Aus gebildeten Kreisen schlägt Menschen, die ihre Sätze mit „Im Grunde genommen“ oder „Wie gesagt“ beginnen, oft unverhohlene Verachtung entgegen. Aber selbst wer solche Floskeln meidet, erlebt im gesellschaftlichen Umgang manchmal Situationen, wo sich ein bislang freundlich dreinschauendes Gegenüber mit einem Gesichtsausdruck von ihm abwendet, den man nur als angewidert bezeichnen kann. Mir passiert es zum Beispiel dann, wenn ich auf Nachfrage gestehe, den Beruf eines Parapsychologen auszuüben. Der Versuchung, dafür entschuldigend ein abgebrochenes Soziologiestudium ins Feld zu führen, erliege ich nur noch selten. Vielleicht auch deshalb, weil ich heute weiß, dass ein akademisches Diplom meine Hinwendung zum Übernatürlichen höchstens verzögert, nicht aber verhindert hätte. Der Weg dorthin, wo zugegebenermaßen auch Scharen von Beutelschneidern und Scharlatanen ihr Unwesen treiben, war in meinem Fall vorgezeichnet. Nicht Verlegenheit gab den Ausschlag, sondern ein starker innerer Antrieb, in dessen Zusammenhang Worte wie Auserwähltheit oder Berufung nicht zu hoch gegriffen scheinen.
Ich muss dies vorausschicken, damit Sie das, wovon ich hier wahrheitsgetreu Zeugnis ablegen will, nicht auf die leichte Schulter nehmen, es als bloßes Hirngespenst abtun. Es besteht Grund zu der Annahme, dass das, worin ich aufgrund meiner Tätigkeit verwickelt wurde, Sie womöglich weit direkter und persönlicher betrifft, als den Verwickelten selbst. Dafür sprechen jedenfalls die Statistiken. Denn während nur wenige Bundesbürger je absichtlich die Nähe von Dämonen und ruhelosem Gesindel der Sorte Melmoth (dem Wanderer) suchen, abgesehen zwischen den Deckeln eines Bestsellers, so zieht es doch die meisten, von Zeit zu Zeit, in fremde Länder und kaum einer scheut sich dafür die Dienste von Luftfahrtslinien in Anspruch zu nehmen. Allerorten ungebrochene Reiselust, man liebt den Flugverkehr, sich zwei- oder dreimal im Jahr auf große Fahrt zu begeben gilt als Statussymbol und je höher die dabei erreichte Gipfelhöhe und je unausprechlicher der Name des Zielflughafens, desto besser lässt es sich später renommieren.
So will es jedenfalls scheinen, wobei man leicht vergisst, dass sich nicht jeder in einem Flieger so geborgen fühlt wie Imelda Marcos in einem Schuhgeschäft. Nehmen Sie mich, lediglich zweimal bestieg ich ein solches Gefährt und nach meinem jüngsten Erfahrungen (von denen hier die Rede sein soll) glaube ich, damit gar nicht so falsch gelegen zu haben, die erdnahen Verkehrsträgern zu bevorzugen.
Also, einer mit einer darart ablehnenden Haltung, der zumal als Kaffeesatzleser, Tarotkartenleger und Leuteabzocker verschrien ist, was hat der überhaupt mit der streng physikalischen Gesetzen gehorchenden Luftfahrt zu schaffen? Nun, eigentlich nichts. Zwischen seriöser Esoterik und seriöser Wissenschaft kommt es eher selten zu Kuscheleien. Es gilt als Tatsache, dass sich unter den zahlreichen Stellengesuchen die Airbus jeden Monat veröffentlicht noch keines befand, auf das zu bewerben mir noch der optimistischste Arbeitsamt-Motivationscoach das Porto vorgestreckt hätte. Dabei ist einem ansehnlichen Prozentsatz von uns Parapsycholologen durchaus bewusst, dass Flugzeuge nicht von Engeln durch die Lüfte getragen werden. Nicht ein gutes Karma garantiert die glückliche Landung, sondern hochentwickelte Technik und die Expertise von Piloten und Fluglotsen (ein nicht zu geizig mit Kerosin befüllter Tank spielt gewiss auch eine Rolle).
Trotzdem bekam ich eines Tages einen Anruf von der Flughafenverwaltung. Sie sehen, nicht ich habe mich in wesensfremde Angelegenheiten gemischt, nein, man kam auf mich zu. Für meine Glaubwürdigkeit ein wichtiger Punkt. Zunächst erschien mir die Anfrage nicht außergewöhnlicher als all die anderen, die einem in diesem Gewerbe, hat man die Durststrecke der ersten Jahre erst einmal hinter sich gebracht, und durch Hartnäckigkeit ein gewisses Ansehen erworben, gemeinhin erreichen. Bankiers, Politiker, Schauspieler, Sportler, darunter viel Prominenz, suchen meinen Rat und erwarten, wenn schon nicht immer den spirituellen Volltreffen, so doch zumindest Diskretion. Deshalb halte ich mich hier mit Namen bedeckt, wie ich auch im Verlauf der kommenden Schilderungen nicht aus dem Nähkästchen plaudern werde. Ihnen wäre natürlich durch vollumfängliche Aufklärung noch mehr gedient, aber ich bin durch Versprechen gebunden.
Nennen wir den Anrufer also Herrn Hartmann von der Flughafenleitung, Abteilung Risikomanagement, Absolvent einer Kaderschmiede für Führungskräfte. Da viele meiner Kunden ihre Dienstzeiten nutzen, um mit mir in Kontakt zu treten, maß ich dem Umstand seiner beruflichen Orientierung keine Bedeutung bei. Vom Ein-Euro-Jobber bis zum Operndirigenten haben wir doch alle dieselben Probleme, Stand und soziale Stellung sind nebensächlich. Jedoch, erklärte mit Hartmann etwas befangen (befangene Kunden sind für mich nicht ungewöhnlich), sein Anruf hinge unmittelbar mit dem Flughafenbetrieb zusammen, sei nicht von privater Natur und meine Anwesenheit am Ort des Geschehens erwünscht.
„Können wir uns treffen, am besten noch heute? Spesen und Kosten werden erstattet.“
Während ich durch meinen Terminkalender blätterte, erkundigte er sich, ob Hausbesuche zu den Gepflogenheiten meiner Zunft gehörten. Es gäbe keine Zunft, jeder der sich professionell mit dem Übernatürlichen beschäftige sei gewissermaßen ein Solokünstler mit durchaus unterschiedlichem Virtuositätsgrad und individueller Gebührenordnung, erwiderte ich. Und ja, wenn es die Lage erfordere, gäbe ich auch Auswärtsvorstellungen.
„Die Lage erfordert es leider nur zu sehr“, hieß es.
Moderne Flughafenarchitekturen (gibt es auch eine klassische?) deprimieren mich. So wie in Kindheitstagen Kaufhäuser ohne angeschlossene Spielwarenabteilungen. Überhaupt Flughäfen! Das Geschubse, Gedränge, Gerufe, die ekelhafte Betriebsamkeit in diesen schicken, weitläufigen Hallen - all das dient doch nur dem einen Zweck, der Erzeugung einer Illusion nicht vorhandener Sinnhaftigkeit. Wie Tempel, deren augenblendende Pracht darüber hinwegtäuschen soll, dass den angehimmelten Götzen eigentlich schon ein archaisches Blutopfer vollauf zufrieden stellen würde, und er, priesen ihn seine Adepten mit der Kunstfertigkeit einer Bachschen Kantate, dies wohl gar nicht so richtig zu schätzen wüsste. Religionen, an deren Teilnahme sich keine höheren Weihen knüpfen, sind purer Aberglaube. Weshalb ich mich ungern an Tankstellen, in Banken oder oben genannten Protzbauten aufhalte. Ich finde es bezeichnend, dass sich in unserer rein auf Kostenreduktion und Profitmaximierung ausgerichteten Zeit diese drei Branchen immer noch so abstoßend selbstzufrieden und pompös darstellen. Vergleichen Sie mal Ihren Discounter um die Ecke mit einer frisch renovierten Bankfiliale und Sie wissen was ich meine.
Ich stieg aus dem Taxi und eine Busfuhre Abreisewilliger spülte mich ins Foyer. Wohin auch sonst? Ein Flughafen besteht ja nur aus Foyer. Zugegeben, ein gigantisch großes, wie eine aufgeblasene Ouvertüre, auf die nie ein ausgeklügelter Hauptsatz folgt. Sie werden einwenden, den gibt es wohl, oben in der Luft, im klimatisierten Ferienflieger. Nein, sage ich, das ist doch schon das Finale. Im Übrigen ein ziemlich zutreffender Vergleich, nicht nur in allegorischer Hinsicht berechtigt, wie ich bereits ahnte, als ich einen zerknirschten Herrn im Anzug mit meinem Namensschild vor der Brust entdeckte. Halten Sie mir zunächst zugute, dass ein Mann wie ich über gewisse Vorahnungen verfügt, ansonsten er wohl einen anderen Beruf ergriffen hätte.
Es war Herr Hartmann höchstselbst, der zu meinem Empfang erschienen war. Er zog mich aus dem Gewimmel und ich merkte, die Zerknirschtheit war nur teilweise seiner Hauptsorge geschuldet. Mehr als das bekümmerte ihn offensichtlich, in seiner Not keinen anderen Ausweg mehr gesehen zu haben, als sich einen Dienstleister des Okkulten ins Boot zu holen. Nun, ich weiß um die Befindlichkeiten meiner Neukunden, richtig freiwillig wendet sich keiner an mich, so läuft das Geschäft nicht. Am Rande sei der Kreis treuer Bestandskunden erwähnt, den ich oft über Jahre hinweg betreue und dies keineswegs zu deren Schaden. Das aber nur nebenbei, Reklame in eigener Sache ist nicht Absicht dieser Niederschrift.
Unser stummer Spaziergang endete in einem Büro, darin zwei weitere, betreten dreinschauende Herren. Einer wurde mir als Präsident der Flughafengesellschaft vorgestellt, der andere lenkte die Geschicke einer populären Fluglinie.
„Hier gehen ziemlich merkwürdige Dinge vor sich“, wurde mir eröffnet.
Eine selbst für meinen Beruf recht schwammige Situationsanalyse.
„Wenn Sie uns erlauben, Sie zu engagieren, brauchen wir vorab die Zusicherung Ihrer absoluten Diskretion.“
Ein vorgefertigtes Schreiben erschien, ich unterzeichnete. Wie sich herausstellte, ging meine Berufung auf die Empfehlung eines Herren aus dem Vorstand einer der oben genannten Gesellschaften zurück. Wahrscheinlich kennen Sie ihn sogar, diesen rührigen Landespolitiker der mein Fürsprecher war. Einfach ein weiterer zufriedener Kunde, sein Name tut nichts zur Sache.
„Alles begann vor einem Vierteljahr“, durfte Herr Hartmann gemäß den hierarchischen Gepflogenheiten mit der Übermittlung der schlechte Botschaft beginnen.
„Aha.“
Einmal möchte ich rechtzeitig angesprochen werden. Gewöhnlich potenzieren sich die Schwierigkeiten mit dem Fortschreiten der Zeit, besonders wenn böse Kräfte am Werke sind. Die unlustigen Mienen und die gesetzte Art, wie man mich in Kenntnis setzte, sprachen eindeutig für das Vorhandensein eben solcher.
„Da kam uns ein kleines Sportflugzeug abhanden. Es verschwand vom Radar, alles deutete auf Absturz hin.“
Ich versuchte etwas Zug in die Sache zu bringen: „Nur dass an der vermeintlichen Absturzstelle kein Wrack zu finden war, gell?“
Verwunderte Blicke wurden ausgetauscht. Ich liebe diesen Moment, wenn die herablassende Art des Schauen wir mal was er zu bieten hat, auch wenn wir uns nicht viel davon versprechen dem ersten Anflug echten Respekts weicht. Dabei wohnte meinem Vorstoß nichts Übersinnliches inne. Lediglich ein Resultat logischer Überlegung. Außerdem zieht man bei gewöhnlichen Bruchlandungen keinen wie mich hinzu, dafür gibt es schließlich kundigere Stellen.
„Ja, genauso war es. Das Flugzeug hatte sich einfach in Luft aufgelöst, so der Anschein. Aber es kommt noch besser“, betrachtete mich Herr Hartmann erwartungsvoll. Doch diesmal lächelte ich nur stumm zurück. Ich gestehe, auf eine leicht hochmütige Art, so als ob ich längst wüsste auf was das hinauslief. Das wusste ich zwar nicht, aber ich hatte eben mit meiner Arbeit begonnen, zu der nicht zuletzt die hohe Kunst der Selbstinszenierung gehört. Wenn Sie das verwerflich finden, dann gebe ich zu bedenken, dass ich mir für meine Konsultationen keinen gestärkten Weißkittel überwerfe, mich nicht fortwährend in lateinischen Fachtermini ergehe und auch nicht, sobald die Schilderung der Symptome die dünne Schicht echter Erkenntnis durchdringt, als Befund die Psychosomatik bemühe. Auch empfehle ich nie die Überweisung an einen Spezialisten. Ich selber bin der Spezialist, wenn nicht sofort, dann setze ich alles daran, es im Lauf der Behandlung zu werden.
„Es kam also noch besser?“ gab ich Hartmanns ins Stocken geratene Mitteilungsbedürnis einen Schubs.
„Ähm, genau. Das Flugzeug tauchte einige Stunden später wieder auf. Plötzlich war es wieder auf dem Schirm, an derselben Stelle wo wir es verloren hatten. Zu diesem Zeitpunkt hätte sein Treibstoff allerdings schon längst aufgebraucht sein müssen.“
Ich erkundigte mich danach, wie viel Zeit exakt zwischen Verschwinden und Wiederauftauchen verstrichen sei.
„Etwa fünf Stunden.“
Ich müsste es aber genau wissen. Jetzt glauben Sie wahrscheinlich, meine Pedanterie in diesem Punkt wäre nur auch wieder so ein Winkelzug, um eine gewisse Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen, dem Kunden sozusagen etwas für sein Geld zu bieten. Aber hier trügt der Schein. Zwar von Haus aus kein Zahlenmensch, schätze ich die Zahlenmystik als komplementäres Hilfsmittel durchaus. Oft liefert sie mir entscheidende Hinweise, wofür es aber einer verlässlichen Datenbasis bedarf.
„Das lässt sich alles feststellen“, konnte der Flughafenpräsident mit einem Blick zu seinem Untergebenen endlich auch mal aktiv eingreifen, zudem in der ihm vertrauten Art des Delegierens.
„Natürlich, kein Problem“, nickte Hartmann.
Ich zückte mein Notizbuch und die Stimmung gewann an Professionalität.
„Dabei ist es natürlich nicht geblieben.“
Nein, dabei sei es leider nicht geblieben, das sei nur der Anfang gewesen. In immer kürzeren Abständen (die genauen Daten der Intervalle würden mir selbstverständlich zur Verfügung gestellt) seien immer wieder Flugzeuge verschwunden, zunächst auch wieder aufgetaucht und dabei hätte ein gewisser Steigerungsprozess in puncto Flugzeugtyp und Ladekapazität stattgefunden.
„Waren es erst Sportflugzeuge verschwand eines Tages plötzlich ein Learjet der ...“
Ein kurzes, aber heftiges Klopfen schreckte uns auf. Es folgte der Auftritt eines weiteren dunklen Anzugs. Wie bald klar wurde, steckte darin der Repräsentant einer Versicherung, nennen wir ihn Herr Kaiser (kleiner Scherz). Wortreich für seine Verspätung Entschuldigungen ausstoßend, kühlte sich der ironischer Unterton des Neuzugangs am Anblick der ernsten Gesichter. Offensichtlich hatte sich jener erst zuletzt, und dann auch nur widerstrebend, doch noch dazu überwunden, an dieser für jeden aufgeklärten Menschen so lächerlichen Zusammenkunft teilzunehmen. Die sachliche Arbeitsatmosphäre, in die er jetzt platzte, belehrte ihn vielleicht nicht eines besseren, aber dämpfte doch merklich seine Arroganz. Ohne auf seine Jahrmarktsgesten einzugehen, wies man ihm einen Platz zu.
„Herr Hartmann, fahren Sie fort“, befahl der Flughafenpräsident. Während dieser tat, wie man ihn hieß, beobachtete ich, wie die beifallsheischenden Blicke von Herrn Kaiser unerwidert blieben. Die Aufmerksamkeit der Chefetage des Luftverkehrs musste ich im Moment mit niemandem teilen.
„Dieser Learjet ist bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgetaucht, mit ihm der gesamte Vorstand eines erfolgreichen DAX-Unternehmens.“
„Zum Glück ein Privatflugzeug“, meldete sich der Chef der Fluglinie erstmals zu Wort.
„Aber hochversichert“, jammerte der Versicherungsmann.
Seit dem Learjet wäre es zu weiteren Abgängen gekommen. Abgänge, die diesmal auch den Fluglinienchef direkt betrafen und zwar in Form einer empfindlichen Einbuße seines aktiven Flugzeugbestands, denn keines der teuren Investitionsgüter sei bislang in einen Hangar zurückgekehrt. In der Zwischenzeit, gestand Herr Hartmann als trüge er persönlich daran Schuld, wäre fast jede Woche der Verlust eines Fliegers zu bedauern.
„Immer nur von unserer Gesellschaft, die Konkurrenz bleibt ungeschoren“, empörte sich der Linienchef.
Ich sah aus dem Fenster, wo ein halbes Dutzend Maschinen in der für seine Gesellschaft typischen Lackierung in der Sonne glänzten.
„Und keine Idee, wo die abgeblieben sein könnten?“
Ein kollektives Nein erklang. Auf diese Frage hatte man hier schon oft und in unbefriedigender Weise geantwortet.
„Das geht schon drei Monate so?“
„Ja“, hörte es sich ebenso überdrüssig an.
Natürlich seien sofort alle zuständigen staatlichen Stellen eingeschaltet worden. Ohne Absturz und Wrack hätte sich die Luftfahrtbehörde aber für nicht zuständig erklärt.
„Beobachten und abwarten, mehr kann man dort im Moment nicht tun.“
Meine Gesprächspartner hatten darauf selbst die Initiative ergriffen. Es wurden diverse Fachleute ins Vertrauen gezogen, zudem die Meinung eines UFO-Forschers eingeholt. Ohne Resultat. Abgesehen vom UFO-Forscher, der mit einer ganzen Latte obskurer Erklärungsversuche aufwartete (weshalb man sich von ihm auch wieder getrennt habe), blieben dem Kompetenzteam die Vorgänge rätselhaft. Phänomene dieser Art seien nie zuvor beobachtet worden, so der Tenor.
Ich nahm zur Kenntnis, offenbar als Letzter zu dem illustren Expertenkreis gestoßen zu sein. Statt deswegen Kränkung zu empfinden, kam mir plötzlich ein ähnlich gelagerten Fall aus meiner Praxis in den Sinn. Damals war es um Barnabas gegangen, einem entwichenen Kater. Der war erst nach sechs Wochen wieder aufgetaucht und ich bilde mir nicht ein, mein professioneller Einsatz hätte daran maßgeblichen Anteil.
Neben allen augenfälligen Unterschieden bemerkte ich noch ein weiteres Detail, in dem beide Fälle signifikant voneinander abwichen: Barnabas war vermisst worden. Ich sehe noch heute die unglücklichen Augen des kleinen Mädchens, als es zusammen mit seinem Vater meine Sprechstunde besuchte. Der Gesichtspunkt des großen persönlichen Verlustes war hier noch nicht zur Sprache gekommen, was ich umgehend nachholte.
„Das hat uns selbst überrascht“, senkte Hartmann die Stimme, „sowohl in der Geschäftsleitung des Dax-Unternehmens, als auch bei den Angehörigen der abgängigen Linienflüge, reagiert man seltsam gelassen. Niemand scheint die Verschwundenen wirklich zu vermissen.“
„Für uns natürlich ein großes Glück“, trat der Präsident gar nicht peinlich berührt wieder in Erscheinung. Und Hartmann fügte an: „Dadurch drang auch noch nichts in die Öffentlichkeit, außerdem behandeln wir die Angelegenheit mit größter Diskretion, mit einem Medienrummel wäre ja auch keinem gedient.“
„Sollte vielleicht nicht besser der reguläre Betrieb bis zur Aufklärung eingestellt werden?“ meldete sich bei mir die Vernunft. Wofür ich nur unverständige Blicke erntete.
Ich solle mir doch mal die ökonomischen Folgen vergegenwärtigen, hieß es. Schließlich ginge es um die Erfüllung von Vertragspflichten, den Erhalt von Arbeitsplätzen und dergleichen Hindernisse mehr. Den Flughafenbetrieb einzustellen, wenngleich nur vorübergehend, wäre schlichtweg unmöglich, weil unverantwortlich.
„Außerdem“, sagte Hartmann, „solange es weder Wracks noch Leichen gibt, gehen wir und die offiziellen Stellen davon aus, dass sich sowohl Personal als auch Material zu gegebener Zeit wieder einfinden werden. Bis dahin betrachten wir die Flüge als verspätet.“
„Genau“, grinste Herr Kaiser von der Versicherung. Woraus ich schloss, dass eine entsprechende Klausel seine Gesellschaft bislang vor Regressansprüchen bewahrte.
„Aber ein kompletter Vorstand? Das reißt doch eine Lücke, da gibt es doch Nachfragen?“
Merkwürdig unaufgeregt wischte man auch auf diesen Einwand beiseite.
„Ach, wissen Sie, da ist alles geregelt. Die werden als auf unbestimmte Zeit beurlaubt geführt, die Gehälter werden weiter bezahlt und damit kommen keine Klagen“, sagte der Präsident.
„Ja, und der menschliche Aspekt?“
Der Präsident schaute mich an, als hätte er darüber gerade vollumfänglich Auskunft erteilt.
Herr Hartmann beendete das Schweigen: „Wissen Sie, diese Konzerne verfügen über eine dicke Personaldecke, zumindest in den oberen Kadern. Die haben längst Ersatz.“
Ich wollte nicht länger der Spielverderber sein und beließ es dabei. Mein Einlenken bestärkte die Herren darin, mir jetzt die alles entscheidende Frage zu stellen: „Was halten Sie davon?“
Auch in meinem Beruf betritt man nicht ständig Neuland. Mit den Jahren wiederholen sich die Fälle: Von Geisterhand bewegte Gegenstände, hartnäckig verweigerte Liebesgunst, abhanden gekommenes Geschäftsglück und dergleichen Malaisen mehr. Vieles, das Meiste, durchaus mit einem absolut irdischen Hintergrund. Oft reichen Menschenkenntnis, Psychologie oder Einsichten in die natürlichen Verfallsprozesse von Bausubstanz, um dem Kunden Linderung zu verschaffen. Hier war ich jedoch auf etwas gestoßen, wofür die bewährten Routinen nicht mehr taugen würden. Ich fühlte mich vom Hauch des Schicksalhaften angeweht und war mir plötzlich bewusst, an einer entscheidenden Station in meinem Leben angekommen zu sein: Ich stand vor meinem persönlichen Rubikon.
„Ich würde mich gerne dieser Sache annehmen“, beschloss ich ihn zu überqueren und dabei bewegten mich höchst unterschiedliche Gefühle. Heroische, auf der Selbstsicherheit meiner Berufspraxis fußende, mehr noch empfand ich aber eine seltsam verstörende Kälte, die ich bislang auf das kühl-sachliche Ambiente und die äußerst effektive Klimatisierung der Räume zurückgeführt hatte. Jetzt, umfänglich orientiert, deutete ich das Missbehagen als jenes Grauen, das mir schon früher, wenngleich in minderer Form, in der Ausübung meines Berufes gelegentlich begegnet war. Mächtige Wellen, dunklen Sphären entweichend, die einem ans spirituelle Zwerchfell schlagen und dort ein garstiges Frösteln hinterlassen. So klar und deutlich, dass der Impulsgeber nicht fern sein konnte.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Die Umrisse einer fast greifbaren Vision fransten aus, zurück blieb das Büro mit den vier besorgt dreinschauenden Männern.
„Ich lass uns erst mal Kaffee bringen, wir brauchen alle eine Stärkung“, griff der Präsident zum Telefon.
*
Ausgestattet mit einem exklusive Zugangsrechte garantierenden Pass, fand ich mich tags darauf wieder am Flughafen ein. Hartmann führte mich herum, stellte mich dem Sicherheitspersonal vor und wies dieses an, mich ungestört walten zu lassen. Der Pass war auf einen falschen Namen ausgestellt, meine Funktion angeblich die eines Prozessoptimierers.
Noch etwas ungeübt in der Undercover-Tätigkeit, bemühte ich mich um Überzeugungskraft. Vielleicht mit einem der frühen Stunde geschuldeten Mangel an Souveränität, denn ich spürte trotz der Anwesenheit Hartmanns hartnäckige Vorbehalte bei den Sheriffs. Wer den Beruf des freischaffenden Psychokinetikers ergreift, tut dies, abgesehen von Motiven persönlicher Erwähltheit, auch in dem Wissen seiner erst nachmittags anbrechenden Stunden höchster Leistungsbereitschaft.
Weshalb sich gerade das Erscheinen am Tatort zu ungewohnter Tageszeit manchmal prächtig instrumentalisieren lässt. Es wird behauptet, Einsamkeit und Müdigkeit fördern das Göttliche im Menschen zutage. Wem das zu hochtrabend klingt, wird mit mir zumindest darin übereinstimmen, dass sich bei jedem nach einer zu kurzen Nachtruhe eine gewisse emotionale Dünnhäutigkeit einstellt. Befällt die Meisten lediglich eine nutzlose Orientierungsschwäche, weiß ich dieser Dusseligkeit durchaus etwas abzugewinnen. Für die Erstanamnese bietet sie geradezu ideale Voraussetzungen. Dass man nach außen etwas tollpatschig wirkt, sind dabei unvermeidliche Begleiterscheinungen.
Anders ausgedrückt, je mehr die realen Stimmen von einem abfallen und den Sensationswert von Wellensittichgeplapper annehmen, desto hellhöriger wird das innere Ohr gegenüber dem allgegenwärtigen Flüstern des Spirituellen. Im Idealfall gelingt die Extraktion klarer Botschaften. Dabei stört das Alltägliche nur, warum mir Herr Hartmann mit seiner Geschäftigkeit bald lästig wurde. Nicht weniger ich ihm, eingedenk meiner hartnäckigen Weltabgewandtheit. Nachdem ich zum wiederholten Male zurückblieb, oder dem Bekanntmachen mit einem weiteren Facility-Manager kaum noch Beachtung schenkte, brach er die Führung ab.
„Ich glaube, Sie kommen jetzt alleine zurecht. Bei Fragen rufen Sie mich einfach an“, bekam ich einen Zettel mit einer Telefonnummer ausgehändigt.
„Zu gegebener Zeit werde ich mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen wissen“, sagte ich. Wahrscheinlich war es das technisch Unbestimmte in meiner Ankündigung, das Hartmann zusammenzucken ließ. Einem Psychokinetiker traut man durchaus zu, er bedürfe nicht unbedingt der Dienste von Mobilfunknetzbetreibern, drängt es ihn danach mit einer bestimmten Person in Kontakt zu treten.
Den einmal begonnenen Erkundungsgang setzte sich sodann auf eigene Faust fort. An meiner Brust gut sichtbar der Pass, der den Offiziellen und Zielstrebigen zu verstehen gab, dass es damit seine Richtigkeit hatte. Nicht von ungefähr lenkten mich meine Schritte weg von den Hauptströmen. Wenn von den Fluggästen eine Gefahr ausging, dann höchstens in ästhetischer Hinsicht, dachte ich beim Anblick der bereits in der Tracht der Ankunftsferienparadiese Gewandeten. Das was ich suchte, lag jenseits der Abfertigung, den Wartebereichen und den aufgebrezelten Dutyfreeshops. Somit gelangte ich in von Menschen bevölkerte Zonen, deren Gesichtszüge weder Vorfreude noch Aufregung verrieten oder denen, anders als den Businessreisenden in ihren Boss-Anzügen, nicht der Charme ihrer eigenen Wichtigkeit aus allen Poren blitzte.
Mir begegneten normale Arbeitskräfte und ich spürte die gewohnte Unfrische jahrelangen gemeinsamen Wirkens in öden Tätigkeiten. Je tiefer ich vordrang, desto schwindsüchtiger der Glamourfaktor des Ambientes. Graue Böden, kahle Wände, durchbrochen von Fensterglas, dahinter Großraumbüros und von Zeit zu Zeit Zugänge zu wenig einladenden Erholungsräumen mit summenden Kaffeeautomaten, in deren grünstichigem Neonlicht Mitarbeiter, auch wenn sie Nichtraucher sind, wie schwerstabhängige Suchtkranke wirken. Einen größeren Kontrast zu den Örtlichkeiten mit Kundenverkehr hätte man sich kaum vorstellen können.
Eine weitere Tür schnappte auf als ich mein Kärtlein an den Sensor des davor angebrachten Zeiterfassungsautomaten hielt. Beim Eintreten überkam mich ein seltsames Gefühl. Seltsame Gefühle haben in meinem Beruf einen gewissen Stellenwert.
„Kann ich Ihnen helfen?“ tönte es von einem vorgelagerten Schreibtisch.
Ich verwies auf Hartmann und schüttelte die Hand des Mannes, der darauf wieder auf seinen Stuhl sank.
„Schon wieder Prozesse optimieren?“ stöhnte er.
Ich erfuhr, die Abteilung sei erst neu gebildet worden, als Resultat einer kürzlich durchgeführten betriebswirtschaftlichen Verschlankungsmaßnahme. Mein Blick erfasste ungefähr ein Dutzend, auf engem Raum zusammengepferchter weiblicher Bürokräfte. Einige, der durchweg schon etwas Betagten, hoben argwöhnisch den Kopf, die meisten ließen sich aber durch meine Anwesenheit nicht von ihrer Bildschirmarbeit ablenken. Man erwiderte meine allgemeine Grußadresse mit spürbaren Vorbehalten. Eine Weile ließ ich das Szenario auf mich einwirken, dann, dem Bürovorsteher zunickend, wandte ich mich zum Gehen. Ich hatte genug gesehen.
„Nun“, sagte Hartmann eine halbe Stunde später, „so ungewöhnlich ist das nicht. Der Kostendruck zwingt uns Einsparpotentiale zu nutzen, und gegebenenfalls Umstrukturierungen durchzuführen.“
Da hieße es auch mal Einbußen in Lohn und Qualität des Arbeitsplatzes hinzunehmen, auch für langjährige Mitarbeiter. „Immer noch besser als Entlassungen“, ergänzte er.
Was die Frauen denn davor getan hätten, wollte ich wissen.
„Die Abteilung setzt sich vorwiegend aus ehemaligen Sekretärinnen zusammen.“
„Chefsekretärinnen?“
„Auch das.“
Man gestattete mir Personalakteneinsicht. Infolgedessen verbrachte ich die Mittagspause allein in einem Raum, in dessen Wandschränken sich die Hängeregister bauschten. Davor auf einem Stuhl hin und her rollend, war mir klar, wonach ich suchte.
Jene Dame aus zuletzt besuchtem Büro, beziehungsweise ihre Augen, hatten sich tief in meinem Gedächtnis eingekerbt. In jedem Beruf stellt sich über kurz oder lang eine Haltung ein, die man als spöttische Distanz bezeichnen kann. Polizeibeamte sprechen von Kunden, wenn sie Spitzbuben meinen, während es sich bei Einzelhandelsverkäufern umgekehrt verhält. Eigentlich sind das bloße Interna, unschöne Zeichen einer im Verborgenen blühenden Abstumpfungkultur, aber sobald die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, geht gleich das Geschrei los. Wer die Political Correctness gefährdet sieht, soll sich mal fragen, ob er selbst den Dingen, mit denen er berufsbedingt täglich zu tun hat, immer in vorbildlichem Respekt begegnet. Jedenfalls, in dem Moment als ich sie gesehen hatte, machte sich die Zynikerabteilung in meinem Gehirn selbständig und prompt war ein nicht ganz astreiner Kosenamen geboren: Die toten Augen von London.
Auf sie war ich in der Abteilung der ehemaligen Chefsekretärinnen gestoßen, dahin hatte mich mein Instinkt und wie mir schien, die Lotsen der Vorsehung, geführt.
Nicht lange und ich sah sie wieder. Das heißt nicht ganz, denn das Foto in der Personalakte stammte noch aus glücklicheren Tagen. Bernadette K. war darauf jung, gutaussehend und ihre Augen blickten selbstbewusst, ja, fast etwas herrisch. Das Dämonische war darin zwar schon angelegt, aber ob es jemals zum Ausbruch gelangen würde, stand damals noch nicht fest. Dazu bedurfte es dem Hinzufügen weiterer Elemente.
In einem regelrechten Bilderrausch fluteten die Stationen ihres beruflichen Werdegangs an meinem geistigen Auge vorbei. Die späten Siebzigerjahre waren vielversprechend, die Achtziger lösten einiges davon ein, doch im darauffolgenden Jahrzehnt ging es zunehmend bergab. Sowohl mit der körperlichen Attraktivität als auch mit der Karriere, was zahlreich vorhandene Vorgesetztenbeurteilungen, angefertigt anlässlich diverser Standortbestimmungsgespräche, belegten. Zunächst die Mitarbeiterin noch euphorisch preisend, verloren diese mit den Jahren den positiven Beiklang.
Abgefasst waren die frühen Charakterstudien fast ausschließlich von einem mir seit dem Vortag bekannten Herrn, dem heutigen Flughafenpräsidenten. Bis in die Neunziger hatte Frau K. dessen beruflichen Aufstieg begleitet, zuletzt im Rang einer Chefsekretärin, bis sie vor etwa vier Jahren abgelöst worden war. Seitdem mehrmals versetzt, landete sie schließlich in der Abteilung der abgehalfterten Sekretärinnen.
Ich blätterte nach frischen Einträgen, aber für die jüngere Vergangenheit fand sich nur noch wenig Persönliches. Vom früheren Interesse schien sich die Firma nur noch so etwas wie eine spröde Duldung erhalten zu haben. Statt ihren Einsatzwillen zu rühmen, rügten die knappen Notizen jetzt vornehmlich Frau K.s Hang zu ausgedehnten Zigarettenpausen. Der flapsige und orthografisch nicht eben sattelfeste Stil ließ zudem auf Verfasser schließen, die selber kaum einen Bruchteil der Dienstjahre auf dem Buckel hatten, wie die leichtfertig Beurteilte. All das verdichtete sich für mich zu einer höchst stimmigen Gemengelage.
Nachdem ich einige Kopien angefertigt hatte, verließ ich das Archiv kurz vor Ende der Mittagspause. Dem Trubel der Halle entging ich damit nicht. Ich hatte beschlossen, erst mal die Heimstatt zu einem ausgiebigen Mittagsschläfchen aufzusuchen, den darin sicher zahlreich eingewobenen Traumbildern einige Beachtung zukommen zu lassen und die hoffentlich frisch gewonnenen Einsichten mit den Tatsachen aus der Wachwelt abzugleichen. Welche Haltung das Tarot zu all dem einnehmen würde, darauf war ich schon sehr gespannt. Mit Hartmann konnte ich später noch telefonisch Rücksprache halten, im Moment hätte ein Gespräch den angestoßenen Meinungsbildungsprozess nur behindert.
Gerade betrat ich die Schleuse zwischen den automatischen Türen, als ich inmitten der Gesichter eines mich erwartungsvoll anstrahlendes wahrnahm. Ich wusste sofort wer das war, der da sogleich seinen ursprünglichen Kurs änderte und mich zwecks einer spontanen Begrüßung zu verfolgen begann. Auf dem Vorplatz holte er mich ein.
„Wohin so eilig?“
Journalisten wirken immer – wie es in der Filmsprache heißt - gegenbesetzt, so auch Ludwig P. Hängt nicht eine Kamera auffällig an ihnen herunter, jeder könnte ein Pressemensch sein. Vielleicht liegt es daran, dass für diesen Beruf mehr Neigung als Talent vonnöten ist, dass sich jeder allein kraft eines persönlichen Entschlusses von jetzt auf gleich dazu entschließen kann, ein Journalist zu sein. Aber eigentlich gilt das ja für viele Berufe, ganz besonders auch für meinen.
Eine der Funktion entsprechende Physiognomie bildet sich wohl nur bei ausgesprochenen Lehrberufen heraus. Je länger die Ausbildung, desto wahrscheinlicher die Übereinstimmung mit dem landläufigen Klischee. Bischöfe sehen immer aus wie Bischöfe. Ebenso Bundesverfassungsrichter, Apotheker oder Bankiers. Voraussetzung für die sichtbare Standeswürde, dieser déformation professionelle, ist wohl ein entsprechend hoher Ausdifferenzierungsgrad des Tätigkeitsprofils.
Übrigens hatte zu dem Thema unlängst Wassilij, ein Zunftgenosse den ich vor Jahren auf einem Hexen-Symposium kennenlernte, ein paar interessante Gedanken entwickelt, die ich dem geneigten Leser nicht vorenthalten will. Besagtem war beim Durchblättern einer Tageszeitung, indem er die sich zufälligerweise in der aufgeschlagenen Zeitung gegenüberstehenden Fotos miteinander verglich, folgendes aufgefallen: Die Abgelichteten, ein frisch geschnapptes Oberhaupt eines Mafia-Clans und auf der anderen Seite ein hoher Richter, waren sich erstaunlich ähnlich, ja wirkten in ihrer soignierten Würde geradezu austauschbar. Da jener Wasslij an die Existenz von Parallelwelten glaubt, verstieg er sich durch die neuen Erkenntnisse ermuntert zu einer gewagten These. Jedem Menschen, führte er diese aus, wäre in einer anderen, hinter den Schleiern unbekannter Dimensionen gelegenen Realität bzw. Gegenrealität, ein Doppelgänger zur Seite gestellt, mit identischen Charaktereigenschaften, nur dass sich das daraus resultierende Wesen einmal zum Frommen, das andere Mal zum Schaden der Gemeinschaft auswirken würde. Allein der Zufall entschied darüber. Wen man also hierzulande als Ehrenmann rühmt, der muss darauf gefasst sein, in der Parallelwelt über eine Dublette zu verfügen, die dort womöglich zu den zehn meistgesuchten Verbrechern zählt. Er hatte bereits rege in die Richtung geforscht, zur Beweisführung eine Akte mit Bildern von vermeintlichen Paarlingen angelegt.
„Welcher von beiden ist der Polizist und welcher der Kleinkriminelle?“ hielt er sie mir eines Tages hin. Sowohl das eine, als auch das andere Schnauzbartgesicht hätte für die jeweilige Rolle infrage kommen können.
„Siehst du, du kannst es nicht bestimmen“, triumphierte er. Dann wurde ich aufgefordert den Päderasten vom katholischen Geistlichen zu unterscheiden. „Eine schwere Wahl“, musste ich einräumen.
Wir säßen unseren Doppelgängern wie auf einer die kosmischen Grenzen überwindenden Wippe gegenüber. Wobei der jeweils moralisch Gewichtigere den sittlich Leichtfertigen in die Höhe stemmt.
Und wie verhielte es sich mit Personen, die weder in die eine, noch in die andere Richtung auffällig geworden seien, wollte ich wissen.
„Du meinst so Durchschnittstypen wie du einer bist? Na ja, die sind sowohl hier als auch dort Durchschnittstypen, was sonst.“
„Eine interessante Theorie“, gab ich zu bedenken, „aber wohl noch nicht ganz ausgereift.“
Etwas anderes hätte er ja auch gar nicht behauptet, hieß es darauf.
Aber zurück zu Herrn P., dem Mann der beim heiteren Beruferaten wohl ein volles Schweinderl eingesackt hätte, meine Abwesenheit im Fernsehstudio vorausgesetzt. Dank unserer früheren Geschäftsbeziehung wusste ich womit er seine Brötchen verdiente, damals hatte er sich als Journalist eingeführt. Mittlerweile hätte er allerdings genauso gut auf Wohnungsmakler umgesattelt haben können.
„Dass ich Sie ausgerechnet hier antreffe“, sagte er nachdem ich ihm einen guten Tag gewünscht hatte. „Ich dachte, Sie machen sich nichts aus Flugreisen?“
Mir fiel auf, es braucht gar keine Kamera oder Mikrophon, Journalisten erkennt man an der Unverfrorenheit.
„Wie ein Reisender sehen Sie sowieso nicht aus. Oder ist Ihnen womöglich Ihr Gepäck abhanden gekommen?“
So fragt man Leute aus. Wäre ich nur im entferntesten so indiskret, dann könnte ich jetzt erwähnen, dass mich Herr P. damals aus Gründen tiefsten Herzeleids aufsuchte. Im Zustand der Hypnose befreite ich ihn erfolgreich von der Zwangsvorstellung, nur jene Angebetete könne die einzig wahre Lebenspartnerin für ihn darstellen. Worauf die Unzugängliche prompt eine weniger ablehnende Haltung ihm gegenüber einnahm.
Liebe muss ungehindert fließen können. Stellt man sich das Behältnis für das amouröse Medium als Schlauch vor, wird man verstehen, dass ein zu fester Griff den Fluss der Gefühle ins Stocken bringt. Loslassen darf man auch nicht, dann macht er sich selbständig und spritzt unkontrolliert in der Gegend rum. Festhalten, aber nicht abquetschen, lautet die Devise.
Offenbar hatte sie sich P. zu eigen gemacht. Denn einige Monate nach meiner Behandlung meldete er Verzug. Ich bekam eine Einladung zur Hochzeit, der ich aber allein schon aus Gründen der Standesethik nicht Folge leisten konnte.
„Und wie entwickelt sich das Familienleben?“ bekundete ich höfliches Interesse.
„Sehr gut. Würde Ihnen bestimmt auch gut tun“, antwortete er widerlich selbstgefällig, wie es Art ist bei Konvertiten oder jungen Vätern, die glauben, sich dem Gesetz der Arterhaltung gebeugt zu haben, käme einer Erhebung in den Adelsstand gleich.
„Das hört man gern“, wollte ich zur Verabschiedung überleiten, da setzte er unvermittelt ein offizielles Gesicht auf und behauptete: „Hier passieren merkwürdige Dinge, stimmt´s?!“
„Überall passieren merkwürdige Dinge. Einen schönen Tag noch“, entschied ich mich zur Flucht. Anders als es mein sparsames Naturell ursprünglich vorsah, verfügte ich mich umgehend zum nahegelegenen Taxistand.
„Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, was hier vor sich geht“, blieb er mir dicht auf den Fersen.
Ich riss die nächstbeste Droschkentür auf, verschwand im Fond des Wagens und bestürmte den Fahrer, sofort gemäss seiner Bestimmung in Aktion zu treten. Glücklicherweise war der Mann auf Draht. Im Nu befanden wir uns im Verkehrsgewühl.
„Der kann eine ganz schöne Klette sein“, sagte der kraftvoll am Lenkrad Kurbelnde.
„Wie bitte?“
„Na, der Typ, der Sie verfolgt hat. Mich hat der auch schon ausgefragt.“
„Und worüber?“
Seine Augen begutachteten mich im Rückspiegel.
„Schon wieder vergessen. Also, wohin mit der wertvollen Fracht“, grinste er. Ich sagte es ihm.
*
Dass ich selbst bislang zu zwei Flugreisen aufbrach, davon habe ich eingangs gesprochen. Die eine war rein privater Natur, die andere führte mich in ein fernes Land und besaß einen geschäftlichen Hintergrund. Einem überaus glücklichen Zufall verdankte ich die Adresse jenes arabischen Händlers, um dessentwillen ich die Unbequemlichkeit eines fünfstündigen, thrombosefördernden Aufenthalts in der Touristenklasse auf mich nahm. Neben dem gesundheitlichen Risiko kostete mich die Sache einen Gutteil meiner damaligen Ersparnisse, trotzdem bereue ich den Abstecher nicht. Seither verfüge ich über ein unfehlbares Diagnoseinstrument, ein Amulett mit einem hohlen Glasstein, worin sich ein Tröpfchen echten Märtyrerbluts befindet. Christliches Märtyrerblut, weshalb es überhaupt erst zum Verkauf stand. Der Besitz einer solchen Sache kann in jenen Breiten halt durchaus etwas heikel sein.
Am unverschämten Preis rührte dies allerdings wenig. Was hatte ich schon der jahrtausendealten Bazartradition entgegenzusetzen, die in den Genen meines Geschäftspartner abrufbereit schlummerte? Gleichviel, ein solcher Gegenstand kommt nur alle Jubeljahre auf den Markt und nachdem zum x-ten Mal das Täfelchen mit den unterschiedlichen Preisvorstellungen zwischen uns hin und her gereicht worden war, ohne sich merklich zu meinen Gunsten zu reduzieren, beschloss ich es dabei zu belassen. Leichtherzig bezahlte ich in der Hoffnung, gerade die beste Investition meines Lebens getätigt zu haben. Dass der Rückflug infolge günstiger Windströmungen deutlich kürzer ausfiel, schien mir erste Anhaltspunkte für die Richtigkeit meiner Einschätzung zu liefern. Unter uns, mittlerweile ist daraus Gewissheit geworden. Meistens leuchtet der kleine Blutstropfen hellrot, fast orange, doch manchmal verfärbt er sich, wird dunkel, violett, und im Extremfall, sogar pechschwarz. Bisher passierte es erst einmal, kurz nach der Rückkehr aus dem Orient. Meine Haut war noch nicht wieder von ihrem, unter der arabischer Sonne angenommenen Braunton zur mitteleuropäischen Winterblässe verwittert, als ich eines Tages durch die Straßen einer ostdeutschen Stadt spazierte. Um den Hals trug ich das neue Amulett und war schon etwas enttäuscht, weil es sich nie anders, als in der gewohnt unauffälligen Manier zeigte. Egal wie oft ich darauf blickte, immer blieb es hell, nie veränderte es seine Farbe.
Ich lief entlang eines Zauns, erste Gedanken keimten, eventuell doch geleimt worden zu sein, da wandte ich den Kopf und mein Blick fiel durch die rostigen Maschen auf ein schäbiges Gebäude, vor dem etliche Jugendliche lümmelten. Plötzlich erhob sich wüstes Geschrei. Zunächst bezog ich es nicht auf mich, aber dann flogen Steine und da sie ganz in meiner Nähe aufschlugen, einer mich sogar nur um Haaresbreite verfehlte, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, kein anderer als ich kam als Verursacher dieses merkwürdigen Aufruhrs in Frage. Meine Flucht endete ein paar Gassen weiter. Heftig schnaufend begann zu begreifen. Meiner braunen Haut angesichtig, hatten die Burschen fälschlicherweise vermutet, ein echter Südländer hätte sich unverschämterweise in ihr arisches Habitat verirrt. Was wiederum zur sofortigen Auslösung des Abwehrreflexes geführt hatte.
Während ich Abscheu empfand, mir vornahm, künftig die Ostgebiete zu meiden, war mir mein Amulett ganz entfallen. Erst im Hotel mit aufgeknöpftem Hemd im Badezimmer stehend, wurde ich mir seiner Anwesenheit wieder bewusst. Gerade setzte ich an, mir mitsamt des Zahnbelags auch den Ekel vor der dumpfen Deutschmeierei abzuschruben, da sah ich es im Spiegel düster über meiner Brust baumeln. Wegen des geizigen Leuchtkörpers lediglich eine optische Täuschung vermutend, beendete ich meine Mundhygiene ungerührt und hätte mich beinahe anderen Dingen zugewandt, als eine höhere Kraft mich davor zurückhielt. Ich nahm den bislang so nutzlosen Gefährten zur Hand, spürte die von ihm ausgehende, allein durch den stundenlangen Körperkontakt nicht ausreichend erklärte Hitze und fand ihn, indem ich ins merklich hellere Schlafzimmer trat, auch in optischer Hinsicht verändert, ja geradezu verunstaltet. Statt freundlich zu glimmen, oszillierte er hässlich zwischen violett und schwarz, so wie es manche Insekten tun, wenn man unvorsichtigerweise einen Stein zur Seite rollt. Doch mich erfüllte Freude. Mein Amulett hatte soeben seine Nagelprobe bestanden. Dort wo der Pesthauch des Bösen aufstieg, nahm es augenblicklich Witterung auf und die Jungnazis hatten ihm zu seinem Einstand verholfen. Einigermaßen versöhnt mit dem ansonsten unerquicklichen Abstecher nach Brandenburg, reiste ich ab.
Wie gesagt, ein durchschlagender Erfolg. Als der Wecker das einläutete, was man mit Fug und Recht den Anbruch eines weiteren Arbeitstags nennen darf, war ich eingermaßen gespannt, ob mir heute ein ähnliches Glück beschieden sein mochte. Mit der U-Bahn ging es zum Flughafen, wo wie stets die freudige Ausgelassenheit zahlenmäßig überlegener Debütantenhorden auf den schlitzohrigen Gleichmut jener prallte, die berufsbedingt immer zugegen sind. Für den einzelnen Reisenden mit seinem individuellen Reiseziel mag es den Höhepunkt des Jahres darstellen, aber der Flughafenbedienstete erkennt in ihm verständlicherweise nur den Dutzendling, den Störenfried der Ordnung, die zu pflegen und erhalten ihm obliegt. Weshalb sich Fluggäste manchmal wundern, dass die Stewardess oder der Mann von der Gepäckabfertigung ihre Aufregung nicht teilt. In Krankenhäusern ist das ähnlich. Auf der einen Seite die, die täglich Blinddärme entfernen, auf der anderen das aufgelöste Menschlein, dem dieses Vergnügen höchstens einmal im Leben widerfährt. Ein asymmetrisches Verhältnis par excellence. Womöglich fördert es den weiter oben beschriebenen Hang zu Spötteleien im Lager der zwangsläufig Abgeklärten. Bekäme ein Chirurg nur einmal in seinem Leben die Chance zur Ausmerzung einer durch Blinddarmreizung verursachten Störung, wie zuvorkommend aufmerksam würde er seinen Patienten wohl behandeln?
Das und so manches andere beschäftigte meinen Geist, als ich amulettbewehrt in die versteckten Winkeln vordrang, wo Bernadette K. ihrer traurigen Tätigkeit nachging.
Wen die Nikotinsucht plagt, der sucht in regelmäßigen Abständen den Pausenraum auf. Ich legte mich in besagter Örtlichkeit auf die Lauer. Endlich, nach dem zweiten Automatenkaffee, erschien die Zielperson. Ihre Augen blickten kalt, aber es lag auch ein Hauch des Wiedererkennens darin. Natürlich kein freudiges, denn als vermeintlicher Prozessoptimierer fiel ich notwendigerweise in ihr Feindschema. Aber das spielte keine Rolle. Für den Fortgang der Untersuchung war es nebensächlich, ob ich ihr Vertrauen, oder gar Freundschaft, errang. Solche Gefühle in ihr auszulösen, dafür hätte es ohnehin eher eines Sonderangebots in der Spirituosenabteilung des Supermarkts gebraucht als des schlagkräftigen Beweises menschlicher Anteilnahme, wie mir das aufgedunsene, von Alkoholabusus kündende Gesicht zu verstehen gab. Die Verrenkungen konnte ich mir sparen, es genügte mit ihr im selben Raum zu sein, ein paar Worte zu wechseln, den Rest überließ ich dem Amulett.
Unter Rauchern gibt es naheliegende Anknüpfungspunkte für ein Gespräch.
„Wären Sie vielleicht so freundlich, hab gerade meine letzte Zigarette ausgedrückt?“
Sie hatte sich gerade eine angesteckt, jetzt nahm sie ihre Vorratspackung abermals zur Hand.
„Nirgends gibt es mehr Zigarettenautomaten“, wechselte ich zu ihrem Stehtisch, „schlechte Zeiten für uns.“
„Das stimmt, und zwar in mehrfacher Hinsicht.“ Sie stippte zweimal gegen das Schächtelchen, worauf die Zigaretten wie Orgelpfeifen herausstanden. Das war alte Schule in höchster Vollendung.
Ich löste den Glimmstängel aus seinem Verbund und fragte, ob ich ihr im Gegenzug ein Getränk spendieren dürfe. Ihre Wahl fiel auf Cola. Als Kind der Siebziger kam für sie keine Light-Version in Betracht. Richtig vermutet, Klagen unterblieben, als ich das Getränk mit dem amtlichen Zuckergehalt auftischte.
„Danke.“
„Gern geschehen.“
Wir pafften beide drauflos.
„Sie wollen bestimmt wissen, wie lange ich Pause mache“, sagte sie.
„Nein, wirklich nicht.“
Die Empörung verhalf ihr zu einem Wechsel im Mienenspiel.
„Wäre mir auch egal, ihr könnt mich ruhig rausschmeißen.“
„Damit hab ich nichts zu tun.“
Jetzt war er da, der Hass. Sie sah mich an, eigentlich nicht mich, sondern das Heer der Männer, das sie verletzt, verlassen, enttäuscht und gedemütigt hatte, und der Blick war nicht länger tot, sondern übervoll mit Leben, mit fehlgeleitetem Leben, voll mit der einstmals konstruktiven Kraft, die, da man ihrer nicht mehr bedurfte, zerborsten und zersplittert war. Gleichzeitig entlud sich der angestaute Missmut in wirren Reden.
Splitter sind zwar gefährlich, allerdings für Opfer und Täter gleichermaßen. Sie schonen weder den Steinewerfer noch den Hüter der Scheibe. Ihre scharfen Kanten bilden ein zufälliges Muster, sie zeigen in alle Richtungen und heben sich somit in ihrer zerstörerischen Wirkung gegenseitig auf. Oder anders ausgedrückt, Bernadettes Unmut glich einem ausgeleierten Geschütz - mal schießt es zu kurz, mal zu lang. Die eigenen Truppen werden davon ebenso unter Feuer genommen, wie der eigentliche Feind.
Das alles vermittelte sich mir im Verlauf der nächsten fünf Minuten, in denen ihre Position ständig unberechenbar vom Ankläger zum Verteidiger pendelte, manchmal im selben Satz.
„Nie habe ich auch nur eine der zahlreichen Überstunden aufgeschrieben, und jetzt stellt man mir sogar im Pausenraum nach. Ist das vielleicht gerecht?“
„Ich stelle Ihnen doch nicht nach.“ Zumindest nicht aus dem vermuteten Grund, fügte ich im Geiste hinzu.
„Ach nee? Jedes Mal wenn man euch sogenannten Prozessoptimierern begegnet, wird´s hinterher mieser. Mehr Arbeit, weniger Lohn, kürzere Pausen. Wenn ihr Optimierer seid, dann sind Saftpressen Saftoptimierer.“
„Ich bin ja selbst nur ein kleines Rädchen, tue doch nur meinen Job“, fühlte ich mich gar nicht wohl, auch noch das Tagwerk all der Kinseys rechtfertigen zu müssen.
„Natürlich, Sie tun nur ihren Job. Das haben die Wachen im KZ auch gesagt!“
„Jetzt übertreiben Sie aber ...“
„Reicht das noch nicht, dass ihr uns in diese neue Beschäftigungsgesellschaft ausgelagert habt, was wollt ihr denn noch mehr, unser Blut?“
Es ginge halt um Flexibilität, improvisierte ich munter drauflos, damit man rasch auf die sich ständig ändernden Marktbedingungen reagieren könne.
„Flexibilität? Ha, dass ich nicht lache. Zeitkonto und leistungsgerechte Entlohnung, alles nur Vorwände um die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen. Wenn ich bedenke, wie ich mich all die Jahre trotz Krankheit immer hierher geschleppt, meinen Urlaub immer auf die Bedürfnisse des Chefs abgestimmt und den Arbeitsplatz erst verlassen habe, wenn alles erledigt war. Zum Dank wird man abgeschoben und obendrein wird einem unterstellt, ein potentieller Drückeberger zu sein.“
Ich sagte, niemand würde ihr dergleichen unterstellen, obwohl ich es in ihrer Akte anders gelesen hatte.
„Vielleicht sollte ich mich ja mal krankmelden? Wissen Sie, mit meiner Gesundheit steht´s wirklich nicht zum Besten. Ein Attest wäre kein Problem ...“ Plötzlich hielt sie inne. Dann sagte sie: „Sie machen sich wohl in Gedanken Notizen. Na schön, dann schmeißt mich halt raus. Entspanne ich mich halt in der sozialen Hängematte.“
Ihr bitteres Lachen war mir unangenehm, besonders da sich der Raum mittlerweile bevölkert hatte. Entweder war ihr die Veränderung verborgen geblieben, oder sie machte sich nichts aus Zeugen.
