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Eisverkäufer



"Die Rede ist die Kunst, die Gedanken zu verbergen."
französisches Sprichwort

Aus einem Tagebucheintrag:
Ich bin aufmerksam, deplatziert, unsichtbar, angepasst, verständnislos, unlustig, austauschbar, maskiert, sehnsüchtig, langweilig, außenstehend, widernatürlich und seit 142 Tagen arbeite ich als Eisverkäufer bei Meadow Fresh. Ich erwache um 10 Uhr morgens, setze die blaue Kappe auf, mit der ich mich als Vertriebsmitarbeiter zu erkennen gebe und gehe ins Kühlhaus der Firma. Dort fülle ich meinen hölzernen, thermo-isolierten Bauchladen mit Eislutschern und hänge ihn mir um. Im Kühlhaus findet man alle Tiefkühlprodukte, die von Meadow Fresh produziert werden, sogar Schweinehälften. Die Eislutscher liegen neben dem eingefrorenen Gemüse in einem weißen, würfel- förmigen Bottich. Mein Megaphon entnehme ich dem Megaphonschrank vor dem Kühlhaus und ab 12 Uhr mittags bin ich in der Stadt unterwegs. Meine Arbeit ist einfach. Werbung und Marketing sind in anderer Hand und ich muss das Eis nicht marktschreierisch anpreisen, was mir ohnehin nicht liegt. Wenn ich auf die Straße gehe, weiß jeder der mich sieht, was ich tue und warum ich da bin und das Eis verkauft sich von selbst. Ich stehe einfach an einer Straßenecke und halte mir das Megaphon vor den Mund und jemand kommt und verlangt ein Eis. Ich frage nach der Sorte, falls der Kunde sich nicht dazu äußert. Ich nenne den Preis, falls der Kunde diesen nicht kennt. Ich spreche immer nur in das Megaphon. Jedes Eis wiegt genau 50 Gramm. Es ist von besonders weicher Konsistenz und bei einer Temperatur von 23 Grad Celsius und 40% Luftfeuchtigkeit in exakt 2 Minuten geschmolzen, sofern der Kunde es nicht vorher aufgegessen hat. Es gibt drei Sorten: Schoko, Vanille und Erdbeer. Die Eislutscher sind in weiße Folie verpackt, auf der die Geschmacksrichtung in schwarzen Blockbuchstaben aufgedruckt ist. Ich nehme von jeder Sorte 20 Stück in den Bauchladen, insgesamt also 60 Stück. Im Durchschnitt verkaufe ich alle 5 Minuten ein Eis. Eine Schicht dauert demnach durchschnittlich 300 Minuten. Die Wahrscheinlichkeiten, dass eine Schicht länger oder kürzer als 300 Minuten dauert, sind in etwa standardnormalverteilt. Nach spätestens 360 Minuten gehe ich zum Kühlhaus zurück, da der Bauchladen dann aufzutauen beginnt. In der ganzen Stadt sind 16 Meadow Fresh-Verkäufer unterwegs, von denen jeder einen bestimmten Bezirk übernimmt.
Die Strecke, die ich werktäglich abgehe, ist immer die selbe und führt - einem Rundkurs gleich - wieder zum Kühlhaus zurück. Ich bin gehalten, während der Arbeit ausschließlich in das Megaphon zu sprechen. Es ist auf die geringste Lautstärke eingestellt und verleiht der Stimme den harten, metallischen Klang einer Roboter- oder Computeransage. Ich habe stets zwei Ersatz- batterien für das Megaphon in der Tasche.

