal raus und wieder rein gekommen war.
"Was zum Henker ist das?" fragte ich.
"Schimmel." sagte er nüchtern. "Alles hier verschimmelt. Der ganze Sessel ist von unten her völlig verschimmelt."
"Schimmel? Das kann doch kein Schimmel sein. Es brennt, als hätte ich ... ich weiß nicht, eine allergische Hautreaktion oder so was."
Ich stand auf und er zeigte mit dem Finger auf meine Beine. Ich verstand erst nicht, was er mir sagen wollte. Dann sah ich, dass meine Hose am rechten Knie mit einem dünnen grauen Flaum überzogen war. Ich hatte während seines Experimentes auf dem Boden gekniet. Ich sah genauer hin und roch modrige Feuchtigkeit, ein leicht beißender Geruch, der aus meiner Hose aufstieg. Mein linkes Hosenbein war sauber.
"Du hast halb auf der Ader gekniet", sagte er.
"Auf der Ader?"
"Der Streifen, in dem es passiert. Nenn es wie du willst. Er ist etwa 50 Zentimeter breit und er geht einmal quer durchs Wohnzimmer und Schlafzimmer. Gestern waren es noch höchstens 30 Zentimeter."
Über seinen letzten Satz und das, was er zu bedeuten hatte, habe ich vorgestern noch nicht weiter nachgedacht. Ich war stattdessen von dem Anblick meiner Hose und dem grauen Zeug wie gebannt, an dem ich vorsichtig schnupperte.
"Das bekommen wir schon wieder hin", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Vielleicht ist nach dem letzten Regen der Grundwasserpegel gestiegen oder so was. Es gibt doch Spezialisten für Trockenlegungen - keine Ahnung, wie das richtig heißt - und so einer kann bestimmt auch dagegen was machen."
Aber er schüttelte wieder nur stoisch oder resigniert den Kopf, wie schon zuvor im Garten, als wisse er mehr als ich.
"Es ist nicht bloß Feuchtigkeit. Dazu geht es viel zu schnell. Etwas strömt aus dem Boden aus. Und wenn etwas darauf liegt oder steht, dann kommt es..." Er schien nach Worten zu suchen, "... es kommt dem Tod zuvor."
Ich versuchte darüber zu lächeln, aber es gelang mir nicht.
"Wenn du nicht hierbleiben willst, komm mit in die Stadt." Er lehnte ab.
"Hier habe ich gelebt, hier will ich auch sterben, wenn es denn sein muss. Dieser Ort ist mein Zuhause geworden, ich habe ihn dazu gemacht, und es gibt noch ein paar Flecken, auf denen nichts passiert."
"Ich habe kein gutes Gefühl dabei." Er nickte nur.
"Und ich kann erst übermorgen wieder kommen." Er winkte ab, was bei ihm soviel wie Zustimmung bedeutete.
"Ich muss mir nur überlegen, wo ich schlafen kann. Man darf nicht zu lange an einer Stelle stehen. Es ist vielleicht besser, wenn ich wach bleibe."
Als ich ging, begleitete er mich an diesem Tag noch bis an die Straße, so wie man einen seltenen Gast verabschiedet. Und er sagte zu mir: "Ich weiß, dass du das Haus magst. Aber ich fürchte, wenn du das nächste Mal kommst, müssen wir es abbrennen. Es ist wie mit dem Gemüse; was fault muss weg." Dann drehte er sich einfach um, ließ mich am Zaun stehen und ging hinein.
Als ich heute kam, lag er auf dem Bett, vollständig bekleidet, er hatte sogar noch seine Schuhe an - wie abgelaufen die Sohlen waren -, seine Beine hingen heraus, so als ob er sich nur für einen Moment hingelegt hatte und gleich wieder aufstehen wollte. Aber nach zwei Tagen des Wachenbleibens hatte ihn der Schlaf offenbar doch übermannt.
Ich habe ihm dann das Gesicht mit der Bettdecke verhüllt. Ich konnte es nicht anders ertragen. Ich hatte zuvor noch keinen Toten gesehen, ich weiß nur, dass ich meinen Großvater noch niemals so gesehen habe. Ich habe nicht geglaubt, dass ein menschliches Gesicht, egal ob tot oder lebendig, zu solch einer Miene fähig ist. Niemals hätte es auf diese Weise zu Ende gehen dürfen.