„Aber das würde euch so passen!“ Wenn ich richtig mitgezählt hatte, war es die dritte Zigarette die sie zu den übrigen Kippen in den Aschenbecher quetschte. „Rausekeln lass ich mich nicht. Ich mach alles mit, an mir soll´s nicht liegen. Ich trete auch freiwillig dieser sogenannten christlichen Gewerkschaft bei, wenn´s beliebt. Gewerkschaft, dass ich nicht lache!“
Damit wandte sie sich zum Gehen. Ich sah ihrer untersetzten Gestalt hinterher, in der sich noch eine Ahnung vergangener Attraktivität erhalten hatte. Zurück blieb eine bedrückte Stimmung. Fröhliches Pausenraumgeplapper würde hier erst nach meinem Abgang einsetzen.
Auf der Toilette knöpfte ich mir das Hemd auf. Wie vermutet keine Reaktion meines Amuletts. Das heißt, mir schien seine Färbung blasser als sonst, irgendwie wässerig. War das ein Zeichen von Mitleid? Gleichwohl. In den im Grunde gar nicht so toten Augen von London hatte ich mich geirrt. Gründlich. Doch die Mühen waren nicht umsonst, das sind sie nie. Das Zusammentreffen mit Bernadette K., insbesondere ihre dabei gezeigte Redseligkeit, hatte mir zu wertvollen Informationen verholfen. Wenngleich kein Mephistopheles, war es Zeit für etwas Zuspruch in eigener Sache, so lagen doch Welten zwischen mir und der Torenrolle. Der, der hier im Neonlicht stand und dank weißer Kachelung keinen Schatten warf, war durchaus klüger als zuvor. Zumindest klüger als jener, der sich heute morgen zu ungewohnt früher Stunde aus dem Bett quälte. Eigentlich war mein Tagesziel somit erreicht, aber so verheißungsvoll begonnene Tage bricht man nicht mutwillig ab. Wem ein glücklicher Wind die Segel füllt, bleibt auf Kurs, mögen ihm noch so schöne Ankerplätze begegnen.
Bisher war ich davon ausgegangen, falls das unlängst so deutlich gespürte Grauen tatsächlich der psychokinetische Ausdruck einer gekränkten Seele sein sollte, den dafür verantwortlichen Verursacher am ehesten im Kreis der Bürokräfte aufzustöbern. Jetzt stellten sich Zweifel ein, ob jemand, der einst bewusst sein Heil in der Verwaltung suchte, solch elementare Kräfte zu entfachen überhaupt imstande wäre. Gehen von Beamten Revolutionen aus? Zeugt es nicht eher von ängstlicher Realitätsflucht, wenn man sich dazu entschließt, sein gesamtes berufliches Leben in der trockenen, wenig aufregenden, aber dafür umso sichereren Umgebung von Leitzordnern zu verbringen? Und wer das duldsame Wesen zum Bürokraten nicht bereits in den Genen trägt, bei dem sorgt die Sozialisation im entsprechenden Milieu schon dafür, dass die letzten Triebe zur Auflehnung zuverlässig veröden.
Jedenfalls, den sozialen Fortschritt haben die Angestellten eher als Bremser begleitet, die haben sich eigentlich immer hübsch rausgehalten, wenn es darum ging das Los der unselbständig Beschäftigten zu verbessern. Barrikaden mieden sie, die überließen sie den Arbeitern. Zumindest damals, als es noch so ein soziales Gebilde wie das Proletariat gab. Meine Suche musste auf das ausgedehnt werden, was davon heute noch übrig war.
In den folgenden Stunden fügte ich in Hallen gigantischen Ausmaßes meinem Wissen, was es alles zur Aufrechterhaltung eines reibungslosen Flughafenbetriebs bedarf, weitere Details hinzu. Ich beobachtete Techniker riesige Airbuspneus auswechseln, war Zeuge als Stückgut in Container verladen und zu Transportmaschinen gebracht wurde und landete schließlich an einer mit „Animal-Lounge“ beschrifteten Pforte.
Dank meines Zutrittsausweises stellte auch sie kein Hindernis dar. Wer sich je hoffnungsvoll an einen Help-Point wandte, weiß, dass sich hinter hochtrabenden Fremdwörtern selten mehr als ein Euphemismus verbirgt. Aber der mir in der Halle entgegenschlagende Geruch war eindeutig, er weckte Erinnerungen an lang zurückliegende Zoobesuche und zeugte von der Anwesenheit echtem Getiers. Vom angekündigten Aspekt der Loungeatmosphäre war dagegen wenig zu spüren. Während ich über diese Unart lächelte, noch das Profanste mit einem hochstaplerischen Etikett zu versehen, näherte sich mir der zuständige Animal-Senior-Executive. Hartmanns Name fiel, worauf ich zu einem Rundgang eingeladen wurde.
Der wurde sogleich angetreten und je tiefer wir in das Labyrinth der Container vordrangen, die ja größtenteils Käfige darstellten, desto mulmiger wurde es mir. Es ist wirklich etwas anderes, ob man an Kisten mit leblosen Inhalt vorbeigeht, oder ob hinter den Holzverschlägen oder Kartonagen, mit den grausigen Gitterluken, Wesen von Fleisch und Blut vegetieren. Besonders wenn sich diese im Zustand des Eingesperrtseins befinden, in drückender Enge, fernab ihrer natürlichen Habitate.
Überall gurrte, zischte, raunte es und mancherorts ließ das erbärmliche Leben, das glücklicherweise dem Auge entzogen war, die Behältnisse erbeben. Federn, Haarbüschel und von Gabelstaplerreifen gebrandmarkte Spuren tierischer Exkremente verteilten sich als sichtbare Belege dieser verborgenen Fauna über die Wege.
Welchen ansehnlichen Umfang der Tierhandel doch angenommen habe, verlieh ich meinem Erstaunen Ausdruck.
„Meerschweinchen und Goldhamster aus Übersee, stellt das so ein Wirtschaftsfaktor dar, fallen da solche Mengen an?“
Mein Führer lachte in der Art des Mannes, der einem offensichtlich völlig Uneingeweihten gegenübersteht, auf dessen sich so jenseits jeder Realität bewegenden Annahmen eigentlich nur mit Mitleid reagieren lässt.
„Meerschweinchen? Da haben wir aber mehr zu bieten. Von Vogelspinnen bis zu ausgewachsenen Flusspferden reicht die Palette.“
„Flusspferde?“
„Im Moment nicht, aber alles schon dagewesen. Schade, letzte Woche hätten Sie einen Leoparden bewundern können. Wurde bereits abgeholt – zum Glück.“
Der sei sicher für den Tierpark bestimmt gewesen, sagte ich. Dafür gab es wieder nur ein amüsiertes Kopfschütteln.
„Quatsch, die müssen doch sparen. Ein reicher Russe hat sich den Leo kommen lassen. Gott allein weiß, warum.“
Seit der Krise wäre allerdings ein starker Rückgang bei solch exaltierten Lieferungen zu verzeichnen.
„In letzter Zeit lässt man uns gerne mal hängen. Haben Viechzeug bestellt und dann fehlt plötzlich das Geld. Keine Lust mehr sich an die Verpflichtung zu erinnern. Schweinerei. Wir stehen da und haben den Salat.“
Außerdem gäbe es da noch die Artenschutzbestimmungen, jede Menge Kalamitäten mit krankem oder verendetem Getier, kurzum die Tätigkeit in der Animal-Lounge sei kein Zuckerschlecken.
Irgendwo wurde ein Verbrennungsmotor angelassen. Ich war froh, wie hinter dem vertrauten Geräusch die unglücklichen Laute der Kasernierten zurücktraten. Falls es je zu einem jüngsten Gericht kommen sollte, die Tiere hätten am meisten Grund Anklage zu erheben. Sowohl gegen uns Menschen, als auch gegen Gott selbst.
„Achtung!“
Wir drückten uns gegen die Kistenwand, um den in unangemessener Geschwindigkeit heranbrausenden Gabelstapler passieren zu lassen. Einige Meter voraus bremste der ab und verschwand in einer Abzweigung. Aber sein Brummen blieb präsent. Es kam uns sogar entgegen, nebenan, in der Nachbargasse. Ich konnte die Abgasfahne entlang des Container-Horizonts wandern sehen, als wir wieder in die Mitte des Weges traten.
„Am besten, wir gehen wieder zurück“, sagte mein Führer. In den Lüftungsschlitzen eines merkwürdigen Holzverschlags blitzten grüne Augen und ich willigte sofort ein.
Auf dem ganzen Rückweg ließ uns der Motorenlärm nicht mehr los. Immer wenn man glaubte, ihm entronnen zu sein, war er plötzlich wieder ganz dicht, auch wenn man das dazugehörige Fahrzeug nicht zu sehen bekam. Zudem schien sich der Mann, dem ich bedingungslos folgte, desöfteren in der Richtung zu vertun. Einmal brach er sein gedankenverlorenes Zuckeln ab, ich blieb ebenfalls stehen, während er sich einigermaßen verdutzt umschaute.
„Warum steht denn hier die Sendung aus Kolumbien?“, deutete er auf den Aluminiumquader, der eine vormalige Abkürzung zur Sackgasse umwidmete.
„Völlig irregulär.“ Er lächelte mich an: „Wenn man sich nicht um alles selber kümmert.“
Wir machten kehrt und er meinte, gegen Monatsende ginge es halt immer drunter und drüber. Einige Zeilen weiter, in dieser eine verwinkelte Altstadt parodierenden Lagerhalle, machte es wieder wrumm und dazu stiegen zornige Rauchwolken empor. Irgendwie fühlte ich mich mittlerweile in die Realfassung eines Computerspiels entführt. Zwei desorientierte Pacmen, verfolgt von einem geisterhaften Gabelstapler. Gerade wandte ich mich an meinen Schicksalsgenossen, um ihn an meinem amüsanten Gedanken teilhaben lassen, da schlug Metall gegen Metall. Wie ein Kurzsichtiger, der einem auf die Stirn statt in die Pupillen sieht, stierte er über mich hinweg, um dann herumzuwirbeln und mir völlig unvermittelt einen Schubs zu versetzen. Derweil ich rückwärts taumelte, wurde mein Erstaunen über diese rüde Attacke von einem Knall beendet, den der Aufprall eines schweren Kastens just an der Stelle meines eben aufgegebenen Standorts hervorrief. Nach einem Überschlag blieb das Ding mit aufklaffendem Deckel seitlich liegen. Gleichzeitig erzeugten hunderte Schnäbel ein kunterbuntes Geschrei. Ich glotzte stumm, das Geschnatter dauerte an. Dazu ein menschlicher Kommentar: „Nicht bewegen!“
Warum, wollte ich einwerfen, da sah ich den Grund. Aus dem Schlund der geborstenen Kiste waren Schläuche gerollt, die sich abwechselnd streckten und krümmten und das, schien es, aus eigenem Antrieb. Der Gedanke an harmlose Materialreflexe elastischen Gummis wäre gar nicht so abwegig gewesen, hätte man sich in diesem Moment nicht an einem Ort namens Animal-Lounge befunden. Wenn hier etwas schlängelte, ging man besser davon aus, dass eine mehrzellige Lebensform die Ursache dafür bildete. Und es waren deren drei, drei Schlangen glitten wie Dolche aus Quecksilber heran und dazu tobte es in den umliegenden Käfigen. Früher als gedacht brach das Tribunal der Tiere über uns herein.
Unwillkürlich versuchte ich nach hinten auszuweichen.
„Nein, nicht“, zischte mein Gefolgsmann, „die sehen nicht gut, reagieren nur auf Bewegung!“
Er hatte leicht reden, das infernalische Trio hatte es ausgerechnet auf mich abgesehen, den zufälligen Besucher. Dabei legten sie einige Schlauheit an den Tag. Schon trieben mich ihre Vorstöße in einen Winkel, nahes Gegacker schlug mir ans Ohr, Kartonwände verunmöglichten den weiteren Rückzug, während mir die gefächerte Formation der Angreifer die Flucht nach vorne abschnitt. Ich sah das zielstrebige Gleiten und dachte, wo bleibt der unter solchen Umständen sonst schon klassische Ausruf: „Keine Sorge, die tun nichts, die wollen nur spielen.“ Als der entfiel, fand ich Trost in der Vorstellung einer ein Antidot bereithaltenden medizinischen Station, die der Mikrokosmos Flughafen bestimmt vorzuweisen hatte. Meinetwegen durfte sie auch Healthcare-Center heißen. Angesichts des nur noch Zentimeter von meinem Schuhwerk entfernten Züngelns, war ich gerne bereit meinen snobistischen Kurs gegenüber neumodischen Sprachschöpfungen eine Pause zu gönnen.
„Raoul, schnell, beeil dich ...“
Ich hob den Kopf und glaubte in dem heranstapfenden Mann den Fahrer des Gabelstaplers wiederzuerkennen.
„Parada! Le ordeno a que pare!“ herrschte dieser das Geschmeiß an.
Die mittlere Schlange, mir am nächsten, reagierte sofort, die beiden flankierenden krochen noch ein Stück, ehe sie ebenfalls Bewegungslosigkeit befiel.
„Tranquilo, Serpientes, ... tranquilo!”
Er hatte einen Greifstab dabei, der jetzt zum Einsatz kam. Eine nach der anderen wurden die Schlangen davon erfasst, angehoben und in das mittlerweile vom Vorarbeiter wieder aufgerichtete Behältnis zurückgetan. Abgesehen von einem Kringeln beim Anheben, bewahrten das Reptiliengeschmeiß erstaunliche Contenance. Nach ihrem jüngst gezeigten Verhalten, war die Lässigkeit, in der sie mit sich verfahren ließen, wirklich sonderbar. Und wie immer, wenn eine Gefahr überwunden scheint, brach sich sogleich Heiterkeit Bahn. Sogar die nervtötenden Tierlaute verebbten, aus den Kisten drang nurmehr sanftes Gegurre.
„Na, da haben wir Ihnen ja richtig was geboten“, hieß es.
Das Schlimmste war vorbei und plötzlich wimmelte es von Mitarbeitern. Einer trug einen Besen, mit dem er ein bisschen herumfegte, ansonsten wurden ironische Blicke gewechselt. Auch ich lächelte. Pah, wer erschreckt sich schon an ein paar Schlangen.
„Unser Raoul“, deutete der Vorarbeiter auf meinen Retter, „der versteht sich halt auf Tiere, nicht wahr?“
Auf alle Fälle besser als auf das Bedienen von Maschinen, dachte ich. Dabei wanderten meine Augen zu den beiden Gabeln in der Lücke, wo sich vormals die jetzt verschrammte Kiste in einer stabilen Lage befunden hatte.
„Ein richtiger Schlangenflüsterer“, sagte einer der Herumstehenden.
„Wirklich erstaunlich“, bestätigte ich. An die Tatsache, dass uns der Wunderknabe durch seine Tollpatschigkeit erst in die missliche Lage gebracht hatte, Zeuge seines besonderen Talents zu werden, verschwendete scheinbar keiner einen Gedanken. Helden werden oft aus Unkenntnis der genauen Umstände geboren.
„Besten Dank“, spielte ich die Komödie mit, indem ich mich besagtem Raoul zuwandte. Er nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie.
„Ohne Sie, wäre es bestimmt um mich geschehen“, schmeichelte ich ihm. Wovon er sich aber nicht beeindrucken ließ.
„Die haben nur schwaches Gift“, entgegnete er und mir schien, als klänge da ein gewisses Bedauern an.
Dessen ungeachtet blieb ich versöhnlich: „Sind Sie Spanier?“ Doch er hatte sich schon weggedreht.
„Also, wer hat die Schlangen zu den Vögeln gestellt?“ Auf die Frage des Vorarbeiters, verkrümelten sich auch die Schaulustigen.
„So eine Schlamperei. Bringt die mal ganz schnell nach F4.“
Der dunkelblaue Overall war inzwischen zur nächsten Abbiegung gelangt. Der, der ihn glaubhaft ausfüllte, hielt kurz inne, warf uns über die Schulter einen kurzen Blick zu, um sich darauf in aller Seelenruhe eine Zigarette anzustecken. Überall hingen, gut sichtbar, Rauchverbotsschilder von der Decke.
„He, beim Verschließen nicht mit Klebeband sparen“, rief der Chef.
Als ich abermals hinsah, war der Schlangenbeschwörer verschwunden.
Eigenartig schnell, nach der vorangegangenen Odyssee, fanden wir nun in den Eingangsbereich zurück. Die Rufe der Arbeiter schwirrten fröhlich durch die Tiefe der Halle und auch dem wieder einsetzenden Motorengeräusch fehlte jede Bedrohlichkeit.
„So, wollen Sie sonst noch was wissen?“
Ich verneinte, bedankte mich und verließ die Animal-Lounge. Viele Fragen war nicht offen geblieben.
*
Raoul war gebürtiger Kubaner. In den Achtzigern hatte es ihn, nach dem Studium der Elektrotechnik an einer Moskauer Universität, in die DDR verschlagen. Bei Robotron, dem dortigen Hightech-Betrieb, zunächst seinem Ausbildungsstand gemäß als Ingenieur beschäftigt, kam es bald zu einer Reihe empfindlicher Herabstufungen. Fast jährlich büßte sein Tätigkeitsprofil an Funktions- und Verantwortungsfülle ein. Zuletzt, gaben die Unterlagen Auskunft, diente er auf dem Niveau einer einfachen Produktions-Hilfskraft. Was den Abstieg bewirkte, gab seine Arbeitsvita zwar nicht preis, aber der dahinterliegende Wunsch der Betriebsleitung, sich des Kubaners irgendwie zu entledigen, schimmerte deutlich durch die dürren Zahlen seiner beruflichen Stationen.
In einer Gesellschaft, für die Arbeitslosigkeit ein Tabu darstellt, ist Entlassung natürlich keine Option. Aber mehr und mehr verdichtete sich bei mir der Eindruck, dass, wäre 1989 nicht die Wiedervereinigung dazwischengekommen, man Raoul früher oder später in den sozialistischen Bruderstaat zurückverfrachtet hätte. Vor diesem Schicksal bewahrte ihn allein dieser merkwürdige Umschwung in der großpolitischen Wetterlage. Danach, beruflich nie wieder richtig Tritt fassend, wechselten sich bei ihm längerer Zeiten von Beschäftigungslosigkeit mit kurzdauernden Arbeitsverhältnissen in untergeordneten Stellungen, zumeist als Lagerist, ab. Zumindest bis vor ein paar Jahren, als er durch die Ergatterung des Jobs in der Animal Lounge, doch noch so etwas wie eine gewisse Stabilität in sein Leben brachte. Als letzte Zäsur vermerkte die Akte die Umwandlung seiner Anstellungsbedingungen in eine, infolge der Auslagerung aller Lageristen, extra dafür gegründeten, auf den Flughafen-Servicebereich gerichteten Leiharbeiterfirma. Raoul unaufhaltsamer Niedergang hatte sich also neuerlich fortgesetzt, auch wenn diesmal kein eigenes Verschulden vorlag. Damals, 1989, griff die Geschichte vorteilhaft in sein persönliches Geschick ein, zwanzig Jahre später hatte sich wieder etwas außerhalb seiner Einflusszone bewegt, Veränderungen in Sachen Unternehmenskultur und Personalpolitik, nur blies ihm jetzt der Wind der Geschichte von vorne ins Gesicht. Wie es heißt, wiederholt sich selbige zuerst als Tragödie und dann als Farce. Bei Raoul lief es offensichtlich umgekehrt. Statt einer, mit allen Vorteilen der direkt beim Flughafenbetreiber angestellten Arbeitskraft, war aus ihm ein Leiharbeiter geworden. Damit verbunden, schlechtere Anstellungsbedingungen und ständige Kündigungsgefahr.
Hatte der Leiter der Animal Lounge nicht davon gesprochen, dass die Krise begann sich nachteilig aufs Geschäft auszuwirken? Schlummerten vielleicht schon irgendwo Pläne, die für Raoul demnächst einen Platz auf der Transferliste vorsah?
Ich nippte an meinem Pfefferminztee und dachte darüber nach. Obwohl streng verboten, hatte ich mir auch von Raouls Akte Fotokopien angefertigt und mich damit in die glückliche Lage versetzt, dieses entscheidende Stadium meiner investigativen Untersuchung von zuhause aus fortführen zu können. Hartmann erwartete morgen meinen Zwischenbericht. Dass ich ihm was zu bieten hatte, dessen war ich gewiss. Dazu brauchte ich nur mein immer noch tiefschwarz schimmerndes Amulett zu betrachten.
Es lag auf Raouls Papieren und ich hatte herausgefunden, dass eine derart hartnäckige Verstimmung durch die Berieselung mit heiterer Musik am besten zu begegnen war. Heiter musste sie sein und ernst, durchdrungen von göttlicher Erhabenheit, strahlend wie die Frühlingssonne, somit ein Fall für Wolfgang Amadeus. Schon die Anfangstakte der Ouvertüre zur Entführung aus dem Serail bewirkten bei meinem zuletzt doch recht geschundenen Freund eine deutliche Entspannung. Und als Blondchen in ihren halsbrecherischen Gesangskaskaden den finsteren Osmin in seine Schranken verwies, deutete nichts mehr auf seine jüngst durchlittenen Schrecken hin. Mein Amulett erfreute sich in wärmsten Orangerot an der Kunstfertigkeit der Darbietung.
*
„Schau mal einer an“, kauerte Hartmann mit zusammengekniffenen Augen vor seinen Bildschirm, „hat am Tag der Maueröffnung Geburtstag.“
Zugegeben, ich habe es nicht so mit den Daten zur jüngsten deutschen Geschichte. Mein diesbezügliches Interesse kam sozusagen mit der Wiedervereinigung zum Erliegen. An sich ja ein erfreulicher Tag, aber irgendwie auch der Anfang von ein paar unguten Entwicklungen, z.B. dieser neuen Deutschtümelei, die sich seitdem allerorten breitmacht. Früher war ich stolz gewesen, dass die Deutschen als gebrannte Kinder den anderen Nationen ein leuchtendes Vorbild in Sachen patriotischer Zurückhaltung gaben. Mittlerweile darf man wieder ungestraft Nationalstolz empfinden und äußern. Gerade so, als ginge dem Umstand, als Deutscher geboren zu sein, eine persönliche Leistung voraus. Wenn diese edle Regung aber so billig zu haben ist, dann erkläre ich hiermit, wie stolz es mich macht, dass der Mond seit Jahrmillionen ohne zu mucken, in treuer Ergebenheit und tadelloser Pflichtauffassung, uneigennützig seiner Flugbahn folgt. Unser Glück, auf Erden ideale Lebensbedingungen vorzufinden, verdanken wir schließlich allein ihm. Da scheint doch etwas Trabantenstolz angebracht zu sein, oder etwa nicht?
Wie auch immer, ich schweife ab, langweile Sie und das ist ebenso unverzeihlich wie fortgesetzter Chauvinismus.
„Das Licht der Welt hat er natürlich ein paar Jahrzehnte davor erblickt, aber Tag und Monat stimmen überein“, freute sich Hartmann über seine Entdeckung. „Ich frage Sie, Koinzidenz oder Korrelation?“
Auf was wollte Hartmann hinaus? Wollte er vielleicht andeuten, es bestünde da ein Zusammenhang? Manchmal überraschen mich Kunden damit, wie sie mit der Naivität des Laien Kausalitäten herstellen, vor deren Gewagtheit der Profi zurückschreckt. Manchmal verbirgt sich hinter solchen Vorstößen aber auch nur blanke Ironie, oder der Wunsch, den Parapsychologen zu provozieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Möglich wäre es schon“, kam ich ihm auf halbem Weg entgegen.
Hartmann lächelte mich an. Das Lächeln des Schülers, der den Meister überflügelt. Dabei war er vor kurzem noch vor Skeptizismus übergeflossen. Als ich ihm vor einer Stunde Raoul als meinen Hauptverdächtigen präsentierte, hatte er noch spöttisch reagiert.
„Sie behaupten allen Ernstes, ein frustrierter Lagerarbeiter wäre in der Lage, mittels seiner, ähm, mentalen Kräfte, Flugzeuge zum Verschwinden zu bringen?“
Wahrscheinlich wäre er geneigter gewesen meinen Ausführung Glauben zu schenken, wenn es sich bei dem potentiellen Täter um mindestens einen Träger mehrerer akademischer Titel gehandelt hätte. Typisch deutsches Dünkeldenken. Aber ein Lagerarbeiter, zudem ein Ausländer, das war doch die Sorte Mensch, bei der man, als Teil der betriebswirtschaftliche Verfügungsmasse, kein ausgeprägtes Seelenleben voraussetzen musste. Nur in Zeiten akuten Arbeitskräftemangels ging von dieser Gruppe eine Gefahr aus. Aber heutzutage, wo es für jeden nullkommanichts Ersatz gibt, doch wohl nicht.
„Also wirklich, Sie enttäuschen mich“, hieß es.
Seine Haltung hatte sich im Verlauf meiner weiteren Ausführungen jedoch geändert. Besonders der gestrige Schlangenzwischenfall machte Eindruck. Hat man Schlangen zu bieten, hat man auch den Zugang zum Verstocktesten gefunden. Unser christlich-kultureller Hintergrund, mit dem Wissen um entsprechende Bibelstellen, lässt uns keine Wahl.
„Klingt trotzdem wie Hokuspokus“, blieb er sich zunächst noch treu.
„Verschwindende Flugzeuge kaum weniger“, erwiderte ich.
Darauf hatte er sich seinem Computer zugewandt. Vollumfängliche Administratorenrechte gewährleisteten den schnellen Datenzugriff. Minutenlang studierte er Raouls Dossier.
„Hm, könnte was dran sein, auch wenn sich einem als rationalem Wesen dabei die Haare sträuben.“
Ohne mein Amulett zu erwähnen, versicherte ich ihm, das Für und Wider meines Verdachts sorgfältig erwogen zu haben.
„Es gibt zwar noch eine andere Spur, aber ich fürchte, Raoul ist unser Mann.“
„Na schön. Sie sind sich also sicher. Mit seiner Entlassung ließe sich dann ja wohl wieder Normalität herstellen.“
Jeder löst seine Probleme auf die ihm vertraute Art. Als Problemlöser gleichen wir Menschen Hunden, die nur einen Trick beherrschen. Leider, oder in meinem Fall, zum Glück. Diese Unfähigkeit der Menschen zum Wechsel von Perspektive und Handlungsweise, garantiert mir, und allen anderen gewerbsmäßigen Ratgebern, schließlich den Broterwerb.
„Seine Entlassung vermehrt Ihre Schwierigkeiten nur“, musste ich ihn deshalb abermals enttäuschen.
„So? Meinen Sie?“
„Indem man noch weitere Demütigungen hinzufügt, stimmt man keinen eitlen Mann versöhnlich“, gab ich zu bedenken.
Das leuchtete ihm ein. „Mein Gott, da hätte aber auch die Personalabteilung selber draufkommen können, dass man solche Leute nicht einstellt. Dafür braucht es ja nur etwas psychologisches Grundwissen.“
Ich erwiderte, keiner hätte wissen können, was man sich mit Raoul einhandelte.
„Offenbar haben wir es hier mit einem Menschen zu tun, der über ganz außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, sich dessen voll bewusst ist und nicht davor zurückschreckt, diese auch anzuwenden.“
„Wirklich unheimlich“, sagte Hartmann plötzlich ganz munter.
„Auch für mich ein absolutes Novum. Sozusagen der schlimmste Fall dieser Art in meiner ganzen Laufbahn.“
„Das kann ja heiter werden“, unkte er. Trotzdem wirkte er gar nicht niedergeschlagen, ganz im Gegenteil. Seine paradoxe Reaktion ging vermutlich darauf zurück, dass jetzt wenigstens klare Verhältnisse geschaffen waren. Als Voraussetzung für eine Therapie benötigt man schließlich zunächst eine stichhaltige Diagnose. Zwar fiel die nicht gerade erfeulich aus, aber es öffneten sich dadurch auch gewisse Handlungsalternativen anstelle des ziellosen Stocherns im Trüben.
„Was schlagen Sie vor?“
Bevor ich darauf antworten konnte, war er in seiner Euphorie auf besagte Duplizität von Mauerfall und Raouls Geburtstag gestoßen. Dass er da alleine darauf gekommen war, gewissermaßen den Fachmann überflügelt hatte, machte ihn ganz stolz. Sein persönlicher Verdienst war nicht abzustreiten und somit schien es damit seine Richtigkeit zu haben.
Auf dem Heimweg, als ich im Licht der Fakten die Konsequenzen erwog, die sich aus der neuen Sachlage ergaben, war ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich tatsächlich so verhielt. Hartmanns Glückstreffer, bei seinem ersten Ausflug ins Übersinnliche, stellte mich nämlich vor eine Reihe neuer Probleme. Wie ein zufällig auf physikalischem Gebiet reüssierender Amateur berauschte sich mein Auftraggeber am Triumpf seiner Entdeckung, während mir die undankbare Aufgabe zufiel, den Zufallsfund mit dem klassischen Modell der Physik abzugleichen. Dabei betrafen ihn die Folgen des etwaigen Paradigmenwechsels doch weit mehr als mich. Falls Raouls dämonisches Potential einen kompletten Staat (zugegeben einen ziemlich maroden) zum Einsturz bringen konnte, was würden sie dann bei einem simplen Wirtschaftbetrieb wie dem seinen zu bewirken imstande sein? Wie der Gefahr Herr werden, wenn sich einem solche Destruktivkräfte entgegenstemmen?
Soll Hartmann doch selber sehen, wo er und sein dämlicher Flughafen bleibt, liebäugelte ich schon mit Fahnenflucht. Mal sehen, ob er sich immer noch so freut, wenn Raoul anfängt, mal so richtig loszulegen. Wenn diesen Typen die richtige Einstellung fehlt, muss ich mich nicht länger an meinen Eid gebunden fühlen. Bisher hatte ich zwar nie Reißaus genommen, aber für alles gibt es ein erstes Mal.
Zwischen Pflichtgefühl und Drückebergertum hin und hergerissen, kam die U-Bahn in meiner Station zum Stehen. Missmutig brachte ich den Aufstieg in die Oberwelt hinter mich. Der sonnendurchtränkte Tag hatte mir nichts zu bieten, die Stimmen und das Lachen kamen von weit her. Nichts davon bezog sich auf mich. Vielleicht lag es an der Verstimmung des Gemüts, dass ich nicht wie üblich den ampelbeschützten Übergang wählte, sondern dachte, mir die fünfzig Meter sparen und nächst am Eingang zur Haltestelle die Straße überqueren zu können. Das tat ich sonst nur in später Nacht, wenn zwischen Vergnügungsverkehr und morgendlicher Stoßzeit die automobilistischen Umtriebe kurzfristig zum Erliegen kommen. Jetzt wimmelte es von Fahrzeugen, die dicht an dicht über die vier Spuren in beide Richtungen fluteten. Dazwischen, in der Straßenmitte, verlief ein schmaler gepflasterter Damm. Ihn erreichte ich in einem halsbrecherischen Zickzackkurs, den ich ohne zu verweilen fortzusetzen gedachte, als mich ein heißes Brennen auf der Brust zwang, den Rhythmus der Schritte zu verlangsamen. Ein Bein auf der Fahrbahn, das andere bereit zum Schritt, fasste ich mir reflexartig ans Hemd und diese winzige Zäsur reichte aus, um dem Aufprall mit einem gerade vorbeizischenden Leichtransporter zu entgehen.
Ich sah die Aufschrift „Wenzel Transporte – sichere Transporte“ erschreckend nah an meinem Gesicht vorbeifliegen, hörte das wütende Hupen und nahm schaudernd zur Kenntnis, ohne mein alertes Amulett wohl oder übel in die Statistik der Verkehrsunfälle eingeflossen zu sein. Ob in der Rubrik Leichtverletzt oder Unfalltod war nebensächlich. Alsdann tippelte ich mit wummerndem Herzen entlang des Mittelstreifens und mischte mich kleinlaut unter die an der Ampel Wartenden.
Zum Aussteigen war es zu spät. Raoul hatte mich auf seinem Radarschirm. Ich steckte tief drin, zu tief, um jetzt so einfach die Kurve zu kratzen. Wieder einmal erlebte ich diesen merkwürdigen Transfer der Schuld, vom Verursacher auf den hinzugezogenen Berater. Wie ein Beichtvater, der nach Abnahme der Beichte für die fremden Sünden zur Rechenschaft gezogen wird. Na schön, desertieren kam nicht mehr in Frage. Wäre ja auch irgendwie schäbig gewesen, versuchte ich es sportlich zu nehmen.
Eine Sache machte mich stutzig. Andersherum wäre es mir zwar lieber gewesen, aber nicht ich hatte Raoul aufgestöbert, sondern er hatte sich aus freien Stücken in den Vordergrund gespielt. Er hatte den Schlangenvorfall inszeniert und damit erst die Verdachtsmomente erschaffen, die ihn schließlich in den Fokus meiner Untersuchungen rückte. Geschah das aus Dummheit? Konnte ein Mann mit derart außergewöhnlichen telekinetischer Fähigkeiten auf dem Gebiet des Unerwischtbleibens so kläglich versagen? Oder lag es an seiner narzistischen Persönlichkeit, die um Applaus bestrebt, selbst den Zuspruch dessen sucht, der ihm nachstellt, der mit Nachdruck seine Entdeckung und Deaktivierung betreibt? Eine dritte Möglichkeit zog ich ebenfalls in Betracht. Vielleicht lag es in Raouls Absicht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Womöglich verfolgte er diesbezüglich eine Strategie.
Ich gebot über einiges Rüstzeug, den im Zuge meiner Tätigkeit gelegentlich auftretenden Bedrohungen Paroli zu bieten. Gerade besprenkelte ich mir die Stirn mit echtem Lourdes-Wasser, sprach einige Schutzformeln aus der Kabbala und versäumte es auch nicht, mit dem schweren Riegel die Tür vor dem Eindringen von Feinden zu sichern, die mit durchaus irdischen Mitteln versuchen, meine Kreise zu stören. Dabei war ich mir der Dürftigkeit meiner Handlungen nur zu bewusst. Über den Charakter des Symbolhaften kam ich damit nicht hinaus, nicht bei einem Widersacher von Raouls Format. Aber die Hinwendung zu Routinen verhilft einem wenigstens zu dem befriedigenden Gefühl, den hochgefahrenen Gemütsmotor nicht im Leerlauf quälen zu müssen. So verhielt es sich auch diesmal. Schon merklich ruhiger, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, indem ich fortfuhr Zuflucht im Alltäglichen zu suchen. Beispielsweise galt es den Anrufbeantworter abzuhören. Nach zwei Anfragen für Terminvereinbarungen meldete sich plötzlich die Stimme von Herrn P., dem aufdringlichen Journalisten und ehemaligen Klienten. Ich möchte ihn doch bitte zurückrufen, möglichst bald. Ich zögerte. Aber dann (unangenehme Dinge bringt man am besten schnell hinter sich) drückte ich doch den entsprechenden Knopf, worauf der Apparat selbsttätig eine Verbindung herstellte.
Wie segensreich moderne Technik doch sein kann. Mit Unbehagen erinnerte ich mich an Zeiten, wo man die Nummer eines ganz und gar unerwünschten Gesprächspartners erst mühsam recherchieren musste und dann, zu allem Überfluss, auch noch gezwungen war, höchste Konzentration aufzuwenden, um sich mit den widerwillig getippten Chiffren nicht zu vertun. Heute genügt ein Fingerdruck und ohne das Kurzeitgedächtnis damit belastet zu haben, flutschen die Zahlen durch die Leitung. Zudem nährt die simple Geste die Hoffnung auf die Einmaligkeit des Vorgangs.
Es meldete sich Frau P., die Gattin des Quälgeists, deren äußeres Erscheinungsbild mir dank einer zufälligen Begegnung sogar bekannt war. Ihr Mann hätte soeben das Haus verlassen, ich solle es bitte später noch einmal versuchen, dazu erklang im Hintergrund Kindergeschrei. Keineswegs unglücklich beendete ich das Telefonat. Und wie immer bei Pflichten, in denen kein Sinn zu stecken scheint, vergaß ich die Sache. Das heißt, als ich spätabends heimkehrte, fand ich die Stunde zu vorangeschritten für einen neuerlichen Anruf. Ausflüchte gedeihen am besten auf einem mit Vorurteilen gedüngten Feld.
Tags darauf fand ich mich wieder am Flughafen ein. Dabei fühlte ich mich bereits wie ein normaler Angestellter, und das passte mir immer weniger. Gleichzeitig wusste ich, den leidigen Trott zu unterbrechen und wieder in der Komfortzone der Selbstbestimmtheit Quartier zu beziehen, lag ganz allein in meiner Macht. Gerade dieser Punkt machte mir Sorgen. Meine Macht, was zeichnete sie aus? Selbstkritik machte sich breit. Von der hochtrabenden „Ich stehe vor meinem persönlichen Rubikon“- Euphorie war nicht mehr viel übrig. Der Verlauf der Dinge stutzte mich zusehends auf Normalmaß zurück. Also auf Mittelmaß. Wir Mittelmäßigen sollten uns in der Wahl der Herausforderungen nicht zu sehr hinreißen lassen. Wer sich unvorsichtigerweise über seine Grenzen hinaus bewegt, darf bei Erfolg bestenfalls auf das Unverständnis hoffen, das die Welt gewöhnlich für den Avantgardisten bereithält. Im Hier und Jetzt wird Applaus und Anerkennung nur dem zuteil, der sich nicht anmaßt, allzu deutlich aus dem Kanon des allgemein Verständlichen und Gebilligten herauszustechen. Schlaue Künstler wissen das. Die wissen, ein dürftiges Talent ist noch lange kein Hinderungsgrund für Anerkennung und günstige Kontostandsbewegungen. Etwaiger Nachruhm ist keine Währung, die ein Porsche-Händler als Anzahlung akzeptieren würde.
Also, die Gefahr war zwar erkannt, aber gebannt war sie damit nicht. Im Wissen um die Begrenztheit meiner Mittel hatte ich mich am Vorabend noch mit meinem Freund und Standesgenossen Wassilij getroffen, dem Mann der sich thematisch den Parallelwelten verschrieben hat. Bevor er noch Piep sagen konnte, gab ich ihm zu verstehen, dass mir mit der Erkenntnis, Raoul könnte als uneingeschränkt anerkannter Heilsbringen und Wohltäter durch ein uns unbekanntes Doppelgänger-Universum geistern, nicht gedient sei. In dem einzig als gesichert geltenden Universum war Raoul unbeschreiblich böse, das allein zählte, beziehungsweise die Optionen, wie seine Destruktivkräfte zu schwächen seien.
Meine Hoffnungen richteten sich nicht von ungefähr auf einen Mann von Wassilijs Werdegang. Er, der dem Sowjetsystem trotze, musste einfach ein paar Asse griffbereit in der Hinterhand halten, deren Potenz sich einem verweichlichten Westler nur unzureichend erschließen. Danach sah es zunächst leider gar nicht aus. Er legte die Stirn in Sorgenfalten, bediente sich ausgiebig aus seinem Samowar und so verstrich eine komplette Langspielplattenseite mit leidenschaftlichen Skrijabinklängen, aber abgesehen vom Kunstgenuss kamen wir nicht vom Fleck. Ob er vielleicht ein besonders leistungsfähiges Ikonenbild besäße, den Unhold in seine Schranken zu weisen, machte sich meine Ungeduld Luft. Er lachte. Ein Ikonenbild? Ja, warum denn nicht gleich geweihtes Lourdeswasser literweise verspritzen, spottete er. Ich verschwieg, dass ich mit dem Gedanken gespielt hatte. Dann endlich, nachdem er die Platte umgedreht hatte, rückte er mit der Sprache heraus: „Pekuniäre Anreize!“
„Wie bitte?“
„Ihr müsst ihn kaufen. Womit, dass ist euch kapitalistischen Lakeien doch geläufig. Gebt ihm Geld, haufenweise und am besten schnell.“
Von einem, den eine Gesellschaft die Privateigentum eine strenge Absage erteilt sozialisiert hat, ein höchst ungewöhnlicher Vorschlag. Meine Enttäuschung entging ihm nicht.
„Tut mir leid, aber Feuer bekämpft man manchmal mit noch mehr Feuer“, sagte er.
„Klar, die Cholera lässt sich mit der Verbreitung der Pest eindämmen.“
„Mit dem Geld ist das Böse in die Welt gekommen, also schafft man es damit auch wieder hinaus.“
Das war natürlich eine sehr verengte Sichtweise, wie sie an keiner maßgeblichen Wirtschaftsakademie gelehrt wird. Aber er floss über vor russischer Selbstzufriedenheit, desgleichen der Samowar. Noch mehr Tee. Damit verschoben sich an diesem Abend, wenn schon nicht die Grenzen meines Weltbildes, doch immerhin die meines Einschlafzeitpunktes.
Und zwar empfindlich nach hinten. Die Folgen des Missbrauchs begannen sich gerade jetzt, da ich meinem Termin mit Hartmann entgegeneilte, bemerkbar zu machen. In meiner pelzigen Verfassung fand ich die kurze Liftfahrt in die Etagen der Direktion ebensowenig erhebend, wie die Aussicht, meinem Auftraggeber mit einem derart profanen Rettungsvorschlag unter die Augen treten zu müssen. Aber so ist das immer. Je besser die Diagnostik, desto höher die Chance auf Krankheiten zu stoßen, für die bis dato keine Kuren existieren. Was macht der Mediziner in einem solchen Fall? Erst mal Kortison verordnen. Und jenseits des Gesundheitssystems hält man sich ans Geld. Eigentlich hält man sich in allen gesellschaftlichen Subsystemen ans Geld. Hartmann würde das verstehen. Ohne in den für ihn schwer fassbaren Dialekt des Okkulten zu verfallen, konnte ich mich in seiner ureigensten Sprache an ihn wenden. Somit ließ sich wenigstens der zu erwartende kommunikative Streuverlust minimieren, wenngleich mich die Strategie an sich schon nicht befriedigte.
Die Türen schwangen auf und ich trabte los. Ein Teppich dämpfte die Schritte, schuhsohlenschmeichelnd wie frisch verlegt, vertäfelte Wände beruhigten den Geist und selbst das leise in der gekühlten Luft gefasste Sirren empfand man hier nicht als störend. In dieser wunderbaren Welt wurde man mühelos wie von einem freundlichen Sog angesaugt und fortgetragen, als glitte man auf Kufen und das Gefälle führte zwangsläufig zu Hartmann Allerheiligstem, seinem repräsentablen Büro am Ende des Korridors. Mir begegneten Angestellte, duftend und gutaussehend mit Blicken, deren Wärme in den Randbezirken zur Verbindlichkeit versandeten. Gute Laune war hier Pflicht, Misanthropie ein teures Vergnügen, nur den höchsten Kadern vorbehalten oder irregulärem Volk, Besuchern wie mir.
Gedanklich ganz auf den bevorstehenden Krisengipfel eingestimmt, war er nur ein weiterer Anzug, der meinen Weg kreuzte.
Es heißt, Kleider machen Leute, aber manchmal läuft es genau andersrum. Bei unserer letzten Begegnung hatte ein schlabriger Overall der Entfaltung seines männlichen Körperbau nach Kräften torpediert, jetzt torpedierte ebendieser den edlen Zwirn bei seinen Bemühungen, dem Träger Eleganz zu verleihen. Vielleicht versteht es ja der Teufel in Prada gewandet für Entzücken zu sorgen, aber seine Paladine wirken darin nur lächerlich.
„Ah, el hombre con el amuletto.“
Es war Raoul, der sich tief verneigte, was seine teure Gardarobe dank Doppelnaht und strapazierfähigem Gewebe schadlos überstand. Ein weiterer Grund sprachlos zu sein.
„Der Zauberer von Oz, höchstpersönlich. Welche Ehre!“ wechselte sein Spott in fehlerfreies Deutsch. An seinem Handgelenk bemerkte ich eine schwere, wie die Hälfte einer Handschelle baumelnde Golduhr.
„Guten Tag, Herr Roul“, kehrte meine Fähigkeit zum mündlichen Ausdruck zurück, „ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt.“
Sein hochmütiges Lächeln gab mir zu verstehen, dass das ganz in seinem Ermessen lag.
„Das hätte Ihnen das Wiedererkennen bestimmt erleichtert ...“ Als sich sein Arm in meine Richtung streckte, dachte ich, er wollte mir seine neue Uhr vorführen. Bevor ich zu dem protzigen Ding ein paar heuchlerische Worte der Anerkennung loswerden konnte, schnürte es mir jedoch den Atem ab. Eine schier unerträgliche Hitze durchströmte, vom Amulett ausgehendend, den Brustraum und machte Sprechen unmöglich. Gleichzeitig wurden meine Arme ganz taub, so dass ich daran scheiterte, dem Drang sie anzuheben und zum Hals zu führen, Folge zu leisten.
„Ein schönes Hilfsmittel haben Sie da“, sagte er. In meiner körperlichen Not war mir die Häme in seinen Worten ganz egal.
„Dabei wird der christliche Mystizismus schrecklich überschätzt, finden Sie nicht auch?“
Ich schnappte nach Luft, schwitzte heftig und die Flugzeuge auf den großformatigen Bildern, die überall hingen, begannen abzuheben.
„Also wirklich – Lourdeswasser! Wollen Sie mich damit übergießen? Sie glauben wohl, wir Kubaner baden nicht?“ vermischte sich sein Lachen mit dem imaginären Getöse startender Jets.
Mühsam brachte ich ein Krächzen hervor.
„Wir brauchen doch keine Nachhilfe in Körperhygiene ...“ Einem leidenden Tier gleich, warf ich den Kopf hin und her. Scheinbar wirkte es auf ihn wie die erwünschte Unterwerfungsgeste. Auf sein Fingerschnippen hin, ließ das Würgen nach.
„So, das gefällt Ihnen sicher besser.“
Auch die Hitze war plötzlich verschwunden. Die Flugzeuge klebten wieder an ihren Tafeln, ebenso das schweißnasse Hemd an meinem Körper und ich fühlte mich, trotz des Fröstelns in der klimatisierten Luft, mit einemmal pudelwohl.
„Dabei ist das gar nicht nötig“, betrachtete er munter seine Hand, „dieser Mumpitz, schnippen und auf jemanden zeigen, so -“
„Bitte nicht!“ Wieder zielte sein ausgestreckter Zeigefinger auf mich. Aber diesmal geschah nichts, der teuflische Klammergriff unterblieb. Statt dessen wieder sein Hohngelächter.
„Keine Sorge, Sie sind ja mein Freund, Sie und Ihr Amulett, mio amigos.“
Keine Einwänder meinerseits.
„Allerdings ab sofort Freunde auf Distanz, verstanden?“
„Si, es verdad!“
„Muy bien. Me voy. Adios.”
Breitbeinig ging er fort. Ich schaute ihm nicht hinterher.
In Hartmanns Vorzimmer, wohin ich mich nach einigen Minuten der Sammlung begab, hieß es, der Chef könne mich heute nicht empfangen. Er würde sich telefonisch mit mir in Verbindung setzen, in der Zwischenzeit würde sich der Pressesprecher meiner annehmen. Ich setzte mich auf den zugewiesenen Freischwinger und meine Augen verfingen sich in einem über die Starbahn rollenden Jumbojet. Nachdem er abgehoben hatte, ging die Tür und eine Stimme sprach mich mit Namen an.
„Ach, Sie sind das?!“ war ich überrascht, dass sich mir der Mann näherte, den anzurufen ich versäumt hatte.
„So sieht man sich wieder“, sagte das Grinsegesicht.
„Tut mir leid, ich ...“
„Sofort“, wehrte er ab, „gehen wir erst mal was trinken.“
Er wäre in der nächsten halben Stunde in der Coffee-Bar zu finden, machte er sich bei der Sekräterin wichtig.
„Wenn was ist, einfach anpiepen, okay?“
Erst im Aufzug zeigte er wieder Redebereitschaft.
„Sie sehen ziemlich blass aus.“
Ich hätte schlecht geschlafen, darauf er: „Tja, der Föhn.“
Auch seiner Gardarobe war eine deutliche Aufwertung widerfahren. Statt Lederblouson umflatterte ein modischer Einreiher den Schlacks. Nur die grellbunte Krawatte mit Walt-Disney-Motiven zeugte von gewissen Anpassungsschwierigkeiten beim Rollenwechsel.
„Ich habe Sie gleich zurückgerufen, aber Sie waren schon weg“, kam ich wieder auf die leidige Angelegenheit von gestern zu sprechen. Einen mit den textilen Insignien des beruflichen Aufstiegs Ausgestatteten versetzt man nicht so leicht wie einen Blousonträger.
„Meine Frau hat es mir ausgerichtet“, sagte er
„Worum ging es also?“
„Nicht mehr wichtig, hat sich erledigt.“
Wir erreichten unser Stockwerk, er ließ mir wieder den Vortritt.
Zur Coffee-Bar bekam man nur mit entsprechender Berechtigung Zutritt. Über die glaubte ich zu verfügen, aber mein Bagde bewirkte nichts. Herr P. schob sich von hinter heran: „Sie erlauben.“ Seine Hand schwebte kurz über dem Sensor, die Karte darin hatte ihn gar nicht berührt und trotzdem gaben die gläsernen Flügel in selbstverständlicher Eintracht den Weg frei.
„Das erinnert mich“, sagte er, „ich soll Sie darum bitten, ihren Passepartout zurückzugeben.“
„So?“
„Na ja, den brauchen Sie jetzt ja nicht mehr.“
„Ach nein?“
„Ich werd´s Ihnen erklären, aber setzen wir uns erst.“
Einer der Vorzüge der Coffee-Bar bestand darin, dass man bedient wurde. Hartmann hatte mir erklärt, die Örtlichkeit diene vorzugsweise der Herstellung eines angenehmen Rahmens bei Kundengesprächen. Nicht weniger Anteil hatte sie offenbar daran, das Bedürfnis der höheren Kader nach Erquickung und Erholung zu befriedigen. Fast bis auf den letzten Platz belegt, zudem mit fröhlichem Geplapper erfüllt, war schwer vorstellbar, hier würden in erster Linie schwierige Vertragsverhandlungen geführt.
Wir ergatterten einen gerade frei gewordenen Fensterplatz. Schon war eine Kellnerin zur Stelle. Herr P. übernahm die Bestellung, als hätte er seinen Lebtag nichts anderes getan.
„Was finden Sie so amüsant?“ fragte er mich, nachdem die Bedienung gegangen war.
„Ich wundere mich nur. Waren Sie gestern nicht noch Journalist?“
„Freier journalistischer Mitarbeiter. Frei und ungebunden.“
„Deshalb der fliegende Wechsel.“
„Gewiss. Heutzutage muss man schnell reagieren, wenn sich einem eine Chance bietet. Flexibilität und Kompetenz, beides ist nötig.“
„Jetzt sind Sie also der Pressesprecher der Flughafengesellschaft.“
„Nicht ganz. Vorläufig dessen Assistent. Wissen Sie, es wird eine neue Untergesellschaft gegründet, in der die Pressestelle zu leiten man mir angetragen hat.“
Ich beglückwünschte ihn dazu und er behauptete, an dem Zustandekommen der neuen Firma einen gewissen Anteil zu haben.
„Ein ganz neues Geschäftsmodell. Sehr innovativ.“
Neue Arbeitsplätze würden entstehen, neuer Umsatz generiert, der Standort gestärkt, das käme der ganzen Region zugute.
„Gerade in der Krise braucht man neue Ideen.“
In Deutschland wäre man sich zu wenig bewusst, dass wir uns mitten im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft befänden. Und unsere Abhängigkeit von der Güterproduktion sei, jetzt wo die Auslandsnachfrage nachlässt, erst richtig spürbar.
Kaffee und Kuchen wurden aufgetragen, zumindest hier traf das Angebot auf eine rege Binnennachfrage. Er unterbrach seinen Vortrag. Ich sagte, bei mir wären die Veränderungen längst angekommen.
„Ich bin schon lange im Dienstleistungsgewerbe, aber anscheinend braucht man gerade hier meine Dienste nicht mehr.“
Er nickte mit vollem Mund: „Moment, darauf komme ich gleich.“
Ich bediente mich ebenfalls, während er noch kaute. Dann nahm er einen Schluck Kaffee und ich war einigermaßen gespannt auf das, was folgen würde.
„Die Angelegenheit, derentwillen Sie hinzugezogen wurden, hat sich aufgeklärt.“
„Das will ich meinen.“
Er lächelte verkniffen und schaute an mir vorbei.
„Um es vorweg zu nehmen, wir sind Ihnen natürlich sehr dankbar.“
Wir? Für jemanden, der eben erst eingestellt worden war, ging ihm dieses Wir überraschend leicht über die Lippen.
„Aber stellen Sie sich vor, die ganze leidige Angelegenheit beruht auf einer Panne in der EDV. Lediglich ein Softwareproblem.“ Obwohl er auch das flüssig herausbrachte, schien er im Lügen etwas weniger routiniert. Um hier den Anforderungen seines Tätigkeitsprofils gerecht zu werden, musste er erst lernen das verräterische Zwinkern in den Griff zu bekommen.
„Wie bitte?“ Der Kuchenboden besaß die Konsistenz von Pappkarton, es kostete Mühe Stücke abzutrennen. „Das ist nicht Ihr Ernst.“
„Doch, doch. Die Flüge sind sozusagen nur virtuell verschwunden, nur im Computersystem, aber nicht in der Wirklichkeit.“
„Also alles nur eine Sinnestäuschung?“
„So was kann es geben, bei der heutigen Abhängigkeit von der IT“, versuchte sich der Schmierenkomödiant an einem Ausdruck echter Zerknirschtheit, „man vertraut viel zu blind der Elektronik.“
„Soso ...“
„Sie ersetzen uns Augen und Ohren, da kann so etwas schon mal passieren.“
„Verstehe. Und Ihre neue Anstellung hat damit also nichts zu tun.“
„Nein.“
„Auch nicht Senor Raoul, dem ich vorhin in der Chefetage begegnet bin.“
„Nein, überhaupt nicht.“ Jetzt konnte er nicht verhindern, rot anzulaufen.
„Na schön“, schaute ich zur Seite.
„Wie gesagt, uns tut es leid, Sie ganz umsonst bemüht zu haben.“ Er lachte: „Das heißt, Sie werden feststellen, dass Ihr Scheck äußerst großzügig ausfallen wird. So gesehen waren Ihr Bemühen absolut nicht umsonst.“
„Freut mich zu hören.“
Er erging sich in weiteren Dankesbekundungen, erleichtert die Sache hinter sich gebracht zu haben.
„Und diese neue Geschäftsidee, was hat es denn konkret damit auf sich?“ fuhr ich ihm in die Parade. Darauf winkte er die Bedienung heran: „Zahlen bitte.“
Und an mich gewandt meinte er, dass er darüber einstweilen nichts verlauten lassen dürfe.
„Reines business to business, für Privatleute wie Sie und mich vollkommen uninteressant.”
So was Ähnliches hatte ich erwartet.
Nachdem er es sich nicht hatte nehmen lassen, die Rechnung für uns beide zu begleichen, sagte er: „Ach so, dürfte ich Sie jetzt bitten?“ Ich händigte ihm meinen behelfsmäßigen Pass und den Bagde aus. Unter großem Tamtam wurde ich hinausbegleitet. Am Ausgang zur Abfertigungshalle folgte noch eine Abschiedsszene, die eines nahen Verwandten würdig gewesen wäre. Eines Verwandten, dessen man sich glücklich entledigt hatte.
Über das unwürdige Schauspiel halfen mir drei Tage später zwei Couverts hinweg. Unabhängig voneinander abgeschickt, beinhaltete das eine die Abrechnung über mein reguläres Honorar, ausgestellt von der Buchhaltung, im anderen befand sich neben einem persönlichen Schreiben Hartmanns ein Barscheck, an dem ein Flugticket angeheftet war.
Es heißt, jeder Mensch hat seinen Preis. Allerdings gelangen nur die wenigsten in die vorteilhafte Lage diesen jemals in Erfahrung zu bringen. Nachdem ich eine geschlagene Viertelstunde das unscheinbare Schriftstück begafft hatte, wusste ich endlich, in welchen Regionen der meine angesiedelt war. Mich zu kaufen gehörte demnach zu der Art von Vergnügen, allein jenen vorbehalten, die eine Mercedes-Filiale ebenso gelassen betreten wie unsereiner das Lotto-Kiosk um die Ecke. In dem Begleitbrief dankte mir Hartmann meinen Einsatz und bedauerte die sich dabei herausgestellte Nutzlosigkeit desselben. Aber nichtsdestotrotz hätte er mich als hochqualifizierte, engagierte Fachkraft erlebt, wofür er nicht umhin käme, in entsprechender finanzieller Form Anerkennung zu zollen. Der zusätzlich gewährten Bonus wäre absolut berechtigt, er ginge nicht über die Bücher und unerliege somit nicht der steuerlichen Deklarierungspflicht. Ferner wurde ich an das von mir unterzeichnete Schweigeabkommen erinnert und mit den besten Wünschen für meinen weiteren Lebensweg endete das Schreiben. Kein Wort zu Raoul. Ich hatte es eigentlich auch nicht erwartet. Angesichts des überraschenden Vermögenszuwachs war das Manko verschmerzlich. Mehr als verschmerzlich, geradezu amüsant. Auch weil ich wenige Tage zuvor gedacht hatte, mich für meinen pekuniäre Lösungsansatz vor Hartmann schämen zu müssen.