Unsere Kunden bekommen Antworten, das ist die Botschaft, mit der wir verkaufen. Das Megaphon ist eine Art Medium und steht symbolisch für eine Rede an die Allgemeinheit, denn das unmittelbare wie das persönliche Wort wird in gleichem Maße ungern gehört. Dafür lieben Menschen Symbole. Auch auf meiner Kappe und auf dem T-Shirt ist ein kleines Megaphon neben einem Eislutscher abgebildet. Das Megaphon ist Teil des gesamten Verkaufskonzepts.
Nicht immer geht dieses Konzept ohne Probleme auf. Ich gebe ein Beispiel: Auf dem Z-Platz spricht mich heute eine Frau mittleren Alters an. Sie kauft ein Vanilleeis und erzählt mir, dass ihr todkranker Vater im Koma liegt und so gut wie keine Aussicht mehr darauf besteht, dass er jemals wieder aufwachen wird. Sie fragt mich, ob sie die Maschine, die ihn künstlich am Leben erhält, ausschalten soll. Ich sage ihr durch mein Megaphon, dass in dieser Stadt aktive Sterbehilfe illegal ist. Sie antwortet, dass es ihr nicht darum geht. "Dann schalten Sie die Maschine ab", sage ich zu ihr. "Warum?" fragt sie. "Wenn ich ihr Vater wäre, würde ich es so wollen", sage ich. "Was Sie wollen interessiert mich aber nicht, sondern wie ich ihm helfen kann", antwortet sie darauf. Ich erkläre ihr nun, dass es bei dieser Entscheidung vor der sie steht, keine eindeutige Antwort und keine letzte Sicherheit geben kann, welche Handlung die richtige ist, da sie ihren Vater nicht nach seinem Wunsch fragen kann, aber dass sie – solange es ihr bei Allem, was sie tut, nur um ihn allein geht – vor ihrem eigenen Gewissen bestehen wird, egal ob sie die lebenserhaltende Maschine ausschaltet oder nicht. Sie bemerkt nicht ganz zu Unrecht, dass das keine Antwort auf ihre Frage sei. Also wiederhole ich: "Schalten Sie die Maschine ab." Sie sieht schweigend an mir vorbei. Sie sagt dann, dass sie auf der B-Allee einen anderen Meadow Fresh-Verkäufer das Selbe gefragt und man ihr dort etwas anderes erzählt habe und dass das Ganze nur ein mieser Trick und Kundenfang wäre. Sie suche schließlich eine

Antwort. Ich weise sie darauf hin, dass sie dann auch nur einen

Verkäufer fragen darf, wenn sie nur eine Antwort haben will. Sie droht daraufhin, sie würde sich bei Meadow Fresh beschweren. Die Verkäufer sollten einheitliche und genormte Antworten von der Geschäftsleitung vorgeschrieben bekommen, zumindest wenn es um die großen und wichtigen Fragen des Lebens geht. Schließlich habe Meadow Fresh eine Verantwortung gegenüber den Kunden. Ich bestätige das. Und ob ich nicht damit aufhören kann, ständig in das alberne Megaphon zu sprechen. Sie nennt mein Megaphon "albern". Ich schüttle deshalb nur wortlos den Kopf. Genormte Antworten haben auch einige der Verkäufer bei der letzten Mitarbeiterbesprechung vorgeschlagen, da dies offensichtlich der überwiegende Kundenwille ist und es die Arbeit erleichtern würde. Die Geschäftsleitung hat aber entschieden abgelehnt. Die Produkte von Meadow Fresh stehen für Authen- tizität und Ehrlichkeit, so wurden wir belehrt. Wer zwei oder mehr Verkäufern die selbe Frage stelle, müsse sich je nach Frage unter Umständen auch unterschiedliche Antwor-ten gefallen lassen. Ich gebe die Aussage des Projektleiters fast wörtlich an die Frau mit dem komatösen Vater weiter und sie rauscht ohne ein weiteres Wort davon. Den Holzstiel vom Eis wirft sie einfach auf die Straße. Ich hätte ihr eine Synthese meiner und der Antwort des Kollegen geben können, wenn sie mir dessen Antwort mitgeteilt und ein weiteres Eis gekauft hätte, aber sie schien bedient zu sein und ich muss befürchten, dass sie bei ihrem nächsten Gefrierguteinkauf auf die konkurrierenden Glasser-Produkte zurück greifen wird.