Mir tränten die Augen, meine Kehle brannte, ich hustete krampfhaft und konnte kaum atmen. Ein alles überdeckender, entsetzlicher Gestank von Moder und Schimmel lag in diesem Zimmer und strömte vom Bett aus durch das ganze Haus. Ich wollte das Fenster öffnen. Die Scheibe war eingeschlagen, die Scherben lagen draußen. Hier wollte keiner rein, sondern einer raus.
Er war halb in die Matratze eingesunken. Matratze und Körper waren in einer schleimigen zähen Masse ineinander übergegangen und begannen, sich miteinander aufzulösen. Was der Schimmel von der Matratze übrig gelassen hatte, war unter seinem Körper schwarz geworden. Es war kein Flaum mehr, wie vorgestern auf meiner Hose, es waren schwarze feuchte Brocken. Sie vibrierten, als wären sie lebendig, aber das waren nur meine brennenden juckenden Augen in der beißenden Luft. Schwarze Brocken, so wie die Erde in unserem Garten, dachte ich. Nur war es keine Erde, ich kenne den Geruch von Erde.
Ich stürzte hinaus in den Garten und versuchte mich zu übergeben. Es blieb bei einem erstickten Würgereiz. Ich fand den zweiten Sessel in den hintersten Büschen, wohin er ihn geworfen haben musste. Seine Unterseite bestand nur noch aus 5 Zentimeter dickem schwarzem Matsch.
Nur noch an das will ich denken, was er zuletzt zu mir gesagt hat, jetzt da ich vor dem Haus stehe und doch nicht stehen bleibe. Ich bleibe in Bewegung, so wie er.
Ich habe seine zwei Schnapsflaschen ausgekippt, den Reinigungsspiritus und noch irgendein Zeug, auf dem "leicht entflammbar" stand. Es sollte genügen. Es ist ja nur ein kleines Haus, mit dem Zaun und dem Gestrüpp und den Gemüsepflanzen irgendwo dazwischen - sein Haus - unser Haus. Ich will nicht sehen, wie es endet. Es reicht, dass ich ihn gesehen habe.
Ich sitze auf meinem Fahrrad und trete wie besessen in die Pedale. Die Straße hinunter, es ist die falsche Richtung, in die Stadt geht es andersrum. Die Feuerwehr wird kommen und die Polizei. Soweit abseits sind wir hier draußen auch nicht. Werden sie mich befragen? Was könnte ich ihnen sagen? Vielleicht werde ich eingesperrt, - immerhin liegt drinnen noch eine Leiche -, weil sie nicht verstehen werden, was ich getan habe. Weil niemand uns kannte, mich und meinen Großvater, mit dem ich einen Platz gefunden und wieder verloren habe, an dem wir zwei Stunden gepflanzt und bestellt haben und dabei kein Wort sprachen, denn wohnen kann man am besten allein.
Ich werde nicht mehr schlafen können, egal an welchem Ort ich bald sein werde, denn der Streifen auf dem Fußboden, diese Ader, wie er sie nannte, kam aus dem Nichts und wurde breiter mit der Zeit. Erst waren es nur ein paar Zentimeter im Wohnzimmer, auf denen es schimmelte, und einige Tage später war es überall. Zuletzt wollte er sich nicht mehr hinlegen, geschweige denn schlafen, er wollte nicht einmal mehr sitzen, er ging ständig umher, ruhelos, wissend, dass er nicht davonlaufen konnte.
Der Stillstand ist der Tod - wie wahr ist dieses Sprichwort hier im Haus meines Großvaters geworden. Und es kann überall wahr werden, dessen bin ich mir sicher; die grantige Bestie Natur, die einen weiteren Albtraum von so vielen ungezählten für uns bereit hält, macht niemals Pause.
Wer sich zur Ruhe legt, kann nie mehr sicher sein. Wenn du das Brennen noch spürst, dann hast du Glück gehabt, dann spring auf und lauf so schnell du kannst. Frag nicht wohin, denn es gibt kein Wohin, bleib nur nicht stehen. Bleib immer in Bewegung, bleib nicht an einem Ort, denn wenn du zu lange innehältst, holt die Fäulnis dich noch vor dem Tode ein.
Mein Großvater lag in seinem Todeskampf, den Mund aufgerissen zu einem letzten stummen Schrei des Entsetzens, aber gleichzeitig war es auch ein Schrei nach Erlösung aus all den Albträumen des Lebens. Jene Erlösung - ich wünsche mir so sehr, dass sie ihm am Ende zuteil wurde.
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2009
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