Ein gelber Zettel mit der handschriftlichen Notiz, dass ich ab sofort über das stattliche Konto von 40.000 Flugmeilen verfüge, klebte an dem beiliegenden Flugticket. „Einmal um die ganze Welt“, hatte Hartmann salopp dazugedichtet. Selbiges Ticket war auf meinen Namen ausgestellt und ein roter Aufdruck vermerkte: Nicht übertragbar!
Ich begab mich schnurstraks zu meinem Aktenvernichter und sah zu, wie es in den Schlitz eingezogen und zu Schnippseln atomisiert wurde. Danach war mir wohler.
Wer immer sich fragt, was die Reichen dazu teibt, ständig noch mehr Geld anzuhäufen, obwohl sich der persönliche Lebensluxus kaum noch steigern lässt, der muss nur einmal über einem fetten Barscheck meditieren. Von einer nackten Zahl kann eine eigentümliche Faszination ausgehen, vorausgesetzt sie bezieht sich bilanztechnisch auf die Habenseite jenes Bankkontos, über das man die alleinige Verfügungsgwalt ausübt. Man fühlt sich in Kindheitstage entführt, wenn man die lange Abfolge von Ziffern betrachtet und darin plötzlich etwas entdeckt, das in Form und Gestalt an eine Miniatureisenbahn erinnert. Das ist die Minitrix-Leidenschaft der Bonzen. Die ersten Stellen symbolisieren das kraftvolle Lokomotiventandem, das mit der ausgedehnten Reihe unterschiedlichster Chiffren-Wagons leichtes Spiel hat. Stand einem als Dreikäsehoch nur der Märklin-Starterpack zur Verfügung, erlebt man es wie eine späte Wiedergutmachung für die vormals erduldete Knappheit.
Ich glaube, all die Superreichen gebieten über das Talent, sich allein an den astronomischen Additionen auf ihren Kontoauszügen zu ergötzen. Was Geld vermag, einem in dieser Welt das Leben bequem zu gestalten, das besitzen sie ja längst. Was bringen weitere Millionen, wenn die bereits vorhandenen alles erkauften, was die Märkte an Gütern und Dienstleistungen so hervorbringen? Wieviel randvoll gefüllte Teller braucht es, den Hunger eines einzigen Mund zu stillen? Warum setzen sie sich also nicht zur Ruhe? Weshalb der ganze Stress? Irgendwie irrational, zumindest aus der uneingeweihten Warte des Habenichts, der nichts ahnt von der Lust an dem völlig abstrakten Vorgang der Geldvermehrung an sich. Glück bedeutet Fortschritt. Aufgeschichtete Zahlenkolonnen, die sich akkumulieren, wöchentlich oder täglich hochschrauben in immer waghalsigere Dimensionen, das zu verfolgen, davon muss ein unglaublicher Rausch ausgehen.
Auch wenn, wie bei jeder Sucht, dabei die Seele vor die Hunde geht, wenn totaler Reichtum die totale Verarmung von Imagination und Empathie bedeutet. Der Drogeriekettentbetreiber bezahlt für seine Gier mit einem veritablen Dachschaden, auf eine andere Art, aber nicht weniger, die einsame Angestellte, die in dessen schäbiger Filiale in ständiger Angst vor Überwachung und der latenten Gefahr des Überfallen-werdens ausharrt. Beide wären zu retten, wenn der Kapitalist nur seine Phobie vor Subtraktionen, vor geringerem Wachstum oder finanzieller Stagnation überwinden könnte. Die Gründung einer Selbsthilfeorganisation der Anonymen Ausbeuter wäre dazu vielleicht der erste Schritt.
Den Abend verbrachte ich bei Wassilij mit reichlich Sekt. Nicht mit dem süßen Gesöff, das in schweren Flaschen, die sich jeder Mörder für die Ausübung seines Handwerks wünscht, die Krim verlässt, sondern mit der kultivierteren Variante unserer französischen Nachbarn. Entweder erstickte die hohe Qualität derselben jeglichen patriotischen Einwand seitens des Gastgebers im Keim, oder es lag an meinen Schilderungen, weshalb keine Klagen kamen. Natürlich verletzte ich dabei mein Schweigegelübte in jeder erdenklichen Hinsicht, aber Wassilij war ja ohnehin schon hinlänglich orientiert. Außerdem, der russischen Seele kann man viel vorwerfen, nicht aber, dass sie zur Geschwätzigkeit und zum Vertrauensbruch neigt. Eher darf sich der des Trostes Bedürftige von ihr Zustimmung erhoffen.
„Mein Lieber, das war knapp. Gut, dass du dich zurückgezogen hast“, ließ der nicht lange auf sich warten. Aber wie jeder Feigling, wollte ich es noch genauer wissen.
„Ich komm mir so schäbig vor“, versetzte mich der Alkohol in einen Zustand heuchlerischer Selbstanklage. „Da ist doch eine Riesenschweinerei im Gange und ich werde das Gefühl nicht los, zuwenig dagegen unternommen zu haben.“
Er grinste: „Um genau zu sein, hast du die Dinge erst ins Laufen gebracht.“
Komisch, wird man von Dritten bezichtigt, fühlt sich Masochismus lange nicht mehr so gut an. Zwischen „Ich bin ein Schwein“ und „Du bist ein Schwein“ klafft eine Lücke, groß genug um eine Galaxie hindurchzuschleusen.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ jammerte ich drauflos.
„Nichts.“
„Was hättest du getan?“
„Weniger als das. Was meinst du, warum ich mich aus der Hauptkampflinie des Okkulten zurückgezogen habe?“
Das stimmte. Wassilij hatte sich längst auf das Terrain der Wunderheilung verlegt. Offiziell firmierte er als Magnetist, wirkte ausschießlich von seiner sicheren Heimstatt aus und das mit einigem Erfolg.
„Schwarze Magie, Geisterbeschwörung und das alles ist gefährlich und es bringt nichts. Das Böse ist auf dem Vormarsch und ganz egal wer seine aktuellen Protagonisten sind, ob sie Raoul heißen oder wie auch immer, du und ich, wir haben dem nichts entgegenzusetzen. Jedenfalls nicht in einer Welt, die alles unternimmt sein Wachstum so zu fördern, wie eine mit Nährlösung bestrichene Petrischale das von widerlicher Mikroben.“
Er sprach leise, über den Tisch gebeugt. Regen prasselte aufs Dach und um die Gruselstimmung perfekt zu machen, wurde das Haus von wütenden Böen durchgeschüttelt. Ich füllte mein Glas und versuchte mit einem verächtlichen Lachen das Unbehagen niederzuringen.
„Nee, mein Lieber, da kämpf ich lieber gegen Krankheiten“, schwadronierte Wassilij. „Das sind zwar Unterabteilungen derselben Macht, aber verhältnismäßig schwache. So schwach, dass sie sich nicht wie Pilzflechten über Städte, Länder oder ganze Kontinente ausbreiten, sondern lediglich in den Körpern armer Kreaturen Nistplätze suchen. Dagegen lässt sich was ausrichten“, zog er endlich ein versöhnliches Zwischenfazit.
„Mit höherrangigen Dämonen, als der hiesigen Ärzteschaft, leg ich mich nicht mehr an.“
Damit spielte er auf den Umstand an, dass man seine Erfolge in gewissen Milieus nicht eben gerne sah. Die Schulmedizin wertet es als grobe Unsportlichkeit, wenn einer, der sich weder Numerus Clausus noch Physikum stellte, ihre Prognosen hinsichtlich der Lebenserwartung eigentlich austherapierter Patienten regelmäßig Lügen straft. Wen aus promoviertem Mund das Verdikt ereilt, der hat verdammt nochmal auch zu sterben. Alles andere wäre doch unfair.
Aber Wassilij ging nicht weiter darauf ein. Einen freudig begonnenen Abend mit Medizinerschelte zu verbringen, hieße ihn entscheidend abzuwerten. Also schenkten wir uns beide noch etwas nach, stießen an und brachten die Kelche zum klingen.
„Was ist“, wiegte er die leere Flasche in der Hand, „köpfen wir noch eine?“
Später gingen wir zu Wodka über und wie gewohnt bezahlte ich das lustige Gelage mit einer wenig erquicklichen Nachtruhe. Als ich am frühen Nachmittag daraus erwachte, lag mir nur wenig daran mein Traumtagebuch auf den neusten Stand zu bringen. So verblassten die Szenen und Bilder von Raoul, Hartmann, Herrn P. und komischerweise meiner Mutter, die sich immer wieder mit erhobenem Zeigefinger in das Geschehen drängte, mir Vorhaltungen wegen meiner Berufswahl machend, ohne festgehalten zu werden. Aber die Botschaft war angekommen: Ich brauchte dringend etwas Distanz. Also begab ich mich eiligst zur Bank, löste den Scheck ein und achtete dabei nicht unter die Räder zu kommen.
Danach widmete ich mich dem Telefon, verschob Termine oder sagte sie gleich ganz ab.
Mein Aufbruch vollzog sich noch am selben Abend. Natürlich nicht per Flugzeug, auch die Bahn schien mir ungeeignet. Seit dort die neue Zeit Einzug hielt, man sich neuerdings vor dem Information-Point einreiht, anstatt der Fahrauskunft, hat das Unternehmen nicht nur an Charme verloren, sondern wurde gleichsam zu einer Ursuppe, bestens dazu geeignet, ganze Heerscharen von Raoul-Mutanten hervorzubringen. Mochten sie sich auch Hartmut, Walter und Fritz nennen und über keinen Migrationshintergrund verfügen, lieber als einen dieser schlecht gewarteten Hochgeschwindigkeitszüge bestieg ich meinen altgedienten Gebrauchtwagen. Der hatte in all den Jahren bewiesen, dass sich am Tag seines Enstehens alle Dämonen gerade in der Gegenschicht befanden. Und Benzinpreise mussten mich nicht schrecken, dafür sorgte schon Hartmanns Scheck.
Dieser war noch lange nicht aufgebraucht, als ich ungefähr vier Wochen später von einer Reise zurückkehrte, die mich über ausgedehnte Aufenthalte in noblen Hotels bis nach Granada geführt hatte. Neben etlichen neuen Kilometern auf der Tachouhr verfügte der Wagen jetzt auch über so manches Neuteil und ich über neue Sprachkenntnisse. Wer nie mit einem Gebrauchtwagen auf Tour geht, in dessen Wortschatz kursieren keine französischen Fachbegriffe wie „joint de culasse“, oder der weiß auch nicht was man in Spanien verlangen muss, um einen löchrigen Auspuffendtopf ersetzen zu lassen.
An einem Regentag war ich abgefahren, mittlerweile hatten die Vorboten des Sommers auch Deutschland erreicht. Zuletzt die doch schon reichlich glutofenartigen Temperaturen in Spanien als unangenehm wahrnehmend, freute ich mich über die hiesigen Verhältnisse einer moderaten Wärme bei leichter Bewölkung. Meine im Ausland völlig unnütze, sichtbehindernd im rechten Winkel der Windschutzscheibe klebende Wohnortsparkberechtigungsplakette, ergab mit einemmal wieder Sinn. Ich steuerte die nächstbeste Lücke an und dachte, egal wie marode die eigene Karre auch sein mochte, weder in Frankreich noch in Spanien musste der Reisende nach einer linguistische Entsprechung für dieses bürokratische Wortungetüm suchen.
In beiden Ländern wurde nach Herzenslust geparkt und trotzdem blieb der Wildwuchs aus. Im Gegensatz zu hier, hatte ich mich weder in St. Etienne noch in Valencia über frech auf Gehsteigen abgestellte Prachtkarossen ärgern müssen. Ja, selbst der jedes ästhetische Gefühl beleidigende Anblick dieser in Blech und Chrome gefassten Zeugnisse unverhohlenen Besitzerstolzes, war mir zumeist erspart geblieben. Der Glaube, arrogant-aggresive Autoschnauzen, Stückpreis Hunderttausend Euro, könnten die Bedeutung ihrer Lenker nachhaltig aufwerten, beschränkte sich dort scheinbar auf Personengruppen, die entweder mittel- oder unmittelbar etwas mit dem Rotlichtgewerbe zu schaffen hatten. Na ja, kamen mir beim Entlanggehen des sauberen Trottoirs die Haufen halbvergammelten Mülls in den Sinn, auf die man gerade in Spanien in hübscher Regelmäßigkeit stieß. Nirgendwo ist alles besser. Überall lauert der Verfall, er drückt sich nur anders aus.
Vor der Tür stapelten sich die Zeitungen, der Briefkasten floss über von Post und dem Anrufbeantworter ging es kaum besser. Er begrüßte mich mit wildem Synchronblinken seiner beiden Lämpchen, so ungestüm, dass ich jeden Moment erwartete, er würde an mir hochspringen und anfangen, mir das Gesicht abzulecken. Meine lange Abwesenheit hatte offenbar seinem Datenspeicher nicht gut bekommen - ich sollte ihm unbedingt durch Betätigen der Löschtaste Linderung verschaffen, erklärte die Schrift im Sichtfenster seine Wiedersehensfreude.
Er hatte es bis jetzt ausgehalten, also widmete ich mich zuerst den zahlreichen Couverts. Dabei begleitete mich das ungute Gefühl, gleich einem Exemplar zu begegnen, auf dem das Flughafenlogo prangte. In Studententagen hatte man mit ähnlich beschleunigtem Puls die Morgenpost gesichtet, wenn am Quartalsende die Abrechnung der Gas- und Elektizitätswerke rausgingen. Auch heute waren haufenweise Rechungen dabei, aber die waren mir geradezu willkommen, solange mir nur Hartmann und Konsorten nichts mitzuteilen hätten. Es sah ganz danach aus. Und mit dem letzten Schrieb, ohne Flughafenbezug, war die erleichternde Gewissheit hergestellt, dass man dort unsere Geschäftsbeziehung als endgültig abgeschlossen betrachtete. Wie hatte sich Raoul ausgedrückt, Freunde auf Distanz? An mir sollte der Vorsatz nicht scheitern. Distanz schafft Nähe? Nicht in diesem Fall.
Doch es kam anders. Kaum eine Minute später wurde mein Plan von einem von Flughafenkümmernissen unbelasten Leben durch meine diesbezüglich immer noch höchst intakte, selektive Wahrnehmung sabotiert. Beim Durchblättern der aktuellen Zeitung stach mir nämlich gleich ein Artikel ins Auge, der sich mit der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung jenes für mich so unschön konotierten Unternehmens befasste.
Einen stumm vor sich hin lamentierenden Anrufbeantworter schaffte ich zu ignorieren, bei dem fast die gesamte Seite beherrschenden Artikel gab ich mich geschlagen. Sofort war ich in den Sessel gesunken und hatte mich festgelesen. Immer wieder wanderten meine Augen zwischen Text und der eingeschobenen Fotografie hin und her. In der fröhlich lächelnden Gruppe der Abgebildeten erkannte ich Hartmann, seinen Chef, den Präsidenten der Flughafengesellschaft und auch den dritte Mann hatte ich schon mal gesehen. Es handelte sich um den Agenten der Versicherung, sozusagen Herr Kaiser, der offensichtlich die Seiten gewechselt hatte. Wie es in der Bildunterschrift hieß, leitete er jetzt in der neugegründeten Untergesellschaft New Cargo Solutions das Ressort der Öffentlichkeitsarbeit.
Komisch, wo war Herr P., dem nach eigenem Bekunden genau dieses Amt zugesichert worden war? Der Text gab keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Ebensowenig fand Raoul Erwähnung, was mich natürlich nicht verwunderte. Eingedenk seines vermuteten Beitrags bestand Herr Kaisers vordringlichste Aufgabe wohl eher darin, ihn nach Kräften aus den Schlagzeilen rauszuhalten als umgekehrt.
Trotz Krise und abnehmender Passagierzahlen, war zu lesen, stemmte man sich erfolgreich gegen den Abwärtstrend. Mehr noch, im Gegensatz zu anderen Standorten entwickelte sich der hiesige Betrieb sogar erstaunlich positiv. Nicht zuletzt aufgrund der Eroberung neuer Geschäftsfelder, was seinen Niederschlag unter anderem in der New Cargo Solutions fand. Worin das Angebot konkret bestand, darauf ging der Artikel nicht ein. Halbsatzweise sprach er von einem Geschäft im B2B-Bereich, lobte hingegen ausführlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze und belegte das Angesprochene mit etwas Statistik. Als jemand mit soziologischer Vorbildung weiß ich um die Aussagekraft von diesen, gemeinhin leichtsinnigerweise als nackt gescholtenen Zahlen. Ein Text kann sich bedeckt halten, durch die Nebelkerzen schöner Formulierungen verschleiern, aber Zahlen, sofern authentisch, spiegeln Tatsachen wider. Man muss sie nur richtig deuten. Dazu ging ich sofort über. Und genauso schnell hatte ich sie gefunden, die Diskrepanz, die, da unkommentiert, den meisten wohl durchs kognitive Netz geschlüpft wäre. Natürlich neigen Statistiken nicht zwangsläufig dazu, ausgeglichen zu sein. Überschüsse in der Handelsbilanz sind normal und erwünscht. Aber im Luftverkehr, bei den Starts und Landungen, sollte doch in etwa ein Ausgleich stattfinden. Genau hier wies der Flughafen ein signifikantes Defizit auf und zwar bei den Landungen.
Es waren weniger Flugzeuge angekommen als abgeflogen.
Noch fehlte den Indizien jegliche Beweiskraft. Zur Untermauerung meines Verdachts waren Vergleichszahlen nötig. So verstrich die nächste Stunde mit Internet-Recherchen. Keine Ahnung warum ich mich derart ins Zeug legte, nur um einem fiktiven Staatsanwalt zuzuarbeiten, der nie mit den berühmten Worten „J´accuse“ einem Richter gegenüber treten würde. Aber wahre Wissenschaft fordert keinen höheren Lohn, als den des Gewinns purer Erkenntnis.
Somit stöberte ich durch alle im WWW verfügbaren Wirtschaftberichte der einschlägigen Branchen, löste dabei Schale um Schale von der Zwiebel genannt Wahrheit und stellte schließlich fest, dass sich gewöhnlich die Zahl der Abflüge mit der der Landungen zu decken pflegte. So ist es alter Herren Sitte, zumindest seit das Flugwesen anfing, sich durch geeignete Maßnahmen in eine Spitzenposition unter den als sicher geltenden Verkehrsträgern hochzuarbeiten. Lediglich eine kasachische Fluglinie konnte mit einer ähnlich unausgeglichenen Bilanz aufwarten, wie die im Artikel vorliegende. Aber dort durften wohl natürliche Gründe der Materialermüdung als Ursache für die Unterdeckung vorausgesetzt werden. Verschwindet eine alte Illjuschin vom Radarschirm, dann löst sie sich halt nicht in Luft auf, sondern höchstens in ihre Einzelteile, wenn sie sich unsanft ins Erdreich bohrt. Eine böse Sache, aber immerhin in Einklang mit den Vorstellungen und Werten aller recht und billig denkenden Menschen.
Was erklärte hingegen den Schwund in Hartmanns Betrieb? Seit mich vor knapp zwei Monaten sein verzweifelter Anruf ereilte, hatte sich dort die Lage offenbar nicht geändert. Wobei, das stimmte nur zur Häfte. Ich betrachtete sein fröhliches Gesicht auf dem Foto, gedachte des gardarobenmäßig deutlich aufgewerteten Raouls im Flur der Direktion und kam zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu damals die Vorgänge jetzt auf die entschiedene Billigung der Geschäftsleitung stießen. Welchen konkreten Nutzen sie daraus zogen, war mir zwar immer noch schleierhaft, aber ein paar Vermutungen stellten sich schon ein. Die meisten so ungeheuerlich, dass ich meinem vergetativen System keinen Vorwurf machen konnte, als es meine gesamte Körperbehaarung in eine ungemütlichen Hab-acht-Stellung nötigte.
Auch außerhalb religiöser Vereinigungen ist es manchmal sinnvoll, nach bestimmten Regeln zu leben. Das alte Testament hielt ich zwar nur partiell für mich zuständig, aber mit dem Gebot, beneide nicht deines nächsten Hab und Gut, war plötzlich etwas anzufangen. Besonders wenn man den Wortlaut in eine aktuellere Sprache überführte: Schau nicht hin und kümmere dich um deinen eigenen Kram. Damit zerknüllte ich die Zeitung.
Den Finger auf der Löschtaste verstrich ein Moment des Zögerns. Ich verstärkte den Druck, es piepste und damit hatte sich auch das nervtötende Geflacker erledigt. Immer hübsch loslassen. Ein halbherziger Neuanfang ist ungefähr so vielversprechend, wie der Antritt einer Kneippkur in Gummistiefeln.
*
„Hallo, hier ist Klara“, lautete die fernmündliche Begrüßung.
Den ganzen Morgen über hatte das Telefon geläutet. Ernsthaft Interessierte erwarten nicht, dass sie zurückgerufen werden. Im Gegenteil, ein leicht erreichbarer Spezialist würde sich in den Augen seiner Kundschaft nur abwerten.
„Klara?“
Wollte mich hier jemand gleichsam mit dem Erstanruf auf meine telepathischen Fähigkeiten abklopfen? Sowas kommt tatsächlich vor. Nach dem Motto, ich nenn ihm meinen Vornamen und wenn er dann nicht von selbst mit Nachnamen, Adresse und Familienstand herausrückt, dann kann er ja nicht viel drauf haben. Manche versteigen sich sogar darauf, Teil meiner Aufgabe sei es, dem Anrufer die Motive seines Anrufs zu erklären. Derartige Ansinnen gilt es zurückzuweisen, solche Kunden sind Garanten für Ärger. Man belässt sie besser im Glauben, nicht der Geeignete für ihren Fall zu sein.
All das stand hier allerdings nicht zu befürchten, wie ich sogleich erfuhr.
„Klara - die Freundin von Wassilij. Du erinnerst dich doch?“
„Klara Zetkin, natürlich, tut mir leid.“
Zetkin war selbstredend nur hinzugedichtet. Ihren Familiennamen kannte ich gar nicht. Aber eine Klara, die etwas mit Wassilij zu schaffen hatte, konnte nach meinem lustigen Dafürhalten gar nicht anders als Zetkin heißen. Die meisten Menschen leben in der festen Überzeugung, einen fabelhaften Sinn für Humor zu besitzen. Ich bin da leider keine Ausnahme.
Wie immer fiel die Freude über meinen Scherz auch diesmal eher verhalten aus. „Das ist aber schön, dass du anrufst“, verlegte ich mich deshalb auf das bewährte Feld konventioneller Höflichkeit. Wer über echtes Talent zum Standup-Comedien verfügt, dem übermittelt die Welt zur rechten Zeit eindeutige Signale. In meinem Fall war diesbezüglich bisher wenig Aufmunterndes eingegangen, noch nicht mal ein schwaches Hüsteln.
„Ich versuche dich schon seit Wochen zu erreichen. Hab wohl ein Dutzend Mal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Du rufst wohl nie zurück?“ Glücklicherweise war das Schweigen durch meinen Abstecher ins Touristische schnell erklärt.
„Ach herrje, dann weißt du ja gar nicht was passiert ist“, sagte sie. Nicht die Zetkin-Sache hatte sie verstimmt, offenbar gab es dafür gewichtigere Gründe. Das Unheilschwangere erfasste jetzt auch mich.
„Was ist denn passiert?“
„Wassilij ist tot.“
„Wassilij ist tot?“
„Schon seit einem Monat.“
Der Tod, das letzte große Rätsel. Besonders wenn er derart unvermittelt erscheint, sich jemanden greift, der bei der letzten Begegnung noch so vital war wie Wassilij.
„Das gibt´s doch nicht.“
„Es ist leider wahr.“
Wie kann ein vertrauter Mensch so einfach verschwinden und man davon gänzlich unberührt bleiben? Gerade in meinem Gewerbe kommen da zum Verlust noch quälende Gefühle der Unzulänglichkeit.
„So plötzlich, er war doch nicht krank, hatte er einen Unfall?“
„Eigentlich beides“, erwiderte Klara ziemlich gefasst. Ich dachte an den Altersunterschied und daran, dass Klara die dritte Frau gewesen war, die mir Wassilij in den zwei Jahren unserer Freundschaft als seine Herzallerliebste vorgestellt hatte. Jede hätte seine Tochter sein können, demzufolge den Beziehungen auch nie Dauerhaftigkeit beschieden war. Wassilij war sich dessen bewusst und nahm es sportlich. Sowohl bei der Anbahnung (was zum Teil seinen Erfolg erklärte), als auch bei der Trennung (weshalb ihm die Damen gewöhnlich freundschaftlich verbunden blieben). Jedenfalls erreichten die Gefühle auf beiden Seiten nie wirklich schiffbare Gewässer, versandeten aber auch nicht im Seichten und besaßen dadurch doch noch Tiefe, zumindest eine philosophische.
Klaras Sachlichkeit, in der sie jetzt anfing mir die genauen Umstände von Wassilijs Ableben zu schildern, war wohl eher der zeitlichen Distanz geschuldet als einem Mangel an Zartgefühl. Für sie lag der Schrecken bereits in der Vergangenheit, für mich war er frisch, aber ich war ja auch nur ein guter Bekannter, kein naher Angehöriger, dem man die Dinge schonend beibringen musste.
In einem bestimmten Punkt beruhigten mich ihre Worte sogar. Auch wenn eine Verkettung von tragischen Umständen Wassilijs Tod verursacht hatte, so war offenbar auszuschließen, irgendetwas davon hätte mit mir zu tun. Im Nachhinein fröstelte es mich bei dem Gedanken, Wassilij großer Gefahr ausgesetzt zu haben, indem ich ihn leichtfertig zum Mitwisser meiner Erlebnisse um den Flughafen-Auftrag stempelte. Sowie ich erfahren hatte, Wassilijs Ende habe sich fernab des Reiseverkehrssektors abgespielt, fühlte ich mich trotz der traurigen Nachricht einigermaßen erleichtert.
Folgendes war geschehen: Eines Abends, nach üppigem Mahl, fühlte sich Wassilij sehr unwohl. Als sich sein Zustand verschlechterte, sah sich Klara gezwungen die Ambulanz zu rufen. Die Diagnose lautete akute Blinddarmreizung, weshalb man sich entschloss, ihn sofort in die nächstgelegene Klinik zu verbringen. Wassilij sei zu dem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar gewesen, ansonsten er wohl darauf bestanden hätte, in ein anderes Krankenhaus eingeliefert zu werden. Denn was Klara nicht wusste, in eben jener Anstalt, wohin seine letzte Reise führte, waren in Gestalt dreier Chefärzte seine ärgsten Kritiker und Widersacher am wirken. Ausgerechnet diesen wurde Wassilij also ausgeliefert.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Klara, „du etwa?“
„Nur dass er in gewissen Milieus nicht gerade wohlgelitten war. Er hat manchmal davon gesprochen, aber ich hielt es für einen Scherz oder zumindest übertrieben.“
„Nicht wahr, ich auch. All das Gerede, die seien eifersüchtig auf ihn und seine Erfolge, würden ihn gerne unschädlich machen, das konnte man doch nicht ernst nehmen. Männliches Renommiergehabe, dachte ich.“ Eine Pause entstand in der ich nochmal den lebendigen Wassilij über die Weißkittel herziehen sah.
„Wer rechnet denn mit sowas“, sagte sie in der Zwischenzeit.
Wassilijs Paranoia war eine Sache, die Realität eine andere. Ich muss zugeben, mein Verstand weigerte sich zwischen den Anschuldigungen und seinem Ableben eine Verbindung herzustellen. Selbst wenn er ihnen wie ein Wilderer in ihren ureigensten Jagdgründen vorkam, so würden Mediziner doch nie zu den von Klara angedeuteten Methoden greifen, um sich einer unliebsamen Konkurrenz zu entledigen. Nicht in Deutschland. Wahrscheinlich ging es hier eher um eine psychologische Projektion, als Folge eines tief verwurzelten Schuldkomplexes.
„Mach dir mal keine Vorwürfe“, sagte ich.
Darauf sie: „Die haben ihn kaltlächelnd umgebracht.“
„Zugegeben, bei unserer Apparatemedizin stellt sich so ein Eindruck schon mal ein.“
„Nein, wörtlich. Sie haben ihn umgebracht. Er hat es selbst gesagt.“
Die Operation an sich wäre erfolgreich verlaufen, angesichts des Routineeingriffs auch nicht verwunderlich. Aber dann hätte sich eine Sepsis eingestellt, darauf Verlegung auf die Intensivstation, schließlich Lungenentzündung.
„Aber daran stribt man doch nicht“, warf ich ein.
„Du hast keinen Schimmer. Jährlich sterben Tausende, nicht an den Folgen ihrer Krankheit sondern durch die mangelnde Hygiene in unseren Kliniken. Bei Wassilij wurde natürlich nachgeholfen.“
Es klang nach Schauermärchen, aber ich wurde langsam hellhörig.
„Lässt sich natürlich nicht beweisen. Das übliche Risiko bei Operationen, in einem von hundert Fällen gibt es Komplikationen. Ha! Komplikationen – klingt schöner als Hoppla, wir haben Mist gebaut.“
Mir waren unsere Gespräche über den Tod in wacher Erinnerung. Im Gegensatz zu mir entbehrte für Wassilij dem Thema jegliche Abstraktheit. Er war ihm persönlich begegnet, hatte Gevatter Hein sozusagen mehrfach ins kaltblitzende Auge geblickt, jedesmal wenn sie auf ihren Patroullieflügen in Aghanistan den sogenannten Mujdshahedin begegneten. Wobei die natürlich nichts unversucht ließen, um den Sichtkontakt zu vermeiden. Ihre Anwesenheit bezeugten eher plötzlich heranbrandete Geschosss-Salven als von Turbanen beschattete Augenhöhlen. Jeder, sagte er, der als Mitglied einer Helikopterbesatzung die spätere Phase überstand, als die Gotteskrieger aus den Händen der Ungläubigen zu den M1-Gewehren auch noch Boden-Luft-Raketen erhielten, befand sich hernach in dem festen Glauben, ihn würde ein langes Leben erwarten. Wen einmal eine Stinger verfehlte, mit dem hat es der Tod nicht eilig, der stribt lachend als hochbetagter Mann im Bett, so der allgemeine Tenor unter den davongekommenen Rotarmisten.
„Ja, im Bett ist er gestorben, sogar lachend, soweit behielt er recht. Nur halt nicht gerade hochtbetagt“, parierte Klara meinem Ausflug ins Anektodische.
„Er hat gelacht?“
„Denk nur, die Ironie seines Endes hat ihn amüsiert. Was sind die Götter doch für Sapßvögel, hinter dem großen Perlenvorhang erwartet mich bestimmt eine Sause.“
Komisch, wer die Liebe leicht nimmt, der verfügt auch über die richtige Einstellung zum Tod.
„Richtig gesorgt hat er sich eigentlich nur um seine Kundschaft – seine Patienten“, sagte Klara. „Er hat mir eingeschärft, dir auszurichten, du müsstest seine Arbeit fortsetzen.“
„Ich? Davon verstehe ich nichts.“
„Er hat Aufzeichnung hinterlassen. Eine regelrechte Gebrauchsanleitung.“
„Eine Gebrauchsanleitung zum Heilen? Na, ich weiß nicht.“
„Das war sozusagen sein letzter Wille.“
Ihre Pflicht sei es, mir alles auszuhändigen. Also verabredeten wir uns für den nächsten Tag und beendeten das Gespräch.
Seit ich mich in dieser Stadt niederließ, war ich nie in die Verlegenheit geraten zu einem der Friedhöfe rausfahren zu müssen. Richtig angekommen ist man wohl erst, wenn sich dafür eine Notwendigkeit ergibt. Klara dirigierte mich durch den nachmittäglichen Verkehr und die Fahrt vollzog sich in der typisch heiteren Stimmung, wie sie sich gewöhnlich nur aus traurigen Anlässen so spielerisch leicht entwickelt. Eine Gärtnerei kündigte die Nähe des Bestimmungsortes an.
„Ich sollte vielleicht ein paar Blumen besorgen“, meinte ich.
Sie winkte entschieden ab und wir ließen den Laden links liegen. So weit ich es beurteilen konnte, war es der erste richtig heiße Tag des Jahres. Auf dem weitläufigen Parkplatz nahm mich die Suche nach einem schattigen Plätzchen derart in Beschlag, dass ich darüber den eigentlichen Grund des Besuchs vergaß. Erst als wir ausstiegen erinnerte mich die ungewohnte Zweier-Konstellation wieder daran, dass etwas nicht stimmte. Bislang war diese schlanke Frau für mich ein Fortsatz von Wassilij gewesen. Wo sie war, war auch er nicht weit und auf eine grausame Weise traf das im Moment sogar wieder zu.
Dann das schmiedeiserne Tor zur Begräbnisstätte. Ich finde, nur pietätlose Menschen lassen sich von Friedhöfen einschüchtern. Das sind die, die erfurchtsvoll in Museen die Stimme dämpfen, oder glauben, Fasching wäre lustig. Wem echtes Feingefühl abgeht, für den hält die Welt passende Einrichtungen parat, um ihm über den Mangel hinwegzuhelfen. Auch Gräber sind nur Symbole und es hat nichts mit Verrohung zu tun, wenn man bei ihrem Anblick nicht in Ehrfurcht erstarrt. Trauer ist weder an Ort noch Stunde gebunden, weshalb mich an dem frisch aufgehäuften Erdhügel, zu dem wir schließlich gelangten, zunächst am meisten beschäftigte, dass er über und über mit Gärtnereierzeugnissen bedeckt war.
„Siehst du“, lächelte Klara, „weiteres Grünzeug ist unnötig, der Bedarf hält sich in Grenzen.“
„Oder in Kränzen“, ging ich vor den Gebilden in PKW-Reifengröße in die Knie, um die Aufschriften auf den Bändern lesen zu können.
„Seine Kunden“, erklärte sie.
Dass er einen so umfangreichen Patientenstamm betreut hatte, überraschte mich. Zudem, wie die dankesvollen Worte belegten, einen überaus zufriedenen.
„Das sollten die Quacksalber mal sehen“, sagte ich.
„Hör mir bloß mit denen auf. Bringt die Mafia einen unter die Erde, schicken die wenigstens einen letzten Gruss. Die Ärzteschaft hüllt sich in Schweigen. Mistkerle!“
Ich lachte, obwohl mich die Sache ziemlich wurmte. An Wassilijs Dahinscheiden gab es jetzt nichts mehr zu rütteln. Die Schuldfrage war erst mal zweitrangig. Sich diesbezüglich allzusehr reinzusteigern, nutzte weder Klara noch mir. Also lenkte ich das Augenmerk auf die praktischen Aspekte, die sich aus der Situation ergaben. Begräbniskosten, Auflösung des Hausstands, Erbschaftsfragen, all die unerquicklichen organisatorischen und bürokratischen Begleiterscheinungen des Todes, denen selbst die Hinterbliebenen von Menschen nicht entgehen, die zeitlebens alles daran setzten, ein möglichst unauffälliges Dasein zu fristen. Zuletzt sorgt halt auch noch der Bescheidenste und Zurückhaltenste für einen ziemlichen Wirbel. Da, wie ich erfuhr, keine Verwandten aufzutreiben gewesen seien, hatte sich Klara um alles kümmern müssen.
„Finanziell ist alles geregelt, zum Glück“, beantwortete sie meine Frage, ob irgendwelche Rechnungen offen geblieben seien.
Ich meinte, der Tod verlöre einen Großteil seines Schreckens, würde nur der Verwesungsprozess nicht so viel Zeit für sich beanspruchen. Würden wir uns nach Eintritt des Exitus augenblicklich in Luft auflösen, gäbe es diesen ganzen Totenkult nicht, kurz die Welt wäre ein besserer Ort. Die Vorstellung von Privateigentum entwickelte sich letztlich aus dem Zwang zur Erdbestattung und daraus wiederum all die unseligen Konflikte um vermeintliche Landrechte. Man zieht in den Krieg um Land zu verteidigen, nur weil dort zufälligerwiese unsere Vorfahren verscharrt worden sind. Jedenfalls, schlug ich den Bogen zu meinen Ausgangsgedanken, gruseln wir uns nicht am Tod, sondern lediglich an den Leichen. Wie langweilige Partygäste verderben sie den anderen den Spaß.
Während ich so vor mich hin plapperte, zupfte Klara verwelkte Blumen vom Grab.
„Dann müsste es aber auch eine Instantgeburt geben, ohne vorangegangene Schwangerschaft“, sagte sie ingebückter Haltung, „da es aber nicht so ist, kann man nicht erwarten, dass das Ende unkomplizierter verläuft als der Anfang.“
„Guter Einwand“, erwiderte ich.
Meine Augen lösten sich von der Erdbeule menschlicher Lebenskürze, erfassten den schon in einer ganz anderen Liga der Beständigkeit spielenden Waldsaum und gelangten schließlich zu der, das alles überspannenden Schicht, wo Jahrhunderte als Nanosekunden verticken. Ein einsamer Kondensstreifen zog sich über das makellose Himmelsblau. Vom ausgefransten Ende bis zur silbernen, auf die Sonne zustrebenden Spitze, wirkte er wie der flüchtige Strich unter einer ewig gültigen mathematischen Gleichung. Ich musste an Raoul denken. Für ihn standen an der Tafel, wo mich die kosmische Arithmetik nur in Form blendender Lichtquanten erreichte, womöglich konkrete Zahlen.
„... oder was meinst Du?“
„Äh, was?“
„Den Grabstein suchen wir doch gemeinsam aus, nicht wahr?“
„Claro Chica.“
Ich sah in das Gesicht mit der klobigen Jackie-Onassis-Sonnenbrille.
„Dabei kann es ja nicht bleiben“, deutete sie auf das schlichte Holzkreuz, das in unseren Breiten bestatungstechnisch offenbar zur Erstausstattung gehört.
„Vielleicht fällt dir ja ein passender Grabspruch ein?“
Dann ging sie los, um einem erstarrten Strauß verdorrten Grünzeugs als Bestaterin zu dienen. Ihre Schuhe knirschten über den Kiesweg und ihr Hosenanzug behauptete auch unter frühsommerlichen Lichtverhältnissen sein tiefes Schwarz. Er schien ganz neu und sie verstand ihn zu tragen. Manche Menschen genießen den Vorzug, noch den tristesten Anlass zu ihrem Vorteil ummünzen zu können.
Hierin unterschied sich etwas später das Paar, das uns ungefähr auf der Höhe der modernen Einsegnungshalle, unweit des Ausgangs, entgegenkam. Eine alte Frau, offensichtlich daran gewöhnt, ihr Tempo an das ihrer jungen, an Krücken humpelnden Begleiterin anzupassen. Ein trauriger Anblick, weit erschütternder als die friedvoll in der Sonne liegenden Ruhestätten. Ein garstiger Geselle ist Gevatter Hein, wenn er anfängt mit den Lebenden zu spielen, sie erst quält, bevor er zum Hauptschlag ausholt. Wie ein Kätzchen, das die Maus zwischen den Prankenhieben immer wieder mal etwas entkommen lässt. So gesehen hätte es Wassilij schlechter treffen können. Seinem Ableben war wenigstens keine jahrelange Agonie vorausgegangen.
Oft, wenn unsere Aufmerksamkeit aus der Ferne erregt wird, dauert es nicht lange und auf mysteriöse Weise ergibt sich eine Gelegenheit, Details aus nächster Nähe zu erfahren. So auch hier. Klara verlangsamte den Schritt, wechselte die Richtung und ehe ich mich versah, stand sie schon bei den Zweien und tauschte Höflichkeiten aus. Man kannte sich. Und mich kannte man auch.
„Wir sind uns mal im Treppenhaus begegnet“, sagte die alte Frau und die junge lächelte dazu. Ich reichte ersterer die Hand und begriff, es mit Wassilijs Hauswirtin zu tun zu haben. Es macht einen immer etwas verlegen, geben uns Leute zu verstehen, dass wir in ihrer Wirklichkeit eine gewisse Rolle spielen, während man selber doch ziemlich ahnungslos ist.
„Natürlich, ich erinnere mich“, aktivierte ich die Kräfte der Selbstsuggestion.
Sie erwiderte: „Aber bestimmt nicht an meine Tochter.“
Meine Vorstellungskraft hätte mir auch das einreden können, ich war aber froh, bei der Wahrheit bleiben zu können, denn jene, hieß es, habe die Wohnung praktisch nie verlassen.
„Erst seit ein paar Monaten ist sie dazu in der Lage – dank ihres Freundes!“
Die Krücken unter die Achseln geklemmt, schaffte es die Angesprochene ihr dünnes Ärmchen weit genug abzuspreizen, um es wie eine Aufforderung zum Händeschütteln scheinen zu lassen. Wenn Krankheit auf Wohlergehen trifft, obliegt es dem Gesunden, nicht aus der Rolle zu fallen. Mit dem in solchen Situationen üblichen Gestus, dass alles in bester Ordnung sei, brachte ich das Ritual hinter mich. Einem schüchternen Vögelchen gleich, das eben mal seinen Lieblingsast verlassen hat, flatterte ihre Hand nach der flüchtigen Berührung sofort zurück und schloss sich wieder um den Haltegriff der Stange. Dazu war sie da, weniger um einer Begrüßung den letzten Schliff zu verleihen, deshalb auch die Knochigkeit.
„Alle Hoffnung hatten wir schon aufgegeben“, meinte die Hauswirtin und ihre Tochter, als Auslöserin des Kummers, verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen.
„Wären wir nur früher zu ihrem Freund gegangen, nicht wahr, Brigitte. Hätten wir nur nicht auf die Ärzte gehört, hätten wir uns nur früher dazu entschlossen.“
Brigitte nickte schicksalsergeben. Von Spezialist zu Spezialist seien sie gereist, hätten ein Vermögen ausgegeben, nur um immer wieder mit der Erkenntnis abgespeist zu werden, dass dem Kind nicht zu helfen sei. Beziehungsweise, direkt ausgesprochen habe das keiner.
„Immer dieselben Tests, ja, in der Diagnostik ist die Schulmedizin wirklich unschlagbar“, redete sich die Wirtin in Rage. „Die finden auf alle Fälle was und haben auch einen schönen Namen dafür. Aber zugeben, dass sie nicht wissen was zu tun ist, dafür fehlt die Größe. Wäre ja auch unprofessionell, deshalb wird halt Kortison verschrieben.“
Parallelen zu meiner eigenen jüngeren beruflichen Praxis wurden deutlich. Das Problem zu erkennen, dazu war ich fähig gewesen, nicht aber gegen Raoul vorzugehen. Selbst wenn es nur die Symptome bekämpft, in meiner Branche hätte man sich über die Einführung eines dem Kortison vergleichbaren Allheilmittels gefreut.
„Und die ganze Zeit wohnt ein Wunderheiler in meinem Haus ...“
„Eigentlich verstand er sich als Magnetist“, erinnerte ich mich an Wassilijs Visitenkarte.
„Bei meiner Brigitte hat er schließlich Wunder vollbracht. Jede kleine Verbesserung ist ein Wunder.“
In der Grotte von Lourdes hatte ich die Krücken der Spontangeheilten hängen sehen. Seiner Krücken nicht mehr zu bedürfen, oder sich aus einem Rollstuhl zu erheben, das war der bildhafte Ausdruck eines Wunders. Davon war dieses Mädchen weit entfernt. Sie hielt sich nur mühsam auf den Beinen und diese, durch das unerwartete Zusammentreffen ausgelöste Zwangspause, machte ihr nicht nur wegen der herunterbrennenden Sonne zu schaffen. Wenn ihre Mutter sich berechtigt glaubte, Brigittes aktuellen Zustand als Wunder zu bezeichnen, wie musste es dann davor um sie bestellt gewesen sein?
„Was ist es denn für eine Krankheit?“ fragte ich ganz automatisch, gleichzeitig wissend, dass mir die Antwort nichts nützen würde. Genauso war es, von dem rasch durch meine Gehirnwindungen schlüpfenden Wortungetüm blieb nur Morbus haften. Morbus Irgendwas.
„Ah ja“, sagte ich und das genügte, um bei der Mutter gewisse Erwartungen zu wecken.
„Kennen Sie vielleicht jemanden, der die Therapie fortsetzen könnte?“ kam sie einen Schritt näher. „Sie haben doch mit denselben Dingen zu tun wie Ihr Freund ...“
Ich wandte mich hilfesuchend an Klara. Aber sie machte es nur schlimmer, indem sie einwarf, Wassilij habe mich auf dem Totenbett als seinen Nachfolger bestimmt. Offenkundig keine wirkliche Neuigkeit für die Wirtin. Schon wurde mir angetragen, ich solle doch in die verwaiste Wohnung einziehen. Die sei, wie ich ja wüsste, sehr bequem, die Miete unverhältnismäßig günstig und ohnehin noch auf Monate hinaus bezahlt.
Typisch Wassilij und seine auf Bestandswahrung bedachte Lebensplanung. Um nur bloß nie in wieder in eine wie auch immer geartete Knappheitssituation zu geraten, hatte er Reis, Dosennahrung und sogar Trockenspiritus gehortet und auch dafür gesorgt, dass ihm obdachmäßig nie der Rausschmiss aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses drohte. Eine Haltung, die bei unsicheren Verhältnissen entronnenen Menschen häufig anzutreffen ist. Mich umgab allerdings zeitlebens der Überfluss, weshalb bei meinen Lebenszielen das Streben nach perfekter Vorratshaltung nicht allerhöchste Priorität genießt.
„Sie finden bestimmt Ersatz. Ich werde mich mal umhören“, wollte ich mich auf nichts einlassen. Verständnisvolles Nicken und dazu Klaras Lächeln. Der ziert sich nur, schien es auszudrücken.
Die Wirtin sagte, ihrer Tochter täte es gut das Grab von Wassilij zu besuchen, sei der Weg dorthin auch noch so beschwerlich. Und dann: „Schauen Sie doch mal bei uns herein, Sie und das Fräulein Klara.“
Selbiges versprach ich, worauf man auseinander ging. Einer sich um ihr krankes Kind kümmernden Mutter kann man nichts abschlagen.
Den Rest der Strecke verbrachten wir schweigend. Als ob die dahinter stehenden Bäume die Schattendecke näher an sich herangezogen hätten, war der Wagen quer zu seiner Längsachse in einen dunklen und einen gleißend hellen Teil zerschnitten. Ich schloss Klara die Türe auf und sie sagte: „So still?“
Meine Gedanken kreisten um Wassilijs seltsames Sicherheitsbedürfnis. Insbesondere um den darin angelegten Widerspruch, was seine Partnerwahl betraf. Während ihm sonst an einer langfristigen Versorgung gelegen war, hatte er seine Verhältnisse so angelegt, dass sie, bezogen auf den Faktor Zeit, die angestrebte Stabilität vermissen ließen. Indem er die Nähe zu deutlich jüngeren Frauen suchte, nahm er billigend in Kauf, früher oder später verlassen zu werden. Dafür sprach die hohe Fluktuation. Ein komplett gefahrloses Leben, so mein Schluss, stellt keinen zufrieden. Irgendetwas in uns verlangt nach dem Risiko. Davon existieren ganze Branchen. Verwaltungsangestellte, denen ein Leben ohne Bausparvertrag unerträglich scheint, entwickeln ein Faible für Extremsportarten. Eigentlich der Sanierung von Asbestbauten verschriebene Architekten, rasen mit 250 über die Autobahn und Wassilij suchte den Kitzel der Gefahr in asymmetrischen Liebesbeziehungen, anstatt sich an jemanden zu binden, der ihm in Alter, Erfahrungsschatz und Interessenslage entsprach. Um die Theorie nicht zu gefährden, unterließ ich es Klara diesbezüglich einzuweihen.
„Apropos schweigsam“, sagte ich stattdessen, „das kranke Mädchen war auch ziemlich schweigsam.“
„Sie spricht nicht.“
Ich startete den Motor und wir fuhren los.
„Oh, sie kann nicht sprechen?“
„Doch, aber es fällt ihr schwer. Bevor sich Wassilij ihrer annahm, ernährte sie sich ausschließlich von Suppe. Die Krankheit bewirkt eine Verhärtung des Gewebes, also auch der Speißeröhre. Ein schrecklich schleichender Prozess, der Körper erstarrt förmlich zum Panzer.“
„Furchtbar“, wunderte ich mich wieder einmal über Gottes Ideenreichtum.
„Als er sie das erste Mal sah, sei sie praktisch bewegungsunfähig gewesen. Sie lag in ihrem Bett und roch nach Tomatensuppe.“
„Wenigstens musste er für diesen Krankenbesuch keine weiten Wege gehen.“
„Ja, nur ein Stockwerk tiefer.“
Plötzlich wurde mir bewusst, wie oft ich in Wassilijs Wohnung saß, wie wir uns unterhielten, scherzten und es auch mal etwas lauter wurden und zur selben Zeit, in der Wohnung darunter, vegetierte jemand im Kerker seines eigenen Körpers. Und dazu dudelte der Plattenspieler. Mit Unbehagen dachte ich an das knirschende Parkett, wenn ich spätnachts zur Toilette ging um dem reichlichen Tee-, Wein- oder Wodkagenuss Tribut zu zollen.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, meinte ich.
„Aber jetzt, du hast es selber gesehen, kann sie wieder gehen, nimmt feste Nahrung zu sich und das alles nach noch nicht einmal einem Jahr.“
„Bei der Vorgeschichte wirklich erstaunlich.“
Zwischenzeitlich hätte Wassilij eine ganze Reihe weiterer Morbus-Irgendwas-Patienten betreut, sogar welche aus dem Ausland, alle mit einem gewissen Erfolg.
„Nun“, sagte ich, „der Placeboeffekt liegt gewöhnlich bei 30 Prozent. Abhängig vom Therapeuten werden Erfolgsquoten von bis zu 70 Prozent gemeldet.“
„Wie auch immer“, machte Klara eine wegwerfende Bewegung, „um die armen Schweine tut´s mir fast am meisten leid. Er hat ihnen geholfen, darauf kommt´s an. Wasslij hinterlässt wirklich eine Lücke, kein Schmu, ganz konkret. Die seinen Tod zu verantworten haben, haben mehr als nur einen umgebracht.“
„Hm, ja, sieht fast so aus ...“
Im anbrechenden Berufsverkehr kamen wir nur langsam voran. Klara drehte sich verstimmt zum heruntergelassenen Seitenfenster. Sie schlug die Beine übereinander und schaute hinaus auf den im Schritttempo vorbeiziehenden Bretterzaun einer Baustelle. Auf der ganzen Länge war der mit Plakaten bevorstehender oder bereits verflossener Veranstaltungen beklebt. Wassilij hätte in dem schrillen Angebot wahrscheinlich kaum Vertrautes entdeckt, ich konnte wenigstens mit einigen der beworbenen Popgruppen etwas anfangen, auch wenn sie mich nicht lockten. Bei den Hinweisen auf die DJ-Großereignisse musste ich mich hingegen ebenfalls komplett geschlagen geben. Kulturelle Wissenslücken der leicht zu verschmerzenden Art.
Als ich am darauffolgenden Tag an seiner Wohnung klingelte, öffnete mir Klara. Meine Befürchtungen, die Wirtin wäre zugegen, erwiesen sich als gegenstandslos.
„Ich habe dir die Papiere rausgelegt“, sagte sie und wir gingen ins Arbeitszimmer, oder, wie ich seit gestern wusste, in den Behandlungsraum. Nichts hatte sich verändert. Alles stand an seinem vertrauten Platz. Hinter dem Plattenspieler klemmte wie gewohnt das Cover der Platte, die zuletzt gespielt worden war. Ein Streichquartett von Schubert. So kann es gehen. Eine alltägliche Handlung, durch die endgültige Abwesenheit des Handelnden zur ewigen Abgeschlossenheit erklärt, so wenig umkehrbar wie ein schlechter Zug im Schach. Mir widerstrebte es, mich in den Sessel zu setzen, der aussah, als hätte sich gerade jemand aus ihm erhoben. Sein rechtmäßiger Besitzer hatte in den Polstern das Profil seiner Rückfront hinterlassen.
Also beugte ich mich über den Schreibtisch, stützte mich auf und nahm den Stapel mit den Computerausdrucken in Augenschein. Das oberste Blatt hielt ich zunächst für eine Testseite, so wie sie Drucker ausspucken, wenn man sie erstmals in Betrieb nimmt. Aber dann begriff ich, was es mit den kryptischen Buchstabenkolonnen auf sich hatte.
„Ist das etwa russisch?“
„Ja, der Bericht ist in kyrillisch abgefasst.“
„Das kann ich nicht lesen.“
„Ich werde ihn dir übersetzen.“
Meinen überraschten Blick beantwortete der Hinweis, dass sie des Russischen mächtig sei.
„Schon vergessen, ich studiere Slavistik.“
Damit löste sich auch das Rätsel um die Rekrutierung seiner Geliebten. Und warum sie stets Studentinnen gewesen waren. Wassilij hatte sie an der Uni aufgetrieben, mittels Aushang am schwarzen Brett der Jobgesuche. Wie weit es sich hier um einen Vorwand handelte, oder ob er tatsächlich so dringend Übersetzerinnen benötigte, ließ sich nicht bestimmen.
„Slavistik. Da herrscht wohl eine hohe Frauenquote?“
„Kann sein“, sagte sie. Eine männliche Hilfskraft hatte Wassilij meines Wissens jedenfalls nie beschäftigt. So ein Schlitzohr. Ich betrachtete das Konvolut und es erschien mir gar nicht mal so abwegig, es könnte eventuell aus wenig ehrenhaften Motiven entstanden sein. Eros ist eine kaum zu überschätzende Triebkraft.
„Da steht alles drin, Therapiemethoden, die dazugehörigen Patientenberichte, einfach alles. Vielleicht auch aus Diskretionsgründen russisch.“
Ich blätterte durch die Seiten und ein Zettel fiel heraus, darauf handschriftlich drei Namen, auch für mich lesbar. Hinter einem befand sich ein Ausrufezeichen.
„Das hat er auf dem Totenbett geschrieben“, sagte sie.
„Sind das auch Patienten?“
„Nein, das sind die Namen der drei Ärzte, die seinen Tod zu verantworten haben. Der mit dem Ausrufezeichen hat ihn operiert.“
Jetzt identifizierte ich das ulkige Schriftbild als das von Wassilij. Auf einer Urlaubspostkarte war ich ihm zuletzt begegnet. Großbuchstaben, nicht flüssig geschrieben, sondern wie gemalt.
„Kann ich das behalten?“
Irgendwie fühlte ich mich wie ferngelenkt, als ich den Zettel faltete und in die Innentasche meines Jackets steckte.
Später saßen wir in einer Pizzeria und sprachen über die Abwicklung von Wassilijs Hausstand. Ich entnahm ihren Worten, dass sie als Haupterbin eingesetzt worden war. Für die vorhandenen Geldmittel gab es also einen Abnehmer und das konnte ja wohl nur heißen, dass sich dieser auch um den ganzen Rest zu kümmern hatte.
„Nimm dir was du willst. Bücher, Platten, Möbel, Hausrat – musst es nur sagen“, meinte sie. Ich lehnte dankend ab.
„Die Bücher kann ich nicht lesen, für Schallplatten habe ich lange schon keine Verwendung mehr und überhaupt, aus zweiter Hand zu leben macht nur dann Spaß, wenn einem der Vorbesitzer unbekannt ist.“
Darauf legte sie die Karten auf den Tisch.
„Warum übernimmst du nicht einfach die Wohnung? Wie du weißt, billig und gut“
Ich hatte schon länger den Verdacht, dass es darauf hinauslaufen sollte.
„Ich bin mit meiner ganz zufrieden. Neubau, alles hübsch modern und technisch auf dem neusten Stand.“
Der Gedanke an dünne Wände, war mir allerdings aus mehr als nur Gründen der schwachen Wärmedämmung unerträglich. Wenn ich bei mir die Klosettspülung rauschen hörte, dann war es die eigene. Anteil zu haben an den Darmentleerungsgewohnheiten meiner Nachbarn, oder mich mit ihrem Musikgeschmack auseinandersetzen zu müssen, dies zu vermeiden, stand bei meiner Strategie der Wohnraumbeschaffung an oberster Stelle. Darin war ich pragmatisch. Wer vom Charme des Altbaus spricht, hat entweder exhibitionistische Neigungen, ist Bafög-Empfänger oder dem gebricht es schlicht an Lebenserfahrung.