Heute ist es unter 20 Grad und deshalb kaufen nur wenige Leute Eis. Ich gehe meine Strecke bewusst langsam ab, was mir relativ schwer fällt. Schließlich bin ich im Dienst und nicht auf einem Spaziergang. Aber ich muss Zeit schinden, wenn keiner kauft. Ich darf nicht zu früh wieder im Kühlhaus sein. Ich muss auf der Straße präsent sein.
Nach der Frau vom Z-Platz habe ich erst auf der Y-Straße wieder zwei Teenager als Kunden. Sie lutschen abwechselnd an ihrem Erdbeereis und fragen deshalb beide gleichzeitig. Ihre Fragen schießen hervor wie aus einem Maschinengewehr, ich komme kaum mit den Antworten nach und halte die ganze Zeit die "Sprechen"-Taste des Megaphons gedrückt. Es sind typische Teenager-Fragen, wie ich sie schon endlos oft gehört habe:
Sie fragen, was der Tod ist...
"Die Möglichkeitsform des Lebens, also das je eigene Nicht-sein-Können", sage ich.
... und ob das Leben einen Sinn hat.
"Nicht einen einzigen, sondern nur viele kleine," sage ich. Und da die eine von beiden verständnislos schaut, füge ich ungefragt hinzu: "Sinn ist eine Relation zwischen ihrer eigenen Existenz und etwas Anderem. Einen Sinn haben heißt: In Bezug stehen zu etwas, eine innere Dimension haben, die dem Menschen dadurch zuletzt einen Selbstbezug und ein Selbst-sein ermöglicht."
Sie fragen, wie sich das Sterben anfühlt... "Wie einschlafen, nur dass man nicht mehr aufwacht", sage ich.
... und woran man die wahre Liebe erkennt.
"Daran, dass man sich in seiner Liebe zu der geliebten Person genügt, unabhängig davon, ob man selbst von ihr geliebt wird," sage ich.
Sie fragen, ob man die Dinge erkennen kann, wie sie wirklich und an sich sind.
"Ja," sage ich, "in den sich im Bewusstsein vollziehenden Selbstgegebenheiten."
... ob es ein Ziel für die Welt und das Leben gibt.
"Nein," sage ich, "es dreht sich immer im Kreis."
Sie fragen, ob es Gott gibt...
"Ja," sage ich. "In dem Rahmen, in dem Gott ein Gegenstand ihrer eigenen Vorstellung ist, ist er wirklich und hat einen Bedeutungshorizont."
... und wie ein Geräusch klingt, das niemand hört.
"Gar nicht, da es nicht existiert," sage ich.
Sie scheinen über meine Antworten kaum nachzudenken, so als wäre es ihnen gleichgültig, was ich sage, solange ich nur irgend etwas sage. Zum Schluss läuft ihnen geschmolzenes Erdbeereis über die Finger, und sie bestehen darauf, dass das Ablecken der Reste mit zur Fragezeit zählt. Ich lasse mich darauf ein, denn Kundenzufriedenheit und Kundenbindung sind oberstes Gebot bei Meadow Fresh. Auch habe ich heute vermutlich schon einen Kunden verloren. Jene Frau vom Z-Platz, der ich nicht schnell genug verständlich machen konnte, dass die Entscheidung, vor der sie steht, nur sie persönlich fordert und niemals delegierbar ist, selbst wenn alle 16 Eisverkäufer ihr übereinstimmend dasselbe sagen würden. Ich beantworte also noch kurz die Frage des einen Mädchens, ob ihre Existenz und ihre Person einzigartig sind. Danach schnarre ich entschieden in mein Megaphon, dass sie jetzt erst ein neues Eis kaufen müssen, wenn sie weitere Fragen haben. Doch plötzlich schweigen beide und haben anscheinend nichts mehr zu fragen, und ich gehe weg.