„Du kannst es dir ja noch überlegen“, spielte sie auf den Umstand an, dass Wassilijs Domizil, dank großzügig geleisteter Vorauszahlungen, noch weitere drei Monate Bestand hatte.
„Zuerst übersetze ich dir den Text“, fügte sie hinzu, „vielleicht änderst du darauf deine Meinung.“
Das hielt ich zwar für unwahrscheinlich, aber damit hatte sich das Thema wenigstens erst mal erledigt. Das Essem kam und wir unterhielten uns über andere Dinge. Zum Beispiel über den kleinen Jungen, der jetzt schon zum wiederholten Mal bei uns aufkreuzte, über die Tischplatte lugte und große Augen machte. Immer wenn er sich anschickte, nach dem Feuerzeug oder der Zigarettenschachtel zu grabschen, ertönte in meinem Rücken der Ruf nach einem gewissen Linus. Danach waren wir für ein paar Minuten der Gegenwart des Kleinen enthoben, bis sich der Blondschopf erneut in Szene setzte.
Als es wieder hieß, „Linus, komm her!“, konnte ich nicht länger widerstehen, ich drehte mich herum. Sie saß ein paar Tische weiter, gab dem Kellner gerade ihre Bestellung auf und ich erkannte in der elegant gekleideten Person die Frau von Herrn P.
Unsere Blicke kreuzten sich, sie machte eine entschuldigende Geste, schaute kurz weg und richtete dann ihre Augen wieder auf mich. Wir waren uns einmal begegnet, auf der Straße und Herr P. hatte gleich ein seinem Naturell gemäßes Tamtam angestimmt. Linus, obzwar noch im Kinderwagen, besaß schon damals alle Anzeichen eines äußerst lebhaften Kindes.
Jegliches Interesse an meiner Pizza war verflogen. Ich entschuldigte mich bei Klara und bahnte mir den Weg zu meiner Bekannten.
„Na, so ein Zufall“, schien sie sich über unser Wiedersehen zu freuen. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden und gab meiner Verwunderung Ausdruck, wie groß der Filius in der Zwischenzeit geworden sei. Die Antwort fiel ebenso unorginell aus.
„An den Kindern merkt man, wie die Zeit vergeht.“
„Und wie geht´s dem Herrn Gemahl?“
Neuerliches Herumtollen des Knaben lenkte sie ab.
„Was sagten Sie?“
„Ich erkundigte mich nach ihrem Mann. Vor ungefähr sechs Wochen führte ich ein interessantes Gespräch mit ihm, am Flughafen.“
„Ach so, Ludwig. Dem geht´s gut“, kriegte sie ihr Kind am Schlafittchen zu fassen, worauf sie hinzufügte, „vermute ich jedenfalls.“
„Ja, wissen Sie es denn nicht?“
Wieder beanspruchte die Erziehungsarbeit ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Linus, jetzt setzt dich doch mal hin. Schau, da kommt deine Fanta.“ Der Kellner spazierte heran, stellte grinsend die Getränke ab und verschwand sogleich wieder. Wahrscheinlich um nicht mitansehen zu müssen, wie Linus mit seinen Straßenschuhen auf die Polster stieg. Sobald ihm das gelungen war, ergriffen beide Händchen das Glas und führten es nicht eben sicher zum Mund. Frau P. und ich beobachteten gespannt, ob es gutgehen würde. Als das Kind mit gierigen Schlucken trank, dabei reichlich Limonade über den Tisch verschüttete, fasste ich nach.
„Meinen Sie, ich könnte ihn mal sprechen? Wann ist er denn am besten zu erreichen, vielleicht abends?“
Ohne lange zu überlegen sagte sie, dass wäre im Augenblick schlecht möglich, denn Ludwig sei verreist.
„Verreist?“
„Ja, eine ganze Weile schon.“
„Einige Tage also.“
„Ungefähr seit vier Wochen ... Linus, trink nicht alles aus, sonst hast du nachher keinen Appetit.“
„Wohin ist der denn gereist?“
„Ach, das weiß ich nicht. Irgendwas Geschäftliches.“
„Und noch immer nicht zurück?“
Sie lächelte mich unverständig an, als wären meine Fragen völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
„Hat halt mit seiner neuen Arbeit zu tun, was weiß ich“, sagte sie irgendwie angeödet.
„Ja, und vermissen Sie ihn denn nicht?“
„Ihn vermissen“, lachte sie, „aber warum denn. Früher oder später findet der sich schon wieder ein.“
Mein Amulett trug ich heute nicht. Seit dem beklemmenden Erlebnis mit Raoul überließ ich es gerne dem Gewahrsam meines Wandtresors. Hätte ich es jetzt umgehabt, die Temperatursensoren auf meinem Brustbein hätten was tun gekriegt.
Dann bekamen ihre Augen einen verbindlichen Ausdruck, ich dachte, gleich näheres zu Herrn P. zu erfahren, aber es hieß nur: „Könnten Sie kurz auf den Kleinen aufpassen?“
„Bin kein Kleiner!“ bewies Linus, trotz unbändigen Dursts, regen Anteil an seiner Umwelt zu nehmen.
„Natürlich bist du kein Kleiner“, zwinkerte mir Frau P. komplizenhaft zu. „Wären Sie so freundlich und schauen nach unserem Großen, während ich auf die Toilette gehe“, erhob sie sich und ich willigte freudig ein. Ihr Abgang kam mir gelegen.
Ich nahm bei Linus Platz und wartete bis Frau P. außer Hörweite war. Der machte unterdessen Faxen, patschte mit seinen Händen in den Limonadepfützen herum und ich lächelte dazu, wie zu den frühreifen Artikulationen eines Wunderkindes.
„Sag mal ...“
Er zeigte mir seine klebrigen Handflächen.
„Sag mal, wo ist denn dein Papa hin?“
„Papa ist weg ... so, ätsch!“ wischte er seine Finger an meinem Ärmelstoff ab. Ich dachte an die Chemische Reinigung in meiner Straße und blieb gelassen.
„Schön, dein Papa ist also weg. Aber dann vermisst du ihn doch bestimmt ganz arg?“
Keine Runzel verunzierte die glatte Kinderstirn, obwohl sich dahinter gerade ein kleines Gehirn der Datenverarbeitung stellte.
„Nö“, fiel das Ergebnis bündig aus.
„Er fehlt dir also nicht?“
Anstatt zu antworten drückte er sich die Nase himmelwärts, während die Finger der anderen Hand an seinen Mundwinkeln zerrten.
„Guck mal, kannst du das auch?“
Ich tat ihm den Gefallen und er bekam einen Lachkrampf. So vergingen quälend lange Minuten, in denen sich mir ansatzweise die Schwierigkeiten vermittelten, was es heißt, ein Kind bei Laune zu halten.
Endlich kehrte Frau P. zurück. Sie hatte eines der ausliegenden Gratis-Exemplare des populärsten Stadtmagazins dabei.
„Ist er brav gewesen?“
„Natürlich, ein reizendes Kind.“ Meine Einschätzung verstimmte den Knaben. Für einen Vierjährigen gab es Ertrebenswerteres, als sich den Idealvorstellungen von tugendhaftem Benehmen anzunähern. Also erinnerte er sich daran, welches Verhalten so eine kleine Rabauke der Welt schuldete, sprang auf und flitzte davon.
„So sind sie halt.“
„Beneidenswert, diese Energie“, erhob ich mich mit einem Blick zu Linus, dessen Agilität dem Vergleich mit den instabilen Teilen eines Uranatoms durchaus gewachsen war. Derweil setzte sich Frau P. und schlug das Magazin auf.
„Dann geh ich mal wieder“, sagte ich, „und grüßen Sie mir Ihren Mann.“
„Hat mich gefreut und danke, dass Sie auf Linus aufgepasst haben.“
Im Weggehen konnte ich erkennen, wie sie im hinteren Teil des Magazins, wo sich die Klein- und Kontaktanzeigen befanden, zu schmökern begann.
Nachdem ich Klara an der Uni abgesetzt hatte fuhr ich nach Hause. Mein Wohnblock, nichts als Beton, Stahl und Glas, wirkte trutzig und abweisend, obwohl ein Architekt dafür wahrscheinlich den Begriff sachliche Eleganz gewählt hätte. Unstrittig war aber, er war neu und unkontaminiert. Keine Spuren jahrelangen Gebrauchs, keine knirschenden Dielen und keine Handläufe, die sich unter der Benutzung durch Generationen von Treppensteigern abgeschliffen haben. Außerdem dominierte hier immer noch der frische Geruch nach Farbe und Baumaterial die Treppenhausluft, in kaum schwächerer Konzentration, als ich ihn beim Erstbesichtigungstermin erschnuppert hatte. Das unkontrollierte Einsickern von Küchengerüchen zu unterbinden, das hatte der Mensch also gelernt. Verwunderlich nur, warum dieser zivilisatorische Durchbruch in den Medien so selten gewürdigt wird.
Wahrscheinlich kann nur ein Parapsychologe den Wert eines Erstbezugs ermessen. Eine jungfräuliche Umgebung vorzufinden, unbelastet von der Tragik vergangener Lebensläufe, bedeutet dem, der über esoterische Sensibilität verfügt, das höchste Glück. Vergleichbar vielleicht mit dem Vergnügen der Entgegennahme eines brandneuen Autos in Wolfsburg. Wer einen Gebrauchtwagen ersteht, ist ebenso dazu verurteilt fremde Sünden abzubüßen, wie der x-te Mieter einer altgedienten Wohnung, nur dass sich da die schlechten Gewohnheiten der Vorbesitzer nicht durch den Einbau einer neuen Kupplung ausmerzen lassen.
Klara wollte bis nächste Woche die Übersetzungsarbeit erledigt haben. Bis dahin verordnete ich meinem Gedenken an Wassilij eine Zwangspause. Für morgen Nachmittag sah mein Kalender einen Kundentermin vor. Indem ich erst mal ein ausführliches Horoskop erstellte, begannen die Vorbereitungen auf den Fall. Der arme Kerl wies reichlich Blockaden im dritten Haus auf, besaß dafür aber zum Ausgleich eine äußerst günstige Venus-Konjugation. Sein regelmäßiges geschäftliches Scheitern hatte ihn zu mir geführt. Man musste ihm irgendwie vermitteln, dass – so wie die Dinge lagen - er kein geborener Geschäftsmann war, wofür ihn aber seine natürliche Attraktivität für das andere Geschlecht ausreichend entschädigen sollte. Ihm würde eine Änderung seiner Prioritäten helfen, eine Korrektur seines Selbstbildes. Endlich mal wieder ein Auftrag nach meinem Geschmack, eine Aufgabe, an deren Ende ein Erfolgserlebnis stehen würde.
Eine Weile schaffte ich es die zielgerichtete Konzentration aufrecht zu halten, dann mit zunehmender Ermüdung, erwischte ich mich beim neuerlichen Durchspielen der Erlebnisse aus der Pizzeria. Wie ich mich auch bemühte, der Flughafen ließ mich nicht los. Frau P., die sich nicht fragt, wo ihr Mann abgeblieben ist, das Kind, das seinen Vater nicht vermisst. Ich war emotional nicht annähernd so involviert, eigentlich war mir Herr P. sogar regelrecht lästig gewesen, aber jetzt, wo er so unerklärlich und radikal verschwunden war, fühlte ich mich ihm irgendwie verbunden. Auch wenn er nur eine kleine Rolle in meiner Lebenwirklichkeit gespielt hatte, bedeutete sein Abgang einen Verlust mit dem ich mich instinktiv nicht abfinden wollte. Mein Sinn für Gerechtigkeit trieb mich an und natürlich auch ein latenter Schuldkomplex. Er war das Opfer eines Verbrechens, das war klar. Des perfekten Verbrechens, denn die mittelbar Geschädigten zeigten keine Neigung Anzeige zu erstatten. Was rief bei ihnen diese Gleichgültigkeit hervor?
Wir alle schauen gerne weg, wenn das Unrecht sein hässliches Haupt erhebt, aber man empfindet doch Missbehagen dabei. Davon hatte es bei Frau P. nicht die geringsten Anzeichen gegeben. Sie hatte dieselbe Unberührtheit ausgestrahlt, wie damals Hartmann und Konsorten, als ich in ihrer Gesellschaft mein Befremden über die ausbleibende Empörung zu dem Verlust an Menschen artikulierte.
„Der komplette Vorstand eines DAX-Unternehmens ist verschwunden und niemand vermisst die?“
„Nein, warum auch? Die haben doch längst Ersatz“, hatten die Herren geantwortet, als ob sie unter Drogen stünden. Und das taten sie auch. Raoul war der Giftmischer und er brauchte nicht mal ein aufwändiges Verteilernetz um den Stoff an den Mann zu bringen. Ihm reichten offensichtlich die Mittel der Telepathie.
Aber wenn er so mächtig war, weshalb blieb ich dann vom bösen Zauber verschont? Schützte mich etwa eine natürliche Firewall, eine aus hochstehenden Moralbegriffen erwachsene Immunität vor des Dämonen zersetzendem Einfluss? Ich überlegte, wie mich ein Scheck, von jedem Ministerialbeamten für Bestechungszwecke als zu mickrig zurückgewiesen, gekauft hatte und musste mir eingestehen, dass es mit meiner vermeintlichen Tugenhaftigkeit doch nicht so weit her war. Daran lag es nicht, dass sich in mir alles weigerte die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.
Womöglich war ich einfach nicht als Adressat des kollektiven Vergessens und des Weitermachens, als wäre nichts geschehen, vorgesehen. Das war´s, mein Name stand einfach nicht auf Raouls Verteiler. Wenn er überhaupt irgendwo in seinem teuflischen Intrigenspiel auftauchte, dann auf der Liste der Mitwisser und Komplizen. Kriminelle narzistische Persönlichkeiten, wie Raoul, neigen zu diesem merkwürdigen Bekennertum. Ein Verbrechen ist auch nur eine Leistung und jeder Leistung wohnt der Wunsch nach Beifall und Anerkennung inne. Vormals unfreiwilliger Helfer und dann kurzeitiger Gegener, erwartete Raoul nun von mir also, dass ich mich einreihte in den erlesenen Zirkel seiner Claqueure. Und komisch, ich spürte eine große Anziehungskraft von dieser Rolle auf mich ausgehen.
Was mich aber nicht hinderte, den Abend vor dem Fernseher ausklingen lassen zu wollen. Seit meiner Rückkehr aus den Ferien hatte ich mich nicht um das aktuelle politische Tagesgeschehen gekümmert, höchste Zeit das Versäumte nachzuholen. Hierzulande haben sich die Medien scheinbar darauf verständigt, Themen und Probleme sequentiell und unisono abzuhandeln (anreißen beschreibt diesen oberflächlichen und nervösen Modus des Umgangs mit Nachrichten natürlich besser). Irgendeine graue Eminenz hebt etwas auf die Agenda und danach geistert der Topos durch alle Redaktionsstuben, bis etwa zwei Wochen später eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird.
Ich wechselte die Kanäle, ein Bild der Vielfalt bot sich mir dadurch nicht. In den zahlreichen Gesprächsrunden ging´s stets um dasselbe. Ich weiß schon gar nicht mehr um was, wahrscheinlich Jugendkriminalität, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, oder alles drei zugleich. Ein gebetsmühlenartiger Austausch ewig gleicher Argumente durch ewig gleiche Akteure. Wir kennen sie alle, diese mediengeilen Politiker, Journalisten und Vertreter irgendwelcher Interessensverbände, ihre Gesichter, Runzeln, Idiome und Frisuren sind uns vertrauter, als die unserer nächsten Angehörigen. Amüsiert nahm ich zur Kenntnis, dass einer aus diesem Heer der gewerbsmäßigen Dampfplauderer seine gekünstelte Empörung zeitgleich auf zwei verschiedenen Kanälen unters Volk brachte. Entweder werden alle Talkshows in ein und derselben Anstalt produziert, dachte ich, oder diese Typen jetten wie wahnsinnig durchs Land um dieses Wunder an Omnipräsenz Wirklichkeit werden zu lassen.
Nicht von ungefähr liebäugelte ich schon mit dem einzigen Knopf, den wir einer Gesellschaft à la Orwell voraushaben, dem Auschaltknopf, als mich ein sonderbarer Verdacht anhauchte. Vielleicht hatte mich der Begriff des Herumjettens darauf gebracht, dass sich so plötzlich aller Überdruss an dem drögen Geschehen in der Flimmerkiste verflüchtigte. Kurzum, was mich auf so stimulierende Weise irritierte war: Ihn gab es nicht mehr, er war nicht mehr mit von der Partie. Wenn ich hier ein Personalpronomen verwende, dann hat es nichts mit Diskretion zu tun, ich komme einfach nicht auf den Namen jenes redseligen Politikers, der noch, ehe ich meine Auszeit antrat, so obligatorisch zur personellen Grundausstattung fast jeder Gesprächsrunde gehörte wie das Sendersignet im oberen Winkel des Bildschirms. Wie oft hatte ich ihn gesehen, wie sattsam gewöhnt war ich an seine, im Tonfall der rheinischen Frohnatur gehaltene Rhetorik, an seine gönnerhafte Jovialität, die nur schwer zu ertragen war, besonders auf vollen Magen. Mir schien, mit jedem grauen Haar, das seinen ansonsten noch braunen Haarschopf durchzog, Brüderschaft getrunken zu haben, so geläufig war mir sein Anblick.
Aber jetzt, wo war dieser Dauergast nur abgeblieben? Sie kennen ihn, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte (und immer noch nicht einfallen will), Sie kennen ihn bestimmt. Sie könnten auf jeder Polizeiwache eine Personenbeschreibung von ihm abliefern, die noch den langgedientesten Kriminaler in höchstes Erstaunen versetzen würde.
Es ging gegen Mitternacht und auf vier Stationen wurde aufgeregt diskutiert, stets ohne seine Beteiligung - das war doch schlechterdings unmöglich. Statt seiner, vertraten irgendwelche Milchgesichter die konservative Sache, völlige Novizen, geistig unbeleckt, stilistisch hölzern. Na ja, jeder ist mal unabkömmlich, vielleicht hatte mein Mann gerade besseres zu tun. Vielleicht veranstalteten zeitgleich irgendwelche Lobbyisten einen Empfang, an den er durch strikte Teilnahmepflicht gebunden war.
In den folgenden Tagen konnte ich das Abendprogramm im Fernsehen kaum erwarten. Auf allen Sendern hielt ich nach ihm Ausschau, allein er glänzte durch Abwesenheit. Er war so gründlich vom Antlitz der Medienwelt getilgt, als ob es ihn nie gegeben hätte. Und niemand, der ihn vermisste. Die Damen und Herren Moderatoren richteten ihre Fragen ungerührt an die an seine Stelle gerückten Frischschwafler. Keine Silbe erhellte das Rätsel um diesen abrupten Besetzungswechsel. Bis auf sein Fehlen war alles wie gewohnt. Auch die Stoßrichtung der Redebeiträge. Inhaltlich hinterließ sein Abgang keine Lücke.
Und dann traf mich der Blitz der Erkenntnis. Ging es mir etwa anders? Konnte ich, nach reichlichem Erforschen meines Gewissens, ernstlich behaupten, diesen Herrn Politiker zu vermissen? Nein, ehrlich gesagt, war dem absolut nicht so. Weder empfand ich Bedauern, noch Euphorie, sein Schicksal war mir im Grunde völlig egal. Mit seinem Fall verband mich lediglich ein rein akademisches Interesse, so wie sich ein Zehntklässler kurzfristig für die Lösung einer zu anspruchsvollen mathematische Aufgabe interessiert, ehe er einsieht, dass er dem Stoff der Oberstufe noch nicht gewachsen ist.
Frau P., mit ihrem wegwerfenden Achselzucken, der gleichgültige Hartmann und die Direktoren, all das war für mich mit einemmal nachvollziehbar, zumindest auf einer theoretischen Ebene. Ich stellte mir den ehemaligen Dauergast vor, wie er die Gangway emporsteigt, im Kreise der anderen, ebenfalls zum Freiflug geladenen Honoratioren, wie er sich freut und wie ihm gar nichts verdächtig vorkommt, weil er eine derartige Vorzugsbehandlung erwartet, insgeheim sogar glaubt, sie würde ihm von Rechts wegen zustehen. Und schließlich das Flugzeug, das sich zusammen mit seinem zerbröckelnden Kondensstreifen auf Nimmerwiedersehen im Horizont verliert. Wieder ein Personalproblem gelöst, wieder ein Stuhl freigeworden, auf dem sich jene einquartieren, auf deren Initiative der Trip zustande kam. Zufriedene Kunden von Rauols besonderem Müllbeseitigungsunternehmen.
Raoul, dachte ich, du bist wirklich ein Hund. Aber ich lächelte dabei. Wie gnädig von dir, deine Flugreisen ohne Wiederkehr so anzulegen, dass den Zurückgebliebenen der Frieden des Vergessens geschenkt wird. Wenn du in der Lage bist, zielgerichtet und fallbezogen in des Menschen Geist, sowohl individuell als auch kollektiv, allumfassende Gleichgültigkeit einzupflanzen, dann gebührt dir wirklich Anerkennung. In moralischer Hinsicht blieb es ein Verbrechen, doch die dabei angewandte psychokinetische Expertise verdiente wahrlich das Prädikat epochal.
Frohgemut und unbelastet überantwortete ich mich wieder dem Fernsehprogramm. Ich fühlte die Trauer um Wassilij, der mir wirklich fehlte, aber gleichzeitig freute es mich, für den dem Bewusstsein der Öffentlichkeit entschlüpften Kampfschwätzer nicht dasselbe zu empfinden.
Epilog
Nach zweimaligem Ertönen des Klingelzeichens wurde abgenommen. Ich nannte meinen Namen und wen ich zu sprechen wünschte. Der Mann von der Flughafenrezeption fragte noch einmal nach, ich wiederholte mein Sprüchlein und wurde durchgestellt. Zwangsweise lauschte ich den Klängen von El Condor passar, in einer Fassung, bei der jeder Hifi-Adept sofort Reißaus genommen hätte.
„New Cargo Solutions, was können wir für Sie tun?“ fand der zweifelhafte Musikgenuss ein abruptes Ende.
„Ist Herr Raoul zu sprechen?“
„Hm, wer möchte ihn denn sprechen?“ erkundigte sich die ziemlich bestimmt klingende Frauensperson weiter.
„Sagen sie ihm einfach, der Mann mit dem Amulett.“
„Der Mann mit dem Amulett?“
„Jawohl.“
„Einen kleinen Moment bitte, ich frag mal nach.“
„Vielen Dank.“
Ich grinste, obwohl sich der krächzende Condor wieder in die Lüfte hob. Raouls Vorzimmerdame schien bereits über einige Routine zu verfügen. Merkwürdige Anrufer mit noch merkwürdigeren Anliegen konnten bei einem solchen Vorgesetzten nicht ausbleiben. Dann, nach dem x-ten Refrain, eine sonore Bassstimme.
„Hola, hombre! Que tal?“
Mein Magen verkrampfte sich, der Puls hämmerte mir in den Ohren, trotz der freundlichen Worten.
„Danke gut. Ihnen hoffentlich auch.“
„Kann nicht klagen.“
„Ähm ...“
Der Schalldruck an meinem Ohr verstärkte sich: „Das soll doch wohl kein fernmündlicher Exorzismusversuch werden?“
Ich spürte wie mir der Schweiß aus den Achselhöhlen rieselte und beeilte mich den Verdacht zu zerstreuen: „Nein, nein, der christliche Mystizismus wird ohnehin überschätzt.“
„Ganz meine Meinung.“ Er lachte und ich begann mich zu entspannen.
Meinem Räuspern folgte ein kleinmütiger Appell: „Sagten Sie nicht, wir seien Freunde?“
„Si, nosotros estan amigos.”
„Ich wende mich als Freund an Sie, mit einem Anliegen.“
„Ich soll Ihnen also helfen, natürlich, warum nicht. Brauchen Sie professionellen Rat, für einen Ihrer Fälle?“
„Nein, es geht um eine rein private Angelegenheit. Um es kurz zu machen, ich möchte die Dienste Ihrer Gesellschaft in Anspruch nehmen.“
„Sie wollen Kunde werden?“
„Falls es möglich ist.“
„O lala! Was wissen Sie denn von unserem Geschäft?“
„Ich hab mir da so etliches zusammengereimt ...“
„Natürlich, verzeihen Sie. Dass Sie kein dummer Mann sind, ist mir bewusst. Sie haben sich sogar sehr intelligent verhalten, ihr Rückzug zum rechten Zeitpunkt beweist es.“
„Es ist keine Schande sich einem überlegenen Mann geschlagen zu geben. Im Vergleich zu Ihnen bin ich nur ein Stümper.“
„Ach, das hat gar nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun. Sie stehen halt auf der falschen Seite, das ist alles.“
„Ja, die dunkle Seite ist mächtiger als ...“
„Moment“, fuhr er mir ins Wort, „hier geht es nicht um einen Kampf Gut gegen Böse. So zu denken ist naiv.“
„Ach so?“
„Sehen Sie, es gibt zwei Sorten Menschen. Die einen, die etwas riskieren und die anderen, die zaudern, grübeln und vor der Entscheidung zurückschrecken. Sie und ihresgleichen, die Inaktiven und Abwarter, verschanzen sich nur hinter der irrigen Vorstellung, sie verhielten sich moralisch besser. Dabei weiß man doch nie, wie sich etwas auswirkt, ob zum Guten oder Schlechten.“
„Da könnte was dran sein.“
„Nehmen Sie el Socialsmo, die Revolution in meinem Heimatland. Eigentlich eine gute Idee, aber was ist daraus geworden?“
„Tja, traurig, in der Tat.“
„Übel liegt allein in der Passivität, daraus erwächst nie etwas Gutes.“
Ich dachte, das seien die üblichen Schutzbehauptungen eines Verbrechers. Aber irgendwie hatte er schon recht, zumindest teilweise. Jeder der ansatzweise eine humanistische Bildung genossen hat, kennt den Ausspruch von Mephistopheles: Die Kraft, die das Böse will, aber stets das Gute schafft.
Von den neuen Gesichtspunkten leicht verwirrt, entfluschte mir eine mit meinem besonnenen Ich nicht abgesprochene Frage: „Hat nicht vor kurzem, rein zufällig, ein dem deutschen Volk durch seine Fernsehauftritte bestens bekannter Politiker zu Ihren Fluggästen gezählt?“
Wieder erklang sein Lachen, das so ansteckend war, dass ich mich daran beteiligte. Gutgelaunt schickte er hinterher, er sei betreffs seiner Auftraggeber und Kunden zu absolutem Stillschweigen verpflichtet und ich wusste Bescheid. Dergestalt ermutigt, wagte ich es, Herrn P. anzusprechen.
„Nun, Sie sind ja bestens informiert“, spottete Raoul. „Herr P. befindet sich auf einer Dienstreise. Hat er sich selber eingebrockt. Erpresser müssen mit sowas rechnen.“
Ich verstand den Wink.
„Glauben Sie mir, der ist jetzt besser dran.“
Mich fröstelte es bei dem Gedanken an Herrn P.s momentanem Aufenthaltsort. Aber nur kurz. Was hatte ich mit Herrn P. zu schaffen?
„Also ...“
Abermals unterbrach er mich.
„Übrigens, muss ich mich noch bedanken. Meinen Geburtstag mit dem Tag an dem die DDR ihre Götterdämmerung erlebte in Zusammenhang zu bringen, war eine geniale Idee. Das hat Hartmann und die hohen Herren restlos überzeugt.“
„Dann hatten Sie damit gar nichts zu tun?“
„Wo denken sie hin. Doch Hartmann glaubt es wohl. Kam meiner Verhandlungsposition ziemlich zugute, wie Sie sich vorstellen können.“
Ich hatte nichts dagegen, mich mit fremden Federn schmücken zu lassen. Ehrlichkeit ist eine Fliege, die sich in einen spinnwebenüberzogenen Keller verirrt hat. Liegt ihr daran die Sasion zu überstehen, sollte sie sich zu einem zurückhaltenden Umgang mit Flugmanövern entschließen. Gleiches gilt für Bittsteller mit freimütigen Bekenntnissen.
„Man tut was man kann“, sagte ich deshalb. Womit wir beim Thema waren. Jetzt konnte er zeigen, ob er bereit war seiner Dankbarkeit Taten folgen zu lassen.
„Zurück zu ihrem Anliegen, was kann ich also für Sie tun?“ kam es recht verheißungsvoll aus dem Hörer.
Ich sagte, dass ich für den nächsten, von seiner Gesellschaft organisierten Flug ein paar Plätze zu buchen beabsichtigte. Sein sofort losbrechendes Gegacker machte mich ganz verlegen.
„Also wirklich“, brachte er nur stockend hervor, „Sie haben wirklich Nerven. Was versprechen Sie sich denn davon?“
„Na, Sie wissen schon. Ich will auch alles bezahlen.“
„Ach, Ihr Scheck. Der wird wohl kaum ausreichen.“
„Wirklich?“
„Übrigens mein Verdienst. Hartmann hätte Sie mit weit weniger abgespeist. Diese Kapitalisten! Für sich selber scheinen sie kein Maß zu kennen, aber wenn es um die Entlohnung anderer geht, dann wird mit dem spitzen Bleistift gerechnet.“
Meine Dankesbekundung ging in seinen Prahlereien unter, wie er den knickrigen Bastard doch noch dazu brachte, in die Spendierhosen zu steigen.
„Das hätten Sie sehen sollen, ein böser Blick, mein gefürchteter Fingerzeig und husch, husch, war der Scheck ausgestellt, haha!“ freute er sich.
Bei mir zerbröselte derweil der letzte Widerstand, Raoul die ihm zustehende Bewunderung doch noch irgendwie vorenthalten zu wollen. Von mächtigen Männern wird man mitgerissen, umso mehr sie den Anschein erwecken, man wäre ihnen sympathisch. Von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Persönlichkeiten wird überliefert, sie besäßen ein latentes Bedürfnis sich an jeden Hals zu schmeißen, der ihr eigenes schmalbrüstiges Ego aufzumöbeln verspricht. Mir ging es da nicht anders. Kurz, ich heulte mit dem Wolf. Zwar hatte ich schon oft mein solidarisches Mitheulen an vermeintliche Alphatiere verschwendet, die sich hinterher als eher handzahme Schoßhündchen entpuppten, aber hier war ein Irrtum ausgeschlossen. Raoul war vielleicht vieles, aber gewiss kein mickriger Kläffer. Und als er bemerkte, am Finanziellen würde eine alte Freundschaft nicht scheitern, hatte er sich endgültig in einen Spitzenplatz meines persönlichen Helden-Olymps vorgearbeitet.
„Die nächste Maschine ist ohnehin eine 747“, wurde mir mitgeteilt, „die waren bisher nie komplett ausgebucht. Also betrachten Sie drei Plätze für sich reserviert. Ob Schwiegermutter, Vermieter oder Ihr Lieblingsbeamter vom Finanzamt, wen auch immer Sie dazu bestimmen, der geht auf große Fahrt.“
Ganz aufgeregt nannte ich ihm Namen und Adressen meines Reiseteams.
„Oha, lauter Doktores. Ein großer Aderlaß steht der akademischen Welt bevor.“
„Wohl eher das Gegenteil“, fühlte ich einen bislang ungekannten Machtrausch.
„Dacht´ ich mir“, sagte er und dazu spielte mein Gedächnis einen kleinen Film ein, in dem Wassilij am Stiel seines Weinglases dreht und mich mit den nie versiegen wollenden Anektoden aus Afghanistan unterhält. Diejenigen, die den Erzähler zum verstummen brachten, würden bald selber neue und einzigartige Abenteuer erleben und sie ihrem Anekdotenschatz hinzufügen können. Ob sie allerdings je fähig wären, darüber Bericht zu erstatten, war eine Frage, die ich nur zu gern der Metaphysik anheim gab.
Dagegen war die von Raoul tief im Hier und Jetzt verankert: „Handelt es sich um Mediziner?“ Entsprechend leicht ließ sie sich beantworten.
„Na, bitte. Dann tarnen wir das Ganze als Einladung zu einem medizinischen Kongress, ausgesprochen von einem Pharmakonzern, Reiseziel Bahamas.“
Ich war baff.
„Gehört alles zum Service“, sagte er. Herrlich, wenn nur alle Dienstleister mit einer solchen Kundennähe aufwarten könnten.
„Und glauben Sie, die springen auch tatsächlich darauf an“, hemmten jetzt, wo das Grundsätzliche geklärt war, gewisse Restzweifel mein Verlangen in spontanen Jubel auszubrechen.
Raoul blieb gelassen :„Keine Sorge, das haut schon hin.“
„Ihre Fähigkeiten sind zum Niederknien.“
„Bei Kunden mit stark ausgeprägten Standesdünkeln kommen die meist gar nicht zum Einsatz“, relativierte er. „Um die zum Einchecken zu bewegen, reicht die Erwähnung des First-Class-Ressorts of Bahamas und der Zusatz gratis. Tja, deren Pech.“
Das zu hören wäre sehr erfreulich, sagte ich. Und schön, wenn er seine Kräfte schonen könnte, da die sicher anderenorts gebraucht würden.
„Ich meine, allein schon den Besitzern ihren Kummer über den Verlust sündhaft teurer Flugzeuge zu nehmen, dafür braucht es doch einer Hypnose, die die Sendeleistung eines mittleren Funkturms in den Schatten stellt, nicht wahr?“
Zu meinem Erstaunen verneinte er.
„Sie vergessen, wir arbeiten nach betriebswirtschaftlichen Regeln mit dem Bestreben um möglichst allumfassende Wertschöpfung. Für unser Unternehmen kommen beispielsweise nur Maschinen in Betracht, die am Ende ihres Lebenszyklus stehen und somit komplett abgeschrieben sind. Man bezahlt uns sogar für die Verschrottung und das beste daran, die Umwelt wird nicht belastet.“
Mir schwante, selten zuvor wurde Schrott derart in Einklang mit dem Nachhaltigkeitsgedanken entsorgt.
„Desgleichen beim Flugpersonal. Indem nur die dienstältesten Jahrgänge herangezogen werden, geht jeder unserer Flüge mit einer spürbaren Entlastung irgendeiner Pensionskasse einher.“
„Tja, das nennt man wohl konsequent zuende gedachte Ökonomie“, sagte ich munter, obwohl mich gerade wieder starke Beklemmung überkam. Eine Beklemmung, die jeder kennt, der es versäumt, sich durch Ignorieren und Leugnen der allgemein bekannten Produktionsbedingungen in Legebatterien auf sein Frühstück einzustimmen.
„Außerdem, in einem gewissen Rahmen sind Kollateralschäden natürlich unvermeidbar“, bewies Raoul mal wieder sein telephatisches Gespür.
„Natürlich“, wollte ich jetzt nicht noch alles verderben.
„Na bitte. Also dann, drei Tickets wie gewünscht ...“
„Moment. Eine Frage hätte ich noch, wenn ich darf?“
„Schießen Sie los.“
„Ähm, warum erst jetzt?“
„Was meinen Sie?“
Ich war wieder ganz aufgeregt, wieder der Zauberlehrling mit den simplen Kartentricks, dem sich unverhofft die Chance des Gedankenaustausches mit einem auskunftfreudigen Meister bietet, einem Meister, der nicht nur den Elefant, sondern, wenn er will, die gesamte Manege inklusive Publikum zum Verschwinden bringen kann.
„Ich meine, jahrelang haben Sie sich als einfache Arbeitskraft herumgequält. Wieso haben Sie nicht schon früher, ähm, Karriere gemacht? Warum gerade jetzt, warum diese jahrlange Zurückhaltung?“
„Ach so“, sagte er, worauf die Leitung erst mal still blieb.
„Entschuldigung, geht mich natürlich nichts an.“
Hörbares Ausatmen, dann: „Kennen Sie Beethovens erste Symphonie?“
„Äh ja.“
„Und wie klingt die?“
Zum Glück bin ich ein fleißiger Musik-Rezipient, weshalb mir sofort die passende Antwort einfiel: „Die klingt eigentlich seh
Aus gebildeten Kreisen schlägt Menschen, die ihre Sätze mit „Im Grunde genommen“ oder „Wie gesagt“ beginnen, oft unverhohlene Verachtung entgegen. Aber selbst wer solche Floskeln meidet, erlebt im gesellschaftlichen Umgang manchmal Situationen, wo sich ein bislang freundlich dreinschauendes Gegenüber mit einem Gesichtsausdruck von ihm abwendet, den man nur als angewidert bezeichnen kann. Mir passiert es zum Beispiel dann, wenn ich auf Nachfrage gestehe, den Beruf eines Parapsychologen auszuüben. Der Versuchung, dafür entschuldigend ein abgebrochenes Soziologiestudium ins Feld zu führen, erliege ich nur noch selten. Vielleicht auch deshalb, weil ich heute weiß, dass ein akademisches Diplom meine Hinwendung zum Übernatürlichen höchstens verzögert, nicht aber verhindert hätte. Der Weg dorthin, wo zugegebenermaßen auch Scharen von Beutelschneidern und Scharlatanen ihr Unwesen treiben, war in meinem Fall vorgezeichnet. Nicht Verlegenheit gab den Ausschlag, sondern ein starker innerer Antrieb, in dessen Zusammenhang Worte wie Auserwähltheit oder Berufung nicht zu hoch gegriffen scheinen.
Ich muss dies vorausschicken, damit Sie das, wovon ich hier wahrheitsgetreu Zeugnis ablegen will, nicht auf die leichte Schulter nehmen, es als bloßes Hirngespenst abtun. Es besteht Grund zu der Annahme, dass das, worin ich aufgrund meiner Tätigkeit verwickelt wurde, Sie womöglich weit direkter und persönlicher betrifft, als den Verwickelten selbst. Dafür sprechen jedenfalls die Statistiken. Denn während nur wenige Bundesbürger je absichtlich die Nähe von Dämonen und ruhelosem Gesindel der Sorte Melmoth (dem Wanderer) suchen, abgesehen zwischen den Deckeln eines Bestsellers, so zieht es doch die meisten, von Zeit zu Zeit, in fremde Länder und kaum einer scheut sich dafür die Dienste von Luftfahrtslinien in Anspruch zu nehmen. Allerorten ungebrochene Reiselust, man liebt den Flugverkehr, sich zwei- oder dreimal im Jahr auf große Fahrt zu begeben gilt als Statussymbol und je höher die dabei erreichte Gipfelhöhe und je unausprechlicher der Name des Zielflughafens, desto besser lässt es sich später renommieren.
So will es jedenfalls scheinen, wobei man leicht vergisst, dass sich nicht jeder in einem Flieger so geborgen fühlt wie Imelda Marcos in einem Schuhgeschäft. Nehmen Sie mich, lediglich zweimal bestieg ich ein solches Gefährt und nach meinem jüngsten Erfahrungen (von denen hier die Rede sein soll) glaube ich, damit gar nicht so falsch gelegen zu haben, die erdnahen Verkehrsträgern zu bevorzugen.
Also, einer mit einer darart ablehnenden Haltung, der zumal als Kaffeesatzleser, Tarotkartenleger und Leuteabzocker verschrien ist, was hat der überhaupt mit der streng physikalischen Gesetzen gehorchenden Luftfahrt zu schaffen? Nun, eigentlich nichts. Zwischen seriöser Esoterik und seriöser Wissenschaft kommt es eher selten zu Kuscheleien. Es gilt als Tatsache, dass sich unter den zahlreichen Stellengesuchen die Airbus jeden Monat veröffentlicht noch keines befand, auf das zu bewerben mir noch der optimistischste Arbeitsamt-Motivationscoach das Porto vorgestreckt hätte. Dabei ist einem ansehnlichen Prozentsatz von uns Parapsycholologen durchaus bewusst, dass Flugzeuge nicht von Engeln durch die Lüfte getragen werden. Nicht ein gutes Karma garantiert die glückliche Landung, sondern hochentwickelte Technik und die Expertise von Piloten und Fluglotsen (ein nicht zu geizig mit Kerosin befüllter Tank spielt gewiss auch eine Rolle).
Trotzdem bekam ich eines Tages einen Anruf von der Flughafenverwaltung. Sie sehen, nicht ich habe mich in wesensfremde Angelegenheiten gemischt, nein, man kam auf mich zu. Für meine Glaubwürdigkeit ein wichtiger Punkt. Zunächst erschien mir die Anfrage nicht außergewöhnlicher als all die anderen, die einem in diesem Gewerbe, hat man die Durststrecke der ersten Jahre erst einmal hinter sich gebracht, und durch Hartnäckigkeit ein gewisses Ansehen erworben, gemeinhin erreichen. Bankiers, Politiker, Schauspieler, Sportler, darunter viel Prominenz, suchen meinen Rat und erwarten, wenn schon nicht immer den spirituellen Volltreffen, so doch zumindest Diskretion. Deshalb halte ich mich hier mit Namen bedeckt, wie ich auch im Verlauf der kommenden Schilderungen nicht aus dem Nähkästchen plaudern werde. Ihnen wäre natürlich durch vollumfängliche Aufklärung noch mehr gedient, aber ich bin durch Versprechen gebunden.
Nennen wir den Anrufer also Herrn Hartmann von der Flughafenleitung, Abteilung Risikomanagement, Absolvent einer Kaderschmiede für Führungskräfte. Da viele meiner Kunden ihre Dienstzeiten nutzen, um mit mir in Kontakt zu treten, maß ich dem Umstand seiner beruflichen Orientierung keine Bedeutung bei. Vom Ein-Euro-Jobber bis zum Operndirigenten haben wir doch alle dieselben Probleme, Stand und soziale Stellung sind nebensächlich. Jedoch, erklärte mit Hartmann etwas befangen (befangene Kunden sind für mich nicht ungewöhnlich), sein Anruf hinge unmittelbar mit dem Flughafenbetrieb zusammen, sei nicht von privater Natur und meine Anwesenheit am Ort des Geschehens erwünscht.
„Können wir uns treffen, am besten noch heute? Spesen und Kosten werden erstattet.“
Während ich durch meinen Terminkalender blätterte, erkundigte er sich, ob Hausbesuche zu den Gepflogenheiten meiner Zunft gehörten. Es gäbe keine Zunft, jeder der sich professionell mit dem Übernatürlichen beschäftige sei gewissermaßen ein Solokünstler mit durchaus unterschiedlichem Virtuositätsgrad und individueller Gebührenordnung, erwiderte ich. Und ja, wenn es die Lage erfordere, gäbe ich auch Auswärtsvorstellungen.
„Die Lage erfordert es leider nur zu sehr“, hieß es.
Moderne Flughafenarchitekturen (gibt es auch eine klassische?) deprimieren mich. So wie in Kindheitstagen Kaufhäuser ohne angeschlossene Spielwarenabteilungen. Überhaupt Flughäfen! Das Geschubse, Gedränge, Gerufe, die ekelhafte Betriebsamkeit in diesen schicken, weitläufigen Hallen - all das dient doch nur dem einen Zweck, der Erzeugung einer Illusion nicht vorhandener Sinnhaftigkeit. Wie Tempel, deren augenblendende Pracht darüber hinwegtäuschen soll, dass den angehimmelten Götzen eigentlich schon ein archaisches Blutopfer vollauf zufrieden stellen würde, und er, priesen ihn seine Adepten mit der Kunstfertigkeit einer Bachschen Kantate, dies wohl gar nicht so richtig zu schätzen wüsste. Religionen, an deren Teilnahme sich keine höheren Weihen knüpfen, sind purer Aberglaube. Weshalb ich mich ungern an Tankstellen, in Banken oder oben genannten Protzbauten aufhalte. Ich finde es bezeichnend, dass sich in unserer rein auf Kostenreduktion und Profitmaximierung ausgerichteten Zeit diese drei Branchen immer noch so abstoßend selbstzufrieden und pompös darstellen. Vergleichen Sie mal Ihren Discounter um die Ecke mit einer frisch renovierten Bankfiliale und Sie wissen was ich meine.
Ich stieg aus dem Taxi und eine Busfuhre Abreisewilliger spülte mich ins Foyer. Wohin auch sonst? Ein Flughafen besteht ja nur aus Foyer. Zugegeben, ein gigantisch großes, wie eine aufgeblasene Ouvertüre, auf die nie ein ausgeklügelter Hauptsatz folgt. Sie werden einwenden, den gibt es wohl, oben in der Luft, im klimatisierten Ferienflieger. Nein, sage ich, das ist doch schon das Finale. Im Übrigen ein ziemlich zutreffender Vergleich, nicht nur in allegorischer Hinsicht berechtigt, wie ich bereits ahnte, als ich einen zerknirschten Herrn im Anzug mit meinem Namensschild vor der Brust entdeckte. Halten Sie mir zunächst zugute, dass ein Mann wie ich über gewisse Vorahnungen verfügt, ansonsten er wohl einen anderen Beruf ergriffen hätte.
Es war Herr Hartmann höchstselbst, der zu meinem Empfang erschienen war. Er zog mich aus dem Gewimmel und ich merkte, die Zerknirschtheit war nur teilweise seiner Hauptsorge geschuldet. Mehr als das bekümmerte ihn offensichtlich, in seiner Not keinen anderen Ausweg mehr gesehen zu haben, als sich einen Dienstleister des Okkulten ins Boot zu holen. Nun, ich weiß um die Befindlichkeiten meiner Neukunden, richtig freiwillig wendet sich keiner an mich, so läuft das Geschäft nicht. Am Rande sei der Kreis treuer Bestandskunden erwähnt, den ich oft über Jahre hinweg betreue und dies keineswegs zu deren Schaden. Das aber nur nebenbei, Reklame in eigener Sache ist nicht Absicht dieser Niederschrift.
Unser stummer Spaziergang endete in einem Büro, darin zwei weitere, betreten dreinschauende Herren. Einer wurde mir als Präsident der Flughafengesellschaft vorgestellt, der andere lenkte die Geschicke einer populären Fluglinie.
„Hier gehen ziemlich merkwürdige Dinge vor sich“, wurde mir eröffnet.
Eine selbst für meinen Beruf recht schwammige Situationsanalyse.
„Wenn Sie uns erlauben, Sie zu engagieren, brauchen wir vorab die Zusicherung Ihrer absoluten Diskretion.“
Ein vorgefertigtes Schreiben erschien, ich unterzeichnete. Wie sich herausstellte, ging meine Berufung auf die Empfehlung eines Herren aus dem Vorstand einer der oben genannten Gesellschaften zurück. Wahrscheinlich kennen Sie ihn sogar, diesen rührigen Landespolitiker der mein Fürsprecher war. Einfach ein weiterer zufriedener Kunde, sein Name tut nichts zur Sache.
„Alles begann vor einem Vierteljahr“, durfte Herr Hartmann gemäß den hierarchischen Gepflogenheiten mit der Übermittlung der schlechte Botschaft beginnen.
„Aha.“
Einmal möchte ich rechtzeitig angesprochen werden. Gewöhnlich potenzieren sich die Schwierigkeiten mit dem Fortschreiten der Zeit, besonders wenn böse Kräfte am Werke sind. Die unlustigen Mienen und die gesetzte Art, wie man mich in Kenntnis setzte, sprachen eindeutig für das Vorhandensein eben solcher.
„Da kam uns ein kleines Sportflugzeug abhanden. Es verschwand vom Radar, alles deutete auf Absturz hin.“
Ich versuchte etwas Zug in die Sache zu bringen: „Nur dass an der vermeintlichen Absturzstelle kein Wrack zu finden war, gell?“
Verwunderte Blicke wurden ausgetauscht. Ich liebe diesen Moment, wenn die herablassende Art des Schauen wir mal was er zu bieten hat, auch wenn wir uns nicht viel davon versprechen dem ersten Anflug echten Respekts weicht. Dabei wohnte meinem Vorstoß nichts Übersinnliches inne. Lediglich ein Resultat logischer Überlegung. Außerdem zieht man bei gewöhnlichen Bruchlandungen keinen wie mich hinzu, dafür gibt es schließlich kundigere Stellen.
„Ja, genauso war es. Das Flugzeug hatte sich einfach in Luft aufgelöst, so der Anschein. Aber es kommt noch besser“, betrachtete mich Herr Hartmann erwartungsvoll. Doch diesmal lächelte ich nur stumm zurück. Ich gestehe, auf eine leicht hochmütige Art, so als ob ich längst wüsste auf was das hinauslief. Das wusste ich zwar nicht, aber ich hatte eben mit meiner Arbeit begonnen, zu der nicht zuletzt die hohe Kunst der Selbstinszenierung gehört. Wenn Sie das verwerflich finden, dann gebe ich zu bedenken, dass ich mir für meine Konsultationen keinen gestärkten Weißkittel überwerfe, mich nicht fortwährend in lateinischen Fachtermini ergehe und auch nicht, sobald die Schilderung der Symptome die dünne Schicht echter Erkenntnis durchdringt, als Befund die Psychosomatik bemühe. Auch empfehle ich nie die Überweisung an einen Spezialisten. Ich selber bin der Spezialist, wenn nicht sofort, dann setze ich alles daran, es im Lauf der Behandlung zu werden.
„Es kam also noch besser?“ gab ich Hartmanns ins Stocken geratene Mitteilungsbedürnis einen Schubs.
„Ähm, genau. Das Flugzeug tauchte einige Stunden später wieder auf. Plötzlich war es wieder auf dem Schirm, an derselben Stelle wo wir es verloren hatten. Zu diesem Zeitpunkt hätte sein Treibstoff allerdings schon längst aufgebraucht sein müssen.“
Ich erkundigte mich danach, wie viel Zeit exakt zwischen Verschwinden und Wiederauftauchen verstrichen sei.
„Etwa fünf Stunden.“
Ich müsste es aber genau wissen. Jetzt glauben Sie wahrscheinlich, meine Pedanterie in diesem Punkt wäre nur auch wieder so ein Winkelzug, um eine gewisse Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen, dem Kunden sozusagen etwas für sein Geld zu bieten. Aber hier trügt der Schein. Zwar von Haus aus kein Zahlenmensch, schätze ich die Zahlenmystik als komplementäres Hilfsmittel durchaus. Oft liefert sie mir entscheidende Hinweise, wofür es aber einer verlässlichen Datenbasis bedarf.
„Das lässt sich alles feststellen“, konnte der Flughafenpräsident mit einem Blick zu seinem Untergebenen endlich auch mal aktiv eingreifen, zudem in der ihm vertrauten Art des Delegierens.
„Natürlich, kein Problem“, nickte Hartmann.
Ich zückte mein Notizbuch und die Stimmung gewann an Professionalität.
„Dabei ist es natürlich nicht geblieben.“
Nein, dabei sei es leider nicht geblieben, das sei nur der Anfang gewesen. In immer kürzeren Abständen (die genauen Daten der Intervalle würden mir selbstverständlich zur Verfügung gestellt) seien immer wieder Flugzeuge verschwunden, zunächst auch wieder aufgetaucht und dabei hätte ein gewisser Steigerungsprozess in puncto Flugzeugtyp und Ladekapazität stattgefunden.
„Waren es erst Sportflugzeuge verschwand eines Tages plötzlich ein Learjet der ...“
Ein kurzes, aber heftiges Klopfen schreckte uns auf. Es folgte der Auftritt eines weiteren dunklen Anzugs. Wie bald klar wurde, steckte darin der Repräsentant einer Versicherung, nennen wir ihn Herr Kaiser (kleiner Scherz). Wortreich für seine Verspätung Entschuldigungen ausstoßend, kühlte sich der ironischer Unterton des Neuzugangs am Anblick der ernsten Gesichter. Offensichtlich hatte sich jener erst zuletzt, und dann auch nur widerstrebend, doch noch dazu überwunden, an dieser für jeden aufgeklärten Menschen so lächerlichen Zusammenkunft teilzunehmen. Die sachliche Arbeitsatmosphäre, in die er jetzt platzte, belehrte ihn vielleicht nicht eines besseren, aber dämpfte doch merklich seine Arroganz. Ohne auf seine Jahrmarktsgesten einzugehen, wies man ihm einen Platz zu.
„Herr Hartmann, fahren Sie fort“, befahl der Flughafenpräsident. Während dieser tat, wie man ihn hieß, beobachtete ich, wie die beifallsheischenden Blicke von Herrn Kaiser unerwidert blieben. Die Aufmerksamkeit der Chefetage des Luftverkehrs musste ich im Moment mit niemandem teilen.
„Dieser Learjet ist bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgetaucht, mit ihm der gesamte Vorstand eines erfolgreichen DAX-Unternehmens.“
„Zum Glück ein Privatflugzeug“, meldete sich der Chef der Fluglinie erstmals zu Wort.
„Aber hochversichert“, jammerte der Versicherungsmann.
Seit dem Learjet wäre es zu weiteren Abgängen gekommen. Abgänge, die diesmal auch den Fluglinienchef direkt betrafen und zwar in Form einer empfindlichen Einbuße seines aktiven Flugzeugbestands, denn keines der teuren Investitionsgüter sei bislang in einen Hangar zurückgekehrt. In der Zwischenzeit, gestand Herr Hartmann als trüge er persönlich daran Schuld, wäre fast jede Woche der Verlust eines Fliegers zu bedauern.
„Immer nur von unserer Gesellschaft, die Konkurrenz bleibt ungeschoren“, empörte sich der Linienchef.
Ich sah aus dem Fenster, wo ein halbes Dutzend Maschinen in der für seine Gesellschaft typischen Lackierung in der Sonne glänzten.
„Und keine Idee, wo die abgeblieben sein könnten?“
Ein kollektives Nein erklang. Auf diese Frage hatte man hier schon oft und in unbefriedigender Weise geantwortet.
„Das geht schon drei Monate so?“
„Ja“, hörte es sich ebenso überdrüssig an.
Natürlich seien sofort alle zuständigen staatlichen Stellen eingeschaltet worden. Ohne Absturz und Wrack hätte sich die Luftfahrtbehörde aber für nicht zuständig erklärt.
„Beobachten und abwarten, mehr kann man dort im Moment nicht tun.“
Meine Gesprächspartner hatten darauf selbst die Initiative ergriffen. Es wurden diverse Fachleute ins Vertrauen gezogen, zudem die Meinung eines UFO-Forschers eingeholt. Ohne Resultat. Abgesehen vom UFO-Forscher, der mit einer ganzen Latte obskurer Erklärungsversuche aufwartete (weshalb man sich von ihm auch wieder getrennt habe), blieben dem Kompetenzteam die Vorgänge rätselhaft. Phänomene dieser Art seien nie zuvor beobachtet worden, so der Tenor.
Ich nahm zur Kenntnis, offenbar als Letzter zu dem illustren Expertenkreis gestoßen zu sein. Statt deswegen Kränkung zu empfinden, kam mir plötzlich ein ähnlich gelagerten Fall aus meiner Praxis in den Sinn. Damals war es um Barnabas gegangen, einem entwichenen Kater. Der war erst nach sechs Wochen wieder aufgetaucht und ich bilde mir nicht ein, mein professioneller Einsatz hätte daran maßgeblichen Anteil.
Neben allen augenfälligen Unterschieden bemerkte ich noch ein weiteres Detail, in dem beide Fälle signifikant voneinander abwichen: Barnabas war vermisst worden. Ich sehe noch heute die unglücklichen Augen des kleinen Mädchens, als es zusammen mit seinem Vater meine Sprechstunde besuchte. Der Gesichtspunkt des großen persönlichen Verlustes war hier noch nicht zur Sprache gekommen, was ich umgehend nachholte.
„Das hat uns selbst überrascht“, senkte Hartmann die Stimme, „sowohl in der Geschäftsleitung des Dax-Unternehmens, als auch bei den Angehörigen der abgängigen Linienflüge, reagiert man seltsam gelassen. Niemand scheint die Verschwundenen wirklich zu vermissen.“
„Für uns natürlich ein großes Glück“, trat der Präsident gar nicht peinlich berührt wieder in Erscheinung. Und Hartmann fügte an: „Dadurch drang auch noch nichts in die Öffentlichkeit, außerdem behandeln wir die Angelegenheit mit größter Diskretion, mit einem Medienrummel wäre ja auch keinem gedient.“
„Sollte vielleicht nicht besser der reguläre Betrieb bis zur Aufklärung eingestellt werden?“ meldete sich bei mir die Vernunft. Wofür ich nur unverständige Blicke erntete.
Ich solle mir doch mal die ökonomischen Folgen vergegenwärtigen, hieß es. Schließlich ginge es um die Erfüllung von Vertragspflichten, den Erhalt von Arbeitsplätzen und dergleichen Hindernisse mehr. Den Flughafenbetrieb einzustellen, wenngleich nur vorübergehend, wäre schlichtweg unmöglich, weil unverantwortlich.
„Außerdem“, sagte Hartmann, „solange es weder Wracks noch Leichen gibt, gehen wir und die offiziellen Stellen davon aus, dass sich sowohl Personal als auch Material zu gegebener Zeit wieder einfinden werden. Bis dahin betrachten wir die Flüge als verspätet.“
„Genau“, grinste Herr Kaiser von der Versicherung. Woraus ich schloss, dass eine entsprechende Klausel seine Gesellschaft bislang vor Regressansprüchen bewahrte.
„Aber ein kompletter Vorstand? Das reißt doch eine Lücke, da gibt es doch Nachfragen?“
Merkwürdig unaufgeregt wischte man auch auf diesen Einwand beiseite.
„Ach, wissen Sie, da ist alles geregelt. Die werden als auf unbestimmte Zeit beurlaubt geführt, die Gehälter werden weiter bezahlt und damit kommen keine Klagen“, sagte der Präsident.
„Ja, und der menschliche Aspekt?“
Der Präsident schaute mich an, als hätte er darüber gerade vollumfänglich Auskunft erteilt.
Herr Hartmann beendete das Schweigen: „Wissen Sie, diese Konzerne verfügen über eine dicke Personaldecke, zumindest in den oberen Kadern. Die haben längst Ersatz.“
Ich wollte nicht länger der Spielverderber sein und beließ es dabei. Mein Einlenken bestärkte die Herren darin, mir jetzt die alles entscheidende Frage zu stellen: „Was halten Sie davon?“
Auch in meinem Beruf betritt man nicht ständig Neuland. Mit den Jahren wiederholen sich die Fälle: Von Geisterhand bewegte Gegenstände, hartnäckig verweigerte Liebesgunst, abhanden gekommenes Geschäftsglück und dergleichen Malaisen mehr. Vieles, das Meiste, durchaus mit einem absolut irdischen Hintergrund. Oft reichen Menschenkenntnis, Psychologie oder Einsichten in die natürlichen Verfallsprozesse von Bausubstanz, um dem Kunden Linderung zu verschaffen. Hier war ich jedoch auf etwas gestoßen, wofür die bewährten Routinen nicht mehr taugen würden. Ich fühlte mich vom Hauch des Schicksalhaften angeweht und war mir plötzlich bewusst, an einer entscheidenden Station in meinem Leben angekommen zu sein: Ich stand vor meinem persönlichen Rubikon.
„Ich würde mich gerne dieser Sache annehmen“, beschloss ich ihn zu überqueren und dabei bewegten mich höchst unterschiedliche Gefühle. Heroische, auf der Selbstsicherheit meiner Berufspraxis fußende, mehr noch empfand ich aber eine seltsam verstörende Kälte, die ich bislang auf das kühl-sachliche Ambiente und die äußerst effektive Klimatisierung der Räume zurückgeführt hatte. Jetzt, umfänglich orientiert, deutete ich das Missbehagen als jenes Grauen, das mir schon früher, wenngleich in minderer Form, in der Ausübung meines Berufes gelegentlich begegnet war. Mächtige Wellen, dunklen Sphären entweichend, die einem ans spirituelle Zwerchfell schlagen und dort ein garstiges Frösteln hinterlassen. So klar und deutlich, dass der Impulsgeber nicht fern sein konnte.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Die Umrisse einer fast greifbaren Vision fransten aus, zurück blieb das Büro mit den vier besorgt dreinschauenden Männern.
„Ich lass uns erst mal Kaffee bringen, wir brauchen alle eine Stärkung“, griff der Präsident zum Telefon.
*
Ausgestattet mit einem exklusive Zugangsrechte garantierenden Pass, fand ich mich tags darauf wieder am Flughafen ein. Hartmann führte mich herum, stellte mich dem Sicherheitspersonal vor und wies dieses an, mich ungestört walten zu lassen. Der Pass war auf einen falschen Namen ausgestellt, meine Funktion angeblich die eines Prozessoptimierers.
Noch etwas ungeübt in der Undercover-Tätigkeit, bemühte ich mich um Überzeugungskraft. Vielleicht mit einem der frühen Stunde geschuldeten Mangel an Souveränität, denn ich spürte trotz der Anwesenheit Hartmanns hartnäckige Vorbehalte bei den Sheriffs. Wer den Beruf des freischaffenden Psychokinetikers ergreift, tut dies, abgesehen von Motiven persönlicher Erwähltheit, auch in dem Wissen seiner erst nachmittags anbrechenden Stunden höchster Leistungsbereitschaft.
Weshalb sich gerade das Erscheinen am Tatort zu ungewohnter Tageszeit manchmal prächtig instrumentalisieren lässt. Es wird behauptet, Einsamkeit und Müdigkeit fördern das Göttliche im Menschen zutage. Wem das zu hochtrabend klingt, wird mit mir zumindest darin übereinstimmen, dass sich bei jedem nach einer zu kurzen Nachtruhe eine gewisse emotionale Dünnhäutigkeit einstellt. Befällt die Meisten lediglich eine nutzlose Orientierungsschwäche, weiß ich dieser Dusseligkeit durchaus etwas abzugewinnen. Für die Erstanamnese bietet sie geradezu ideale Voraussetzungen. Dass man nach außen etwas tollpatschig wirkt, sind dabei unvermeidliche Begleiterscheinungen.
Anders ausgedrückt, je mehr die realen Stimmen von einem abfallen und den Sensationswert von Wellensittichgeplapper annehmen, desto hellhöriger wird das innere Ohr gegenüber dem allgegenwärtigen Flüstern des Spirituellen. Im Idealfall gelingt die Extraktion klarer Botschaften. Dabei stört das Alltägliche nur, warum mir Herr Hartmann mit seiner Geschäftigkeit bald lästig wurde. Nicht weniger ich ihm, eingedenk meiner hartnäckigen Weltabgewandtheit. Nachdem ich zum wiederholten Male zurückblieb, oder dem Bekanntmachen mit einem weiteren Facility-Manager kaum noch Beachtung schenkte, brach er die Führung ab.
„Ich glaube, Sie kommen jetzt alleine zurecht. Bei Fragen rufen Sie mich einfach an“, bekam ich einen Zettel mit einer Telefonnummer ausgehändigt.
„Zu gegebener Zeit werde ich mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen wissen“, sagte ich. Wahrscheinlich war es das technisch Unbestimmte in meiner Ankündigung, das Hartmann zusammenzucken ließ. Einem Psychokinetiker traut man durchaus zu, er bedürfe nicht unbedingt der Dienste von Mobilfunknetzbetreibern, drängt es ihn danach mit einer bestimmten Person in Kontakt zu treten.
Den einmal begonnenen Erkundungsgang setzte sich sodann auf eigene Faust fort. An meiner Brust gut sichtbar der Pass, der den Offiziellen und Zielstrebigen zu verstehen gab, dass es damit seine Richtigkeit hatte. Nicht von ungefähr lenkten mich meine Schritte weg von den Hauptströmen. Wenn von den Fluggästen eine Gefahr ausging, dann höchstens in ästhetischer Hinsicht, dachte ich beim Anblick der bereits in der Tracht der Ankunftsferienparadiese Gewandeten. Das was ich suchte, lag jenseits der Abfertigung, den Wartebereichen und den aufgebrezelten Dutyfreeshops. Somit gelangte ich in von Menschen bevölkerte Zonen, deren Gesichtszüge weder Vorfreude noch Aufregung verrieten oder denen, anders als den Businessreisenden in ihren Boss-Anzügen, nicht der Charme ihrer eigenen Wichtigkeit aus allen Poren blitzte.
Mir begegneten normale Arbeitskräfte und ich spürte die gewohnte Unfrische jahrelangen gemeinsamen Wirkens in öden Tätigkeiten. Je tiefer ich vordrang, desto schwindsüchtiger der Glamourfaktor des Ambientes. Graue Böden, kahle Wände, durchbrochen von Fensterglas, dahinter Großraumbüros und von Zeit zu Zeit Zugänge zu wenig einladenden Erholungsräumen mit summenden Kaffeeautomaten, in deren grünstichigem Neonlicht Mitarbeiter, auch wenn sie Nichtraucher sind, wie schwerstabhängige Suchtkranke wirken. Einen größeren Kontrast zu den Örtlichkeiten mit Kundenverkehr hätte man sich kaum vorstellen können.
Eine weitere Tür schnappte auf als ich mein Kärtlein an den Sensor des davor angebrachten Zeiterfassungsautomaten hielt. Beim Eintreten überkam mich ein seltsames Gefühl. Seltsame Gefühle haben in meinem Beruf einen gewissen Stellenwert.
„Kann ich Ihnen helfen?“ tönte es von einem vorgelagerten Schreibtisch.
Ich verwies auf Hartmann und schüttelte die Hand des Mannes, der darauf wieder auf seinen Stuhl sank.
„Schon wieder Prozesse optimieren?“ stöhnte er.
Ich erfuhr, die Abteilung sei erst neu gebildet worden, als Resultat einer kürzlich durchgeführten betriebswirtschaftlichen Verschlankungsmaßnahme. Mein Blick erfasste ungefähr ein Dutzend, auf engem Raum zusammengepferchter weiblicher Bürokräfte. Einige, der durchweg schon etwas Betagten, hoben argwöhnisch den Kopf, die meisten ließen sich aber durch meine Anwesenheit nicht von ihrer Bildschirmarbeit ablenken. Man erwiderte meine allgemeine Grußadresse mit spürbaren Vorbehalten. Eine Weile ließ ich das Szenario auf mich einwirken, dann, dem Bürovorsteher zunickend, wandte ich mich zum Gehen. Ich hatte genug gesehen.
„Nun“, sagte Hartmann eine halbe Stunde später, „so ungewöhnlich ist das nicht. Der Kostendruck zwingt uns Einsparpotentiale zu nutzen, und gegebenenfalls Umstrukturierungen durchzuführen.“
Da hieße es auch mal Einbußen in Lohn und Qualität des Arbeitsplatzes hinzunehmen, auch für langjährige Mitarbeiter. „Immer noch besser als Entlassungen“, ergänzte er.
Was die Frauen denn davor getan hätten, wollte ich wissen.
„Die Abteilung setzt sich vorwiegend aus ehemaligen Sekretärinnen zusammen.“
„Chefsekretärinnen?“
„Auch das.“
Man gestattete mir Personalakteneinsicht. Infolgedessen verbrachte ich die Mittagspause allein in einem Raum, in dessen Wandschränken sich die Hängeregister bauschten. Davor auf einem Stuhl hin und her rollend, war mir klar, wonach ich suchte.
Jene Dame aus zuletzt besuchtem Büro, beziehungsweise ihre Augen, hatten sich tief in meinem Gedächtnis eingekerbt. In jedem Beruf stellt sich über kurz oder lang eine Haltung ein, die man als spöttische Distanz bezeichnen kann. Polizeibeamte sprechen von Kunden, wenn sie Spitzbuben meinen, während es sich bei Einzelhandelsverkäufern umgekehrt verhält. Eigentlich sind das bloße Interna, unschöne Zeichen einer im Verborgenen blühenden Abstumpfungkultur, aber sobald die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, geht gleich das Geschrei los. Wer die Political Correctness gefährdet sieht, soll sich mal fragen, ob er selbst den Dingen, mit denen er berufsbedingt täglich zu tun hat, immer in vorbildlichem Respekt begegnet. Jedenfalls, in dem Moment als ich sie gesehen hatte, machte sich die Zynikerabteilung in meinem Gehirn selbständig und prompt war ein nicht ganz astreiner Kosenamen geboren: Die toten Augen von London.
Auf sie war ich in der Abteilung der ehemaligen Chefsekretärinnen gestoßen, dahin hatte mich mein Instinkt und wie mir schien, die Lotsen der Vorsehung, geführt.
Nicht lange und ich sah sie wieder. Das heißt nicht ganz, denn das Foto in der Personalakte stammte noch aus glücklicheren Tagen. Bernadette K. war darauf jung, gutaussehend und ihre Augen blickten selbstbewusst, ja, fast etwas herrisch. Das Dämonische war darin zwar schon angelegt, aber ob es jemals zum Ausbruch gelangen würde, stand damals noch nicht fest. Dazu bedurfte es dem Hinzufügen weiterer Elemente.
In einem regelrechten Bilderrausch fluteten die Stationen ihres beruflichen Werdegangs an meinem geistigen Auge vorbei. Die späten Siebzigerjahre waren vielversprechend, die Achtziger lösten einiges davon ein, doch im darauffolgenden Jahrzehnt ging es zunehmend bergab. Sowohl mit der körperlichen Attraktivität als auch mit der Karriere, was zahlreich vorhandene Vorgesetztenbeurteilungen, angefertigt anlässlich diverser Standortbestimmungsgespräche, belegten. Zunächst die Mitarbeiterin noch euphorisch preisend, verloren diese mit den Jahren den positiven Beiklang.
Abgefasst waren die frühen Charakterstudien fast ausschließlich von einem mir seit dem Vortag bekannten Herrn, dem heutigen Flughafenpräsidenten. Bis in die Neunziger hatte Frau K. dessen beruflichen Aufstieg begleitet, zuletzt im Rang einer Chefsekretärin, bis sie vor etwa vier Jahren abgelöst worden war. Seitdem mehrmals versetzt, landete sie schließlich in der Abteilung der abgehalfterten Sekretärinnen.
Ich blätterte nach frischen Einträgen, aber für die jüngere Vergangenheit fand sich nur noch wenig Persönliches. Vom früheren Interesse schien sich die Firma nur noch so etwas wie eine spröde Duldung erhalten zu haben. Statt ihren Einsatzwillen zu rühmen, rügten die knappen Notizen jetzt vornehmlich Frau K.s Hang zu ausgedehnten Zigarettenpausen. Der flapsige und orthografisch nicht eben sattelfeste Stil ließ zudem auf Verfasser schließen, die selber kaum einen Bruchteil der Dienstjahre auf dem Buckel hatten, wie die leichtfertig Beurteilte. All das verdichtete sich für mich zu einer höchst stimmigen Gemengelage.
Nachdem ich einige Kopien angefertigt hatte, verließ ich das Archiv kurz vor Ende der Mittagspause. Dem Trubel der Halle entging ich damit nicht. Ich hatte beschlossen, erst mal die Heimstatt zu einem ausgiebigen Mittagsschläfchen aufzusuchen, den darin sicher zahlreich eingewobenen Traumbildern einige Beachtung zukommen zu lassen und die hoffentlich frisch gewonnenen Einsichten mit den Tatsachen aus der Wachwelt abzugleichen. Welche Haltung das Tarot zu all dem einnehmen würde, darauf war ich schon sehr gespannt. Mit Hartmann konnte ich später noch telefonisch Rücksprache halten, im Moment hätte ein Gespräch den angestoßenen Meinungsbildungsprozess nur behindert.
Gerade betrat ich die Schleuse zwischen den automatischen Türen, als ich inmitten der Gesichter eines mich erwartungsvoll anstrahlendes wahrnahm. Ich wusste sofort wer das war, der da sogleich seinen ursprünglichen Kurs änderte und mich zwecks einer spontanen Begrüßung zu verfolgen begann. Auf dem Vorplatz holte er mich ein.
„Wohin so eilig?“
Journalisten wirken immer – wie es in der Filmsprache heißt - gegenbesetzt, so auch Ludwig P. Hängt nicht eine Kamera auffällig an ihnen herunter, jeder könnte ein Pressemensch sein. Vielleicht liegt es daran, dass für diesen Beruf mehr Neigung als Talent vonnöten ist, dass sich jeder allein kraft eines persönlichen Entschlusses von jetzt auf gleich dazu entschließen kann, ein Journalist zu sein. Aber eigentlich gilt das ja für viele Berufe, ganz besonders auch für meinen.
Eine der Funktion entsprechende Physiognomie bildet sich wohl nur bei ausgesprochenen Lehrberufen heraus. Je länger die Ausbildung, desto wahrscheinlicher die Übereinstimmung mit dem landläufigen Klischee. Bischöfe sehen immer aus wie Bischöfe. Ebenso Bundesverfassungsrichter, Apotheker oder Bankiers. Voraussetzung für die sichtbare Standeswürde, dieser déformation professionelle, ist wohl ein entsprechend hoher Ausdifferenzierungsgrad des Tätigkeitsprofils.
Übrigens hatte zu dem Thema unlängst Wassilij, ein Zunftgenosse den ich vor Jahren auf einem Hexen-Symposium kennenlernte, ein paar interessante Gedanken entwickelt, die ich dem geneigten Leser nicht vorenthalten will. Besagtem war beim Durchblättern einer Tageszeitung, indem er die sich zufälligerweise in der aufgeschlagenen Zeitung gegenüberstehenden Fotos miteinander verglich, folgendes aufgefallen: Die Abgelichteten, ein frisch geschnapptes Oberhaupt eines Mafia-Clans und auf der anderen Seite ein hoher Richter, waren sich erstaunlich ähnlich, ja wirkten in ihrer soignierten Würde geradezu austauschbar. Da jener Wasslij an die Existenz von Parallelwelten glaubt, verstieg er sich durch die neuen Erkenntnisse ermuntert zu einer gewagten These. Jedem Menschen, führte er diese aus, wäre in einer anderen, hinter den Schleiern unbekannter Dimensionen gelegenen Realität bzw. Gegenrealität, ein Doppelgänger zur Seite gestellt, mit identischen Charaktereigenschaften, nur dass sich das daraus resultierende Wesen einmal zum Frommen, das andere Mal zum Schaden der Gemeinschaft auswirken würde. Allein der Zufall entschied darüber. Wen man also hierzulande als Ehrenmann rühmt, der muss darauf gefasst sein, in der Parallelwelt über eine Dublette zu verfügen, die dort womöglich zu den zehn meistgesuchten Verbrechern zählt. Er hatte bereits rege in die Richtung geforscht, zur Beweisführung eine Akte mit Bildern von vermeintlichen Paarlingen angelegt.
„Welcher von beiden ist der Polizist und welcher der Kleinkriminelle?“ hielt er sie mir eines Tages hin. Sowohl das eine, als auch das andere Schnauzbartgesicht hätte für die jeweilige Rolle infrage kommen können.
„Siehst du, du kannst es nicht bestimmen“, triumphierte er. Dann wurde ich aufgefordert den Päderasten vom katholischen Geistlichen zu unterscheiden. „Eine schwere Wahl“, musste ich einräumen.
Wir säßen unseren Doppelgängern wie auf einer die kosmischen Grenzen überwindenden Wippe gegenüber. Wobei der jeweils moralisch Gewichtigere den sittlich Leichtfertigen in die Höhe stemmt.
Und wie verhielte es sich mit Personen, die weder in die eine, noch in die andere Richtung auffällig geworden seien, wollte ich wissen.
„Du meinst so Durchschnittstypen wie du einer bist? Na ja, die sind sowohl hier als auch dort Durchschnittstypen, was sonst.“
„Eine interessante Theorie“, gab ich zu bedenken, „aber wohl noch nicht ganz ausgereift.“
Etwas anderes hätte er ja auch gar nicht behauptet, hieß es darauf.
Aber zurück zu Herrn P., dem Mann der beim heiteren Beruferaten wohl ein volles Schweinderl eingesackt hätte, meine Abwesenheit im Fernsehstudio vorausgesetzt. Dank unserer früheren Geschäftsbeziehung wusste ich womit er seine Brötchen verdiente, damals hatte er sich als Journalist eingeführt. Mittlerweile hätte er allerdings genauso gut auf Wohnungsmakler umgesattelt haben können.
„Dass ich Sie ausgerechnet hier antreffe“, sagte er nachdem ich ihm einen guten Tag gewünscht hatte. „Ich dachte, Sie machen sich nichts aus Flugreisen?“
Mir fiel auf, es braucht gar keine Kamera oder Mikrophon, Journalisten erkennt man an der Unverfrorenheit.
„Wie ein Reisender sehen Sie sowieso nicht aus. Oder ist Ihnen womöglich Ihr Gepäck abhanden gekommen?“
So fragt man Leute aus. Wäre ich nur im entferntesten so indiskret, dann könnte ich jetzt erwähnen, dass mich Herr P. damals aus Gründen tiefsten Herzeleids aufsuchte. Im Zustand der Hypnose befreite ich ihn erfolgreich von der Zwangsvorstellung, nur jene Angebetete könne die einzig wahre Lebenspartnerin für ihn darstellen. Worauf die Unzugängliche prompt eine weniger ablehnende Haltung ihm gegenüber einnahm.
Liebe muss ungehindert fließen können. Stellt man sich das Behältnis für das amouröse Medium als Schlauch vor, wird man verstehen, dass ein zu fester Griff den Fluss der Gefühle ins Stocken bringt. Loslassen darf man auch nicht, dann macht er sich selbständig und spritzt unkontrolliert in der Gegend rum. Festhalten, aber nicht abquetschen, lautet die Devise.
Offenbar hatte sie sich P. zu eigen gemacht. Denn einige Monate nach meiner Behandlung meldete er Verzug. Ich bekam eine Einladung zur Hochzeit, der ich aber allein schon aus Gründen der Standesethik nicht Folge leisten konnte.
„Und wie entwickelt sich das Familienleben?“ bekundete ich höfliches Interesse.
„Sehr gut. Würde Ihnen bestimmt auch gut tun“, antwortete er widerlich selbstgefällig, wie es Art ist bei Konvertiten oder jungen Vätern, die glauben, sich dem Gesetz der Arterhaltung gebeugt zu haben, käme einer Erhebung in den Adelsstand gleich.
„Das hört man gern“, wollte ich zur Verabschiedung überleiten, da setzte er unvermittelt ein offizielles Gesicht auf und behauptete: „Hier passieren merkwürdige Dinge, stimmt´s?!“
„Überall passieren merkwürdige Dinge. Einen schönen Tag noch“, entschied ich mich zur Flucht. Anders als es mein sparsames Naturell ursprünglich vorsah, verfügte ich mich umgehend zum nahegelegenen Taxistand.
„Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, was hier vor sich geht“, blieb er mir dicht auf den Fersen.
Ich riss die nächstbeste Droschkentür auf, verschwand im Fond des Wagens und bestürmte den Fahrer, sofort gemäss seiner Bestimmung in Aktion zu treten. Glücklicherweise war der Mann auf Draht. Im Nu befanden wir uns im Verkehrsgewühl.
„Der kann eine ganz schöne Klette sein“, sagte der kraftvoll am Lenkrad Kurbelnde.
„Wie bitte?“
„Na, der Typ, der Sie verfolgt hat. Mich hat der auch schon ausgefragt.“
„Und worüber?“
Seine Augen begutachteten mich im Rückspiegel.
„Schon wieder vergessen. Also, wohin mit der wertvollen Fracht“, grinste er. Ich sagte es ihm.
*
Dass ich selbst bislang zu zwei Flugreisen aufbrach, davon habe ich eingangs gesprochen. Die eine war rein privater Natur, die andere führte mich in ein fernes Land und besaß einen geschäftlichen Hintergrund. Einem überaus glücklichen Zufall verdankte ich die Adresse jenes arabischen Händlers, um dessentwillen ich die Unbequemlichkeit eines fünfstündigen, thrombosefördernden Aufenthalts in der Touristenklasse auf mich nahm. Neben dem gesundheitlichen Risiko kostete mich die Sache einen Gutteil meiner damaligen Ersparnisse, trotzdem bereue ich den Abstecher nicht. Seither verfüge ich über ein unfehlbares Diagnoseinstrument, ein Amulett mit einem hohlen Glasstein, worin sich ein Tröpfchen echten Märtyrerbluts befindet. Christliches Märtyrerblut, weshalb es überhaupt erst zum Verkauf stand. Der Besitz einer solchen Sache kann in jenen Breiten halt durchaus etwas heikel sein.
Am unverschämten Preis rührte dies allerdings wenig. Was hatte ich schon der jahrtausendealten Bazartradition entgegenzusetzen, die in den Genen meines Geschäftspartner abrufbereit schlummerte? Gleichviel, ein solcher Gegenstand kommt nur alle Jubeljahre auf den Markt und nachdem zum x-ten Mal das Täfelchen mit den unterschiedlichen Preisvorstellungen zwischen uns hin und her gereicht worden war, ohne sich merklich zu meinen Gunsten zu reduzieren, beschloss ich es dabei zu belassen. Leichtherzig bezahlte ich in der Hoffnung, gerade die beste Investition meines Lebens getätigt zu haben. Dass der Rückflug infolge günstiger Windströmungen deutlich kürzer ausfiel, schien mir erste Anhaltspunkte für die Richtigkeit meiner Einschätzung zu liefern. Unter uns, mittlerweile ist daraus Gewissheit geworden. Meistens leuchtet der kleine Blutstropfen hellrot, fast orange, doch manchmal verfärbt er sich, wird dunkel, violett, und im Extremfall, sogar pechschwarz. Bisher passierte es erst einmal, kurz nach der Rückkehr aus dem Orient. Meine Haut war noch nicht wieder von ihrem, unter der arabischer Sonne angenommenen Braunton zur mitteleuropäischen Winterblässe verwittert, als ich eines Tages durch die Straßen einer ostdeutschen Stadt spazierte. Um den Hals trug ich das neue Amulett und war schon etwas enttäuscht, weil es sich nie anders, als in der gewohnt unauffälligen Manier zeigte. Egal wie oft ich darauf blickte, immer blieb es hell, nie veränderte es seine Farbe.
Ich lief entlang eines Zauns, erste Gedanken keimten, eventuell doch geleimt worden zu sein, da wandte ich den Kopf und mein Blick fiel durch die rostigen Maschen auf ein schäbiges Gebäude, vor dem etliche Jugendliche lümmelten. Plötzlich erhob sich wüstes Geschrei. Zunächst bezog ich es nicht auf mich, aber dann flogen Steine und da sie ganz in meiner Nähe aufschlugen, einer mich sogar nur um Haaresbreite verfehlte, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, kein anderer als ich kam als Verursacher dieses merkwürdigen Aufruhrs in Frage. Meine Flucht endete ein paar Gassen weiter. Heftig schnaufend begann zu begreifen. Meiner braunen Haut angesichtig, hatten die Burschen fälschlicherweise vermutet, ein echter Südländer hätte sich unverschämterweise in ihr arisches Habitat verirrt. Was wiederum zur sofortigen Auslösung des Abwehrreflexes geführt hatte.
Während ich Abscheu empfand, mir vornahm, künftig die Ostgebiete zu meiden, war mir mein Amulett ganz entfallen. Erst im Hotel mit aufgeknöpftem Hemd im Badezimmer stehend, wurde ich mir seiner Anwesenheit wieder bewusst. Gerade setzte ich an, mir mitsamt des Zahnbelags auch den Ekel vor der dumpfen Deutschmeierei abzuschruben, da sah ich es im Spiegel düster über meiner Brust baumeln. Wegen des geizigen Leuchtkörpers lediglich eine optische Täuschung vermutend, beendete ich meine Mundhygiene ungerührt und hätte mich beinahe anderen Dingen zugewandt, als eine höhere Kraft mich davor zurückhielt. Ich nahm den bislang so nutzlosen Gefährten zur Hand, spürte die von ihm ausgehende, allein durch den stundenlangen Körperkontakt nicht ausreichend erklärte Hitze und fand ihn, indem ich ins merklich hellere Schlafzimmer trat, auch in optischer Hinsicht verändert, ja geradezu verunstaltet. Statt freundlich zu glimmen, oszillierte er hässlich zwischen violett und schwarz, so wie es manche Insekten tun, wenn man unvorsichtigerweise einen Stein zur Seite rollt. Doch mich erfüllte Freude. Mein Amulett hatte soeben seine Nagelprobe bestanden. Dort wo der Pesthauch des Bösen aufstieg, nahm es augenblicklich Witterung auf und die Jungnazis hatten ihm zu seinem Einstand verholfen. Einigermaßen versöhnt mit dem ansonsten unerquicklichen Abstecher nach Brandenburg, reiste ich ab.
Wie gesagt, ein durchschlagender Erfolg. Als der Wecker das einläutete, was man mit Fug und Recht den Anbruch eines weiteren Arbeitstags nennen darf, war ich eingermaßen gespannt, ob mir heute ein ähnliches Glück beschieden sein mochte. Mit der U-Bahn ging es zum Flughafen, wo wie stets die freudige Ausgelassenheit zahlenmäßig überlegener Debütantenhorden auf den schlitzohrigen Gleichmut jener prallte, die berufsbedingt immer zugegen sind. Für den einzelnen Reisenden mit seinem individuellen Reiseziel mag es den Höhepunkt des Jahres darstellen, aber der Flughafenbedienstete erkennt in ihm verständlicherweise nur den Dutzendling, den Störenfried der Ordnung, die zu pflegen und erhalten ihm obliegt. Weshalb sich Fluggäste manchmal wundern, dass die Stewardess oder der Mann von der Gepäckabfertigung ihre Aufregung nicht teilt. In Krankenhäusern ist das ähnlich. Auf der einen Seite die, die täglich Blinddärme entfernen, auf der anderen das aufgelöste Menschlein, dem dieses Vergnügen höchstens einmal im Leben widerfährt. Ein asymmetrisches Verhältnis par excellence. Womöglich fördert es den weiter oben beschriebenen Hang zu Spötteleien im Lager der zwangsläufig Abgeklärten. Bekäme ein Chirurg nur einmal in seinem Leben die Chance zur Ausmerzung einer durch Blinddarmreizung verursachten Störung, wie zuvorkommend aufmerksam würde er seinen Patienten wohl behandeln?
Das und so manches andere beschäftigte meinen Geist, als ich amulettbewehrt in die versteckten Winkeln vordrang, wo Bernadette K. ihrer traurigen Tätigkeit nachging.
Wen die Nikotinsucht plagt, der sucht in regelmäßigen Abständen den Pausenraum auf. Ich legte mich in besagter Örtlichkeit auf die Lauer. Endlich, nach dem zweiten Automatenkaffee, erschien die Zielperson. Ihre Augen blickten kalt, aber es lag auch ein Hauch des Wiedererkennens darin. Natürlich kein freudiges, denn als vermeintlicher Prozessoptimierer fiel ich notwendigerweise in ihr Feindschema. Aber das spielte keine Rolle. Für den Fortgang der Untersuchung war es nebensächlich, ob ich ihr Vertrauen, oder gar Freundschaft, errang. Solche Gefühle in ihr auszulösen, dafür hätte es ohnehin eher eines Sonderangebots in der Spirituosenabteilung des Supermarkts gebraucht als des schlagkräftigen Beweises menschlicher Anteilnahme, wie mir das aufgedunsene, von Alkoholabusus kündende Gesicht zu verstehen gab. Die Verrenkungen konnte ich mir sparen, es genügte mit ihr im selben Raum zu sein, ein paar Worte zu wechseln, den Rest überließ ich dem Amulett.
Unter Rauchern gibt es naheliegende Anknüpfungspunkte für ein Gespräch.
„Wären Sie vielleicht so freundlich, hab gerade meine letzte Zigarette ausgedrückt?“
Sie hatte sich gerade eine angesteckt, jetzt nahm sie ihre Vorratspackung abermals zur Hand.
„Nirgends gibt es mehr Zigarettenautomaten“, wechselte ich zu ihrem Stehtisch, „schlechte Zeiten für uns.“
„Das stimmt, und zwar in mehrfacher Hinsicht.“ Sie stippte zweimal gegen das Schächtelchen, worauf die Zigaretten wie Orgelpfeifen herausstanden. Das war alte Schule in höchster Vollendung.
Ich löste den Glimmstängel aus seinem Verbund und fragte, ob ich ihr im Gegenzug ein Getränk spendieren dürfe. Ihre Wahl fiel auf Cola. Als Kind der Siebziger kam für sie keine Light-Version in Betracht. Richtig vermutet, Klagen unterblieben, als ich das Getränk mit dem amtlichen Zuckergehalt auftischte.
„Danke.“
„Gern geschehen.“
Wir pafften beide drauflos.
„Sie wollen bestimmt wissen, wie lange ich Pause mache“, sagte sie.
„Nein, wirklich nicht.“
Die Empörung verhalf ihr zu einem Wechsel im Mienenspiel.
„Wäre mir auch egal, ihr könnt mich ruhig rausschmeißen.“
„Damit hab ich nichts zu tun.“
Jetzt war er da, der Hass. Sie sah mich an, eigentlich nicht mich, sondern das Heer der Männer, das sie verletzt, verlassen, enttäuscht und gedemütigt hatte, und der Blick war nicht länger tot, sondern übervoll mit Leben, mit fehlgeleitetem Leben, voll mit der einstmals konstruktiven Kraft, die, da man ihrer nicht mehr bedurfte, zerborsten und zersplittert war. Gleichzeitig entlud sich der angestaute Missmut in wirren Reden.
Splitter sind zwar gefährlich, allerdings für Opfer und Täter gleichermaßen. Sie schonen weder den Steinewerfer noch den Hüter der Scheibe. Ihre scharfen Kanten bilden ein zufälliges Muster, sie zeigen in alle Richtungen und heben sich somit in ihrer zerstörerischen Wirkung gegenseitig auf. Oder anders ausgedrückt, Bernadettes Unmut glich einem ausgeleierten Geschütz - mal schießt es zu kurz, mal zu lang. Die eigenen Truppen werden davon ebenso unter Feuer genommen, wie der eigentliche Feind.
Das alles vermittelte sich mir im Verlauf der nächsten fünf Minuten, in denen ihre Position ständig unberechenbar vom Ankläger zum Verteidiger pendelte, manchmal im selben Satz.
„Nie habe ich auch nur eine der zahlreichen Überstunden aufgeschrieben, und jetzt stellt man mir sogar im Pausenraum nach. Ist das vielleicht gerecht?“
„Ich stelle Ihnen doch nicht nach.“ Zumindest nicht aus dem vermuteten Grund, fügte ich im Geiste hinzu.
„Ach nee? Jedes Mal wenn man euch sogenannten Prozessoptimierern begegnet, wird´s hinterher mieser. Mehr Arbeit, weniger Lohn, kürzere Pausen. Wenn ihr Optimierer seid, dann sind Saftpressen Saftoptimierer.“
„Ich bin ja selbst nur ein kleines Rädchen, tue doch nur meinen Job“, fühlte ich mich gar nicht wohl, auch noch das Tagwerk all der Kinseys rechtfertigen zu müssen.
„Natürlich, Sie tun nur ihren Job. Das haben die Wachen im KZ auch gesagt!“
„Jetzt übertreiben Sie aber ...“
„Reicht das noch nicht, dass ihr uns in diese neue Beschäftigungsgesellschaft ausgelagert habt, was wollt ihr denn noch mehr, unser Blut?“
Es ginge halt um Flexibilität, improvisierte ich munter drauflos, damit man rasch auf die sich ständig ändernden Marktbedingungen reagieren könne.
„Flexibilität? Ha, dass ich nicht lache. Zeitkonto und leistungsgerechte Entlohnung, alles nur Vorwände um die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen. Wenn ich bedenke, wie ich mich all die Jahre trotz Krankheit immer hierher geschleppt, meinen Urlaub immer auf die Bedürfnisse des Chefs abgestimmt und den Arbeitsplatz erst verlassen habe, wenn alles erledigt war. Zum Dank wird man abgeschoben und obendrein wird einem unterstellt, ein potentieller Drückeberger zu sein.“
Ich sagte, niemand würde ihr dergleichen unterstellen, obwohl ich es in ihrer Akte anders gelesen hatte.
„Vielleicht sollte ich mich ja mal krankmelden? Wissen Sie, mit meiner Gesundheit steht´s wirklich nicht zum Besten. Ein Attest wäre kein Problem ...“ Plötzlich hielt sie inne. Dann sagte sie: „Sie machen sich wohl in Gedanken Notizen. Na schön, dann schmeißt mich halt raus. Entspanne ich mich halt in der sozialen Hängematte.“
Ihr bitteres Lachen war mir unangenehm, besonders da sich der Raum mittlerweile bevölkert hatte. Entweder war ihr die Veränderung verborgen geblieben, oder sie machte sich nichts aus Zeugen.
„Aber das würde euch so passen!“ Wenn ich richtig mitgezählt hatte, war es die dritte Zigarette die sie zu den übrigen Kippen in den Aschenbecher quetschte. „Rausekeln lass ich mich nicht. Ich mach alles mit, an mir soll´s nicht liegen. Ich trete auch freiwillig dieser sogenannten christlichen Gewerkschaft bei, wenn´s beliebt. Gewerkschaft, dass ich nicht lache!“
Damit wandte sie sich zum Gehen. Ich sah ihrer untersetzten Gestalt hinterher, in der sich noch eine Ahnung vergangener Attraktivität erhalten hatte. Zurück blieb eine bedrückte Stimmung. Fröhliches Pausenraumgeplapper würde hier erst nach meinem Abgang einsetzen.
Auf der Toilette knöpfte ich mir das Hemd auf. Wie vermutet keine Reaktion meines Amuletts. Das heißt, mir schien seine Färbung blasser als sonst, irgendwie wässerig. War das ein Zeichen von Mitleid? Gleichwohl. In den im Grunde gar nicht so toten Augen von London hatte ich mich geirrt. Gründlich. Doch die Mühen waren nicht umsonst, das sind sie nie. Das Zusammentreffen mit Bernadette K., insbesondere ihre dabei gezeigte Redseligkeit, hatte mir zu wertvollen Informationen verholfen. Wenngleich kein Mephistopheles, war es Zeit für etwas Zuspruch in eigener Sache, so lagen doch Welten zwischen mir und der Torenrolle. Der, der hier im Neonlicht stand und dank weißer Kachelung keinen Schatten warf, war durchaus klüger als zuvor. Zumindest klüger als jener, der sich heute morgen zu ungewohnt früher Stunde aus dem Bett quälte. Eigentlich war mein Tagesziel somit erreicht, aber so verheißungsvoll begonnene Tage bricht man nicht mutwillig ab. Wem ein glücklicher Wind die Segel füllt, bleibt auf Kurs, mögen ihm noch so schöne Ankerplätze begegnen.
Bisher war ich davon ausgegangen, falls das unlängst so deutlich gespürte Grauen tatsächlich der psychokinetische Ausdruck einer gekränkten Seele sein sollte, den dafür verantwortlichen Verursacher am ehesten im Kreis der Bürokräfte aufzustöbern. Jetzt stellten sich Zweifel ein, ob jemand, der einst bewusst sein Heil in der Verwaltung suchte, solch elementare Kräfte zu entfachen überhaupt imstande wäre. Gehen von Beamten Revolutionen aus? Zeugt es nicht eher von ängstlicher Realitätsflucht, wenn man sich dazu entschließt, sein gesamtes berufliches Leben in der trockenen, wenig aufregenden, aber dafür umso sichereren Umgebung von Leitzordnern zu verbringen? Und wer das duldsame Wesen zum Bürokraten nicht bereits in den Genen trägt, bei dem sorgt die Sozialisation im entsprechenden Milieu schon dafür, dass die letzten Triebe zur Auflehnung zuverlässig veröden.
Jedenfalls, den sozialen Fortschritt haben die Angestellten eher als Bremser begleitet, die haben sich eigentlich immer hübsch rausgehalten, wenn es darum ging das Los der unselbständig Beschäftigten zu verbessern. Barrikaden mieden sie, die überließen sie den Arbeitern. Zumindest damals, als es noch so ein soziales Gebilde wie das Proletariat gab. Meine Suche musste auf das ausgedehnt werden, was davon heute noch übrig war.
In den folgenden Stunden fügte ich in Hallen gigantischen Ausmaßes meinem Wissen, was es alles zur Aufrechterhaltung eines reibungslosen Flughafenbetriebs bedarf, weitere Details hinzu. Ich beobachtete Techniker riesige Airbuspneus auswechseln, war Zeuge als Stückgut in Container verladen und zu Transportmaschinen gebracht wurde und landete schließlich an einer mit „Animal-Lounge“ beschrifteten Pforte.
Dank meines Zutrittsausweises stellte auch sie kein Hindernis dar. Wer sich je hoffnungsvoll an einen Help-Point wandte, weiß, dass sich hinter hochtrabenden Fremdwörtern selten mehr als ein Euphemismus verbirgt. Aber der mir in der Halle entgegenschlagende Geruch war eindeutig, er weckte Erinnerungen an lang zurückliegende Zoobesuche und zeugte von der Anwesenheit echtem Getiers. Vom angekündigten Aspekt der Loungeatmosphäre war dagegen wenig zu spüren. Während ich über diese Unart lächelte, noch das Profanste mit einem hochstaplerischen Etikett zu versehen, näherte sich mir der zuständige Animal-Senior-Executive. Hartmanns Name fiel, worauf ich zu einem Rundgang eingeladen wurde.
Der wurde sogleich angetreten und je tiefer wir in das Labyrinth der Container vordrangen, die ja größtenteils Käfige darstellten, desto mulmiger wurde es mir. Es ist wirklich etwas anderes, ob man an Kisten mit leblosen Inhalt vorbeigeht, oder ob hinter den Holzverschlägen oder Kartonagen, mit den grausigen Gitterluken, Wesen von Fleisch und Blut vegetieren. Besonders wenn sich diese im Zustand des Eingesperrtseins befinden, in drückender Enge, fernab ihrer natürlichen Habitate.
Überall gurrte, zischte, raunte es und mancherorts ließ das erbärmliche Leben, das glücklicherweise dem Auge entzogen war, die Behältnisse erbeben. Federn, Haarbüschel und von Gabelstaplerreifen gebrandmarkte Spuren tierischer Exkremente verteilten sich als sichtbare Belege dieser verborgenen Fauna über die Wege.
Welchen ansehnlichen Umfang der Tierhandel doch angenommen habe, verlieh ich meinem Erstaunen Ausdruck.
„Meerschweinchen und Goldhamster aus Übersee, stellt das so ein Wirtschaftsfaktor dar, fallen da solche Mengen an?“
Mein Führer lachte in der Art des Mannes, der einem offensichtlich völlig Uneingeweihten gegenübersteht, auf dessen sich so jenseits jeder Realität bewegenden Annahmen eigentlich nur mit Mitleid reagieren lässt.
„Meerschweinchen? Da haben wir aber mehr zu bieten. Von Vogelspinnen bis zu ausgewachsenen Flusspferden reicht die Palette.“
„Flusspferde?“
„Im Moment nicht, aber alles schon dagewesen. Schade, letzte Woche hätten Sie einen Leoparden bewundern können. Wurde bereits abgeholt – zum Glück.“
Der sei sicher für den Tierpark bestimmt gewesen, sagte ich. Dafür gab es wieder nur ein amüsiertes Kopfschütteln.
„Quatsch, die müssen doch sparen. Ein reicher Russe hat sich den Leo kommen lassen. Gott allein weiß, warum.“
Seit der Krise wäre allerdings ein starker Rückgang bei solch exaltierten Lieferungen zu verzeichnen.
„In letzter Zeit lässt man uns gerne mal hängen. Haben Viechzeug bestellt und dann fehlt plötzlich das Geld. Keine Lust mehr sich an die Verpflichtung zu erinnern. Schweinerei. Wir stehen da und haben den Salat.“
Außerdem gäbe es da noch die Artenschutzbestimmungen, jede Menge Kalamitäten mit krankem oder verendetem Getier, kurzum die Tätigkeit in der Animal-Lounge sei kein Zuckerschlecken.
Irgendwo wurde ein Verbrennungsmotor angelassen. Ich war froh, wie hinter dem vertrauten Geräusch die unglücklichen Laute der Kasernierten zurücktraten. Falls es je zu einem jüngsten Gericht kommen sollte, die Tiere hätten am meisten Grund Anklage zu erheben. Sowohl gegen uns Menschen, als auch gegen Gott selbst.
„Achtung!“
Wir drückten uns gegen die Kistenwand, um den in unangemessener Geschwindigkeit heranbrausenden Gabelstapler passieren zu lassen. Einige Meter voraus bremste der ab und verschwand in einer Abzweigung. Aber sein Brummen blieb präsent. Es kam uns sogar entgegen, nebenan, in der Nachbargasse. Ich konnte die Abgasfahne entlang des Container-Horizonts wandern sehen, als wir wieder in die Mitte des Weges traten.
„Am besten, wir gehen wieder zurück“, sagte mein Führer. In den Lüftungsschlitzen eines merkwürdigen Holzverschlags blitzten grüne Augen und ich willigte sofort ein.
Auf dem ganzen Rückweg ließ uns der Motorenlärm nicht mehr los. Immer wenn man glaubte, ihm entronnen zu sein, war er plötzlich wieder ganz dicht, auch wenn man das dazugehörige Fahrzeug nicht zu sehen bekam. Zudem schien sich der Mann, dem ich bedingungslos folgte, desöfteren in der Richtung zu vertun. Einmal brach er sein gedankenverlorenes Zuckeln ab, ich blieb ebenfalls stehen, während er sich einigermaßen verdutzt umschaute.
„Warum steht denn hier die Sendung aus Kolumbien?“, deutete er auf den Aluminiumquader, der eine vormalige Abkürzung zur Sackgasse umwidmete.
„Völlig irregulär.“ Er lächelte mich an: „Wenn man sich nicht um alles selber kümmert.“
Wir machten kehrt und er meinte, gegen Monatsende ginge es halt immer drunter und drüber. Einige Zeilen weiter, in dieser eine verwinkelte Altstadt parodierenden Lagerhalle, machte es wieder wrumm und dazu stiegen zornige Rauchwolken empor. Irgendwie fühlte ich mich mittlerweile in die Realfassung eines Computerspiels entführt. Zwei desorientierte Pacmen, verfolgt von einem geisterhaften Gabelstapler. Gerade wandte ich mich an meinen Schicksalsgenossen, um ihn an meinem amüsanten Gedanken teilhaben lassen, da schlug Metall gegen Metall. Wie ein Kurzsichtiger, der einem auf die Stirn statt in die Pupillen sieht, stierte er über mich hinweg, um dann herumzuwirbeln und mir völlig unvermittelt einen Schubs zu versetzen. Derweil ich rückwärts taumelte, wurde mein Erstaunen über diese rüde Attacke von einem Knall beendet, den der Aufprall eines schweren Kastens just an der Stelle meines eben aufgegebenen Standorts hervorrief. Nach einem Überschlag blieb das Ding mit aufklaffendem Deckel seitlich liegen. Gleichzeitig erzeugten hunderte Schnäbel ein kunterbuntes Geschrei. Ich glotzte stumm, das Geschnatter dauerte an. Dazu ein menschlicher Kommentar: „Nicht bewegen!“
Warum, wollte ich einwerfen, da sah ich den Grund. Aus dem Schlund der geborstenen Kiste waren Schläuche gerollt, die sich abwechselnd streckten und krümmten und das, schien es, aus eigenem Antrieb. Der Gedanke an harmlose Materialreflexe elastischen Gummis wäre gar nicht so abwegig gewesen, hätte man sich in diesem Moment nicht an einem Ort namens Animal-Lounge befunden. Wenn hier etwas schlängelte, ging man besser davon aus, dass eine mehrzellige Lebensform die Ursache dafür bildete. Und es waren deren drei, drei Schlangen glitten wie Dolche aus Quecksilber heran und dazu tobte es in den umliegenden Käfigen. Früher als gedacht brach das Tribunal der Tiere über uns herein.
Unwillkürlich versuchte ich nach hinten auszuweichen.
„Nein, nicht“, zischte mein Gefolgsmann, „die sehen nicht gut, reagieren nur auf Bewegung!“
Er hatte leicht reden, das infernalische Trio hatte es ausgerechnet auf mich abgesehen, den zufälligen Besucher. Dabei legten sie einige Schlauheit an den Tag. Schon trieben mich ihre Vorstöße in einen Winkel, nahes Gegacker schlug mir ans Ohr, Kartonwände verunmöglichten den weiteren Rückzug, während mir die gefächerte Formation der Angreifer die Flucht nach vorne abschnitt. Ich sah das zielstrebige Gleiten und dachte, wo bleibt der unter solchen Umständen sonst schon klassische Ausruf: „Keine Sorge, die tun nichts, die wollen nur spielen.“ Als der entfiel, fand ich Trost in der Vorstellung einer ein Antidot bereithaltenden medizinischen Station, die der Mikrokosmos Flughafen bestimmt vorzuweisen hatte. Meinetwegen durfte sie auch Healthcare-Center heißen. Angesichts des nur noch Zentimeter von meinem Schuhwerk entfernten Züngelns, war ich gerne bereit meinen snobistischen Kurs gegenüber neumodischen Sprachschöpfungen eine Pause zu gönnen.
„Raoul, schnell, beeil dich ...“
Ich hob den Kopf und glaubte in dem heranstapfenden Mann den Fahrer des Gabelstaplers wiederzuerkennen.
„Parada! Le ordeno a que pare!“ herrschte dieser das Geschmeiß an.
Die mittlere Schlange, mir am nächsten, reagierte sofort, die beiden flankierenden krochen noch ein Stück, ehe sie ebenfalls Bewegungslosigkeit befiel.
„Tranquilo, Serpientes, ... tranquilo!”
Er hatte einen Greifstab dabei, der jetzt zum Einsatz kam. Eine nach der anderen wurden die Schlangen davon erfasst, angehoben und in das mittlerweile vom Vorarbeiter wieder aufgerichtete Behältnis zurückgetan. Abgesehen von einem Kringeln beim Anheben, bewahrten das Reptiliengeschmeiß erstaunliche Contenance. Nach ihrem jüngst gezeigten Verhalten, war die Lässigkeit, in der sie mit sich verfahren ließen, wirklich sonderbar. Und wie immer, wenn eine Gefahr überwunden scheint, brach sich sogleich Heiterkeit Bahn. Sogar die nervtötenden Tierlaute verebbten, aus den Kisten drang nurmehr sanftes Gegurre.
„Na, da haben wir Ihnen ja richtig was geboten“, hieß es.
Das Schlimmste war vorbei und plötzlich wimmelte es von Mitarbeitern. Einer trug einen Besen, mit dem er ein bisschen herumfegte, ansonsten wurden ironische Blicke gewechselt. Auch ich lächelte. Pah, wer erschreckt sich schon an ein paar Schlangen.
„Unser Raoul“, deutete der Vorarbeiter auf meinen Retter, „der versteht sich halt auf Tiere, nicht wahr?“
Auf alle Fälle besser als auf das Bedienen von Maschinen, dachte ich. Dabei wanderten meine Augen zu den beiden Gabeln in der Lücke, wo sich vormals die jetzt verschrammte Kiste in einer stabilen Lage befunden hatte.
„Ein richtiger Schlangenflüsterer“, sagte einer der Herumstehenden.
„Wirklich erstaunlich“, bestätigte ich. An die Tatsache, dass uns der Wunderknabe durch seine Tollpatschigkeit erst in die missliche Lage gebracht hatte, Zeuge seines besonderen Talents zu werden, verschwendete scheinbar keiner einen Gedanken. Helden werden oft aus Unkenntnis der genauen Umstände geboren.
„Besten Dank“, spielte ich die Komödie mit, indem ich mich besagtem Raoul zuwandte. Er nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie.
„Ohne Sie, wäre es bestimmt um mich geschehen“, schmeichelte ich ihm. Wovon er sich aber nicht beeindrucken ließ.
„Die haben nur schwaches Gift“, entgegnete er und mir schien, als klänge da ein gewisses Bedauern an.
Dessen ungeachtet blieb ich versöhnlich: „Sind Sie Spanier?“ Doch er hatte sich schon weggedreht.
„Also, wer hat die Schlangen zu den Vögeln gestellt?“ Auf die Frage des Vorarbeiters, verkrümelten sich auch die Schaulustigen.
„So eine Schlamperei. Bringt die mal ganz schnell nach F4.“
Der dunkelblaue Overall war inzwischen zur nächsten Abbiegung gelangt. Der, der ihn glaubhaft ausfüllte, hielt kurz inne, warf uns über die Schulter einen kurzen Blick zu, um sich darauf in aller Seelenruhe eine Zigarette anzustecken. Überall hingen, gut sichtbar, Rauchverbotsschilder von der Decke.
„He, beim Verschließen nicht mit Klebeband sparen“, rief der Chef.
Als ich abermals hinsah, war der Schlangenbeschwörer verschwunden.
Eigenartig schnell, nach der vorangegangenen Odyssee, fanden wir nun in den Eingangsbereich zurück. Die Rufe der Arbeiter schwirrten fröhlich durch die Tiefe der Halle und auch dem wieder einsetzenden Motorengeräusch fehlte jede Bedrohlichkeit.
„So, wollen Sie sonst noch was wissen?“
Ich verneinte, bedankte mich und verließ die Animal-Lounge. Viele Fragen war nicht offen geblieben.
*
Raoul war gebürtiger Kubaner. In den Achtzigern hatte es ihn, nach dem Studium der Elektrotechnik an einer Moskauer Universität, in die DDR verschlagen. Bei Robotron, dem dortigen Hightech-Betrieb, zunächst seinem Ausbildungsstand gemäß als Ingenieur beschäftigt, kam es bald zu einer Reihe empfindlicher Herabstufungen. Fast jährlich büßte sein Tätigkeitsprofil an Funktions- und Verantwortungsfülle ein. Zuletzt, gaben die Unterlagen Auskunft, diente er auf dem Niveau einer einfachen Produktions-Hilfskraft. Was den Abstieg bewirkte, gab seine Arbeitsvita zwar nicht preis, aber der dahinterliegende Wunsch der Betriebsleitung, sich des Kubaners irgendwie zu entledigen, schimmerte deutlich durch die dürren Zahlen seiner beruflichen Stationen.
In einer Gesellschaft, für die Arbeitslosigkeit ein Tabu darstellt, ist Entlassung natürlich keine Option. Aber mehr und mehr verdichtete sich bei mir der Eindruck, dass, wäre 1989 nicht die Wiedervereinigung dazwischengekommen, man Raoul früher oder später in den sozialistischen Bruderstaat zurückverfrachtet hätte. Vor diesem Schicksal bewahrte ihn allein dieser merkwürdige Umschwung in der großpolitischen Wetterlage. Danach, beruflich nie wieder richtig Tritt fassend, wechselten sich bei ihm längerer Zeiten von Beschäftigungslosigkeit mit kurzdauernden Arbeitsverhältnissen in untergeordneten Stellungen, zumeist als Lagerist, ab. Zumindest bis vor ein paar Jahren, als er durch die Ergatterung des Jobs in der Animal Lounge, doch noch so etwas wie eine gewisse Stabilität in sein Leben brachte. Als letzte Zäsur vermerkte die Akte die Umwandlung seiner Anstellungsbedingungen in eine, infolge der Auslagerung aller Lageristen, extra dafür gegründeten, auf den Flughafen-Servicebereich gerichteten Leiharbeiterfirma. Raoul unaufhaltsamer Niedergang hatte sich also neuerlich fortgesetzt, auch wenn diesmal kein eigenes Verschulden vorlag. Damals, 1989, griff die Geschichte vorteilhaft in sein persönliches Geschick ein, zwanzig Jahre später hatte sich wieder etwas außerhalb seiner Einflusszone bewegt, Veränderungen in Sachen Unternehmenskultur und Personalpolitik, nur blies ihm jetzt der Wind der Geschichte von vorne ins Gesicht. Wie es heißt, wiederholt sich selbige zuerst als Tragödie und dann als Farce. Bei Raoul lief es offensichtlich umgekehrt. Statt einer, mit allen Vorteilen der direkt beim Flughafenbetreiber angestellten Arbeitskraft, war aus ihm ein Leiharbeiter geworden. Damit verbunden, schlechtere Anstellungsbedingungen und ständige Kündigungsgefahr.
Hatte der Leiter der Animal Lounge nicht davon gesprochen, dass die Krise begann sich nachteilig aufs Geschäft auszuwirken? Schlummerten vielleicht schon irgendwo Pläne, die für Raoul demnächst einen Platz auf der Transferliste vorsah?
Ich nippte an meinem Pfefferminztee und dachte darüber nach. Obwohl streng verboten, hatte ich mir auch von Raouls Akte Fotokopien angefertigt und mich damit in die glückliche Lage versetzt, dieses entscheidende Stadium meiner investigativen Untersuchung von zuhause aus fortführen zu können. Hartmann erwartete morgen meinen Zwischenbericht. Dass ich ihm was zu bieten hatte, dessen war ich gewiss. Dazu brauchte ich nur mein immer noch tiefschwarz schimmerndes Amulett zu betrachten.