An der Ecke zur X-Straße bleibe ich stehen und warte. Hier habe ich gestern einem etwa 10-jährigen Jungen ein Schokoeis verkauft. Er hat mich gefragt, ob ich daran glaube, dass es Außerirdische gibt. Ich habe mit Ja geantwortet. Er hat gefragt, ob ich auch glaube, dass schon welche von ihnen auf der Erde sind. Ich habe wieder Ja gesagt. Er wollte wissen, wie ich darauf komme. Ich habe ihm gesagt, dass ich einer von denen bin. Da wurde er wütend und schimpfte, dass in der Werbung der Mann von Meadow Fresh gesagt hat, dass ich nicht lügen und die Kunden nicht verarschen dürfe. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht tue. Er wollte dann wissen, von welcher Rasse ich bin und ich sagte ihm, dass ich ein Elohim bin. Gerade als er fragte, von wo und vor allem wie ich auf die Erde gekommen bin und warum ich wie ein Mensch aussehe, rutschte der fast völlig geschmolzene Rest seines Eises vom Holzstiel hinab und klatschte auf den Bürgersteig. "Mist!", rief er und "Morgen komme ich wieder, dann habe ich noch mal Geld!" und dann verschwand er. Ich wartete heute fast eine halbe Stunde an der besagten Ecke auf ihn, das gehört zum Kundendienst. Aber er kam nicht und ich ging schließlich weiter. Wahrscheinlich hat sein Taschengeld nicht für ein weiteres überteuertes Eis gereicht. Oder es hat ihm jemand ausgeredet, beim Meadow Fresh-Straßenvertrieb zu kaufen. Es sind nicht wenige, die uns kritisch gegenüber stehen.