Es lag auf Raouls Papieren und ich hatte herausgefunden, dass eine derart hartnäckige Verstimmung durch die Berieselung mit heiterer Musik am besten zu begegnen war. Heiter musste sie sein und ernst, durchdrungen von göttlicher Erhabenheit, strahlend wie die Frühlingssonne, somit ein Fall für Wolfgang Amadeus. Schon die Anfangstakte der Ouvertüre zur Entführung aus dem Serail bewirkten bei meinem zuletzt doch recht geschundenen Freund eine deutliche Entspannung. Und als Blondchen in ihren halsbrecherischen Gesangskaskaden den finsteren Osmin in seine Schranken verwies, deutete nichts mehr auf seine jüngst durchlittenen Schrecken hin. Mein Amulett erfreute sich in wärmsten Orangerot an der Kunstfertigkeit der Darbietung.
*
„Schau mal einer an“, kauerte Hartmann mit zusammengekniffenen Augen vor seinen Bildschirm, „hat am Tag der Maueröffnung Geburtstag.“
Zugegeben, ich habe es nicht so mit den Daten zur jüngsten deutschen Geschichte. Mein diesbezügliches Interesse kam sozusagen mit der Wiedervereinigung zum Erliegen. An sich ja ein erfreulicher Tag, aber irgendwie auch der Anfang von ein paar unguten Entwicklungen, z.B. dieser neuen Deutschtümelei, die sich seitdem allerorten breitmacht. Früher war ich stolz gewesen, dass die Deutschen als gebrannte Kinder den anderen Nationen ein leuchtendes Vorbild in Sachen patriotischer Zurückhaltung gaben. Mittlerweile darf man wieder ungestraft Nationalstolz empfinden und äußern. Gerade so, als ginge dem Umstand, als Deutscher geboren zu sein, eine persönliche Leistung voraus. Wenn diese edle Regung aber so billig zu haben ist, dann erkläre ich hiermit, wie stolz es mich macht, dass der Mond seit Jahrmillionen ohne zu mucken, in treuer Ergebenheit und tadelloser Pflichtauffassung, uneigennützig seiner Flugbahn folgt. Unser Glück, auf Erden ideale Lebensbedingungen vorzufinden, verdanken wir schließlich allein ihm. Da scheint doch etwas Trabantenstolz angebracht zu sein, oder etwa nicht?
Wie auch immer, ich schweife ab, langweile Sie und das ist ebenso unverzeihlich wie fortgesetzter Chauvinismus.
„Das Licht der Welt hat er natürlich ein paar Jahrzehnte davor erblickt, aber Tag und Monat stimmen überein“, freute sich Hartmann über seine Entdeckung. „Ich frage Sie, Koinzidenz oder Korrelation?“
Auf was wollte Hartmann hinaus? Wollte er vielleicht andeuten, es bestünde da ein Zusammenhang? Manchmal überraschen mich Kunden damit, wie sie mit der Naivität des Laien Kausalitäten herstellen, vor deren Gewagtheit der Profi zurückschreckt. Manchmal verbirgt sich hinter solchen Vorstößen aber auch nur blanke Ironie, oder der Wunsch, den Parapsychologen zu provozieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Möglich wäre es schon“, kam ich ihm auf halbem Weg entgegen.
Hartmann lächelte mich an. Das Lächeln des Schülers, der den Meister überflügelt. Dabei war er vor kurzem noch vor Skeptizismus übergeflossen. Als ich ihm vor einer Stunde Raoul als meinen Hauptverdächtigen präsentierte, hatte er noch spöttisch reagiert.
„Sie behaupten allen Ernstes, ein frustrierter Lagerarbeiter wäre in der Lage, mittels seiner, ähm, mentalen Kräfte, Flugzeuge zum Verschwinden zu bringen?“
Wahrscheinlich wäre er geneigter gewesen meinen Ausführung Glauben zu schenken, wenn es sich bei dem potentiellen Täter um mindestens einen Träger mehrerer akademischer Titel gehandelt hätte. Typisch deutsches Dünkeldenken. Aber ein Lagerarbeiter, zudem ein Ausländer, das war doch die Sorte Mensch, bei der man, als Teil der betriebswirtschaftliche Verfügungsmasse, kein ausgeprägtes Seelenleben voraussetzen musste. Nur in Zeiten akuten Arbeitskräftemangels ging von dieser Gruppe eine Gefahr aus. Aber heutzutage, wo es für jeden nullkommanichts Ersatz gibt, doch wohl nicht.
„Also wirklich, Sie enttäuschen mich“, hieß es.
Seine Haltung hatte sich im Verlauf meiner weiteren Ausführungen jedoch geändert. Besonders der gestrige Schlangenzwischenfall machte Eindruck. Hat man Schlangen zu bieten, hat man auch den Zugang zum Verstocktesten gefunden. Unser christlich-kultureller Hintergrund, mit dem Wissen um entsprechende Bibelstellen, lässt uns keine Wahl.
„Klingt trotzdem wie Hokuspokus“, blieb er sich zunächst noch treu.
„Verschwindende Flugzeuge kaum weniger“, erwiderte ich.
Darauf hatte er sich seinem Computer zugewandt. Vollumfängliche Administratorenrechte gewährleisteten den schnellen Datenzugriff. Minutenlang studierte er Raouls Dossier.
„Hm, könnte was dran sein, auch wenn sich einem als rationalem Wesen dabei die Haare sträuben.“
Ohne mein Amulett zu erwähnen, versicherte ich ihm, das Für und Wider meines Verdachts sorgfältig erwogen zu haben.
„Es gibt zwar noch eine andere Spur, aber ich fürchte, Raoul ist unser Mann.“
„Na schön. Sie sind sich also sicher. Mit seiner Entlassung ließe sich dann ja wohl wieder Normalität herstellen.“
Jeder löst seine Probleme auf die ihm vertraute Art. Als Problemlöser gleichen wir Menschen Hunden, die nur einen Trick beherrschen. Leider, oder in meinem Fall, zum Glück. Diese Unfähigkeit der Menschen zum Wechsel von Perspektive und Handlungsweise, garantiert mir, und allen anderen gewerbsmäßigen Ratgebern, schließlich den Broterwerb.
„Seine Entlassung vermehrt Ihre Schwierigkeiten nur“, musste ich ihn deshalb abermals enttäuschen.
„So? Meinen Sie?“
„Indem man noch weitere Demütigungen hinzufügt, stimmt man keinen eitlen Mann versöhnlich“, gab ich zu bedenken.
Das leuchtete ihm ein. „Mein Gott, da hätte aber auch die Personalabteilung selber draufkommen können, dass man solche Leute nicht einstellt. Dafür braucht es ja nur etwas psychologisches Grundwissen.“
Ich erwiderte, keiner hätte wissen können, was man sich mit Raoul einhandelte.
„Offenbar haben wir es hier mit einem Menschen zu tun, der über ganz außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, sich dessen voll bewusst ist und nicht davor zurückschreckt, diese auch anzuwenden.“
„Wirklich unheimlich“, sagte Hartmann plötzlich ganz munter.
„Auch für mich ein absolutes Novum. Sozusagen der schlimmste Fall dieser Art in meiner ganzen Laufbahn.“
„Das kann ja heiter werden“, unkte er. Trotzdem wirkte er gar nicht niedergeschlagen, ganz im Gegenteil. Seine paradoxe Reaktion ging vermutlich darauf zurück, dass jetzt wenigstens klare Verhältnisse geschaffen waren. Als Voraussetzung für eine Therapie benötigt man schließlich zunächst eine stichhaltige Diagnose. Zwar fiel die nicht gerade erfeulich aus, aber es öffneten sich dadurch auch gewisse Handlungsalternativen anstelle des ziellosen Stocherns im Trüben.
„Was schlagen Sie vor?“
Bevor ich darauf antworten konnte, war er in seiner Euphorie auf besagte Duplizität von Mauerfall und Raouls Geburtstag gestoßen. Dass er da alleine darauf gekommen war, gewissermaßen den Fachmann überflügelt hatte, machte ihn ganz stolz. Sein persönlicher Verdienst war nicht abzustreiten und somit schien es damit seine Richtigkeit zu haben.
Auf dem Heimweg, als ich im Licht der Fakten die Konsequenzen erwog, die sich aus der neuen Sachlage ergaben, war ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich tatsächlich so verhielt. Hartmanns Glückstreffer, bei seinem ersten Ausflug ins Übersinnliche, stellte mich nämlich vor eine Reihe neuer Probleme. Wie ein zufällig auf physikalischem Gebiet reüssierender Amateur berauschte sich mein Auftraggeber am Triumpf seiner Entdeckung, während mir die undankbare Aufgabe zufiel, den Zufallsfund mit dem klassischen Modell der Physik abzugleichen. Dabei betrafen ihn die Folgen des etwaigen Paradigmenwechsels doch weit mehr als mich. Falls Raouls dämonisches Potential einen kompletten Staat (zugegeben einen ziemlich maroden) zum Einsturz bringen konnte, was würden sie dann bei einem simplen Wirtschaftbetrieb wie dem seinen zu bewirken imstande sein? Wie der Gefahr Herr werden, wenn sich einem solche Destruktivkräfte entgegenstemmen?
Soll Hartmann doch selber sehen, wo er und sein dämlicher Flughafen bleibt, liebäugelte ich schon mit Fahnenflucht. Mal sehen, ob er sich immer noch so freut, wenn Raoul anfängt, mal so richtig loszulegen. Wenn diesen Typen die richtige Einstellung fehlt, muss ich mich nicht länger an meinen Eid gebunden fühlen. Bisher hatte ich zwar nie Reißaus genommen, aber für alles gibt es ein erstes Mal.
Zwischen Pflichtgefühl und Drückebergertum hin und hergerissen, kam die U-Bahn in meiner Station zum Stehen. Missmutig brachte ich den Aufstieg in die Oberwelt hinter mich. Der sonnendurchtränkte Tag hatte mir nichts zu bieten, die Stimmen und das Lachen kamen von weit her. Nichts davon bezog sich auf mich. Vielleicht lag es an der Verstimmung des Gemüts, dass ich nicht wie üblich den ampelbeschützten Übergang wählte, sondern dachte, mir die fünfzig Meter sparen und nächst am Eingang zur Haltestelle die Straße überqueren zu können. Das tat ich sonst nur in später Nacht, wenn zwischen Vergnügungsverkehr und morgendlicher Stoßzeit die automobilistischen Umtriebe kurzfristig zum Erliegen kommen. Jetzt wimmelte es von Fahrzeugen, die dicht an dicht über die vier Spuren in beide Richtungen fluteten. Dazwischen, in der Straßenmitte, verlief ein schmaler gepflasterter Damm. Ihn erreichte ich in einem halsbrecherischen Zickzackkurs, den ich ohne zu verweilen fortzusetzen gedachte, als mich ein heißes Brennen auf der Brust zwang, den Rhythmus der Schritte zu verlangsamen. Ein Bein auf der Fahrbahn, das andere bereit zum Schritt, fasste ich mir reflexartig ans Hemd und diese winzige Zäsur reichte aus, um dem Aufprall mit einem gerade vorbeizischenden Leichtransporter zu entgehen.
Ich sah die Aufschrift „Wenzel Transporte – sichere Transporte“ erschreckend nah an meinem Gesicht vorbeifliegen, hörte das wütende Hupen und nahm schaudernd zur Kenntnis, ohne mein alertes Amulett wohl oder übel in die Statistik der Verkehrsunfälle eingeflossen zu sein. Ob in der Rubrik Leichtverletzt oder Unfalltod war nebensächlich. Alsdann tippelte ich mit wummerndem Herzen entlang des Mittelstreifens und mischte mich kleinlaut unter die an der Ampel Wartenden.
Zum Aussteigen war es zu spät. Raoul hatte mich auf seinem Radarschirm. Ich steckte tief drin, zu tief, um jetzt so einfach die Kurve zu kratzen. Wieder einmal erlebte ich diesen merkwürdigen Transfer der Schuld, vom Verursacher auf den hinzugezogenen Berater. Wie ein Beichtvater, der nach Abnahme der Beichte für die fremden Sünden zur Rechenschaft gezogen wird. Na schön, desertieren kam nicht mehr in Frage. Wäre ja auch irgendwie schäbig gewesen, versuchte ich es sportlich zu nehmen.
Eine Sache machte mich stutzig. Andersherum wäre es mir zwar lieber gewesen, aber nicht ich hatte Raoul aufgestöbert, sondern er hatte sich aus freien Stücken in den Vordergrund gespielt. Er hatte den Schlangenvorfall inszeniert und damit erst die Verdachtsmomente erschaffen, die ihn schließlich in den Fokus meiner Untersuchungen rückte. Geschah das aus Dummheit? Konnte ein Mann mit derart außergewöhnlichen telekinetischer Fähigkeiten auf dem Gebiet des Unerwischtbleibens so kläglich versagen? Oder lag es an seiner narzistischen Persönlichkeit, die um Applaus bestrebt, selbst den Zuspruch dessen sucht, der ihm nachstellt, der mit Nachdruck seine Entdeckung und Deaktivierung betreibt? Eine dritte Möglichkeit zog ich ebenfalls in Betracht. Vielleicht lag es in Raouls Absicht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Womöglich verfolgte er diesbezüglich eine Strategie.
Ich gebot über einiges Rüstzeug, den im Zuge meiner Tätigkeit gelegentlich auftretenden Bedrohungen Paroli zu bieten. Gerade besprenkelte ich mir die Stirn mit echtem Lourdes-Wasser, sprach einige Schutzformeln aus der Kabbala und versäumte es auch nicht, mit dem schweren Riegel die Tür vor dem Eindringen von Feinden zu sichern, die mit durchaus irdischen Mitteln versuchen, meine Kreise zu stören. Dabei war ich mir der Dürftigkeit meiner Handlungen nur zu bewusst. Über den Charakter des Symbolhaften kam ich damit nicht hinaus, nicht bei einem Widersacher von Raouls Format. Aber die Hinwendung zu Routinen verhilft einem wenigstens zu dem befriedigenden Gefühl, den hochgefahrenen Gemütsmotor nicht im Leerlauf quälen zu müssen. So verhielt es sich auch diesmal. Schon merklich ruhiger, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, indem ich fortfuhr Zuflucht im Alltäglichen zu suchen. Beispielsweise galt es den Anrufbeantworter abzuhören. Nach zwei Anfragen für Terminvereinbarungen meldete sich plötzlich die Stimme von Herrn P., dem aufdringlichen Journalisten und ehemaligen Klienten. Ich möchte ihn doch bitte zurückrufen, möglichst bald. Ich zögerte. Aber dann (unangenehme Dinge bringt man am besten schnell hinter sich) drückte ich doch den entsprechenden Knopf, worauf der Apparat selbsttätig eine Verbindung herstellte.
Wie segensreich moderne Technik doch sein kann. Mit Unbehagen erinnerte ich mich an Zeiten, wo man die Nummer eines ganz und gar unerwünschten Gesprächspartners erst mühsam recherchieren musste und dann, zu allem Überfluss, auch noch gezwungen war, höchste Konzentration aufzuwenden, um sich mit den widerwillig getippten Chiffren nicht zu vertun. Heute genügt ein Fingerdruck und ohne das Kurzeitgedächtnis damit belastet zu haben, flutschen die Zahlen durch die Leitung. Zudem nährt die simple Geste die Hoffnung auf die Einmaligkeit des Vorgangs.
Es meldete sich Frau P., die Gattin des Quälgeists, deren äußeres Erscheinungsbild mir dank einer zufälligen Begegnung sogar bekannt war. Ihr Mann hätte soeben das Haus verlassen, ich solle es bitte später noch einmal versuchen, dazu erklang im Hintergrund Kindergeschrei. Keineswegs unglücklich beendete ich das Telefonat. Und wie immer bei Pflichten, in denen kein Sinn zu stecken scheint, vergaß ich die Sache. Das heißt, als ich spätabends heimkehrte, fand ich die Stunde zu vorangeschritten für einen neuerlichen Anruf. Ausflüchte gedeihen am besten auf einem mit Vorurteilen gedüngten Feld.
Tags darauf fand ich mich wieder am Flughafen ein. Dabei fühlte ich mich bereits wie ein normaler Angestellter, und das passte mir immer weniger. Gleichzeitig wusste ich, den leidigen Trott zu unterbrechen und wieder in der Komfortzone der Selbstbestimmtheit Quartier zu beziehen, lag ganz allein in meiner Macht. Gerade dieser Punkt machte mir Sorgen. Meine Macht, was zeichnete sie aus? Selbstkritik machte sich breit. Von der hochtrabenden „Ich stehe vor meinem persönlichen Rubikon“- Euphorie war nicht mehr viel übrig. Der Verlauf der Dinge stutzte mich zusehends auf Normalmaß zurück. Also auf Mittelmaß. Wir Mittelmäßigen sollten uns in der Wahl der Herausforderungen nicht zu sehr hinreißen lassen. Wer sich unvorsichtigerweise über seine Grenzen hinaus bewegt, darf bei Erfolg bestenfalls auf das Unverständnis hoffen, das die Welt gewöhnlich für den Avantgardisten bereithält. Im Hier und Jetzt wird Applaus und Anerkennung nur dem zuteil, der sich nicht anmaßt, allzu deutlich aus dem Kanon des allgemein Verständlichen und Gebilligten herauszustechen. Schlaue Künstler wissen das. Die wissen, ein dürftiges Talent ist noch lange kein Hinderungsgrund für Anerkennung und günstige Kontostandsbewegungen. Etwaiger Nachruhm ist keine Währung, die ein Porsche-Händler als Anzahlung akzeptieren würde.
Also, die Gefahr war zwar erkannt, aber gebannt war sie damit nicht. Im Wissen um die Begrenztheit meiner Mittel hatte ich mich am Vorabend noch mit meinem Freund und Standesgenossen Wassilij getroffen, dem Mann der sich thematisch den Parallelwelten verschrieben hat. Bevor er noch Piep sagen konnte, gab ich ihm zu verstehen, dass mir mit der Erkenntnis, Raoul könnte als uneingeschränkt anerkannter Heilsbringen und Wohltäter durch ein uns unbekanntes Doppelgänger-Universum geistern, nicht gedient sei. In dem einzig als gesichert geltenden Universum war Raoul unbeschreiblich böse, das allein zählte, beziehungsweise die Optionen, wie seine Destruktivkräfte zu schwächen seien.
Meine Hoffnungen richteten sich nicht von ungefähr auf einen Mann von Wassilijs Werdegang. Er, der dem Sowjetsystem trotze, musste einfach ein paar Asse griffbereit in der Hinterhand halten, deren Potenz sich einem verweichlichten Westler nur unzureichend erschließen. Danach sah es zunächst leider gar nicht aus. Er legte die Stirn in Sorgenfalten, bediente sich ausgiebig aus seinem Samowar und so verstrich eine komplette Langspielplattenseite mit leidenschaftlichen Skrijabinklängen, aber abgesehen vom Kunstgenuss kamen wir nicht vom Fleck. Ob er vielleicht ein besonders leistungsfähiges Ikonenbild besäße, den Unhold in seine Schranken zu weisen, machte sich meine Ungeduld Luft. Er lachte. Ein Ikonenbild? Ja, warum denn nicht gleich geweihtes Lourdeswasser literweise verspritzen, spottete er. Ich verschwieg, dass ich mit dem Gedanken gespielt hatte. Dann endlich, nachdem er die Platte umgedreht hatte, rückte er mit der Sprache heraus: „Pekuniäre Anreize!“
„Wie bitte?“
„Ihr müsst ihn kaufen. Womit, dass ist euch kapitalistischen Lakeien doch geläufig. Gebt ihm Geld, haufenweise und am besten schnell.“
Von einem, den eine Gesellschaft die Privateigentum eine strenge Absage erteilt sozialisiert hat, ein höchst ungewöhnlicher Vorschlag. Meine Enttäuschung entging ihm nicht.
„Tut mir leid, aber Feuer bekämpft man manchmal mit noch mehr Feuer“, sagte er.
„Klar, die Cholera lässt sich mit der Verbreitung der Pest eindämmen.“
„Mit dem Geld ist das Böse in die Welt gekommen, also schafft man es damit auch wieder hinaus.“
Das war natürlich eine sehr verengte Sichtweise, wie sie an keiner maßgeblichen Wirtschaftsakademie gelehrt wird. Aber er floss über vor russischer Selbstzufriedenheit, desgleichen der Samowar. Noch mehr Tee. Damit verschoben sich an diesem Abend, wenn schon nicht die Grenzen meines Weltbildes, doch immerhin die meines Einschlafzeitpunktes.
Und zwar empfindlich nach hinten. Die Folgen des Missbrauchs begannen sich gerade jetzt, da ich meinem Termin mit Hartmann entgegeneilte, bemerkbar zu machen. In meiner pelzigen Verfassung fand ich die kurze Liftfahrt in die Etagen der Direktion ebensowenig erhebend, wie die Aussicht, meinem Auftraggeber mit einem derart profanen Rettungsvorschlag unter die Augen treten zu müssen. Aber so ist das immer. Je besser die Diagnostik, desto höher die Chance auf Krankheiten zu stoßen, für die bis dato keine Kuren existieren. Was macht der Mediziner in einem solchen Fall? Erst mal Kortison verordnen. Und jenseits des Gesundheitssystems hält man sich ans Geld. Eigentlich hält man sich in allen gesellschaftlichen Subsystemen ans Geld. Hartmann würde das verstehen. Ohne in den für ihn schwer fassbaren Dialekt des Okkulten zu verfallen, konnte ich mich in seiner ureigensten Sprache an ihn wenden. Somit ließ sich wenigstens der zu erwartende kommunikative Streuverlust minimieren, wenngleich mich die Strategie an sich schon nicht befriedigte.
Die Türen schwangen auf und ich trabte los. Ein Teppich dämpfte die Schritte, schuhsohlenschmeichelnd wie frisch verlegt, vertäfelte Wände beruhigten den Geist und selbst das leise in der gekühlten Luft gefasste Sirren empfand man hier nicht als störend. In dieser wunderbaren Welt wurde man mühelos wie von einem freundlichen Sog angesaugt und fortgetragen, als glitte man auf Kufen und das Gefälle führte zwangsläufig zu Hartmann Allerheiligstem, seinem repräsentablen Büro am Ende des Korridors. Mir begegneten Angestellte, duftend und gutaussehend mit Blicken, deren Wärme in den Randbezirken zur Verbindlichkeit versandeten. Gute Laune war hier Pflicht, Misanthropie ein teures Vergnügen, nur den höchsten Kadern vorbehalten oder irregulärem Volk, Besuchern wie mir.
Gedanklich ganz auf den bevorstehenden Krisengipfel eingestimmt, war er nur ein weiterer Anzug, der meinen Weg kreuzte.
Es heißt, Kleider machen Leute, aber manchmal läuft es genau andersrum. Bei unserer letzten Begegnung hatte ein schlabriger Overall der Entfaltung seines männlichen Körperbau nach Kräften torpediert, jetzt torpedierte ebendieser den edlen Zwirn bei seinen Bemühungen, dem Träger Eleganz zu verleihen. Vielleicht versteht es ja der Teufel in Prada gewandet für Entzücken zu sorgen, aber seine Paladine wirken darin nur lächerlich.
„Ah, el hombre con el amuletto.“
Es war Raoul, der sich tief verneigte, was seine teure Gardarobe dank Doppelnaht und strapazierfähigem Gewebe schadlos überstand. Ein weiterer Grund sprachlos zu sein.
„Der Zauberer von Oz, höchstpersönlich. Welche Ehre!“ wechselte sein Spott in fehlerfreies Deutsch. An seinem Handgelenk bemerkte ich eine schwere, wie die Hälfte einer Handschelle baumelnde Golduhr.
„Guten Tag, Herr Roul“, kehrte meine Fähigkeit zum mündlichen Ausdruck zurück, „ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt.“
Sein hochmütiges Lächeln gab mir zu verstehen, dass das ganz in seinem Ermessen lag.
„Das hätte Ihnen das Wiedererkennen bestimmt erleichtert ...“ Als sich sein Arm in meine Richtung streckte, dachte ich, er wollte mir seine neue Uhr vorführen. Bevor ich zu dem protzigen Ding ein paar heuchlerische Worte der Anerkennung loswerden konnte, schnürte es mir jedoch den Atem ab. Eine schier unerträgliche Hitze durchströmte, vom Amulett ausgehendend, den Brustraum und machte Sprechen unmöglich. Gleichzeitig wurden meine Arme ganz taub, so dass ich daran scheiterte, dem Drang sie anzuheben und zum Hals zu führen, Folge zu leisten.
„Ein schönes Hilfsmittel haben Sie da“, sagte er. In meiner körperlichen Not war mir die Häme in seinen Worten ganz egal.
„Dabei wird der christliche Mystizismus schrecklich überschätzt, finden Sie nicht auch?“
Ich schnappte nach Luft, schwitzte heftig und die Flugzeuge auf den großformatigen Bildern, die überall hingen, begannen abzuheben.
„Also wirklich – Lourdeswasser! Wollen Sie mich damit übergießen? Sie glauben wohl, wir Kubaner baden nicht?“ vermischte sich sein Lachen mit dem imaginären Getöse startender Jets.
Mühsam brachte ich ein Krächzen hervor.
„Wir brauchen doch keine Nachhilfe in Körperhygiene ...“ Einem leidenden Tier gleich, warf ich den Kopf hin und her. Scheinbar wirkte es auf ihn wie die erwünschte Unterwerfungsgeste. Auf sein Fingerschnippen hin, ließ das Würgen nach.
„So, das gefällt Ihnen sicher besser.“
Auch die Hitze war plötzlich verschwunden. Die Flugzeuge klebten wieder an ihren Tafeln, ebenso das schweißnasse Hemd an meinem Körper und ich fühlte mich, trotz des Fröstelns in der klimatisierten Luft, mit einemmal pudelwohl.
„Dabei ist das gar nicht nötig“, betrachtete er munter seine Hand, „dieser Mumpitz, schnippen und auf jemanden zeigen, so -“
„Bitte nicht!“ Wieder zielte sein ausgestreckter Zeigefinger auf mich. Aber diesmal geschah nichts, der teuflische Klammergriff unterblieb. Statt dessen wieder sein Hohngelächter.
„Keine Sorge, Sie sind ja mein Freund, Sie und Ihr Amulett, mio amigos.“
Keine Einwänder meinerseits.
„Allerdings ab sofort Freunde auf Distanz, verstanden?“
„Si, es verdad!“
„Muy bien. Me voy. Adios.”
Breitbeinig ging er fort. Ich schaute ihm nicht hinterher.
In Hartmanns Vorzimmer, wohin ich mich nach einigen Minuten der Sammlung begab, hieß es, der Chef könne mich heute nicht empfangen. Er würde sich telefonisch mit mir in Verbindung setzen, in der Zwischenzeit würde sich der Pressesprecher meiner annehmen. Ich setzte mich auf den zugewiesenen Freischwinger und meine Augen verfingen sich in einem über die Starbahn rollenden Jumbojet. Nachdem er abgehoben hatte, ging die Tür und eine Stimme sprach mich mit Namen an.
„Ach, Sie sind das?!“ war ich überrascht, dass sich mir der Mann näherte, den anzurufen ich versäumt hatte.
„So sieht man sich wieder“, sagte das Grinsegesicht.
„Tut mir leid, ich ...“
„Sofort“, wehrte er ab, „gehen wir erst mal was trinken.“
Er wäre in der nächsten halben Stunde in der Coffee-Bar zu finden, machte er sich bei der Sekräterin wichtig.
„Wenn was ist, einfach anpiepen, okay?“
Erst im Aufzug zeigte er wieder Redebereitschaft.
„Sie sehen ziemlich blass aus.“
Ich hätte schlecht geschlafen, darauf er: „Tja, der Föhn.“
Auch seiner Gardarobe war eine deutliche Aufwertung widerfahren. Statt Lederblouson umflatterte ein modischer Einreiher den Schlacks. Nur die grellbunte Krawatte mit Walt-Disney-Motiven zeugte von gewissen Anpassungsschwierigkeiten beim Rollenwechsel.
„Ich habe Sie gleich zurückgerufen, aber Sie waren schon weg“, kam ich wieder auf die leidige Angelegenheit von gestern zu sprechen. Einen mit den textilen Insignien des beruflichen Aufstiegs Ausgestatteten versetzt man nicht so leicht wie einen Blousonträger.
„Meine Frau hat es mir ausgerichtet“, sagte er
„Worum ging es also?“
„Nicht mehr wichtig, hat sich erledigt.“
Wir erreichten unser Stockwerk, er ließ mir wieder den Vortritt.
Zur Coffee-Bar bekam man nur mit entsprechender Berechtigung Zutritt. Über die glaubte ich zu verfügen, aber mein Bagde bewirkte nichts. Herr P. schob sich von hinter heran: „Sie erlauben.“ Seine Hand schwebte kurz über dem Sensor, die Karte darin hatte ihn gar nicht berührt und trotzdem gaben die gläsernen Flügel in selbstverständlicher Eintracht den Weg frei.
„Das erinnert mich“, sagte er, „ich soll Sie darum bitten, ihren Passepartout zurückzugeben.“
„So?“
„Na ja, den brauchen Sie jetzt ja nicht mehr.“
„Ach nein?“
„Ich werd´s Ihnen erklären, aber setzen wir uns erst.“
Einer der Vorzüge der Coffee-Bar bestand darin, dass man bedient wurde. Hartmann hatte mir erklärt, die Örtlichkeit diene vorzugsweise der Herstellung eines angenehmen Rahmens bei Kundengesprächen. Nicht weniger Anteil hatte sie offenbar daran, das Bedürfnis der höheren Kader nach Erquickung und Erholung zu befriedigen. Fast bis auf den letzten Platz belegt, zudem mit fröhlichem Geplapper erfüllt, war schwer vorstellbar, hier würden in erster Linie schwierige Vertragsverhandlungen geführt.
Wir ergatterten einen gerade frei gewordenen Fensterplatz. Schon war eine Kellnerin zur Stelle. Herr P. übernahm die Bestellung, als hätte er seinen Lebtag nichts anderes getan.
„Was finden Sie so amüsant?“ fragte er mich, nachdem die Bedienung gegangen war.
„Ich wundere mich nur. Waren Sie gestern nicht noch Journalist?“
„Freier journalistischer Mitarbeiter. Frei und ungebunden.“
„Deshalb der fliegende Wechsel.“
„Gewiss. Heutzutage muss man schnell reagieren, wenn sich einem eine Chance bietet. Flexibilität und Kompetenz, beides ist nötig.“
„Jetzt sind Sie also der Pressesprecher der Flughafengesellschaft.“
„Nicht ganz. Vorläufig dessen Assistent. Wissen Sie, es wird eine neue Untergesellschaft gegründet, in der die Pressestelle zu leiten man mir angetragen hat.“
Ich beglückwünschte ihn dazu und er behauptete, an dem Zustandekommen der neuen Firma einen gewissen Anteil zu haben.
„Ein ganz neues Geschäftsmodell. Sehr innovativ.“
Neue Arbeitsplätze würden entstehen, neuer Umsatz generiert, der Standort gestärkt, das käme der ganzen Region zugute.
„Gerade in der Krise braucht man neue Ideen.“
In Deutschland wäre man sich zu wenig bewusst, dass wir uns mitten im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft befänden. Und unsere Abhängigkeit von der Güterproduktion sei, jetzt wo die Auslandsnachfrage nachlässt, erst richtig spürbar.
Kaffee und Kuchen wurden aufgetragen, zumindest hier traf das Angebot auf eine rege Binnennachfrage. Er unterbrach seinen Vortrag. Ich sagte, bei mir wären die Veränderungen längst angekommen.
„Ich bin schon lange im Dienstleistungsgewerbe, aber anscheinend braucht man gerade hier meine Dienste nicht mehr.“
Er nickte mit vollem Mund: „Moment, darauf komme ich gleich.“
Ich bediente mich ebenfalls, während er noch kaute. Dann nahm er einen Schluck Kaffee und ich war einigermaßen gespannt auf das, was folgen würde.
„Die Angelegenheit, derentwillen Sie hinzugezogen wurden, hat sich aufgeklärt.“
„Das will ich meinen.“
Er lächelte verkniffen und schaute an mir vorbei.
„Um es vorweg zu nehmen, wir sind Ihnen natürlich sehr dankbar.“
Wir? Für jemanden, der eben erst eingestellt worden war, ging ihm dieses Wir überraschend leicht über die Lippen.
„Aber stellen Sie sich vor, die ganze leidige Angelegenheit beruht auf einer Panne in der EDV. Lediglich ein Softwareproblem.“ Obwohl er auch das flüssig herausbrachte, schien er im Lügen etwas weniger routiniert. Um hier den Anforderungen seines Tätigkeitsprofils gerecht zu werden, musste er erst lernen das verräterische Zwinkern in den Griff zu bekommen.
„Wie bitte?“ Der Kuchenboden besaß die Konsistenz von Pappkarton, es kostete Mühe Stücke abzutrennen. „Das ist nicht Ihr Ernst.“
„Doch, doch. Die Flüge sind sozusagen nur virtuell verschwunden, nur im Computersystem, aber nicht in der Wirklichkeit.“
„Also alles nur eine Sinnestäuschung?“
„So was kann es geben, bei der heutigen Abhängigkeit von der IT“, versuchte sich der Schmierenkomödiant an einem Ausdruck echter Zerknirschtheit, „man vertraut viel zu blind der Elektronik.“
„Soso ...“
„Sie ersetzen uns Augen und Ohren, da kann so etwas schon mal passieren.“
„Verstehe. Und Ihre neue Anstellung hat damit also nichts zu tun.“
„Nein.“
„Auch nicht Senor Raoul, dem ich vorhin in der Chefetage begegnet bin.“
„Nein, überhaupt nicht.“ Jetzt konnte er nicht verhindern, rot anzulaufen.
„Na schön“, schaute ich zur Seite.
„Wie gesagt, uns tut es leid, Sie ganz umsonst bemüht zu haben.“ Er lachte: „Das heißt, Sie werden feststellen, dass Ihr Scheck äußerst großzügig ausfallen wird. So gesehen waren Ihr Bemühen absolut nicht umsonst.“
„Freut mich zu hören.“
Er erging sich in weiteren Dankesbekundungen, erleichtert die Sache hinter sich gebracht zu haben.
„Und diese neue Geschäftsidee, was hat es denn konkret damit auf sich?“ fuhr ich ihm in die Parade. Darauf winkte er die Bedienung heran: „Zahlen bitte.“
Und an mich gewandt meinte er, dass er darüber einstweilen nichts verlauten lassen dürfe.
„Reines business to business, für Privatleute wie Sie und mich vollkommen uninteressant.”
So was Ähnliches hatte ich erwartet.
Nachdem er es sich nicht hatte nehmen lassen, die Rechnung für uns beide zu begleichen, sagte er: „Ach so, dürfte ich Sie jetzt bitten?“ Ich händigte ihm meinen behelfsmäßigen Pass und den Bagde aus. Unter großem Tamtam wurde ich hinausbegleitet. Am Ausgang zur Abfertigungshalle folgte noch eine Abschiedsszene, die eines nahen Verwandten würdig gewesen wäre. Eines Verwandten, dessen man sich glücklich entledigt hatte.
Über das unwürdige Schauspiel halfen mir drei Tage später zwei Couverts hinweg. Unabhängig voneinander abgeschickt, beinhaltete das eine die Abrechnung über mein reguläres Honorar, ausgestellt von der Buchhaltung, im anderen befand sich neben einem persönlichen Schreiben Hartmanns ein Barscheck, an dem ein Flugticket angeheftet war.
Es heißt, jeder Mensch hat seinen Preis. Allerdings gelangen nur die wenigsten in die vorteilhafte Lage diesen jemals in Erfahrung zu bringen. Nachdem ich eine geschlagene Viertelstunde das unscheinbare Schriftstück begafft hatte, wusste ich endlich, in welchen Regionen der meine angesiedelt war. Mich zu kaufen gehörte demnach zu der Art von Vergnügen, allein jenen vorbehalten, die eine Mercedes-Filiale ebenso gelassen betreten wie unsereiner das Lotto-Kiosk um die Ecke. In dem Begleitbrief dankte mir Hartmann meinen Einsatz und bedauerte die sich dabei herausgestellte Nutzlosigkeit desselben. Aber nichtsdestotrotz hätte er mich als hochqualifizierte, engagierte Fachkraft erlebt, wofür er nicht umhin käme, in entsprechender finanzieller Form Anerkennung zu zollen. Der zusätzlich gewährten Bonus wäre absolut berechtigt, er ginge nicht über die Bücher und unerliege somit nicht der steuerlichen Deklarierungspflicht. Ferner wurde ich an das von mir unterzeichnete Schweigeabkommen erinnert und mit den besten Wünschen für meinen weiteren Lebensweg endete das Schreiben. Kein Wort zu Raoul. Ich hatte es eigentlich auch nicht erwartet. Angesichts des überraschenden Vermögenszuwachs war das Manko verschmerzlich. Mehr als verschmerzlich, geradezu amüsant. Auch weil ich wenige Tage zuvor gedacht hatte, mich für meinen pekuniäre Lösungsansatz vor Hartmann schämen zu müssen.
Ein gelber Zettel mit der handschriftlichen Notiz, dass ich ab sofort über das stattliche Konto von 40.000 Flugmeilen verfüge, klebte an dem beiliegenden Flugticket. „Einmal um die ganze Welt“, hatte Hartmann salopp dazugedichtet. Selbiges Ticket war auf meinen Namen ausgestellt und ein roter Aufdruck vermerkte: Nicht übertragbar!
Ich begab mich schnurstraks zu meinem Aktenvernichter und sah zu, wie es in den Schlitz eingezogen und zu Schnippseln atomisiert wurde. Danach war mir wohler.
Wer immer sich fragt, was die Reichen dazu teibt, ständig noch mehr Geld anzuhäufen, obwohl sich der persönliche Lebensluxus kaum noch steigern lässt, der muss nur einmal über einem fetten Barscheck meditieren. Von einer nackten Zahl kann eine eigentümliche Faszination ausgehen, vorausgesetzt sie bezieht sich bilanztechnisch auf die Habenseite jenes Bankkontos, über das man die alleinige Verfügungsgwalt ausübt. Man fühlt sich in Kindheitstage entführt, wenn man die lange Abfolge von Ziffern betrachtet und darin plötzlich etwas entdeckt, das in Form und Gestalt an eine Miniatureisenbahn erinnert. Das ist die Minitrix-Leidenschaft der Bonzen. Die ersten Stellen symbolisieren das kraftvolle Lokomotiventandem, das mit der ausgedehnten Reihe unterschiedlichster Chiffren-Wagons leichtes Spiel hat. Stand einem als Dreikäsehoch nur der Märklin-Starterpack zur Verfügung, erlebt man es wie eine späte Wiedergutmachung für die vormals erduldete Knappheit.
Ich glaube, all die Superreichen gebieten über das Talent, sich allein an den astronomischen Additionen auf ihren Kontoauszügen zu ergötzen. Was Geld vermag, einem in dieser Welt das Leben bequem zu gestalten, das besitzen sie ja längst. Was bringen weitere Millionen, wenn die bereits vorhandenen alles erkauften, was die Märkte an Gütern und Dienstleistungen so hervorbringen? Wieviel randvoll gefüllte Teller braucht es, den Hunger eines einzigen Mund zu stillen? Warum setzen sie sich also nicht zur Ruhe? Weshalb der ganze Stress? Irgendwie irrational, zumindest aus der uneingeweihten Warte des Habenichts, der nichts ahnt von der Lust an dem völlig abstrakten Vorgang der Geldvermehrung an sich. Glück bedeutet Fortschritt. Aufgeschichtete Zahlenkolonnen, die sich akkumulieren, wöchentlich oder täglich hochschrauben in immer waghalsigere Dimensionen, das zu verfolgen, davon muss ein unglaublicher Rausch ausgehen.
Auch wenn, wie bei jeder Sucht, dabei die Seele vor die Hunde geht, wenn totaler Reichtum die totale Verarmung von Imagination und Empathie bedeutet. Der Drogeriekettentbetreiber bezahlt für seine Gier mit einem veritablen Dachschaden, auf eine andere Art, aber nicht weniger, die einsame Angestellte, die in dessen schäbiger Filiale in ständiger Angst vor Überwachung und der latenten Gefahr des Überfallen-werdens ausharrt. Beide wären zu retten, wenn der Kapitalist nur seine Phobie vor Subtraktionen, vor geringerem Wachstum oder finanzieller Stagnation überwinden könnte. Die Gründung einer Selbsthilfeorganisation der Anonymen Ausbeuter wäre dazu vielleicht der erste Schritt.
Den Abend verbrachte ich bei Wassilij mit reichlich Sekt. Nicht mit dem süßen Gesöff, das in schweren Flaschen, die sich jeder Mörder für die Ausübung seines Handwerks wünscht, die Krim verlässt, sondern mit der kultivierteren Variante unserer französischen Nachbarn. Entweder erstickte die hohe Qualität derselben jeglichen patriotischen Einwand seitens des Gastgebers im Keim, oder es lag an meinen Schilderungen, weshalb keine Klagen kamen. Natürlich verletzte ich dabei mein Schweigegelübte in jeder erdenklichen Hinsicht, aber Wassilij war ja ohnehin schon hinlänglich orientiert. Außerdem, der russischen Seele kann man viel vorwerfen, nicht aber, dass sie zur Geschwätzigkeit und zum Vertrauensbruch neigt. Eher darf sich der des Trostes Bedürftige von ihr Zustimmung erhoffen.
„Mein Lieber, das war knapp. Gut, dass du dich zurückgezogen hast“, ließ der nicht lange auf sich warten. Aber wie jeder Feigling, wollte ich es noch genauer wissen.
„Ich komm mir so schäbig vor“, versetzte mich der Alkohol in einen Zustand heuchlerischer Selbstanklage. „Da ist doch eine Riesenschweinerei im Gange und ich werde das Gefühl nicht los, zuwenig dagegen unternommen zu haben.“
Er grinste: „Um genau zu sein, hast du die Dinge erst ins Laufen gebracht.“
Komisch, wird man von Dritten bezichtigt, fühlt sich Masochismus lange nicht mehr so gut an. Zwischen „Ich bin ein Schwein“ und „Du bist ein Schwein“ klafft eine Lücke, groß genug um eine Galaxie hindurchzuschleusen.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ jammerte ich drauflos.
„Nichts.“
„Was hättest du getan?“
„Weniger als das. Was meinst du, warum ich mich aus der Hauptkampflinie des Okkulten zurückgezogen habe?“
Das stimmte. Wassilij hatte sich längst auf das Terrain der Wunderheilung verlegt. Offiziell firmierte er als Magnetist, wirkte ausschießlich von seiner sicheren Heimstatt aus und das mit einigem Erfolg.
„Schwarze Magie, Geisterbeschwörung und das alles ist gefährlich und es bringt nichts. Das Böse ist auf dem Vormarsch und ganz egal wer seine aktuellen Protagonisten sind, ob sie Raoul heißen oder wie auch immer, du und ich, wir haben dem nichts entgegenzusetzen. Jedenfalls nicht in einer Welt, die alles unternimmt sein Wachstum so zu fördern, wie eine mit Nährlösung bestrichene Petrischale das von widerlicher Mikroben.“
Er sprach leise, über den Tisch gebeugt. Regen prasselte aufs Dach und um die Gruselstimmung perfekt zu machen, wurde das Haus von wütenden Böen durchgeschüttelt. Ich füllte mein Glas und versuchte mit einem verächtlichen Lachen das Unbehagen niederzuringen.
„Nee, mein Lieber, da kämpf ich lieber gegen Krankheiten“, schwadronierte Wassilij. „Das sind zwar Unterabteilungen derselben Macht, aber verhältnismäßig schwache. So schwach, dass sie sich nicht wie Pilzflechten über Städte, Länder oder ganze Kontinente ausbreiten, sondern lediglich in den Körpern armer Kreaturen Nistplätze suchen. Dagegen lässt sich was ausrichten“, zog er endlich ein versöhnliches Zwischenfazit.
„Mit höherrangigen Dämonen, als der hiesigen Ärzteschaft, leg ich mich nicht mehr an.“
Damit spielte er auf den Umstand an, dass man seine Erfolge in gewissen Milieus nicht eben gerne sah. Die Schulmedizin wertet es als grobe Unsportlichkeit, wenn einer, der sich weder Numerus Clausus noch Physikum stellte, ihre Prognosen hinsichtlich der Lebenserwartung eigentlich austherapierter Patienten regelmäßig Lügen straft. Wen aus promoviertem Mund das Verdikt ereilt, der hat verdammt nochmal auch zu sterben. Alles andere wäre doch unfair.
Aber Wassilij ging nicht weiter darauf ein. Einen freudig begonnenen Abend mit Medizinerschelte zu verbringen, hieße ihn entscheidend abzuwerten. Also schenkten wir uns beide noch etwas nach, stießen an und brachten die Kelche zum klingen.
„Was ist“, wiegte er die leere Flasche in der Hand, „köpfen wir noch eine?“
Später gingen wir zu Wodka über und wie gewohnt bezahlte ich das lustige Gelage mit einer wenig erquicklichen Nachtruhe. Als ich am frühen Nachmittag daraus erwachte, lag mir nur wenig daran mein Traumtagebuch auf den neusten Stand zu bringen. So verblassten die Szenen und Bilder von Raoul, Hartmann, Herrn P. und komischerweise meiner Mutter, die sich immer wieder mit erhobenem Zeigefinger in das Geschehen drängte, mir Vorhaltungen wegen meiner Berufswahl machend, ohne festgehalten zu werden. Aber die Botschaft war angekommen: Ich brauchte dringend etwas Distanz. Also begab ich mich eiligst zur Bank, löste den Scheck ein und achtete dabei nicht unter die Räder zu kommen.
Danach widmete ich mich dem Telefon, verschob Termine oder sagte sie gleich ganz ab.
Mein Aufbruch vollzog sich noch am selben Abend. Natürlich nicht per Flugzeug, auch die Bahn schien mir ungeeignet. Seit dort die neue Zeit Einzug hielt, man sich neuerdings vor dem Information-Point einreiht, anstatt der Fahrauskunft, hat das Unternehmen nicht nur an Charme verloren, sondern wurde gleichsam zu einer Ursuppe, bestens dazu geeignet, ganze Heerscharen von Raoul-Mutanten hervorzubringen. Mochten sie sich auch Hartmut, Walter und Fritz nennen und über keinen Migrationshintergrund verfügen, lieber als einen dieser schlecht gewarteten Hochgeschwindigkeitszüge bestieg ich meinen altgedienten Gebrauchtwagen. Der hatte in all den Jahren bewiesen, dass sich am Tag seines Enstehens alle Dämonen gerade in der Gegenschicht befanden. Und Benzinpreise mussten mich nicht schrecken, dafür sorgte schon Hartmanns Scheck.
Dieser war noch lange nicht aufgebraucht, als ich ungefähr vier Wochen später von einer Reise zurückkehrte, die mich über ausgedehnte Aufenthalte in noblen Hotels bis nach Granada geführt hatte. Neben etlichen neuen Kilometern auf der Tachouhr verfügte der Wagen jetzt auch über so manches Neuteil und ich über neue Sprachkenntnisse. Wer nie mit einem Gebrauchtwagen auf Tour geht, in dessen Wortschatz kursieren keine französischen Fachbegriffe wie „joint de culasse“, oder der weiß auch nicht was man in Spanien verlangen muss, um einen löchrigen Auspuffendtopf ersetzen zu lassen.
An einem Regentag war ich abgefahren, mittlerweile hatten die Vorboten des Sommers auch Deutschland erreicht. Zuletzt die doch schon reichlich glutofenartigen Temperaturen in Spanien als unangenehm wahrnehmend, freute ich mich über die hiesigen Verhältnisse einer moderaten Wärme bei leichter Bewölkung. Meine im Ausland völlig unnütze, sichtbehindernd im rechten Winkel der Windschutzscheibe klebende Wohnortsparkberechtigungsplakette, ergab mit einemmal wieder Sinn. Ich steuerte die nächstbeste Lücke an und dachte, egal wie marode die eigene Karre auch sein mochte, weder in Frankreich noch in Spanien musste der Reisende nach einer linguistische Entsprechung für dieses bürokratische Wortungetüm suchen.
In beiden Ländern wurde nach Herzenslust geparkt und trotzdem blieb der Wildwuchs aus. Im Gegensatz zu hier, hatte ich mich weder in St. Etienne noch in Valencia über frech auf Gehsteigen abgestellte Prachtkarossen ärgern müssen. Ja, selbst der jedes ästhetische Gefühl beleidigende Anblick dieser in Blech und Chrome gefassten Zeugnisse unverhohlenen Besitzerstolzes, war mir zumeist erspart geblieben. Der Glaube, arrogant-aggresive Autoschnauzen, Stückpreis Hunderttausend Euro, könnten die Bedeutung ihrer Lenker nachhaltig aufwerten, beschränkte sich dort scheinbar auf Personengruppen, die entweder mittel- oder unmittelbar etwas mit dem Rotlichtgewerbe zu schaffen hatten. Na ja, kamen mir beim Entlanggehen des sauberen Trottoirs die Haufen halbvergammelten Mülls in den Sinn, auf die man gerade in Spanien in hübscher Regelmäßigkeit stieß. Nirgendwo ist alles besser. Überall lauert der Verfall, er drückt sich nur anders aus.
Vor der Tür stapelten sich die Zeitungen, der Briefkasten floss über von Post und dem Anrufbeantworter ging es kaum besser. Er begrüßte mich mit wildem Synchronblinken seiner beiden Lämpchen, so ungestüm, dass ich jeden Moment erwartete, er würde an mir hochspringen und anfangen, mir das Gesicht abzulecken. Meine lange Abwesenheit hatte offenbar seinem Datenspeicher nicht gut bekommen - ich sollte ihm unbedingt durch Betätigen der Löschtaste Linderung verschaffen, erklärte die Schrift im Sichtfenster seine Wiedersehensfreude.
Er hatte es bis jetzt ausgehalten, also widmete ich mich zuerst den zahlreichen Couverts. Dabei begleitete mich das ungute Gefühl, gleich einem Exemplar zu begegnen, auf dem das Flughafenlogo prangte. In Studententagen hatte man mit ähnlich beschleunigtem Puls die Morgenpost gesichtet, wenn am Quartalsende die Abrechnung der Gas- und Elektizitätswerke rausgingen. Auch heute waren haufenweise Rechungen dabei, aber die waren mir geradezu willkommen, solange mir nur Hartmann und Konsorten nichts mitzuteilen hätten. Es sah ganz danach aus. Und mit dem letzten Schrieb, ohne Flughafenbezug, war die erleichternde Gewissheit hergestellt, dass man dort unsere Geschäftsbeziehung als endgültig abgeschlossen betrachtete. Wie hatte sich Raoul ausgedrückt, Freunde auf Distanz? An mir sollte der Vorsatz nicht scheitern. Distanz schafft Nähe? Nicht in diesem Fall.
Doch es kam anders. Kaum eine Minute später wurde mein Plan von einem von Flughafenkümmernissen unbelasten Leben durch meine diesbezüglich immer noch höchst intakte, selektive Wahrnehmung sabotiert. Beim Durchblättern der aktuellen Zeitung stach mir nämlich gleich ein Artikel ins Auge, der sich mit der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung jenes für mich so unschön konotierten Unternehmens befasste.
Einen stumm vor sich hin lamentierenden Anrufbeantworter schaffte ich zu ignorieren, bei dem fast die gesamte Seite beherrschenden Artikel gab ich mich geschlagen. Sofort war ich in den Sessel gesunken und hatte mich festgelesen. Immer wieder wanderten meine Augen zwischen Text und der eingeschobenen Fotografie hin und her. In der fröhlich lächelnden Gruppe der Abgebildeten erkannte ich Hartmann, seinen Chef, den Präsidenten der Flughafengesellschaft und auch den dritte Mann hatte ich schon mal gesehen. Es handelte sich um den Agenten der Versicherung, sozusagen Herr Kaiser, der offensichtlich die Seiten gewechselt hatte. Wie es in der Bildunterschrift hieß, leitete er jetzt in der neugegründeten Untergesellschaft New Cargo Solutions das Ressort der Öffentlichkeitsarbeit.
Komisch, wo war Herr P., dem nach eigenem Bekunden genau dieses Amt zugesichert worden war? Der Text gab keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Ebensowenig fand Raoul Erwähnung, was mich natürlich nicht verwunderte. Eingedenk seines vermuteten Beitrags bestand Herr Kaisers vordringlichste Aufgabe wohl eher darin, ihn nach Kräften aus den Schlagzeilen rauszuhalten als umgekehrt.
Trotz Krise und abnehmender Passagierzahlen, war zu lesen, stemmte man sich erfolgreich gegen den Abwärtstrend. Mehr noch, im Gegensatz zu anderen Standorten entwickelte sich der hiesige Betrieb sogar erstaunlich positiv. Nicht zuletzt aufgrund der Eroberung neuer Geschäftsfelder, was seinen Niederschlag unter anderem in der New Cargo Solutions fand. Worin das Angebot konkret bestand, darauf ging der Artikel nicht ein. Halbsatzweise sprach er von einem Geschäft im B2B-Bereich, lobte hingegen ausführlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze und belegte das Angesprochene mit etwas Statistik. Als jemand mit soziologischer Vorbildung weiß ich um die Aussagekraft von diesen, gemeinhin leichtsinnigerweise als nackt gescholtenen Zahlen. Ein Text kann sich bedeckt halten, durch die Nebelkerzen schöner Formulierungen verschleiern, aber Zahlen, sofern authentisch, spiegeln Tatsachen wider. Man muss sie nur richtig deuten. Dazu ging ich sofort über. Und genauso schnell hatte ich sie gefunden, die Diskrepanz, die, da unkommentiert, den meisten wohl durchs kognitive Netz geschlüpft wäre. Natürlich neigen Statistiken nicht zwangsläufig dazu, ausgeglichen zu sein. Überschüsse in der Handelsbilanz sind normal und erwünscht. Aber im Luftverkehr, bei den Starts und Landungen, sollte doch in etwa ein Ausgleich stattfinden. Genau hier wies der Flughafen ein signifikantes Defizit auf und zwar bei den Landungen.
Es waren weniger Flugzeuge angekommen als abgeflogen.
Noch fehlte den Indizien jegliche Beweiskraft. Zur Untermauerung meines Verdachts waren Vergleichszahlen nötig. So verstrich die nächste Stunde mit Internet-Recherchen. Keine Ahnung warum ich mich derart ins Zeug legte, nur um einem fiktiven Staatsanwalt zuzuarbeiten, der nie mit den berühmten Worten „J´accuse“ einem Richter gegenüber treten würde. Aber wahre Wissenschaft fordert keinen höheren Lohn, als den des Gewinns purer Erkenntnis.
Somit stöberte ich durch alle im WWW verfügbaren Wirtschaftberichte der einschlägigen Branchen, löste dabei Schale um Schale von der Zwiebel genannt Wahrheit und stellte schließlich fest, dass sich gewöhnlich die Zahl der Abflüge mit der der Landungen zu decken pflegte. So ist es alter Herren Sitte, zumindest seit das Flugwesen anfing, sich durch geeignete Maßnahmen in eine Spitzenposition unter den als sicher geltenden Verkehrsträgern hochzuarbeiten. Lediglich eine kasachische Fluglinie konnte mit einer ähnlich unausgeglichenen Bilanz aufwarten, wie die im Artikel vorliegende. Aber dort durften wohl natürliche Gründe der Materialermüdung als Ursache für die Unterdeckung vorausgesetzt werden. Verschwindet eine alte Illjuschin vom Radarschirm, dann löst sie sich halt nicht in Luft auf, sondern höchstens in ihre Einzelteile, wenn sie sich unsanft ins Erdreich bohrt. Eine böse Sache, aber immerhin in Einklang mit den Vorstellungen und Werten aller recht und billig denkenden Menschen.
Was erklärte hingegen den Schwund in Hartmanns Betrieb? Seit mich vor knapp zwei Monaten sein verzweifelter Anruf ereilte, hatte sich dort die Lage offenbar nicht geändert. Wobei, das stimmte nur zur Häfte. Ich betrachtete sein fröhliches Gesicht auf dem Foto, gedachte des gardarobenmäßig deutlich aufgewerteten Raouls im Flur der Direktion und kam zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu damals die Vorgänge jetzt auf die entschiedene Billigung der Geschäftsleitung stießen. Welchen konkreten Nutzen sie daraus zogen, war mir zwar immer noch schleierhaft, aber ein paar Vermutungen stellten sich schon ein. Die meisten so ungeheuerlich, dass ich meinem vergetativen System keinen Vorwurf machen konnte, als es meine gesamte Körperbehaarung in eine ungemütlichen Hab-acht-Stellung nötigte.
Auch außerhalb religiöser Vereinigungen ist es manchmal sinnvoll, nach bestimmten Regeln zu leben. Das alte Testament hielt ich zwar nur partiell für mich zuständig, aber mit dem Gebot, beneide nicht deines nächsten Hab und Gut, war plötzlich etwas anzufangen. Besonders wenn man den Wortlaut in eine aktuellere Sprache überführte: Schau nicht hin und kümmere dich um deinen eigenen Kram. Damit zerknüllte ich die Zeitung.
Den Finger auf der Löschtaste verstrich ein Moment des Zögerns. Ich verstärkte den Druck, es piepste und damit hatte sich auch das nervtötende Geflacker erledigt. Immer hübsch loslassen. Ein halbherziger Neuanfang ist ungefähr so vielversprechend, wie der Antritt einer Kneippkur in Gummistiefeln.
*
„Hallo, hier ist Klara“, lautete die fernmündliche Begrüßung.
Den ganzen Morgen über hatte das Telefon geläutet. Ernsthaft Interessierte erwarten nicht, dass sie zurückgerufen werden. Im Gegenteil, ein leicht erreichbarer Spezialist würde sich in den Augen seiner Kundschaft nur abwerten.
„Klara?“
Wollte mich hier jemand gleichsam mit dem Erstanruf auf meine telepathischen Fähigkeiten abklopfen? Sowas kommt tatsächlich vor. Nach dem Motto, ich nenn ihm meinen Vornamen und wenn er dann nicht von selbst mit Nachnamen, Adresse und Familienstand herausrückt, dann kann er ja nicht viel drauf haben. Manche versteigen sich sogar darauf, Teil meiner Aufgabe sei es, dem Anrufer die Motive seines Anrufs zu erklären. Derartige Ansinnen gilt es zurückzuweisen, solche Kunden sind Garanten für Ärger. Man belässt sie besser im Glauben, nicht der Geeignete für ihren Fall zu sein.
All das stand hier allerdings nicht zu befürchten, wie ich sogleich erfuhr.
„Klara - die Freundin von Wassilij. Du erinnerst dich doch?“
„Klara Zetkin, natürlich, tut mir leid.“
Zetkin war selbstredend nur hinzugedichtet. Ihren Familiennamen kannte ich gar nicht. Aber eine Klara, die etwas mit Wassilij zu schaffen hatte, konnte nach meinem lustigen Dafürhalten gar nicht anders als Zetkin heißen. Die meisten Menschen leben in der festen Überzeugung, einen fabelhaften Sinn für Humor zu besitzen. Ich bin da leider keine Ausnahme.
Wie immer fiel die Freude über meinen Scherz auch diesmal eher verhalten aus. „Das ist aber schön, dass du anrufst“, verlegte ich mich deshalb auf das bewährte Feld konventioneller Höflichkeit. Wer über echtes Talent zum Standup-Comedien verfügt, dem übermittelt die Welt zur rechten Zeit eindeutige Signale. In meinem Fall war diesbezüglich bisher wenig Aufmunterndes eingegangen, noch nicht mal ein schwaches Hüsteln.
„Ich versuche dich schon seit Wochen zu erreichen. Hab wohl ein Dutzend Mal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Du rufst wohl nie zurück?“ Glücklicherweise war das Schweigen durch meinen Abstecher ins Touristische schnell erklärt.
„Ach herrje, dann weißt du ja gar nicht was passiert ist“, sagte sie. Nicht die Zetkin-Sache hatte sie verstimmt, offenbar gab es dafür gewichtigere Gründe. Das Unheilschwangere erfasste jetzt auch mich.
„Was ist denn passiert?“
„Wassilij ist tot.“
„Wassilij ist tot?“
„Schon seit einem Monat.“
Der Tod, das letzte große Rätsel. Besonders wenn er derart unvermittelt erscheint, sich jemanden greift, der bei der letzten Begegnung noch so vital war wie Wassilij.
„Das gibt´s doch nicht.“
„Es ist leider wahr.“
Wie kann ein vertrauter Mensch so einfach verschwinden und man davon gänzlich unberührt bleiben? Gerade in meinem Gewerbe kommen da zum Verlust noch quälende Gefühle der Unzulänglichkeit.
„So plötzlich, er war doch nicht krank, hatte er einen Unfall?“
„Eigentlich beides“, erwiderte Klara ziemlich gefasst. Ich dachte an den Altersunterschied und daran, dass Klara die dritte Frau gewesen war, die mir Wassilij in den zwei Jahren unserer Freundschaft als seine Herzallerliebste vorgestellt hatte. Jede hätte seine Tochter sein können, demzufolge den Beziehungen auch nie Dauerhaftigkeit beschieden war. Wassilij war sich dessen bewusst und nahm es sportlich. Sowohl bei der Anbahnung (was zum Teil seinen Erfolg erklärte), als auch bei der Trennung (weshalb ihm die Damen gewöhnlich freundschaftlich verbunden blieben). Jedenfalls erreichten die Gefühle auf beiden Seiten nie wirklich schiffbare Gewässer, versandeten aber auch nicht im Seichten und besaßen dadurch doch noch Tiefe, zumindest eine philosophische.
Klaras Sachlichkeit, in der sie jetzt anfing mir die genauen Umstände von Wassilijs Ableben zu schildern, war wohl eher der zeitlichen Distanz geschuldet als einem Mangel an Zartgefühl. Für sie lag der Schrecken bereits in der Vergangenheit, für mich war er frisch, aber ich war ja auch nur ein guter Bekannter, kein naher Angehöriger, dem man die Dinge schonend beibringen musste.
In einem bestimmten Punkt beruhigten mich ihre Worte sogar. Auch wenn eine Verkettung von tragischen Umständen Wassilijs Tod verursacht hatte, so war offenbar auszuschließen, irgendetwas davon hätte mit mir zu tun. Im Nachhinein fröstelte es mich bei dem Gedanken, Wassilij großer Gefahr ausgesetzt zu haben, indem ich ihn leichtfertig zum Mitwisser meiner Erlebnisse um den Flughafen-Auftrag stempelte. Sowie ich erfahren hatte, Wassilijs Ende habe sich fernab des Reiseverkehrssektors abgespielt, fühlte ich mich trotz der traurigen Nachricht einigermaßen erleichtert.
Folgendes war geschehen: Eines Abends, nach üppigem Mahl, fühlte sich Wassilij sehr unwohl. Als sich sein Zustand verschlechterte, sah sich Klara gezwungen die Ambulanz zu rufen. Die Diagnose lautete akute Blinddarmreizung, weshalb man sich entschloss, ihn sofort in die nächstgelegene Klinik zu verbringen. Wassilij sei zu dem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar gewesen, ansonsten er wohl darauf bestanden hätte, in ein anderes Krankenhaus eingeliefert zu werden. Denn was Klara nicht wusste, in eben jener Anstalt, wohin seine letzte Reise führte, waren in Gestalt dreier Chefärzte seine ärgsten Kritiker und Widersacher am wirken. Ausgerechnet diesen wurde Wassilij also ausgeliefert.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Klara, „du etwa?“
„Nur dass er in gewissen Milieus nicht gerade wohlgelitten war. Er hat manchmal davon gesprochen, aber ich hielt es für einen Scherz oder zumindest übertrieben.“
„Nicht wahr, ich auch. All das Gerede, die seien eifersüchtig auf ihn und seine Erfolge, würden ihn gerne unschädlich machen, das konnte man doch nicht ernst nehmen. Männliches Renommiergehabe, dachte ich.“ Eine Pause entstand in der ich nochmal den lebendigen Wassilij über die Weißkittel herziehen sah.
„Wer rechnet denn mit sowas“, sagte sie in der Zwischenzeit.
Wassilijs Paranoia war eine Sache, die Realität eine andere. Ich muss zugeben, mein Verstand weigerte sich zwischen den Anschuldigungen und seinem Ableben eine Verbindung herzustellen. Selbst wenn er ihnen wie ein Wilderer in ihren ureigensten Jagdgründen vorkam, so würden Mediziner doch nie zu den von Klara angedeuteten Methoden greifen, um sich einer unliebsamen Konkurrenz zu entledigen. Nicht in Deutschland. Wahrscheinlich ging es hier eher um eine psychologische Projektion, als Folge eines tief verwurzelten Schuldkomplexes.
„Mach dir mal keine Vorwürfe“, sagte ich.
Darauf sie: „Die haben ihn kaltlächelnd umgebracht.“
„Zugegeben, bei unserer Apparatemedizin stellt sich so ein Eindruck schon mal ein.“
„Nein, wörtlich. Sie haben ihn umgebracht. Er hat es selbst gesagt.“
Die Operation an sich wäre erfolgreich verlaufen, angesichts des Routineeingriffs auch nicht verwunderlich. Aber dann hätte sich eine Sepsis eingestellt, darauf Verlegung auf die Intensivstation, schließlich Lungenentzündung.
„Aber daran stribt man doch nicht“, warf ich ein.
„Du hast keinen Schimmer. Jährlich sterben Tausende, nicht an den Folgen ihrer Krankheit sondern durch die mangelnde Hygiene in unseren Kliniken. Bei Wassilij wurde natürlich nachgeholfen.“
Es klang nach Schauermärchen, aber ich wurde langsam hellhörig.
„Lässt sich natürlich nicht beweisen. Das übliche Risiko bei Operationen, in einem von hundert Fällen gibt es Komplikationen. Ha! Komplikationen – klingt schöner als Hoppla, wir haben Mist gebaut.“
Mir waren unsere Gespräche über den Tod in wacher Erinnerung. Im Gegensatz zu mir entbehrte für Wassilij dem Thema jegliche Abstraktheit. Er war ihm persönlich begegnet, hatte Gevatter Hein sozusagen mehrfach ins kaltblitzende Auge geblickt, jedesmal wenn sie auf ihren Patroullieflügen in Aghanistan den sogenannten Mujdshahedin begegneten. Wobei die natürlich nichts unversucht ließen, um den Sichtkontakt zu vermeiden. Ihre Anwesenheit bezeugten eher plötzlich heranbrandete Geschosss-Salven als von Turbanen beschattete Augenhöhlen. Jeder, sagte er, der als Mitglied einer Helikopterbesatzung die spätere Phase überstand, als die Gotteskrieger aus den Händen der Ungläubigen zu den M1-Gewehren auch noch Boden-Luft-Raketen erhielten, befand sich hernach in dem festen Glauben, ihn würde ein langes Leben erwarten. Wen einmal eine Stinger verfehlte, mit dem hat es der Tod nicht eilig, der stribt lachend als hochbetagter Mann im Bett, so der allgemeine Tenor unter den davongekommenen Rotarmisten.
„Ja, im Bett ist er gestorben, sogar lachend, soweit behielt er recht. Nur halt nicht gerade hochtbetagt“, parierte Klara meinem Ausflug ins Anektodische.
„Er hat gelacht?“
„Denk nur, die Ironie seines Endes hat ihn amüsiert. Was sind die Götter doch für Sapßvögel, hinter dem großen Perlenvorhang erwartet mich bestimmt eine Sause.“
Komisch, wer die Liebe leicht nimmt, der verfügt auch über die richtige Einstellung zum Tod.
„Richtig gesorgt hat er sich eigentlich nur um seine Kundschaft – seine Patienten“, sagte Klara. „Er hat mir eingeschärft, dir auszurichten, du müsstest seine Arbeit fortsetzen.“
„Ich? Davon verstehe ich nichts.“
„Er hat Aufzeichnung hinterlassen. Eine regelrechte Gebrauchsanleitung.“
„Eine Gebrauchsanleitung zum Heilen? Na, ich weiß nicht.“
„Das war sozusagen sein letzter Wille.“
Ihre Pflicht sei es, mir alles auszuhändigen. Also verabredeten wir uns für den nächsten Tag und beendeten das Gespräch.
Seit ich mich in dieser Stadt niederließ, war ich nie in die Verlegenheit geraten zu einem der Friedhöfe rausfahren zu müssen. Richtig angekommen ist man wohl erst, wenn sich dafür eine Notwendigkeit ergibt. Klara dirigierte mich durch den nachmittäglichen Verkehr und die Fahrt vollzog sich in der typisch heiteren Stimmung, wie sie sich gewöhnlich nur aus traurigen Anlässen so spielerisch leicht entwickelt. Eine Gärtnerei kündigte die Nähe des Bestimmungsortes an.
„Ich sollte vielleicht ein paar Blumen besorgen“, meinte ich.
Sie winkte entschieden ab und wir ließen den Laden links liegen. So weit ich es beurteilen konnte, war es der erste richtig heiße Tag des Jahres. Auf dem weitläufigen Parkplatz nahm mich die Suche nach einem schattigen Plätzchen derart in Beschlag, dass ich darüber den eigentlichen Grund des Besuchs vergaß. Erst als wir ausstiegen erinnerte mich die ungewohnte Zweier-Konstellation wieder daran, dass etwas nicht stimmte. Bislang war diese schlanke Frau für mich ein Fortsatz von Wassilij gewesen. Wo sie war, war auch er nicht weit und auf eine grausame Weise traf das im Moment sogar wieder zu.
Dann das schmiedeiserne Tor zur Begräbnisstätte. Ich finde, nur pietätlose Menschen lassen sich von Friedhöfen einschüchtern. Das sind die, die erfurchtsvoll in Museen die Stimme dämpfen, oder glauben, Fasching wäre lustig. Wem echtes Feingefühl abgeht, für den hält die Welt passende Einrichtungen parat, um ihm über den Mangel hinwegzuhelfen. Auch Gräber sind nur Symbole und es hat nichts mit Verrohung zu tun, wenn man bei ihrem Anblick nicht in Ehrfurcht erstarrt. Trauer ist weder an Ort noch Stunde gebunden, weshalb mich an dem frisch aufgehäuften Erdhügel, zu dem wir schließlich gelangten, zunächst am meisten beschäftigte, dass er über und über mit Gärtnereierzeugnissen bedeckt war.
„Siehst du“, lächelte Klara, „weiteres Grünzeug ist unnötig, der Bedarf hält sich in Grenzen.“
„Oder in Kränzen“, ging ich vor den Gebilden in PKW-Reifengröße in die Knie, um die Aufschriften auf den Bändern lesen zu können.
„Seine Kunden“, erklärte sie.
Dass er einen so umfangreichen Patientenstamm betreut hatte, überraschte mich. Zudem, wie die dankesvollen Worte belegten, einen überaus zufriedenen.
„Das sollten die Quacksalber mal sehen“, sagte ich.
„Hör mir bloß mit denen auf. Bringt die Mafia einen unter die Erde, schicken die wenigstens einen letzten Gruss. Die Ärzteschaft hüllt sich in Schweigen. Mistkerle!“
Ich lachte, obwohl mich die Sache ziemlich wurmte. An Wassilijs Dahinscheiden gab es jetzt nichts mehr zu rütteln. Die Schuldfrage war erst mal zweitrangig. Sich diesbezüglich allzusehr reinzusteigern, nutzte weder Klara noch mir. Also lenkte ich das Augenmerk auf die praktischen Aspekte, die sich aus der Situation ergaben. Begräbniskosten, Auflösung des Hausstands, Erbschaftsfragen, all die unerquicklichen organisatorischen und bürokratischen Begleiterscheinungen des Todes, denen selbst die Hinterbliebenen von Menschen nicht entgehen, die zeitlebens alles daran setzten, ein möglichst unauffälliges Dasein zu fristen. Zuletzt sorgt halt auch noch der Bescheidenste und Zurückhaltenste für einen ziemlichen Wirbel. Da, wie ich erfuhr, keine Verwandten aufzutreiben gewesen seien, hatte sich Klara um alles kümmern müssen.
„Finanziell ist alles geregelt, zum Glück“, beantwortete sie meine Frage, ob irgendwelche Rechnungen offen geblieben seien.
Ich meinte, der Tod verlöre einen Großteil seines Schreckens, würde nur der Verwesungsprozess nicht so viel Zeit für sich beanspruchen. Würden wir uns nach Eintritt des Exitus augenblicklich in Luft auflösen, gäbe es diesen ganzen Totenkult nicht, kurz die Welt wäre ein besserer Ort. Die Vorstellung von Privateigentum entwickelte sich letztlich aus dem Zwang zur Erdbestattung und daraus wiederum all die unseligen Konflikte um vermeintliche Landrechte. Man zieht in den Krieg um Land zu verteidigen, nur weil dort zufälligerwiese unsere Vorfahren verscharrt worden sind. Jedenfalls, schlug ich den Bogen zu meinen Ausgangsgedanken, gruseln wir uns nicht am Tod, sondern lediglich an den Leichen. Wie langweilige Partygäste verderben sie den anderen den Spaß.
Während ich so vor mich hin plapperte, zupfte Klara verwelkte Blumen vom Grab.
„Dann müsste es aber auch eine Instantgeburt geben, ohne vorangegangene Schwangerschaft“, sagte sie ingebückter Haltung, „da es aber nicht so ist, kann man nicht erwarten, dass das Ende unkomplizierter verläuft als der Anfang.“
„Guter Einwand“, erwiderte ich.
Meine Augen lösten sich von der Erdbeule menschlicher Lebenskürze, erfassten den schon in einer ganz anderen Liga der Beständigkeit spielenden Waldsaum und gelangten schließlich zu der, das alles überspannenden Schicht, wo Jahrhunderte als Nanosekunden verticken. Ein einsamer Kondensstreifen zog sich über das makellose Himmelsblau. Vom ausgefransten Ende bis zur silbernen, auf die Sonne zustrebenden Spitze, wirkte er wie der flüchtige Strich unter einer ewig gültigen mathematischen Gleichung. Ich musste an Raoul denken. Für ihn standen an der Tafel, wo mich die kosmische Arithmetik nur in Form blendender Lichtquanten erreichte, womöglich konkrete Zahlen.
„... oder was meinst Du?“
„Äh, was?“
„Den Grabstein suchen wir doch gemeinsam aus, nicht wahr?“
„Claro Chica.“
Ich sah in das Gesicht mit der klobigen Jackie-Onassis-Sonnenbrille.
„Dabei kann es ja nicht bleiben“, deutete sie auf das schlichte Holzkreuz, das in unseren Breiten bestatungstechnisch offenbar zur Erstausstattung gehört.
„Vielleicht fällt dir ja ein passender Grabspruch ein?“
Dann ging sie los, um einem erstarrten Strauß verdorrten Grünzeugs als Bestaterin zu dienen. Ihre Schuhe knirschten über den Kiesweg und ihr Hosenanzug behauptete auch unter frühsommerlichen Lichtverhältnissen sein tiefes Schwarz. Er schien ganz neu und sie verstand ihn zu tragen. Manche Menschen genießen den Vorzug, noch den tristesten Anlass zu ihrem Vorteil ummünzen zu können.
Hierin unterschied sich etwas später das Paar, das uns ungefähr auf der Höhe der modernen Einsegnungshalle, unweit des Ausgangs, entgegenkam. Eine alte Frau, offensichtlich daran gewöhnt, ihr Tempo an das ihrer jungen, an Krücken humpelnden Begleiterin anzupassen. Ein trauriger Anblick, weit erschütternder als die friedvoll in der Sonne liegenden Ruhestätten. Ein garstiger Geselle ist Gevatter Hein, wenn er anfängt mit den Lebenden zu spielen, sie erst quält, bevor er zum Hauptschlag ausholt. Wie ein Kätzchen, das die Maus zwischen den Prankenhieben immer wieder mal etwas entkommen lässt. So gesehen hätte es Wassilij schlechter treffen können. Seinem Ableben war wenigstens keine jahrelange Agonie vorausgegangen.
Oft, wenn unsere Aufmerksamkeit aus der Ferne erregt wird, dauert es nicht lange und auf mysteriöse Weise ergibt sich eine Gelegenheit, Details aus nächster Nähe zu erfahren. So auch hier. Klara verlangsamte den Schritt, wechselte die Richtung und ehe ich mich versah, stand sie schon bei den Zweien und tauschte Höflichkeiten aus. Man kannte sich. Und mich kannte man auch.
„Wir sind uns mal im Treppenhaus begegnet“, sagte die alte Frau und die junge lächelte dazu. Ich reichte ersterer die Hand und begriff, es mit Wassilijs Hauswirtin zu tun zu haben. Es macht einen immer etwas verlegen, geben uns Leute zu verstehen, dass wir in ihrer Wirklichkeit eine gewisse Rolle spielen, während man selber doch ziemlich ahnungslos ist.
„Natürlich, ich erinnere mich“, aktivierte ich die Kräfte der Selbstsuggestion.
Sie erwiderte: „Aber bestimmt nicht an meine Tochter.“
Meine Vorstellungskraft hätte mir auch das einreden können, ich war aber froh, bei der Wahrheit bleiben zu können, denn jene, hieß es, habe die Wohnung praktisch nie verlassen.
„Erst seit ein paar Monaten ist sie dazu in der Lage – dank ihres Freundes!“
Die Krücken unter die Achseln geklemmt, schaffte es die Angesprochene ihr dünnes Ärmchen weit genug abzuspreizen, um es wie eine Aufforderung zum Händeschütteln scheinen zu lassen. Wenn Krankheit auf Wohlergehen trifft, obliegt es dem Gesunden, nicht aus der Rolle zu fallen. Mit dem in solchen Situationen üblichen Gestus, dass alles in bester Ordnung sei, brachte ich das Ritual hinter mich. Einem schüchternen Vögelchen gleich, das eben mal seinen Lieblingsast verlassen hat, flatterte ihre Hand nach der flüchtigen Berührung sofort zurück und schloss sich wieder um den Haltegriff der Stange. Dazu war sie da, weniger um einer Begrüßung den letzten Schliff zu verleihen, deshalb auch die Knochigkeit.
„Alle Hoffnung hatten wir schon aufgegeben“, meinte die Hauswirtin und ihre Tochter, als Auslöserin des Kummers, verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen.
„Wären wir nur früher zu ihrem Freund gegangen, nicht wahr, Brigitte. Hätten wir nur nicht auf die Ärzte gehört, hätten wir uns nur früher dazu entschlossen.“
Brigitte nickte schicksalsergeben. Von Spezialist zu Spezialist seien sie gereist, hätten ein Vermögen ausgegeben, nur um immer wieder mit der Erkenntnis abgespeist zu werden, dass dem Kind nicht zu helfen sei. Beziehungsweise, direkt ausgesprochen habe das keiner.
„Immer dieselben Tests, ja, in der Diagnostik ist die Schulmedizin wirklich unschlagbar“, redete sich die Wirtin in Rage. „Die finden auf alle Fälle was und haben auch einen schönen Namen dafür. Aber zugeben, dass sie nicht wissen was zu tun ist, dafür fehlt die Größe. Wäre ja auch unprofessionell, deshalb wird halt Kortison verschrieben.“
Parallelen zu meiner eigenen jüngeren beruflichen Praxis wurden deutlich. Das Problem zu erkennen, dazu war ich fähig gewesen, nicht aber gegen Raoul vorzugehen. Selbst wenn es nur die Symptome bekämpft, in meiner Branche hätte man sich über die Einführung eines dem Kortison vergleichbaren Allheilmittels gefreut.
„Und die ganze Zeit wohnt ein Wunderheiler in meinem Haus ...“
„Eigentlich verstand er sich als Magnetist“, erinnerte ich mich an Wassilijs Visitenkarte.
„Bei meiner Brigitte hat er schließlich Wunder vollbracht. Jede kleine Verbesserung ist ein Wunder.“
In der Grotte von Lourdes hatte ich die Krücken der Spontangeheilten hängen sehen. Seiner Krücken nicht mehr zu bedürfen, oder sich aus einem Rollstuhl zu erheben, das war der bildhafte Ausdruck eines Wunders. Davon war dieses Mädchen weit entfernt. Sie hielt sich nur mühsam auf den Beinen und diese, durch das unerwartete Zusammentreffen ausgelöste Zwangspause, machte ihr nicht nur wegen der herunterbrennenden Sonne zu schaffen. Wenn ihre Mutter sich berechtigt glaubte, Brigittes aktuellen Zustand als Wunder zu bezeichnen, wie musste es dann davor um sie bestellt gewesen sein?
„Was ist es denn für eine Krankheit?“ fragte ich ganz automatisch, gleichzeitig wissend, dass mir die Antwort nichts nützen würde. Genauso war es, von dem rasch durch meine Gehirnwindungen schlüpfenden Wortungetüm blieb nur Morbus haften. Morbus Irgendwas.
„Ah ja“, sagte ich und das genügte, um bei der Mutter gewisse Erwartungen zu wecken.
„Kennen Sie vielleicht jemanden, der die Therapie fortsetzen könnte?“ kam sie einen Schritt näher. „Sie haben doch mit denselben Dingen zu tun wie Ihr Freund ...“
Ich wandte mich hilfesuchend an Klara. Aber sie machte es nur schlimmer, indem sie einwarf, Wassilij habe mich auf dem Totenbett als seinen Nachfolger bestimmt. Offenkundig keine wirkliche Neuigkeit für die Wirtin. Schon wurde mir angetragen, ich solle doch in die verwaiste Wohnung einziehen. Die sei, wie ich ja wüsste, sehr bequem, die Miete unverhältnismäßig günstig und ohnehin noch auf Monate hinaus bezahlt.
Typisch Wassilij und seine auf Bestandswahrung bedachte Lebensplanung. Um nur bloß nie in wieder in eine wie auch immer geartete Knappheitssituation zu geraten, hatte er Reis, Dosennahrung und sogar Trockenspiritus gehortet und auch dafür gesorgt, dass ihm obdachmäßig nie der Rausschmiss aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses drohte. Eine Haltung, die bei unsicheren Verhältnissen entronnenen Menschen häufig anzutreffen ist. Mich umgab allerdings zeitlebens der Überfluss, weshalb bei meinen Lebenszielen das Streben nach perfekter Vorratshaltung nicht allerhöchste Priorität genießt.
„Sie finden bestimmt Ersatz. Ich werde mich mal umhören“, wollte ich mich auf nichts einlassen. Verständnisvolles Nicken und dazu Klaras Lächeln. Der ziert sich nur, schien es auszudrücken.
Die Wirtin sagte, ihrer Tochter täte es gut das Grab von Wassilij zu besuchen, sei der Weg dorthin auch noch so beschwerlich. Und dann: „Schauen Sie doch mal bei uns herein, Sie und das Fräulein Klara.“
Selbiges versprach ich, worauf man auseinander ging. Einer sich um ihr krankes Kind kümmernden Mutter kann man nichts abschlagen.
Den Rest der Strecke verbrachten wir schweigend. Als ob die dahinter stehenden Bäume die Schattendecke näher an sich herangezogen hätten, war der Wagen quer zu seiner Längsachse in einen dunklen und einen gleißend hellen Teil zerschnitten. Ich schloss Klara die Türe auf und sie sagte: „So still?“
Meine Gedanken kreisten um Wassilijs seltsames Sicherheitsbedürfnis. Insbesondere um den darin angelegten Widerspruch, was seine Partnerwahl betraf. Während ihm sonst an einer langfristigen Versorgung gelegen war, hatte er seine Verhältnisse so angelegt, dass sie, bezogen auf den Faktor Zeit, die angestrebte Stabilität vermissen ließen. Indem er die Nähe zu deutlich jüngeren Frauen suchte, nahm er billigend in Kauf, früher oder später verlassen zu werden. Dafür sprach die hohe Fluktuation. Ein komplett gefahrloses Leben, so mein Schluss, stellt keinen zufrieden. Irgendetwas in uns verlangt nach dem Risiko. Davon existieren ganze Branchen. Verwaltungsangestellte, denen ein Leben ohne Bausparvertrag unerträglich scheint, entwickeln ein Faible für Extremsportarten. Eigentlich der Sanierung von Asbestbauten verschriebene Architekten, rasen mit 250 über die Autobahn und Wassilij suchte den Kitzel der Gefahr in asymmetrischen Liebesbeziehungen, anstatt sich an jemanden zu binden, der ihm in Alter, Erfahrungsschatz und Interessenslage entsprach. Um die Theorie nicht zu gefährden, unterließ ich es Klara diesbezüglich einzuweihen.
„Apropos schweigsam“, sagte ich stattdessen, „das kranke Mädchen war auch ziemlich schweigsam.“
„Sie spricht nicht.“
Ich startete den Motor und wir fuhren los.
„Oh, sie kann nicht sprechen?“
„Doch, aber es fällt ihr schwer. Bevor sich Wassilij ihrer annahm, ernährte sie sich ausschließlich von Suppe. Die Krankheit bewirkt eine Verhärtung des Gewebes, also auch der Speißeröhre. Ein schrecklich schleichender Prozess, der Körper erstarrt förmlich zum Panzer.“
„Furchtbar“, wunderte ich mich wieder einmal über Gottes Ideenreichtum.
„Als er sie das erste Mal sah, sei sie praktisch bewegungsunfähig gewesen. Sie lag in ihrem Bett und roch nach Tomatensuppe.“
„Wenigstens musste er für diesen Krankenbesuch keine weiten Wege gehen.“
„Ja, nur ein Stockwerk tiefer.“
Plötzlich wurde mir bewusst, wie oft ich in Wassilijs Wohnung saß, wie wir uns unterhielten, scherzten und es auch mal etwas lauter wurden und zur selben Zeit, in der Wohnung darunter, vegetierte jemand im Kerker seines eigenen Körpers. Und dazu dudelte der Plattenspieler. Mit Unbehagen dachte ich an das knirschende Parkett, wenn ich spätnachts zur Toilette ging um dem reichlichen Tee-, Wein- oder Wodkagenuss Tribut zu zollen.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, meinte ich.
„Aber jetzt, du hast es selber gesehen, kann sie wieder gehen, nimmt feste Nahrung zu sich und das alles nach noch nicht einmal einem Jahr.“
„Bei der Vorgeschichte wirklich erstaunlich.“
Zwischenzeitlich hätte Wassilij eine ganze Reihe weiterer Morbus-Irgendwas-Patienten betreut, sogar welche aus dem Ausland, alle mit einem gewissen Erfolg.
„Nun“, sagte ich, „der Placeboeffekt liegt gewöhnlich bei 30 Prozent. Abhängig vom Therapeuten werden Erfolgsquoten von bis zu 70 Prozent gemeldet.“
„Wie auch immer“, machte Klara eine wegwerfende Bewegung, „um die armen Schweine tut´s mir fast am meisten leid. Er hat ihnen geholfen, darauf kommt´s an. Wasslij hinterlässt wirklich eine Lücke, kein Schmu, ganz konkret. Die seinen Tod zu verantworten haben, haben mehr als nur einen umgebracht.“
„Hm, ja, sieht fast so aus ...“
Im anbrechenden Berufsverkehr kamen wir nur langsam voran. Klara drehte sich verstimmt zum heruntergelassenen Seitenfenster. Sie schlug die Beine übereinander und schaute hinaus auf den im Schritttempo vorbeiziehenden Bretterzaun einer Baustelle. Auf der ganzen Länge war der mit Plakaten bevorstehender oder bereits verflossener Veranstaltungen beklebt. Wassilij hätte in dem schrillen Angebot wahrscheinlich kaum Vertrautes entdeckt, ich konnte wenigstens mit einigen der beworbenen Popgruppen etwas anfangen, auch wenn sie mich nicht lockten. Bei den Hinweisen auf die DJ-Großereignisse musste ich mich hingegen ebenfalls komplett geschlagen geben. Kulturelle Wissenslücken der leicht zu verschmerzenden Art.
Als ich am darauffolgenden Tag an seiner Wohnung klingelte, öffnete mir Klara. Meine Befürchtungen, die Wirtin wäre zugegen, erwiesen sich als gegenstandslos.
„Ich habe dir die Papiere rausgelegt“, sagte sie und wir gingen ins Arbeitszimmer, oder, wie ich seit gestern wusste, in den Behandlungsraum. Nichts hatte sich verändert. Alles stand an seinem vertrauten Platz. Hinter dem Plattenspieler klemmte wie gewohnt das Cover der Platte, die zuletzt gespielt worden war. Ein Streichquartett von Schubert. So kann es gehen. Eine alltägliche Handlung, durch die endgültige Abwesenheit des Handelnden zur ewigen Abgeschlossenheit erklärt, so wenig umkehrbar wie ein schlechter Zug im Schach. Mir widerstrebte es, mich in den Sessel zu setzen, der aussah, als hätte sich gerade jemand aus ihm erhoben. Sein rechtmäßiger Besitzer hatte in den Polstern das Profil seiner Rückfront hinterlassen.
Also beugte ich mich über den Schreibtisch, stützte mich auf und nahm den Stapel mit den Computerausdrucken in Augenschein. Das oberste Blatt hielt ich zunächst für eine Testseite, so wie sie Drucker ausspucken, wenn man sie erstmals in Betrieb nimmt. Aber dann begriff ich, was es mit den kryptischen Buchstabenkolonnen auf sich hatte.
„Ist das etwa russisch?“
„Ja, der Bericht ist in kyrillisch abgefasst.“
„Das kann ich nicht lesen.“
„Ich werde ihn dir übersetzen.“
Meinen überraschten Blick beantwortete der Hinweis, dass sie des Russischen mächtig sei.
„Schon vergessen, ich studiere Slavistik.“
Damit löste sich auch das Rätsel um die Rekrutierung seiner Geliebten. Und warum sie stets Studentinnen gewesen waren. Wassilij hatte sie an der Uni aufgetrieben, mittels Aushang am schwarzen Brett der Jobgesuche. Wie weit es sich hier um einen Vorwand handelte, oder ob er tatsächlich so dringend Übersetzerinnen benötigte, ließ sich nicht bestimmen.
„Slavistik. Da herrscht wohl eine hohe Frauenquote?“
„Kann sein“, sagte sie. Eine männliche Hilfskraft hatte Wassilij meines Wissens jedenfalls nie beschäftigt. So ein Schlitzohr. Ich betrachtete das Konvolut und es erschien mir gar nicht mal so abwegig, es könnte eventuell aus wenig ehrenhaften Motiven entstanden sein. Eros ist eine kaum zu überschätzende Triebkraft.
„Da steht alles drin, Therapiemethoden, die dazugehörigen Patientenberichte, einfach alles. Vielleicht auch aus Diskretionsgründen russisch.“
Ich blätterte durch die Seiten und ein Zettel fiel heraus, darauf handschriftlich drei Namen, auch für mich lesbar. Hinter einem befand sich ein Ausrufezeichen.
„Das hat er auf dem Totenbett geschrieben“, sagte sie.
„Sind das auch Patienten?“
„Nein, das sind die Namen der drei Ärzte, die seinen Tod zu verantworten haben. Der mit dem Ausrufezeichen hat ihn operiert.“
Jetzt identifizierte ich das ulkige Schriftbild als das von Wassilij. Auf einer Urlaubspostkarte war ich ihm zuletzt begegnet. Großbuchstaben, nicht flüssig geschrieben, sondern wie gemalt.
„Kann ich das behalten?“
Irgendwie fühlte ich mich wie ferngelenkt, als ich den Zettel faltete und in die Innentasche meines Jackets steckte.
Später saßen wir in einer Pizzeria und sprachen über die Abwicklung von Wassilijs Hausstand. Ich entnahm ihren Worten, dass sie als Haupterbin eingesetzt worden war. Für die vorhandenen Geldmittel gab es also einen Abnehmer und das konnte ja wohl nur heißen, dass sich dieser auch um den ganzen Rest zu kümmern hatte.
„Nimm dir was du willst. Bücher, Platten, Möbel, Hausrat – musst es nur sagen“, meinte sie. Ich lehnte dankend ab.
„Die Bücher kann ich nicht lesen, für Schallplatten habe ich lange schon keine Verwendung mehr und überhaupt, aus zweiter Hand zu leben macht nur dann Spaß, wenn einem der Vorbesitzer unbekannt ist.“
Darauf legte sie die Karten auf den Tisch.
„Warum übernimmst du nicht einfach die Wohnung? Wie du weißt, billig und gut“
Ich hatte schon länger den Verdacht, dass es darauf hinauslaufen sollte.
„Ich bin mit meiner ganz zufrieden. Neubau, alles hübsch modern und technisch auf dem neusten Stand.“
Der Gedanke an dünne Wände, war mir allerdings aus mehr als nur Gründen der schwachen Wärmedämmung unerträglich. Wenn ich bei mir die Klosettspülung rauschen hörte, dann war es die eigene. Anteil zu haben an den Darmentleerungsgewohnheiten meiner Nachbarn, oder mich mit ihrem Musikgeschmack auseinandersetzen zu müssen, dies zu vermeiden, stand bei meiner Strategie der Wohnraumbeschaffung an oberster Stelle. Darin war ich pragmatisch. Wer vom Charme des Altbaus spricht, hat entweder exhibitionistische Neigungen, ist Bafög-Empfänger oder dem gebricht es schlicht an Lebenserfahrung.
„Du kannst es dir ja noch überlegen“, spielte sie auf den Umstand an, dass Wassilijs Domizil, dank großzügig geleisteter Vorauszahlungen, noch weitere drei Monate Bestand hatte.
„Zuerst übersetze ich dir den Text“, fügte sie hinzu, „vielleicht änderst du darauf deine Meinung.“
Das hielt ich zwar für unwahrscheinlich, aber damit hatte sich das Thema wenigstens erst mal erledigt. Das Essem kam und wir unterhielten uns über andere Dinge. Zum Beispiel über den kleinen Jungen, der jetzt schon zum wiederholten Mal bei uns aufkreuzte, über die Tischplatte lugte und große Augen machte. Immer wenn er sich anschickte, nach dem Feuerzeug oder der Zigarettenschachtel zu grabschen, ertönte in meinem Rücken der Ruf nach einem gewissen Linus. Danach waren wir für ein paar Minuten der Gegenwart des Kleinen enthoben, bis sich der Blondschopf erneut in Szene setzte.
Als es wieder hieß, „Linus, komm her!“, konnte ich nicht länger widerstehen, ich drehte mich herum. Sie saß ein paar Tische weiter, gab dem Kellner gerade ihre Bestellung auf und ich erkannte in der elegant gekleideten Person die Frau von Herrn P.
Unsere Blicke kreuzten sich, sie machte eine entschuldigende Geste, schaute kurz weg und richtete dann ihre Augen wieder auf mich. Wir waren uns einmal begegnet, auf der Straße und Herr P. hatte gleich ein seinem Naturell gemäßes Tamtam angestimmt. Linus, obzwar noch im Kinderwagen, besaß schon damals alle Anzeichen eines äußerst lebhaften Kindes.
Jegliches Interesse an meiner Pizza war verflogen. Ich entschuldigte mich bei Klara und bahnte mir den Weg zu meiner Bekannten.
„Na, so ein Zufall“, schien sie sich über unser Wiedersehen zu freuen. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden und gab meiner Verwunderung Ausdruck, wie groß der Filius in der Zwischenzeit geworden sei. Die Antwort fiel ebenso unorginell aus.
„An den Kindern merkt man, wie die Zeit vergeht.“
„Und wie geht´s dem Herrn Gemahl?“
Neuerliches Herumtollen des Knaben lenkte sie ab.
„Was sagten Sie?“
„Ich erkundigte mich nach ihrem Mann. Vor ungefähr sechs Wochen führte ich ein interessantes Gespräch mit ihm, am Flughafen.“
„Ach so, Ludwig. Dem geht´s gut“, kriegte sie ihr Kind am Schlafittchen zu fassen, worauf sie hinzufügte, „vermute ich jedenfalls.“
„Ja, wissen Sie es denn nicht?“
Wieder beanspruchte die Erziehungsarbeit ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Linus, jetzt setzt dich doch mal hin. Schau, da kommt deine Fanta.“ Der Kellner spazierte heran, stellte grinsend die Getränke ab und verschwand sogleich wieder. Wahrscheinlich um nicht mitansehen zu müssen, wie Linus mit seinen Straßenschuhen auf die Polster stieg. Sobald ihm das gelungen war, ergriffen beide Händchen das Glas und führten es nicht eben sicher zum Mund. Frau P. und ich beobachteten gespannt, ob es gutgehen würde. Als das Kind mit gierigen Schlucken trank, dabei reichlich Limonade über den Tisch verschüttete, fasste ich nach.
„Meinen Sie, ich könnte ihn mal sprechen? Wann ist er denn am besten zu erreichen, vielleicht abends?“
Ohne lange zu überlegen sagte sie, dass wäre im Augenblick schlecht möglich, denn Ludwig sei verreist.
„Verreist?“
„Ja, eine ganze Weile schon.“
„Einige Tage also.“
„Ungefähr seit vier Wochen ... Linus, trink nicht alles aus, sonst hast du nachher keinen Appetit.“
„Wohin ist der denn gereist?“
„Ach, das weiß ich nicht. Irgendwas Geschäftliches.“
„Und noch immer nicht zurück?“
Sie lächelte mich unverständig an, als wären meine Fragen völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
„Hat halt mit seiner neuen Arbeit zu tun, was weiß ich“, sagte sie irgendwie angeödet.
„Ja, und vermissen Sie ihn denn nicht?“
„Ihn vermissen“, lachte sie, „aber warum denn. Früher oder später findet der sich schon wieder ein.“
Mein Amulett trug ich heute nicht. Seit dem beklemmenden Erlebnis mit Raoul überließ ich es gerne dem Gewahrsam meines Wandtresors. Hätte ich es jetzt umgehabt, die Temperatursensoren auf meinem Brustbein hätten was tun gekriegt.
Dann bekamen ihre Augen einen verbindlichen Ausdruck, ich dachte, gleich näheres zu Herrn P. zu erfahren, aber es hieß nur: „Könnten Sie kurz auf den Kleinen aufpassen?“
„Bin kein Kleiner!“ bewies Linus, trotz unbändigen Dursts, regen Anteil an seiner Umwelt zu nehmen.
Ich nahm bei Linus Platz und wartete bis Frau P. außer Hörweite war. Der machte unterdessen Faxen, patschte mit seinen Händen in den Limonadepfützen herum und ich lächelte dazu, wie zu den frühreifen Artikulationen eines Wunderkindes.
„Sag mal ...“
Er zeigte mir seine klebrigen Handflächen.
„Sag mal, wo ist denn dein Papa hin?“
„Papa ist weg ... so, ätsch!“ wischte er seine Finger an meinem Ärmelstoff ab. Ich dachte an die Chemische Reinigung in meiner Straße und blieb gelassen.
„Schön, dein Papa ist also weg. Aber dann vermisst du ihn doch bestimmt ganz arg?“
Keine Runzel verunzierte die glatte Kinderstirn, obwohl sich dahinter gerade ein kleines Gehirn der Datenverarbeitung stellte.
„Nö“, fiel das Ergebnis bündig aus.
„Er fehlt dir also nicht?“
Anstatt zu antworten drückte er sich die Nase himmelwärts, während die Finger der anderen Hand an seinen Mundwinkeln zerrten.
„Guck mal, kannst du das auch?“
Ich tat ihm den Gefallen und er bekam einen Lachkrampf. So vergingen quälend lange Minuten, in denen sich mir ansatzweise die Schwierigkeiten vermittelten, was es heißt, ein Kind bei Laune zu halten.
Endlich kehrte Frau P. zurück. Sie hatte eines der ausliegenden Gratis-Exemplare des populärsten Stadtmagazins dabei.
„Ist er brav gewesen?“
„Natürlich, ein reizendes Kind.“ Meine Einschätzung verstimmte den Knaben. Für einen Vierjährigen gab es Ertrebenswerteres, als sich den Idealvorstellungen von tugendhaftem Benehmen anzunähern. Also erinnerte er sich daran, welches Verhalten so eine kleine Rabauke der Welt schuldete, sprang auf und flitzte davon.
„So sind sie halt.“
„Beneidenswert, diese Energie“, erhob ich mich mit einem Blick zu Linus, dessen Agilität dem Vergleich mit den instabilen Teilen eines Uranatoms durchaus gewachsen war. Derweil setzte sich Frau P. und schlug das Magazin auf.
„Dann geh ich mal wieder“, sagte ich, „und grüßen Sie mir Ihren Mann.“
„Hat mich gefreut und danke, dass Sie auf Linus aufgepasst haben.“
Im Weggehen konnte ich erkennen, wie sie im hinteren Teil des Magazins, wo sich die Klein- und Kontaktanzeigen befanden, zu schmökern begann.
Nachdem ich Klara an der Uni abgesetzt hatte fuhr ich nach Hause. Mein Wohnblock, nichts als Beton, Stahl und Glas, wirkte trutzig und abweisend, obwohl ein Architekt dafür wahrscheinlich den Begriff sachliche Eleganz gewählt hätte. Unstrittig war aber, er war neu und unkontaminiert. Keine Spuren jahrelangen Gebrauchs, keine knirschenden Dielen und keine Handläufe, die sich unter der Benutzung durch Generationen von Treppensteigern abgeschliffen haben. Außerdem dominierte hier immer noch der frische Geruch nach Farbe und Baumaterial die Treppenhausluft, in kaum schwächerer Konzentration, als ich ihn beim Erstbesichtigungstermin erschnuppert hatte. Das unkontrollierte Einsickern von Küchengerüchen zu unterbinden, das hatte der Mensch also gelernt. Verwunderlich nur, warum dieser zivilisatorische Durchbruch in den Medien so selten gewürdigt wird.
Wahrscheinlich kann nur ein Parapsychologe den Wert eines Erstbezugs ermessen. Eine jungfräuliche Umgebung vorzufinden, unbelastet von der Tragik vergangener Lebensläufe, bedeutet dem, der über esoterische Sensibilität verfügt, das höchste Glück. Vergleichbar vielleicht mit dem Vergnügen der Entgegennahme eines brandneuen Autos in Wolfsburg. Wer einen Gebrauchtwagen ersteht, ist ebenso dazu verurteilt fremde Sünden abzubüßen, wie der x-te Mieter einer altgedienten Wohnung, nur dass sich da die schlechten Gewohnheiten der Vorbesitzer nicht durch den Einbau einer neuen Kupplung ausmerzen lassen.
Klara wollte bis nächste Woche die Übersetzungsarbeit erledigt haben. Bis dahin verordnete ich meinem Gedenken an Wassilij eine Zwangspause. Für morgen Nachmittag sah mein Kalender einen Kundentermin vor. Indem ich erst mal ein ausführliches Horoskop erstellte, begannen die Vorbereitungen auf den Fall. Der arme Kerl wies reichlich Blockaden im dritten Haus auf, besaß dafür aber zum Ausgleich eine äußerst günstige Venus-Konjugation. Sein regelmäßiges geschäftliches Scheitern hatte ihn zu mir geführt. Man musste ihm irgendwie vermitteln, dass – so wie die Dinge lagen - er kein geborener Geschäftsmann war, wofür ihn aber seine natürliche Attraktivität für das andere Geschlecht ausreichend entschädigen sollte. Ihm würde eine Änderung seiner Prioritäten helfen, eine Korrektur seines Selbstbildes. Endlich mal wieder ein Auftrag nach meinem Geschmack, eine Aufgabe, an deren Ende ein Erfolgserlebnis stehen würde.
Eine Weile schaffte ich es die zielgerichtete Konzentration aufrecht zu halten, dann mit zunehmender Ermüdung, erwischte ich mich beim neuerlichen Durchspielen der Erlebnisse aus der Pizzeria. Wie ich mich auch bemühte, der Flughafen ließ mich nicht los. Frau P., die sich nicht fragt, wo ihr Mann abgeblieben ist, das Kind, das seinen Vater nicht vermisst. Ich war emotional nicht annähernd so involviert, eigentlich war mir Herr P. sogar regelrecht lästig gewesen, aber jetzt, wo er so unerklärlich und radikal verschwunden war, fühlte ich mich ihm irgendwie verbunden. Auch wenn er nur eine kleine Rolle in meiner Lebenwirklichkeit gespielt hatte, bedeutete sein Abgang einen Verlust mit dem ich mich instinktiv nicht abfinden wollte. Mein Sinn für Gerechtigkeit trieb mich an und natürlich auch ein latenter Schuldkomplex. Er war das Opfer eines Verbrechens, das war klar. Des perfekten Verbrechens, denn die mittelbar Geschädigten zeigten keine Neigung Anzeige zu erstatten. Was rief bei ihnen diese Gleichgültigkeit hervor?
Wir alle schauen gerne weg, wenn das Unrecht sein hässliches Haupt erhebt, aber man empfindet doch Missbehagen dabei. Davon hatte es bei Frau P. nicht die geringsten Anzeichen gegeben. Sie hatte dieselbe Unberührtheit ausgestrahlt, wie damals Hartmann und Konsorten, als ich in ihrer Gesellschaft mein Befremden über die ausbleibende Empörung zu dem Verlust an Menschen artikulierte.
„Der komplette Vorstand eines DAX-Unternehmens ist verschwunden und niemand vermisst die?“
„Nein, warum auch? Die haben doch längst Ersatz“, hatten die Herren geantwortet, als ob sie unter Drogen stünden. Und das taten sie auch. Raoul war der Giftmischer und er brauchte nicht mal ein aufwändiges Verteilernetz um den Stoff an den Mann zu bringen. Ihm reichten offensichtlich die Mittel der Telepathie.
Aber wenn er so mächtig war, weshalb blieb ich dann vom bösen Zauber verschont? Schützte mich etwa eine natürliche Firewall, eine aus hochstehenden Moralbegriffen erwachsene Immunität vor des Dämonen zersetzendem Einfluss? Ich überlegte, wie mich ein Scheck, von jedem Ministerialbeamten für Bestechungszwecke als zu mickrig zurückgewiesen, gekauft hatte und musste mir eingestehen, dass es mit meiner vermeintlichen Tugenhaftigkeit doch nicht so weit her war. Daran lag es nicht, dass sich in mir alles weigerte die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.
Womöglich war ich einfach nicht als Adressat des kollektiven Vergessens und des Weitermachens, als wäre nichts geschehen, vorgesehen. Das war´s, mein Name stand einfach nicht auf Raouls Verteiler. Wenn er überhaupt irgendwo in seinem teuflischen Intrigenspiel auftauchte, dann auf der Liste der Mitwisser und Komplizen. Kriminelle narzistische Persönlichkeiten, wie Raoul, neigen zu diesem merkwürdigen Bekennertum. Ein Verbrechen ist auch nur eine Leistung und jeder Leistung wohnt der Wunsch nach Beifall und Anerkennung inne. Vormals unfreiwilliger Helfer und dann kurzeitiger Gegener, erwartete Raoul nun von mir also, dass ich mich einreihte in den erlesenen Zirkel seiner Claqueure. Und komisch, ich spürte eine große Anziehungskraft von dieser Rolle auf mich ausgehen.
Was mich aber nicht hinderte, den Abend vor dem Fernseher ausklingen lassen zu wollen. Seit meiner Rückkehr aus den Ferien hatte ich mich nicht um das aktuelle politische Tagesgeschehen gekümmert, höchste Zeit das Versäumte nachzuholen. Hierzulande haben sich die Medien scheinbar darauf verständigt, Themen und Probleme sequentiell und unisono abzuhandeln (anreißen beschreibt diesen oberflächlichen und nervösen Modus des Umgangs mit Nachrichten natürlich besser). Irgendeine graue Eminenz hebt etwas auf die Agenda und danach geistert der Topos durch alle Redaktionsstuben, bis etwa zwei Wochen später eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird.
Ich wechselte die Kanäle, ein Bild der Vielfalt bot sich mir dadurch nicht. In den zahlreichen Gesprächsrunden ging´s stets um dasselbe. Ich weiß schon gar nicht mehr um was, wahrscheinlich Jugendkriminalität, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, oder alles drei zugleich. Ein gebetsmühlenartiger Austausch ewig gleicher Argumente durch ewig gleiche Akteure. Wir kennen sie alle, diese mediengeilen Politiker, Journalisten und Vertreter irgendwelcher Interessensverbände, ihre Gesichter, Runzeln, Idiome und Frisuren sind uns vertrauter, als die unserer nächsten Angehörigen. Amüsiert nahm ich zur Kenntnis, dass einer aus diesem Heer der gewerbsmäßigen Dampfplauderer seine gekünstelte Empörung zeitgleich auf zwei verschiedenen Kanälen unters Volk brachte. Entweder werden alle Talkshows in ein und derselben Anstalt produziert, dachte ich, oder diese Typen jetten wie wahnsinnig durchs Land um dieses Wunder an Omnipräsenz Wirklichkeit werden zu lassen.
Nicht von ungefähr liebäugelte ich schon mit dem einzigen Knopf, den wir einer Gesellschaft à la Orwell voraushaben, dem Auschaltknopf, als mich ein sonderbarer Verdacht anhauchte. Vielleicht hatte mich der Begriff des Herumjettens darauf gebracht, dass sich so plötzlich aller Überdruss an dem drögen Geschehen in der Flimmerkiste verflüchtigte. Kurzum, was mich auf so stimulierende Weise irritierte war: Ihn gab es nicht mehr, er war nicht mehr mit von der Partie. Wenn ich hier ein Personalpronomen verwende, dann hat es nichts mit Diskretion zu tun, ich komme einfach nicht auf den Namen jenes redseligen Politikers, der noch, ehe ich meine Auszeit antrat, so obligatorisch zur personellen Grundausstattung fast jeder Gesprächsrunde gehörte wie das Sendersignet im oberen Winkel des Bildschirms. Wie oft hatte ich ihn gesehen, wie sattsam gewöhnt war ich an seine, im Tonfall der rheinischen Frohnatur gehaltene Rhetorik, an seine gönnerhafte Jovialität, die nur schwer zu ertragen war, besonders auf vollen Magen. Mir schien, mit jedem grauen Haar, das seinen ansonsten noch braunen Haarschopf durchzog, Brüderschaft getrunken zu haben, so geläufig war mir sein Anblick.
Aber jetzt, wo war dieser Dauergast nur abgeblieben? Sie kennen ihn, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte (und immer noch nicht einfallen will), Sie kennen ihn bestimmt. Sie könnten auf jeder Polizeiwache eine Personenbeschreibung von ihm abliefern, die noch den langgedientesten Kriminaler in höchstes Erstaunen versetzen würde.
Es ging gegen Mitternacht und auf vier Stationen wurde aufgeregt diskutiert, stets ohne seine Beteiligung - das war doch schlechterdings unmöglich. Statt seiner, vertraten irgendwelche Milchgesichter die konservative Sache, völlige Novizen, geistig unbeleckt, stilistisch hölzern. Na ja, jeder ist mal unabkömmlich, vielleicht hatte mein Mann gerade besseres zu tun. Vielleicht veranstalteten zeitgleich irgendwelche Lobbyisten einen Empfang, an den er durch strikte Teilnahmepflicht gebunden war.
In den folgenden Tagen konnte ich das Abendprogramm im Fernsehen kaum erwarten. Auf allen Sendern hielt ich nach ihm Ausschau, allein er glänzte durch Abwesenheit. Er war so gründlich vom Antlitz der Medienwelt getilgt, als ob es ihn nie gegeben hätte. Und niemand, der ihn vermisste. Die Damen und Herren Moderatoren richteten ihre Fragen ungerührt an die an seine Stelle gerückten Frischschwafler. Keine Silbe erhellte das Rätsel um diesen abrupten Besetzungswechsel. Bis auf sein Fehlen war alles wie gewohnt. Auch die Stoßrichtung der Redebeiträge. Inhaltlich hinterließ sein Abgang keine Lücke.
Und dann traf mich der Blitz der Erkenntnis. Ging es mir etwa anders? Konnte ich, nach reichlichem Erforschen meines Gewissens, ernstlich behaupten, diesen Herrn Politiker zu vermissen? Nein, ehrlich gesagt, war dem absolut nicht so. Weder empfand ich Bedauern, noch Euphorie, sein Schicksal war mir im Grunde völlig egal. Mit seinem Fall verband mich lediglich ein rein akademisches Interesse, so wie sich ein Zehntklässler kurzfristig für die Lösung einer zu anspruchsvollen mathematische Aufgabe interessiert, ehe er einsieht, dass er dem Stoff der Oberstufe noch nicht gewachsen ist.
Frau P., mit ihrem wegwerfenden Achselzucken, der gleichgültige Hartmann und die Direktoren, all das war für mich mit einemmal nachvollziehbar, zumindest auf einer theoretischen Ebene. Ich stellte mir den ehemaligen Dauergast vor, wie er die Gangway emporsteigt, im Kreise der anderen, ebenfalls zum Freiflug geladenen Honoratioren, wie er sich freut und wie ihm gar nichts verdächtig vorkommt, weil er eine derartige Vorzugsbehandlung erwartet, insgeheim sogar glaubt, sie würde ihm von Rechts wegen zustehen. Und schließlich das Flugzeug, das sich zusammen mit seinem zerbröckelnden Kondensstreifen auf Nimmerwiedersehen im Horizont verliert. Wieder ein Personalproblem gelöst, wieder ein Stuhl freigeworden, auf dem sich jene einquartieren, auf deren Initiative der Trip zustande kam. Zufriedene Kunden von Rauols besonderem Müllbeseitigungsunternehmen.