Nicht nur, dass der W-Park die schönste Station auf meiner Strecke ist, auch treffe ich hier auf meine einzige Stammkundin, die sich zudem noch in höchst untypischer Weise von meiner übrigen Kundschaft abhebt. Sie ist noch ziemlich jung, hat aber trotzdem noch nie etwas gefragt. Ihre Bestellung ist stets hinreichend präzise, so dass ich noch nie nach der gewünschten Sorte fragen musste. Sie hat in diesem Sommer insgesamt 8-mal Erdbeer, 2-mal Vanille und 1-mal Schoko gekauft. Ihre letzten 5 Käufe waren alles Erdbeer. Ich muss keine Preise nennen. Sie weiß, wie viel es kostet, und legt das Geld sofort passend auf den Bauchladen. Man muss passend zahlen, denn ich habe kein Wechselgeld. Sie sitzt dann auf einer Bank und isst schweigend ihr Eis. Manchmal setze ich mich neben sie und schaue ihr zu, bereit zuzuhören, falls sie mir etwas erzählen will, und bereit zu antworten, falls sie mich etwas fragt, den Finger am "Sprechen"-Knopf des Megaphons wie am Abzug einer Waffe. Doch sie fragt niemals und sie sagt überhaupt nichts. Sie schaut den Vögeln zu. Sobald sie mit dem Eis fertig ist, entferne ich mich umgehend.
Ich habe noch nie zu ihr gesprochen. Noch nie ein einziges Wort. Ich bin gehalten, den Kunden nicht zu belästigen, wenn er nichts von mir will. Sie könnte mir sagen, dass ich mich vorzeitig entfernen soll, da sie keine Fragen hat und auch nicht will, dass ich ihr zuhöre. Sie sagt nichts dergleichen. Sie kauft das Eis und während sie es isst, wartet sie ab, bis ich von selbst wieder verschwinde. Die Eisverkäufer wissen Vieles, und sie weiß, dass ich Vieles weiß. Meadow Fresh macht regelmäßig damit Werbung. Das Eis ist für seine Größe eigentlich zu teuer. Wer trotzdem eines kauft, will mehr als nur das Eis, er will etwas von mir. Warum will sie nichts wissen, frage ich mich ernsthaft. Sie kauft das Eis allem Anschein nach nur, weil sie es gerne mag.
Als sie heute auf mich zukommt, greife ich schon nach einem Erdbeereis, bevor sie etwas gesagt hat. Auf Grund der mir aus ihren letzten 11 Käufen vorliegenden Grundgesamtheit an Daten beträgt der Erwartungswert, dass sie heute Erdbeer nimmt, 72,7%. Wenn man die zeitlich weiter zurück liegenden Käufe geringer gewichtet, sogar noch höher. Zwar kann man argumen- tieren, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Erdbeer- eiskauf nur 33,3% beträgt, da es genau 3 Eissorten gibt, von denen sie – als ein freies Wesen – prinzipiell jede bestellen kann. Aber wäre ich da nicht ein gedächtnisloses Wesen, wenn ich so dächte? Immer wenn man mich etwas fragt, das ich nicht exakt beantworten kann, greife ich auf Erfahrungen zurück und berechne daraus einen Erwartungswert. Deshalb arbeite ich in diesem Job bei Meadow Fresh. Und ich rechne jedesmal wieder neu. Das bin ich meiner Kundschaft schuldig. Ich möchte nicht den Fehler begehen, Monotonie als Notwendigkeit fehlzu- interpretieren.
Auch heute nimmt sie übrigens wieder Erdbeereis. Ich habe diesen kleinen Teil ihres Wesens errechnet, auch ohne, dass sie ihn mir mitgeteilt hat: Sie bevorzugt Erdbeereis. Sie hat ihre Wahl getroffen. Du bist, was du wählst, Erdbeereis-Frau. Sie müsste wissen, dass ich das über sie weiß. Sie könnte also beim nächsten Mal, wenn sie wieder Erdbeer haben will, einfach sagen "Wie üblich." Sie wäre gewiss, dass sie ohne jede Rückfrage Erdbeer erhalten würde. Aber sie versteht mich nicht und sie will wohl auch nicht, dass ich sie durch das Megaphon bitte, ihre Bestellung zu konkretisieren, so wie ich es tue, wenn jemand einfach nur "ein Eis" verlangt. Sie will scheinbar kein Risiko eingehen, dass ich genötigt wäre, mit ihr zu sprechen. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, warum sie nichts fragt. Vielleicht weil sie nichts interessiert und ihr alles egal ist. Aber das möchte ich nicht gern glauben. Vielleicht weil sie die Antworten schon kennt. Das gefiele mir besser, denn dann wäre sie mir ein bisschen ähnlich. Aber müsste sie dann nicht auch meine Denkweise verstehen und ihre Erdbeereisbestellung mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen als ein "Wie üblich" aufgeben und mir vielleicht noch zuzwinkern, so wie zwei, die etwas wissen, was nur wenige andere wissen, nämlich dass sie am liebsten Erdbeereis mag, während sie es jedem anderen Verkäufer erst erklären müsste?
So scheint es denn doch, als seien wir von grundverschiedener Rasse, und deshalb ist es wohl auch das Beste, dass ich schweige. Jedes Wort wäre ein Missverständnis. Sie duldet mich neben sich auf der Bank, weil ich für sie nun einmal zum Eisessen dazu gehöre, so wie der Holzstiel, den sie jedesmal sorgsam in einen Abfalleimer und nicht wie die Vielzahl meiner Kunden einfach auf die Straße wirft. Sie zahlt klaglos einen Preis für ein Eis, das man in jedem PNT-Supermarkt für ein Viertel des Geldes bekommen könnte und versteht nicht, dass ich es bin, der den Mehrpreis rechtfertigt. Zumindest glaubt mein Arbeitgeber daran, dass ich das tue. Vielleicht schmeckt sie einen signifikanten Unterschied zwischen Meadow Fresh-Eis und den Konkurrenzprodukten heraus und kauft deshalb bei mir. Ich selbst schmecke keinen Unterschied. Heute ist sie in Eile oder ihr ist kalt auf der Bank, denn sie verlässt den Park noch vor mir. Über zwei Drittel meines Weges habe ich jetzt schon hinter mir – für heute.

Am Ende der V-Straße verkaufe ich ein Schokoeis. Der Kunde ist entweder angetrunken oder geistig verwirrt und stellt eine Reihe von konfusen Fragen über den Urknall, Raum und Zeit und das Ende der Welt. Ich versuche die Fragen zu differenzieren und erläutere ihm dann auf gut Glück, da ich nicht einordnen kann, was er genau wissen will, das ewige Ausdehnen und Zusammenfallen des Universums, unendlich viele Urknalle, die es schon gegeben hat und noch geben wird, und die daraus resultierende ewige Wiederkehr des Gleichen, den Zyklus als die Bedingung für die Ewigkeit der Zeit in einem Universum endlicher möglicher Zustände. Er setzt sich an eine Hauswand und sieht verständnislos zu mir auf, so wie er es schon unendlich oft getan hat und auch immer wieder tun wird – bis in alle Ewigkeit, denn er hat seine wenigen Möglichkeiten bereits aufgebraucht. Er hätte das Geld für das Eis wohl nutzbringender anlegen können, aber in einigen Milliarden Jahren mehr oder weniger wird er wieder welches haben. Und er wird es wieder an mich verschwenden.
Kaum habe ich ihn verlassen, kommt noch eine Frau, auch in der V-Straße, Erdbeereis. Sie will wissen, was die größte Gefahr für den Menschen und seinen Fortbestand ist und wie man sich davor schützen kann. Ich erkläre ihr, dass sie ganz unbesorgt sein kann und sie starrt wie benommen auf meinen Bauchladen und dann lacht sie lauthals heraus, während ihr das Eis in der Hand wegschmilzt. Ich verlasse die V-Straße, als ihre Zeit abgelaufen ist.

Mein Arbeitstag ist jetzt vorbei und ich gehe zurück zum Kühlhaus. Der Tag war nicht so schlecht wie gestern, aber auch nicht wirklich gut. Bald ist Herbstanfang und das heißt, dass die Eissaison für dieses Jahr fast vorüber ist. Schon jetzt werden die Tage merklich kühler. Das Geschäft lohnt sich für Meadow Fresh kaum noch. Gestern abend hatte ich noch 14 Eis übrig, nachdem ich schon zwei Stück selber gegessen habe. Der Rest muss weggeworfen werden, da angetautes Eis wegen der Salmonellengefahr nicht wieder eingefroren werden darf. Man hat mir bereits mitgeteilt, dass jetzt jeden Tag Schluss sein kann mit dem Straßenverkauf, man will nur noch die letzten sonnigen Tage ausnutzen, und dann kann ich mich erst wieder im nächsten Frühjahr um den Verkäuferjob bewerben. Ich habe schon vorgeschlagen, im Winter mit dem selben Vertriebskonzept Maronen oder heißen Kaffee anzubieten, und ich hätte kein Problem damit, auch im Winter draußen zu verkaufen. Aber Meadow Fresh produziert ausschließlich Tiefkühlprodukte und will sich auch in Zukunft nur auf dieses lukrative Geschäftsfeld konzentrieren und so vertröstet man mich auf das nächste Jahr. Bald schon ist es wieder soweit, sagen sie und in allem höre ich das Wort "Ewigkeit" heraus.
Ich werde also in mein provisorisches Zuhause gehen – denn im Kühlhaus kann ich nicht bleiben – und auf den nächsten Frühling warten und den übernächsten und auch noch einen weiteren. "Frühling", so nenne ich für mich übrigens jede Phase der Ausdehnung des Universums, im "Herbst" hingegen zieht es sich wieder zusammen, und daran erinnern mich die Kälte, die absterbenden Blätter und die sich ausbreitende Dunkelheit jedesmal wieder. Ich hatte zu Anfang noch etwas vergessen zu erwähnen, denn es sind immer 13 Attribute, die uns auszeichnen: Ich bin geduldig.

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Tag der Veröffentlichung: 14.12.2008

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