Raoul, dachte ich, du bist wirklich ein Hund. Aber ich lächelte dabei. Wie gnädig von dir, deine Flugreisen ohne Wiederkehr so anzulegen, dass den Zurückgebliebenen der Frieden des Vergessens geschenkt wird. Wenn du in der Lage bist, zielgerichtet und fallbezogen in des Menschen Geist, sowohl individuell als auch kollektiv, allumfassende Gleichgültigkeit einzupflanzen, dann gebührt dir wirklich Anerkennung. In moralischer Hinsicht blieb es ein Verbrechen, doch die dabei angewandte psychokinetische Expertise verdiente wahrlich das Prädikat epochal.
Frohgemut und unbelastet überantwortete ich mich wieder dem Fernsehprogramm. Ich fühlte die Trauer um Wassilij, der mir wirklich fehlte, aber gleichzeitig freute es mich, für den dem Bewusstsein der Öffentlichkeit entschlüpften Kampfschwätzer nicht dasselbe zu empfinden.
Epilog
Nach zweimaligem Ertönen des Klingelzeichens wurde abgenommen. Ich nannte meinen Namen und wen ich zu sprechen wünschte. Der Mann von der Flughafenrezeption fragte noch einmal nach, ich wiederholte mein Sprüchlein und wurde durchgestellt. Zwangsweise lauschte ich den Klängen von El Condor passar, in einer Fassung, bei der jeder Hifi-Adept sofort Reißaus genommen hätte.
„New Cargo Solutions, was können wir für Sie tun?“ fand der zweifelhafte Musikgenuss ein abruptes Ende.
„Ist Herr Raoul zu sprechen?“
„Hm, wer möchte ihn denn sprechen?“ erkundigte sich die ziemlich bestimmt klingende Frauensperson weiter.
„Sagen sie ihm einfach, der Mann mit dem Amulett.“
„Der Mann mit dem Amulett?“
„Jawohl.“
„Einen kleinen Moment bitte, ich frag mal nach.“
„Vielen Dank.“
Ich grinste, obwohl sich der krächzende Condor wieder in die Lüfte hob. Raouls Vorzimmerdame schien bereits über einige Routine zu verfügen. Merkwürdige Anrufer mit noch merkwürdigeren Anliegen konnten bei einem solchen Vorgesetzten nicht ausbleiben. Dann, nach dem x-ten Refrain, eine sonore Bassstimme.
„Hola, hombre! Que tal?“
Mein Magen verkrampfte sich, der Puls hämmerte mir in den Ohren, trotz der freundlichen Worten.
„Danke gut. Ihnen hoffentlich auch.“
„Kann nicht klagen.“
„Ähm ...“
Der Schalldruck an meinem Ohr verstärkte sich: „Das soll doch wohl kein fernmündlicher Exorzismusversuch werden?“
Ich spürte wie mir der Schweiß aus den Achselhöhlen rieselte und beeilte mich den Verdacht zu zerstreuen: „Nein, nein, der christliche Mystizismus wird ohnehin überschätzt.“
„Ganz meine Meinung.“ Er lachte und ich begann mich zu entspannen.
Meinem Räuspern folgte ein kleinmütiger Appell: „Sagten Sie nicht, wir seien Freunde?“
„Si, nosotros estan amigos.”
„Ich wende mich als Freund an Sie, mit einem Anliegen.“
„Ich soll Ihnen also helfen, natürlich, warum nicht. Brauchen Sie professionellen Rat, für einen Ihrer Fälle?“
„Nein, es geht um eine rein private Angelegenheit. Um es kurz zu machen, ich möchte die Dienste Ihrer Gesellschaft in Anspruch nehmen.“
„Sie wollen Kunde werden?“
„Falls es möglich ist.“
„O lala! Was wissen Sie denn von unserem Geschäft?“
„Ich hab mir da so etliches zusammengereimt ...“
„Natürlich, verzeihen Sie. Dass Sie kein dummer Mann sind, ist mir bewusst. Sie haben sich sogar sehr intelligent verhalten, ihr Rückzug zum rechten Zeitpunkt beweist es.“
„Es ist keine Schande sich einem überlegenen Mann geschlagen zu geben. Im Vergleich zu Ihnen bin ich nur ein Stümper.“
„Ach, das hat gar nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun. Sie stehen halt auf der falschen Seite, das ist alles.“
„Ja, die dunkle Seite ist mächtiger als ...“
„Moment“, fuhr er mir ins Wort, „hier geht es nicht um einen Kampf Gut gegen Böse. So zu denken ist naiv.“
„Ach so?“
„Sehen Sie, es gibt zwei Sorten Menschen. Die einen, die etwas riskieren und die anderen, die zaudern, grübeln und vor der Entscheidung zurückschrecken. Sie und ihresgleichen, die Inaktiven und Abwarter, verschanzen sich nur hinter der irrigen Vorstellung, sie verhielten sich moralisch besser. Dabei weiß man doch nie, wie sich etwas auswirkt, ob zum Guten oder Schlechten.“
„Da könnte was dran sein.“
„Nehmen Sie el Socialsmo, die Revolution in meinem Heimatland. Eigentlich eine gute Idee, aber was ist daraus geworden?“
„Tja, traurig, in der Tat.“
„Übel liegt allein in der Passivität, daraus erwächst nie etwas Gutes.“
Ich dachte, das seien die üblichen Schutzbehauptungen eines Verbrechers. Aber irgendwie hatte er schon recht, zumindest teilweise. Jeder der ansatzweise eine humanistische Bildung genossen hat, kennt den Ausspruch von Mephistopheles: Die Kraft, die das Böse will, aber stets das Gute schafft.
Von den neuen Gesichtspunkten leicht verwirrt, entfluschte mir eine mit meinem besonnenen Ich nicht abgesprochene Frage: „Hat nicht vor kurzem, rein zufällig, ein dem deutschen Volk durch seine Fernsehauftritte bestens bekannter Politiker zu Ihren Fluggästen gezählt?“
Wieder erklang sein Lachen, das so ansteckend war, dass ich mich daran beteiligte. Gutgelaunt schickte er hinterher, er sei betreffs seiner Auftraggeber und Kunden zu absolutem Stillschweigen verpflichtet und ich wusste Bescheid. Dergestalt ermutigt, wagte ich es, Herrn P. anzusprechen.
„Nun, Sie sind ja bestens informiert“, spottete Raoul. „Herr P. befindet sich auf einer Dienstreise. Hat er sich selber eingebrockt. Erpresser müssen mit sowas rechnen.“
Ich verstand den Wink.
„Glauben Sie mir, der ist jetzt besser dran.“
Mich fröstelte es bei dem Gedanken an Herrn P.s momentanem Aufenthaltsort. Aber nur kurz. Was hatte ich mit Herrn P. zu schaffen?
„Also ...“
Abermals unterbrach er mich.
„Übrigens, muss ich mich noch bedanken. Meinen Geburtstag mit dem Tag an dem die DDR ihre Götterdämmerung erlebte in Zusammenhang zu bringen, war eine geniale Idee. Das hat Hartmann und die hohen Herren restlos überzeugt.“
„Dann hatten Sie damit gar nichts zu tun?“
„Wo denken sie hin. Doch Hartmann glaubt es wohl. Kam meiner Verhandlungsposition ziemlich zugute, wie Sie sich vorstellen können.“
Ich hatte nichts dagegen, mich mit fremden Federn schmücken zu lassen. Ehrlichkeit ist eine Fliege, die sich in einen spinnwebenüberzogenen Keller verirrt hat. Liegt ihr daran die Sasion zu überstehen, sollte sie sich zu einem zurückhaltenden Umgang mit Flugmanövern entschließen. Gleiches gilt für Bittsteller mit freimütigen Bekenntnissen.
„Man tut was man kann“, sagte ich deshalb. Womit wir beim Thema waren. Jetzt konnte er zeigen, ob er bereit war seiner Dankbarkeit Taten folgen zu lassen.
„Zurück zu ihrem Anliegen, was kann ich also für Sie tun?“ kam es recht verheißungsvoll aus dem Hörer.
Ich sagte, dass ich für den nächsten, von seiner Gesellschaft organisierten Flug ein paar Plätze zu buchen beabsichtigte. Sein sofort losbrechendes Gegacker machte mich ganz verlegen.
„Also wirklich“, brachte er nur stockend hervor, „Sie haben wirklich Nerven. Was versprechen Sie sich denn davon?“
„Na, Sie wissen schon. Ich will auch alles bezahlen.“
„Ach, Ihr Scheck. Der wird wohl kaum ausreichen.“
„Wirklich?“
„Übrigens mein Verdienst. Hartmann hätte Sie mit weit weniger abgespeist. Diese Kapitalisten! Für sich selber scheinen sie kein Maß zu kennen, aber wenn es um die Entlohnung anderer geht, dann wird mit dem spitzen Bleistift gerechnet.“
Meine Dankesbekundung ging in seinen Prahlereien unter, wie er den knickrigen Bastard doch noch dazu brachte, in die Spendierhosen zu steigen.
„Das hätten Sie sehen sollen, ein böser Blick, mein gefürchteter Fingerzeig und husch, husch, war der Scheck ausgestellt, haha!“ freute er sich.
Bei mir zerbröselte derweil der letzte Widerstand, Raoul die ihm zustehende Bewunderung doch noch irgendwie vorenthalten zu wollen. Von mächtigen Männern wird man mitgerissen, umso mehr sie den Anschein erwecken, man wäre ihnen sympathisch. Von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Persönlichkeiten wird überliefert, sie besäßen ein latentes Bedürfnis sich an jeden Hals zu schmeißen, der ihr eigenes schmalbrüstiges Ego aufzumöbeln verspricht. Mir ging es da nicht anders. Kurz, ich heulte mit dem Wolf. Zwar hatte ich schon oft mein solidarisches Mitheulen an vermeintliche Alphatiere verschwendet, die sich hinterher als eher handzahme Schoßhündchen entpuppten, aber hier war ein Irrtum ausgeschlossen. Raoul war vielleicht vieles, aber gewiss kein mickriger Kläffer. Und als er bemerkte, am Finanziellen würde eine alte Freundschaft nicht scheitern, hatte er sich endgültig in einen Spitzenplatz meines persönlichen Helden-Olymps vorgearbeitet.
„Die nächste Maschine ist ohnehin eine 747“, wurde mir mitgeteilt, „die waren bisher nie komplett ausgebucht. Also betrachten Sie drei Plätze für sich reserviert. Ob Schwiegermutter, Vermieter oder Ihr Lieblingsbeamter vom Finanzamt, wen auch immer Sie dazu bestimmen, der geht auf große Fahrt.“
Ganz aufgeregt nannte ich ihm Namen und Adressen meines Reiseteams.
„Oha, lauter Doktores. Ein großer Aderlaß steht der akademischen Welt bevor.“
„Wohl eher das Gegenteil“, fühlte ich einen bislang ungekannten Machtrausch.
„Dacht´ ich mir“, sagte er und dazu spielte mein Gedächnis einen kleinen Film ein, in dem Wassilij am Stiel seines Weinglases dreht und mich mit den nie versiegen wollenden Anektoden aus Afghanistan unterhält. Diejenigen, die den Erzähler zum verstummen brachten, würden bald selber neue und einzigartige Abenteuer erleben und sie ihrem Anekdotenschatz hinzufügen können. Ob sie allerdings je fähig wären, darüber Bericht zu erstatten, war eine Frage, die ich nur zu gern der Metaphysik anheim gab.
Dagegen war die von Raoul tief im Hier und Jetzt verankert: „Handelt es sich um Mediziner?“ Entsprechend leicht ließ sie sich beantworten.
„Na, bitte. Dann tarnen wir das Ganze als Einladung zu einem medizinischen Kongress, ausgesprochen von einem Pharmakonzern, Reiseziel Bahamas.“
Ich war baff.
„Gehört alles zum Service“, sagte er. Herrlich, wenn nur alle Dienstleister mit einer solchen Kundennähe aufwarten könnten.
„Und glauben Sie, die springen auch tatsächlich darauf an“, hemmten jetzt, wo das Grundsätzliche geklärt war, gewisse Restzweifel mein Verlangen in spontanen Jubel auszubrechen.
Raoul blieb gelassen :„Keine Sorge, das haut schon hin.“
„Ihre Fähigkeiten sind zum Niederknien.“
„Bei Kunden mit stark ausgeprägten Standesdünkeln kommen die meist gar nicht zum Einsatz“, relativierte er. „Um die zum Einchecken zu bewegen, reicht die Erwähnung des First-Class-Ressorts of Bahamas und der Zusatz gratis. Tja, deren Pech.“
Das zu hören wäre sehr erfreulich, sagte ich. Und schön, wenn er seine Kräfte schonen könnte, da die sicher anderenorts gebraucht würden.
„Ich meine, allein schon den Besitzern ihren Kummer über den Verlust sündhaft teurer Flugzeuge zu nehmen, dafür braucht es doch einer Hypnose, die die Sendeleistung eines mittleren Funkturms in den Schatten stellt, nicht wahr?“
Zu meinem Erstaunen verneinte er.
„Sie vergessen, wir arbeiten nach betriebswirtschaftlichen Regeln mit dem Bestreben um möglichst allumfassende Wertschöpfung. Für unser Unternehmen kommen beispielsweise nur Maschinen in Betracht, die am Ende ihres Lebenszyklus stehen und somit komplett abgeschrieben sind. Man bezahlt uns sogar für die Verschrottung und das beste daran, die Umwelt wird nicht belastet.“
Mir schwante, selten zuvor wurde Schrott derart in Einklang mit dem Nachhaltigkeitsgedanken entsorgt.
„Desgleichen beim Flugpersonal. Indem nur die dienstältesten Jahrgänge herangezogen werden, geht jeder unserer Flüge mit einer spürbaren Entlastung irgendeiner Pensionskasse einher.“
„Tja, das nennt man wohl konsequent zuende gedachte Ökonomie“, sagte ich munter, obwohl mich gerade wieder starke Beklemmung überkam. Eine Beklemmung, die jeder kennt, der es versäumt, sich durch Ignorieren und Leugnen der allgemein bekannten Produktionsbedingungen in Legebatterien auf sein Frühstück einzustimmen.
„Außerdem, in einem gewissen Rahmen sind Kollateralschäden natürlich unvermeidbar“, bewies Raoul mal wieder sein telephatisches Gespür.
„Natürlich“, wollte ich jetzt nicht noch alles verderben.
„Na bitte. Also dann, drei Tickets wie gewünscht ...“
„Moment. Eine Frage hätte ich noch, wenn ich darf?“
„Schießen Sie los.“
„Ähm, warum erst jetzt?“
„Was meinen Sie?“
Ich war wieder ganz aufgeregt, wieder der Zauberlehrling mit den simplen Kartentricks, dem sich unverhofft die Chance des Gedankenaustausches mit einem auskunftfreudigen Meister bietet, einem Meister, der nicht nur den Elefant, sondern, wenn er will, die gesamte Manege inklusive Publikum zum Verschwinden bringen kann.
„Ich meine, jahrelang haben Sie sich als einfache Arbeitskraft herumgequält. Wieso haben Sie nicht schon früher, ähm, Karriere gemacht? Warum gerade jetzt, warum diese jahrlange Zurückhaltung?“
„Ach so“, sagte er, worauf die Leitung erst mal still blieb.
„Entschuldigung, geht mich natürlich nichts an.“
Hörbares Ausatmen, dann: „Kennen Sie Beethovens erste Symphonie?“
„Äh ja.“
„Und wie klingt die?“
Zum Glück bin ich ein fleißiger Musik-Rezipient, weshalb mir sofort die passende Antwort einfiel: „Die klingt eigentlich sehr nach Mozart.“
„Richtig.“
„Ach so?“
„Genau. Beethoven konnte nicht anders, als die Eroica erst nach den Werken zu komponieren, die ihn noch nicht auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten zeigten. Meisterschaft dauert seine Zeit, aber dann kommt sie manchmal über Nacht.“
Ich lachte und sagte, mir würde es schon reichen, zu den vergleichsweise schwachen Leistungen eines unreifen Beethovens fähig zu sein. Damit fand unser Gespräch ein recht heiteres Ende.
Nachdem ich mich an einem, trotz der frühen Stunde durchaus vertretbaren, doppelten Whisky gelabt hatte, zog ich mich mit der mittlerweile von Klara übersetzten Niederschrift, Wassilijs opus magnum, in die von Straßenlärm weitgehend verschonte Küche zurück. „Lies selber“, hatte sich das brave Mädchen zu keiner Stellungsnahme hinreißen lassen und so war im Moment noch offen, ob mir die Entdeckung eines Meisterwerkes bevorstand. Ich setzte mich nieder, trällerte dazu eine Melodie, bis mir bewusst wurde, was da so hartnäckig von meinen musikalischen Gedächtnis Besitz ergriffen hatte. Es genügt zu sagen, selten zuvor fand ich Panflöten und Inkatrommeln entbehrlicher. Aber dann, ohne einen kleinen persönlichen Kollateralschaden wäre dieser Vormittag ja wohl auch fast etwas glatt über die Bühne gegangen. Jedenfalls, im Grunde genommen.
r nach Mozart.“
„Richtig.“
„Ach so?“
„Genau. Beethoven konnte nicht anders, als die Eroica erst nach den Werken zu komponieren, die ihn noch nicht auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten zeigten. Meisterschaft dauert seine Zeit, aber dann kommt sie manchmal über Nacht.“
Ich lachte und sagte, mir würde es schon reichen, zu den vergleichsweise schwachen Leistungen eines unreifen Beethovens fähig zu sein. Damit fand unser Gespräch ein recht heiteres Ende.
Nachdem ich mich an einem, trotz der frühen Stunde durchaus vertretbaren, doppelten Whisky gelabt hatte, zog ich mich mit der mittlerweile von Klara übersetzten Niederschrift, Wassilijs opus magnum, in die von Straßenlärm weitgehend verschonte Küche zurück. „Lies selber“, hatte sich das brave Mädchen zu keiner Stellungsnahme hinreißen lassen und so war im Moment noch offen, ob mir die Entdeckung eines Meisterwerkes bevorstand. Ich setzte mich nieder, trällerte dazu eine Melodie, bis mir bewusst wurde, was da so hartnäckig von meinen musikalischen Gedächtnis Besitz ergriffen hatte. Es genügt zu sagen, selten zuvor fand ich Panflöten und Inkatrommeln entbehrlicher. Aber dann, ohne einen kleinen persönlichen Kollateralschaden wäre dieser Vormittag ja wohl auch fast etwas glatt über die Bühne gegangen. Jedenfalls, im Grunde genommen.
Wir drückten uns gegen die Kistenwand, um den in unangemessener Geschwindigkeit heranbrausenden Gabelstapler passieren zu lassen. Einige Meter voraus bremste der ab und verschwand in einer Abzweigung. Aber sein Brummen blieb präsent. Es kam uns sogar entgegen, nebenan, in der Nachbargasse. Ich konnte die Abgasfahne entlang des Container-Horizonts wandern sehen, als wir wieder in die Mitte des Weges traten.
„Am besten, wir gehen wieder zurück“, sagte mein Führer. In den Lüftungsschlitzen eines merkwürdigen Holzverschlags blitzten grüne Augen und ich willigte sofort ein.
„Ja, gehen wir zurück.“
Auf dem ganzen Rückweg ließ uns der Motorenlärm nicht mehr los. Immer wenn man glaubte, ihm entronnen zu sein, war er plötzlich wieder ganz dicht, auch wenn man das dazugehörige Fahrzeug nicht zu sehen bekam. Zudem schien sich der Mann, dem ich bedingungslos folgte, desöfteren in der Richtung zu vertun. Einmal brach er sein gedankenverlorenes Zuckeln ab, ich blieb ebenfalls stehen, während er sich einigermaßen verdutzt umschaute.
„Warum steht denn hier die Sendung aus Kolumbien?“, deutete er auf den Aluminiumquader, der eine vormalige Abkürzung zur Sackgasse umwidmete.
„Völlig irregulär.“ Er lächelte mich an: „Wenn man sich nicht um alles selber kümmert.“
Wir machten kehrt und er meinte, gegen Monatsende ginge es halt immer drunter und drüber. Einige Zeilen weiter, in dieser eine verwinkelte Altstadt parodierenden Lagerhalle, machte es wieder wrumm und dazu stiegen zornige Rauchwolken empor. Irgendwie fühlte ich mich mittlerweile in die Realfassung eines Computerspiels entführt. Zwei desorientierte Pacmen, verfolgt von einem geisterhaften Gabelstapler. Gerade wandte ich mich an meinen Schicksalsgenossen, um ihn an meinem amüsanten Gedanken teilhaben lassen, da schlug Metall gegen Metall. Wie ein Kurzsichtiger, der einem auf die Stirn statt in die Pupillen sieht, stierte er über mich hinweg, um dann herumzuwirbeln und mir völlig unvermittelt einen Schubs zu versetzen. Derweil ich rückwärts taumelte, wurde mein Entsetzen über diese rüde Attacke von einem Knall beendet, den der Aufprall eines schweren Kastens just an der Stelle meines eben aufgegebenen Standorts, hervorrief. Nach einem Überschlag blieb das Ding mit aufklaffendem Deckel seitlich liegen. Gleichzeitig erzeugten hunderte Schnäbel ein kunterbuntes Geschrei. Ich glotzte stumm, das Geschnatter dauerte an. Dazu ein menschlicher Kommentar: „Nicht bewegen!“
Warum, wollte ich einwerfen, da sah ich den Grund. Aus dem Schlund der geborstenen Kiste waren Schläuche gerollt, die sich abwechselnd streckten und krümmten und das, schien es, aus eigenem Antrieb. Der Gedanke an harmlose Materialreflexe elastischen Gummis wäre gar nicht so abwegig gewesen, hätte man sich in diesem Moment nicht an einem Ort namens Animal-Lounge befunden. Wenn hier etwas schlängelte, ging man besser davon aus, dass eine mehrzellige Lebensform die Ursache dafür bildete. Und es waren derer drei, drei Schlangen glitten wie Dolche aus Quecksilber heran und dazu tobte es in den umliegenden Käfigen. Früher als gedacht brach das Tribunal der Tiere über uns herein.
Unwillkürlich versuchte ich nach hinten auszuweichen.
„Nein, nicht“, zischte mein Gefolgsmann, „die sehen nicht gut, reagieren nur auf Bewegung!“
Er hatte leicht reden, das infernalische Trio hatte es ausgerechnet auf mich abgesehen, den zufälligen Besucher. Dabei legten sie einige Schlauheit an den Tag. Schon trieben mich ihre Vorstöße in einen Winkel, nahes Gegacker schlug mir ans Ohr, Kartonagen verunmöglichten den weiteren Rückzug, während mir die gefächerte Formation der Angreifer die Flucht nach vorne abschnitt. Ich sah das zielstrebige Gleiten und dachte, wo bleibt der unter solchen Umständen sonst schon klassische Ausruf: „Keine Sorge, die tun nichts, die wollen nur spielen.“ Als der entfiel, fand ich Trost in der Vorstellung einer ein Antidot bereithaltenden medizinischen Station, die der Mikrokosmos Flughafen bestimmt vorzuweisen hatte. Meinetwegen durfte sie auch Healthcare-Center heißen. Angesichts des nur noch Zentimeter von meinem Schuhwerk entfernten Züngelns, war ich gerne bereit meinen snobistischen Kurs gegenüber neumodischen Sprachschöpfungen eine Pause zu gönnen.
„Raoul, schnell, beeil dich ...“
Ich hob den Kopf und glaubte in dem heranstapfenden Mann den Fahrer des Gabelstaplers wiederzuerkennen.
„Parada! Le ordeno a que pare!“ herrschte dieser das Geschmeiß an.
Die mittlere Schlange, mir am nächsten, reagierte sofort, die beiden flankierenden krochen noch ein Stück, ehe sie ebenfalls Bewegungslosigkeit befiel.
„Tranquilo, Serpientes, ... tranquilo!”
Er hatte einen Greifstab dabei, der jetzt zum Einsatz kam. Eine nach der anderen wurde davon erfasst, angehoben und in das mittlerweile vom Vorarbeiter wieder aufgerichtete Behältnis zurückgetan. Abgesehen von einem Kringeln beim Anheben, bewahrten die Schlangen erstaunliche Contenance. Nach ihrem jüngst gezeigten Verhalten, war die Lässigkeit in der sie mit sich verfahren ließen wirklich sonderbar. Und wie immer, wenn eine Gefahr überwunden scheint, brach sich sogleich Heiterkeit Bahn. Sogar die nervtötenden Tierlaute verebbten, aus den Kisten drang nurmehr sanftes Gegurre.
„Na, da haben wir Ihnen ja richtig was geboten“, hieß es.
Das Schlimmste war vorbei und plötzlich wimmelte es von Mitarbeitern. Einer trug einen Besen, mit dem er ein bisschen herumfegte, ansonsten wurden ironische Blicke gewechselt. Auch ich lächelte. Pah, wer erschreckt sich schon an ein paar Schlangen.
„Unser Raoul“, deutete der Vorarbeiter auf meinen Retter, „der versteht sich halt auf Tiere, nicht wahr?“
Auf alle Fälle besser als auf das Bedienen von Maschinen, dachte ich. Dabei wanderten meine Augen zu den beiden Gabeln in der Lücke, wo sich vormals die jetzt verschrammte Kiste in einer stabilen Lage befunden hatte.
„Ein richtiger Schlangenflüsterer“, sagte einer der Herumstehenden.
„Wirklich erstaunlich“, bestätigte ich. An die Tatsache, dass uns der Wunderknabe durch seine Tollpatschigkeit erst in die missliche Lage gebracht hatte, Zeuge seines besonderen Talents zu werden, verschwendete scheinbar keiner einen Gedanken. Helden werden oft aus Unkenntnis der genauen Umstände geboren.
„Also, dann besten Dank“, spielte ich die Komödie mit, indem ich mich besagten Raoul zuwandte. Er nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie.
„Ohne Sie, wäre es bestimmt um mich geschehen“, schmeichelte ich ihm. Wovon er sich aber nicht beeindrucken ließ.
„Die haben nur schwaches Gift“, entgegnete er und mir schien, als klänge da ein gewisses Bedauern an.
Dessen ungeachtet blieb ich versöhnlich: „Sind Sie Spanier?“ Doch er hatte sich schon weggedreht.
„Also, wer hat die Schlangen zu den Vögeln gestellt?“ Auf die Frage des Vorarbeiters, verkrümelten sich auch die Schaulustigen.
„So eine Schlamperei. Bringt die mal ganz schnell nach F4.“
Der dunkelblaue Overall war inzwischen zur nächsten Abbiegung gelangt. Der, der ihn glaubhaft ausfüllte, hielt kurz inne, warf uns über die Schulter einen kurzen Blick zu, um sich darauf in aller Seelenruhe eine Zigarette anzustecken. Überall hingen, gut sichtbar, Rauchverbotsschilder von der Decke.
„He, beim Verschließen nicht mit Klebeband sparen“, rief der Chef.
Als ich abermals hinsah, war der Schlangenbeschwörer verschwunden.
Eigenartig schnell, nach der vorangegangenen Odyssee, fanden wir nun in den Eingangsbereich zurück. Die Rufe der Arbeiter schwirrten fröhlich durch die Tiefe der Halle und auch dem wieder einsetzenden Motorengeräusch fehlte jede Bedrohlichkeit.
„So, wollen Sie sonst noch was wissen?“
Ich verneinte, bedankte mich und verließ die Animal-Lounge. Viele Fragen war nicht offen geblieben.
*
Raoul war gebürtiger Kubaner. In den frühen Achtzigern hatte es ihn, nach dem Studium der Elektrotechnik an einer Moskauer Universität, in die DDR verschlagen. Bei Robotron, dem dortigen Hightech-Betrieb, zunächst seinem Ausbildungsstand gemäß als Ingenieur beschäftigt, kam es bald zu einer Reihe empfindlicher Herabstufungen. Fast jährlich büßte sein Tätigkeitsprofil an Funktion und Verantwortung ein. Zuletzt, gaben die Unterlagen Auskunft, diente er auf dem Niveau einer einfachen Produktions-Hilfskraft. Was den Abstieg bewirkte, gab seine Arbeitsvita zwar nicht her, aber der dahinterliegende Wunsch der Betriebsleitung, sich des Kubaners irgendwie zu entledigen, schimmerte deutlich durch die dürren Zahlen seiner beruflichen Stationen.
In einer Gesellschaft, für die Arbeitslosigkeit ein Tabu darstellt, ist Entlassung natürlich keine Option. Aber mehr und mehr verdichtete sich bei mir der Eindruck, dass, wäre 1989 nicht die Wiedervereinigung dazwischengekommen, man Raoul früher oder später in den sozialistischen Bruderstaat zurückverfrachtet hätte. Vor diesem Schicksal bewahrte ihn allein dieser merkwürdige Umschwung in der großpolitischen Wetterlage. Danach, beruflich nie wieder richtig Tritt fassend, wechselten sich bei ihm längerer Zeiten von Beschäftigungslosigkeit mit kurzdauernden Verhältnisse in untergeordneten Stellungen, zumeist als Lagerist, ab. Zumindest bis vor ein paar Jahren, als er durch die Ergatterung des Jobs in der Animal Lounge, doch noch so etwas wie eine gewisse Stabilität in sein Leben brachte. Als letzte Zäsur vermerkte die Akte die Umwandlung seiner Anstellungsbedingungen in eine, infolge der Auslagerung aller Lageristen, extra dafür gegründeten, auf den Flughafen-Servicebereich gerichteten Leiharbeiterfirma. Raoul unaufhaltsamer Niedergang hatte sich also neuerlich fortgesetzt, auch wenn diesmal kein eigenes Verschulden vorlag. Damals, 1989, griff die Geschichte vorteilhaft in sein persönliches Geschick ein, zwanzig Jahre später hatte sich wieder etwas außerhalb seiner Einflusszone bewegt, Veränderungen in Sachen Unternehmenskultur und Personalpolitik, nur blies ihm jetzt der Wind der Geschichte von vorne ins Gesicht. Wie es heißt, wiederholt sich selbige zuerst als Tragödie und dann als Farce. Bei Raoul lief es offensichtlich umgekehrt. Statt einer, mit allen Vorteilen der direkt beim Flughafenbetreiber angestellten Arbeitskraft, war aus ihm ein Leiharbeiter geworden. Damit verbunden, schlechtere Anstellungsbedingungen und ständige Kündigungsgefahr.
Hatte der Leiter der Animal Lounge nicht davon gesprochen, dass die Krise begann sich nachteilig aufs Geschäft auszuwirken? Schlummerten vielleicht schon irgendwo Pläne, die für Raoul demnächst einen Platz auf der Transferliste vorsahen?
Ich nippte an meinem Pfefferminztee und dachte darüber nach. Obwohl streng verboten, hatte ich mir auch von Raouls Akte Fotokopien angefertigt und mich damit in die glückliche Lage versetzt, dieses entscheidende Stadium meiner investigativen Untersuchung von zuhause aus fortführen zu können. Hartmann erwartete morgen meinen Zwischenbericht. Dass ich ihm was zu bieten hatte, dessen war ich gewiss. Dazu brauchte ich nur mein immer noch tiefschwarz schimmerndes Amulett zu betrachten.
Es lag auf Raouls Papieren und ich hatte herausgefunden, dass eine derart hartnäckige Verstimmung durch die Berieselung mit heiterer Musik am besten zu begegnen war. Heiter musste sie sein und ernst, durchdrungen von göttlicher Erhabenheit, strahlend wie die Frühlingssonne, somit ein Fall für Wolfgang Amadeus. Schon die Anfangstakte der Ouvertüre zur Entführung aus dem Serail bewirkten bei meinem zuletzt doch recht geschundenen Freund eine deutliche Entspannung. Und als Blondchen in ihren halsbrecherischen Gesangskaskaden den finsteren Osmin in seine Schranken verwies, deutete nichts mehr auf die jüngst durchlittenen Schrecken. Mein Amulett erfreute sich in wärmsten Orangerot an der Kunstfertigkeit der Darbietung.
*
„Schau mal einer an“, kauerte Hartmann mit zusammengekniffenen Augen vor seinen Bildschirm, „hat am Tag der Maueröffnung Geburtstag.“
Zugegeben, ich habe es nicht so mit den Daten zur jüngsten deutschen Geschichte. Mein diesbezügliches Interesse kam sozusagen mit der Wiedervereinigung zum Erliegen. An sich ja ein erfreulicher Tag, aber irgendwie auch der Anfang von ein paar unguten Entwicklungen, z.B. dieser neuen Deutschtümelei, die sich seitdem allerorten breitmacht. Früher war ich stolz gewesen, dass die Deutschen als gebrannte Kinder den anderen Nationen ein leuchtendes Vorbild in Sachen patriotischer Zurückhaltung gaben. Mittlerweile darf man wieder ungestraft Nationalstolz empfinden und äußern. Gerade so, als ginge dem Umstand, als Deutscher geboren zu sein, eine persönliche Leistung voraus. Wenn diese edle Regung aber so billig zu haben ist, dann erkläre ich hiermit, wie stolz es mich macht, dass der Mond seit Jahrmillionen ohne zu mucken, in treuer Ergebenheit und tadelloser Pflichtauffassung, uneigennützig seiner Flugbahn folgt. Unser Glück, auf Erden ideale Lebensbedingungen vorzufinden, verdanken wir schließlich allein ihm. Da scheint doch etwas Trabantenstolz angebracht zu sein, oder etwa nicht?
Wie auch immer, ich schweife ab, langweile Sie und das ist ebenso unverzeihlich wie fortgesetzter Chauvinismus.
„Also, das Licht der Welt hat er natürlich ein paar Jahrzehnte davor erblickt, aber Tag und Monat stimmen überein“, freute sich Hartmann über seine Entdeckung. „Ich frage Sie, Koinzidenz oder Korrelation?“
Auf was wollte Hartmann hinaus? Wollte er vielleicht andeuten, es bestünde da ein Zusammenhang? Manchmal überraschen mich Kunden damit, wie sie mit der Naivität des Laien Kausalitäten herstellen, vor deren Gewagtheit der Profi zurückschreckt. Manchmal verbirgt sich hinter solchen Vorstößen aber auch nur blanke Ironie, oder der Wunsch, den Parapsychologen zu provozieren, ihn aus der Reserve zu locken.
„Nun, möglich wäre es schon“, kam ich ihm auf halbem Weg entgegen.
Hartmann lächelte mich an. Das Lächeln des Schülers, der den Meister überflügelt. Dabei war er vor kurzem noch vor Skeptizismus übergeflossen. Als ich ihm vor einer Stunde Raoul als meinen Hauptverdächtigen präsentierte, hatte er noch spöttisch reagiert.
„Sie behaupten allen Ernstes, ein frustrierter Lagerarbeiter wäre in der Lage, mittels seiner, ähm, mentalen Kräfte Flugzeuge zum Verschwinden zu bringen?“
Wahrscheinlich wäre er geneigter gewesen meinen Ausführung Glauben zu schenken, wenn es sich bei dem potentiellen Täter um mindestens einen Träger mehrerer akademischer Titel gehandelt hätte. Typisch deutsches Dünkeldenken. Aber ein Lagerarbeiter, zudem ein Ausländer, das war doch die Sorte Mensch, bei der man, als Teil der betriebswirtschaftliche Verfügungsmasse, kein ausgeprägtes Seelenleben voraussetzen musste. Nur in Zeiten akuten Arbeitskräftemangels ging von dieser Gruppe eine Gefahr aus. Aber heutzutage, wo es für jeden nullkommanichts Ersatz gibt, doch wohl nicht.
„Also wirklich, Sie enttäuschen mich“, hieß es.
Seine Haltung hatte sich im Verlauf meiner weiteren Ausführungen jedoch geändert. Besonders der gestrige Schlangenzwischenfall machte Eindruck. Hat man Schlangen zu bieten, hat man auch den Zugang zum Verstocktesten gefunden. Unser christlich-kultureller Hintergrund, mit dem Wissen um entsprechende Bibelstellen, lässt uns keine Wahl.
„Klingt trotzdem wie Hokuspokus“, blieb er sich zunächst noch treu.
„Verschwindende Flugzeuge kaum weniger“, erwiderte ich.
Darauf hatte er sich seinem Computer zugewandt. Vollumfängliche Administratorenrechte gewärleisteten den schnellen Datenzugriff. Minutenlang studierte er Raouls Dossier.
„Hm, könnte was dran sein, auch wenn sich einem als rationalem Wesen dabei die Haare sträuben.“
Ohne mein Amulett zu erwähnen, versicherte ich ihm, das Für und Wider meines Verdachts sorgfältig erwogen zu haben.
„Es gibt zwar noch eine andere Spur, aber ich fürchte, Raoul ist unser Mann.“
„Na schön. Sie sind sich also sicher. Mit seiner Entlassung ließe sich dann ja wohl wieder Normalität herstellen.“
Nun, jeder löst seine Probleme auf die ihm vertraute Art. Als Problemlöser gleichen wir Menschen Hunden, die nur einen Trick beherrschen. Leider, oder in meinem Fall, zum Glück. Diese Unfähigkeit der Menschen zum Wechsel von Perspektive und Handlungsweise, garantiert mir, und allen anderen gewerbsmäßigen Ratgebern, schließlich den Broterwerb.
„Seine Entlassung vermehrt Ihre Schwierigkeiten nur“, musste ich ihn deshalb abermals enttäuschen.
„So? Meinen Sie?“
„Indem man noch weitere Demütigungen hinzufügt, stimmt man keinen eitlen Mann versöhnlich“, gab ich zu Bedenken.
Das leuchtete ihm ein. „Mein Gott, da hätte aber auch die Personalabteilung selber draufkommen können, dass man solche Leute nicht einstellt. Dafür braucht es ja nur etwas psychologisches Grundwissen.“
Ich erwiderte, keiner hätte wissen können, was man sich mit Raoul einhandelte.
„Offenbar haben wir es hier mit einem Menschen zu tun, der über ganz außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, sich dessen voll bewusst ist und nicht davor zurückschreckt, diese auch anzuwenden.“
„Wirklich unheimlich“, sagte Hartmann plötzlich ganz munter.
„Auch für mich ein absolutes Novum. Sozusagen der schlimmste Fall dieser Art in meiner ganzen Laufbahn.“
„Das kann ja heiter werden“, unkte er. Trotzdem wirkte er gar nicht niedergeschlagen, ganz im Gegenteil. Seine paradoxe Reaktion ging vermutlich darauf zurück, dass jetzt wenigstens klare Verhältnisse geschaffen waren. Als Voraussetzung für eine Therapie benötigt man schließlich zunächst eine stichhaltige Diagnose. Zwar fiel die nicht gerade erfeulich aus, aber es öffneten sich dadurch auch gewisse Handlungsalternativen anstelle des ziellosen Stocherns im Trüben.
„Also was schlagen Sie vor?“
Bevor ich darauf antworten konnte, war er in seiner Euphorie auf besagte Duplizität von Mauerfall und Raouls Geburtstag gestoßen. Dass er da alleine darauf gekommen war, gewissermaßen den Fachmann überflügelt hatte, machte ihn ganz stolz. Sein persönlicher Verdienst war nicht abzustreiten und somit schien es damit seine Richtigkeit zu haben.
Auf dem Heimweg, als ich im Licht der Fakten die Konsequenzen erwog, die sich aus der neuen Sachlage ergaben, war ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich tatsächlich so verhielt. Hartmanns Glückstreffer, bei seinem ersten Ausflug ins Übersinnliche, stellte mich nämlich vor eine Reihe neuer Probleme. Wie ein zufällig auf physikalischem Gebiet reüssierender Amateur berauschte sich mein Auftraggeber am Triumpf seiner Entdeckung, während mir die undankbare Aufgabe zufiel, den Zufallsfund mit dem klassischen Modell der Physik abzugleichen. Dabei betrafen ihn die Folgen des etwaigen Paradigmenwechsels doch weit mehr als mich. Falls Raouls dämonisches Potential einen kompletten Staat (zugegeben einen ziemlich maroden) zum Einsturz bringen konnte, was würden sie dann bei einem simplen Wirtschaftbetrieb wie dem seinen zu bewirken imstande sein? Wie der Gefahr Herr werden, wenn sich einem solche Destruktivkräfte entgegenstemmen?
Soll Hartmann doch selber sehen, wo er und sein dämlicher Flughafen bleibt, liebäugelte ich schon mit Fahnenflucht. Mal sehen, ob er sich immer noch so freut, wenn Raoul anfängt, mal so richtig loszulegen. Wenn diesen Typen die richtige Einstellung fehlt, muss ich mich nicht länger an meinen Eid gebunden fühlen. Bisher hatte ich zwar nie Reißaus genommen, aber für alles gibt es ein erstes Mal.
Zwischen Pflichtgefühl und Drückebergertum hin und hergerissen, kam die U-Bahn in meiner Station zum Stehen. Missmutig brachte ich den Aufstieg in die Oberwelt hinter mich. Der sonnendurchtränkte Tag hatte mir nichts zu bieten, die Stimmen und das Lachen kamen von weit her. Nichts davon bezog sich auf mich. Vielleicht lag es an meiner üblen Laune, dass ich nicht wie üblich den ampelbeschützten Übergang wählte, sondern dachte, mir die fünfzig Meter sparen und nächst am Eingang zur Haltestelle die Straße überqueren zu können. Das tat ich sonst nur in später Nacht, wenn zwischen Vergnügungsverkehr und morgendlicher Stoßzeit die automobilistischen Umtriebe kurzfristig zum Erliegen kommen. Jetzt wimmelte es von Fahrzeugen, die dicht an dicht über die vier Spuren in beide Richtungen fluteten. Dazwischen, in der Straßenmitte, verlief ein schmaler gepflasterter Damm. Ihn erreichte ich in einem halsbrecherischen Zickzackkurs, den ich ohne zu verweilen fortzusetzen gedachte, als mich ein heißes Brennen auf der Brust den Rhythmus der Schritte für einen Moment zu verlangsamen zwang. Ein Bein auf der Fahrbahn, das andere bereit zum Schritt, fasste ich mir reflexartig ans Hemd und diese winzige Zäsur reichte aus, um dem Aufprall mit einem gerade vorbeizischenden Leichtransporter zu entgehen.
Ich sah die Aufschrift „Wenzel Transporte – sichere Transporte“ erschreckend nah an meinem Gesicht vorbeifliegen, hörte das wütende Hupen und nahm schaudernd zur Kenntnis, ohne mein alertes Amulett wohl oder übel in die Statistik der Verkehrsunfälle eingeflossen zu sein. Ob in der Rubrik Leichtverletzt oder Unfalltod war nebensächlich. Alsdann tippelte ich mit wummerndem Herzen entlang des Mittelstreifens und mischte mich kleinlaut unter die an der Ampel Wartenden.
Zum Aussteigen war es zu spät. Raoul hatte mich auf seinem Radarschirm. Ich steckte tief drin, zu tief, um jetzt so einfach die Kurve zu kratzen. Wieder einmal erlebte ich diesen merkwürdigen Transfer der Schuld, vom Verursacher auf den hinzugezogenen Berater. Wie ein Beichtvater, der nach Abnahme der Beichte für die fremden Sünden zur Rechenschaft gezogen wird. Na schön, desertieren kam nicht mehr in Frage. Wäre ja auch irgendwie schäbig gewesen, versuchte ich es sportlich zu nehmen.
Eine Sache machte mich stutzig. Andersherum wäre es mir zwar lieber gewesen, aber nicht ich hatte Raoul aufgestöbert, sondern er hatte auf sich aufmerksam gemacht. Er hatte den Schlangenvorfall inszeniert und damit erst die Verdachtsmomente erschaffen, die ihn schließlich in den Fokus der kritischen Betrachtung rückten. Geschah das aus Dummheit? Konnte ein Mann mit derart außergewöhnlichen telekinetischer Fähigkeiten auf dem Gebiet des Unerwischtbleibens so kläglich versagen? Oder lag es an seiner narzistischen Persönlichkeit, die um Applaus bestrebt selbst den Zuspruch dessen sucht, der ihm nachstellt, der mit Nachdruck seine Entdeckung und Deaktivierung betreibt? Eine dritte Möglichkeit zog ich ebenfalls in Betracht. Vielleicht lag es in Raouls Absicht, Auffallen zu erregen. Womöglich verfolgte er diesbezüglich eine Strategie.
Ich gebot über einiges Rüstzeug, den im Zuge meiner Tätigkeit gelegentlich auftretenden Bedrohungen Paroli zu bieten. Gerade besprenkelte ich mir die Stirn mit echtem Lourdes-Wasser, sprach einige Schutzformeln aus der Kabbala und versäumte es auch nicht, mit dem schweren Riegel die Tür vor dem Eindringen von Feinden zu sichern, die mit durchaus irdischen Mitteln versuchen, meine Kreise zu stören. Dabei war ich mir der Dürftigkeit meiner Handlungen nur zu bewusst. Über den Charakter des Symbolhaften kam ich damit nicht hinaus, nicht bei einem Widersacher von Raouls Format. Aber die Hinwendung zu Routinen verhilft einem wenigstens zu dem befriedigenten Gefühl, den hochgefahrenen Gemütsmotor nicht im Leerlauf quälen zu müssen. So verhielt es sich auch diesmal. Schon merklich ruhiger, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, indem ich fortfuhr Zuflucht im Alltäglichen zu suchen. Beispielsweise galt es den Anrufbeantworter abzuhören. Nach zwei Anfragen für Terminvereinbarungen meldete sich plötzlich die Stimme von Herrn P., dem aufdringlichen Journalisten und ehemaligen Klienten. Ich möchte ihn doch bitte zurückrufen, möglichst bald. Ich zögerte. Aber dann (unangenehme Dinge bringt man am besten schnell hinter sich) drückte ich doch den entsprechenden Knopf, worauf der Apparat selbsttätig eine Verbindung herstellte.
Wie segensreich moderne Technik doch sein kann. Mit Unbehagen erinnerte ich mich an Zeiten, wo man die Nummer eines ganz und gar unerwünschten Gesprächspartners erst mühsam recherchieren musste und dann, zu allem Überfluss, auch noch gezwungen war, höchste Konzentration aufzuwenden, um sich mit den widerwillig getippten Chiffren nicht zu vertun. Heute genügt ein Fingerdruck und ohne das Kurzeitgedächtnis damit belastet zu haben, flutschen die Zahlen durch die Leitung. Zudem nährt die simple Geste die Hoffnung auf die Einmaligkeit des Vorgangs.
Es meldete sich Frau P., die Gattin des Quälgeists, deren äußere Erscheinung mir dank einer zufälligen Begegnung sogar bekannt war. Ihr Mann hätte soeben das Haus verlassen, ich solle es bitte später noch einmal versuchen, dazu erklang im Hintergrund Kindergeschrei. Keineswegs unglücklich beendete ich das Telefonat. Und wie immer bei Pflichten, in denen kein Sinn zu stecken scheint, vergaß ich die Sache. Das heißt, als ich spätabends heimkehrte, fand ich die Stunde zu vorangeschritten für einen neuerlichen Anruf. Ausflüchte gedeihen am besten auf einem mit Vorurteilen gedüngten Feld.
Tags darauf fand ich mich wieder am Flughafen ein. Dabei fühlte ich mich bereits wie ein normaler Angestellter, und das passte mir immer weniger. Gleichzeitig wusste ich, den leidigen Trott zu unterbrechen und wieder in der Komfortzone der Selbstbestimmtheit Quartier zu beziehen, lag ganz allein in meiner Macht. Gerade dieser Punkt machte mir Sorgen. Meine Macht, was zeichnete sie aus? Selbstkritik machte sich breit. Von der hochtrabenden „Ich stehe vor meinem persönlichen Rubikon“- Euphorie war nicht mehr viel übrig. Der Verlauf der Dinge stutzte mich zusehends auf Normalmaß zurück. Also auf Mittelmaß. Wir Mittelmäßigen sollten uns in der Wahl der Herausforderungen nicht zu sehr hinreißen lassen. Wer sich unvorsichtigerweise über seine Grenzen hinaus bewegt, darf bei Erfolg bestenfalls auf das Unverständnis hoffen, das die Welt gewöhnlich dem Avantgardisten reserviert. Im Hier und Jetzt wird Applaus und Anerkennung nur dem zuteil, der sich nicht anmaßt, allzu deutlich über dem Status quo zu stehen. Schlaue Künstler wissen das. Die wissen, ein dürftiges Talent ist noch lange kein Hinderungsgrund für Anerkennung und günstige Kontostandsbewegungen. Etwaiger Nachruhm ist keine Währung, die ein Porsche-Händler als Anzahlung akzeptieren würde.
Also, die Gefahr war zwar erkannt, aber gebannt war sie damit nicht. Im Wissen um die Begrenztheit meiner Mittel hatte ich mich am Vorabend noch mit meinem Freund und Standesgenossen Wassilij getroffen, dem Mann der sich thematisch den Parallelwelten verschrieben hat. Bevor er noch Piep sagen konnte, gab ich ihm zu verstehen, dass mir mit der Erkenntnis, Raoul könnte als uneingeschränkt anerkannter Heilsbringen und Wohltäter durch ein uns unbekanntes Doppelgänger-Universum geistern, nicht gedient sei. In dem einzig als gesichert geltenden Universum war Raoul unbeschreiblich böse, das allein zählte, beziehungsweise die Optionen, wie seine Destruktivkräfte zu schwächen seien.
Meine Hoffnungen richteten sich nicht von ungefähr auf einen Mann von Wassilijs Werdegang. Er, der dem Sowjetsystem trotze, musste einfach ein paar Asse griffbereit in der Hinterhand halten, deren Potenz sich einem verweichlichten Westler nur unzureichend erschließen. Danach sah es zunächst leider gar nicht aus. Er legte die Stirn in Sorgenfalten, bediente sich ausgiebig aus seinem Samowar und so verstrich eine komplette Langspielplattenseite mit leidenschaftlichen Skrijabinklängen, aber abgesehen vom Kunstgenuss kamen wir nicht vom Fleck. Ob er vielleicht ein besonders leistungsfähiges Ikonenbild besäße, den Unhold in seine Schranken zu weisen, machte sich meine Ungeduld Luft. Er lachte. Ein Ikonenbild? Ja, warum denn nicht gleich geweihtes Lourdeswasser literweise verspritzen, spottete er. Ich verschwieg, dass ich mit dem Gedanken gespielt hatte. Dann endlich, nachdem er die Platte umgedreht hatte, rückte er mit der Sprache heraus: „Pekuniäre Anreize!“
„Wie bitte?“
„Ihr müsst ihn kaufen. Womit, dass ist euch kapitalistischen Lakeien doch geläufig. Gebt ihm Geld, haufenweise und am besten schnell.“
Von einem, den eine Gesellschaft die Privateigentum eine strenge Absage erteilt sozialisiert hat, ein höchst ungewöhnlicher Vorschlag. Meine Enttäuschung entging ihm nicht.
„Tut mir leid, aber Feuer bekämpft man manchmal mit noch mehr Feuer“, sagte er.
„Klar, die Cholera lässt sich mit der Verbreitung der Pest eindämmen.“
„Mit dem Geld ist das Böse in die Welt gekommen, also schafft man es damit auch wieder hinaus.“
Das war natürlich eine sehr verengte Sichtweise, wie sie an keiner maßgeblichen Wirtschaftsakademie gelehrt wird. Aber er floss über vor russischer Selbstzufriedenheit, desgleichen der Samowar. Noch mehr Tee. Damit verschoben sich an diesem Abend, wenn schon nicht die Grenzen meines Weltbildes, doch immerhin die meines Einschlafzeitpunktes.
Und zwar empfindlich nach hinten. Die Folgen des Missbrauchs begannen sich gerade jetzt, da ich meinem Termin mit Hartmann entgegeneilte, bemerkbar zu machen. In meiner pelzigen Verfassung fand ich die kurze Liftfahrt in die Etagen der Direktion ebensowenig erhebend wie die Aussicht, meinem Auftraggeber mit einem derart profanen Rettungsvorschlag unter die Augen treten zu müssen. Aber so ist das immer. Je besser die Diagnostik, desto höher die Chance auf Krankheiten zu stoßen, für die bis dato keine Kuren existieren. Was macht der Mediziner in einem solchen Fall? Erst mal Kortison verordnen. Und jenseits des Gesundheitssystems hält man sich ans Geld. Eigentlich hält man sich in allen gesellschaftlichen Subsystemen ans Geld. Hartmann würde das verstehen. Ohne in den für ihn schwer fassbaren Dialekt des Okkulten zu verfallen, konnte ich mich in seiner ureigensten Sprache an ihn wenden. Somit ließ sich wenigstens der zu erwartende kommunikative Streuverlust minimieren, wenngleich mich die Strategie an sich schon nicht befriedigte.
Die Türen schwangen auf und ich trabte los. Ein Teppich dämpfte die Schritte, schuhsohlenschmeichelnd wie frisch verlegt, vertäfelte Wände beruhigten den Geist und selbst das leise in der gekühlten Luft gefasste Sirren empfand man hier nicht als störend. In dieser wunderbaren Welt wurde man mühelos wie von einem freundlichen Sog angesaugt und fortgetragen, als glitte man auf Kufen und das Gefälle führte zwangsläufig zu Hartmann Allerheiligstem, seinem repräsentablen Büro am Ende des Korridors. Mir begegneten Angestellte, duftend und gutaussehend mit Blicken, deren Wärme in den Randbezirken zur Verbindlichkeit versandeten. Gute Laune war hier Pflicht, Misanthropie ein teures Vergnügen, nur den höchsten Kadern vorbehalten oder irregulärem Volk, Besuchern wie mir.
Gedanklich ganz auf den bevorstehenden Krisengipfel eingestimmt, war er nur ein weiterer Anzug, der meinen Weg kreuzte.
Es heißt, Kleider machen Leute, aber manchmal läuft es genau andersrum. Bei unserer letzten Begegnung hatte ein schlabriger Overall der Entfaltung seines männlichen Körperbau nach Kräften torpediert, jetzt torpedierte ebendieser den edlen Zwirn bei seinen Bemühungen, dem Träger Eleganz zu verleihen. Vielleicht versteht es ja der Teufel in Prada gewandet für Entzücken zu sorgen, aber seine Paladine wirken darin nur lächerlich.
„Ah, el hombre con el amuletto.“
Es war Raoul, der sich tief verneigte, was seine teure Gardarobe dank Doppelnaht und strapazierfähigem Gewebe schadlos überstand. Ein weiterer Grund sprachlos zu sein.
„Der Zauberer von Oz, höchstpersönlich. Welche Ehre!“ wechselte sein Spott in fehlerfreies Deutsch. An seinem Handgelenk bemerkte ich eine schwere, wie die Hälfte einer Handschelle baumelnde Golduhr.
„Guten Tag, Herr Roul“, kehrte meine Fähigkeit zum mündlichen Ausdruck zurück, „ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt.“
Sein hochmütiges Lächeln gab mir zu verstehen, dass das ganz in seinem Ermessen lag.
„Das hätte Ihnen das Wiedererkennen bestimmt erleichtert ...“ Als sich sein Arm in meine Richtung streckte, dachte ich, er wollte mir seine neue Uhr vorführen. Bevor ich zu dem protzigen Ding ein paar heuchlerische Worte der Anerkennung loswerden konnte, schnürte es mir jedoch den Atem ab. Eine schier unerträgliche Hitze durchströmte, vom Amulett ausgehendend, den Brustraum und machte Sprechen unmöglich. Gleichzeitig wurden meine Arme ganz taub, so dass ich daran scheiterte, dem Drang sie anzuheben und zum Hals zu führen, Folge zu leisten.
„Ein schönes Hilfsmittel haben Sie da“, sagte er. In meiner körperlichen Not war mir die Häme in seinen Worten ganz egal.
„Dabei wird der christliche Mystizismus schrecklich überschätzt, finden Sie nicht auch?“
Ich schnappte nach Luft, schwitzte heftig und die Flugzeuge auf den großformatigen Bildern, die überall hingen, begannen abzuheben.
„Also wirklich – Lourdeswasser! Wollen Sie mich damit übergießen? Sie glauben wohl, wir Kubaner baden nicht?“ vermischte sich sein Lachen mit dem imaginären Getöse startender Jets.
Mühsam brachte ich ein Krächzen hervor.
„Wir brauchen doch keine Nachhilfe in Körperhygiene ...“ Einem leidenden Tier gleich, warf ich den Kopf hin und her. Scheinbar wirkte es auf ihn wie die erwünschte Unterwerfungsgeste. Auf sein Fingerschnippen hin, ließ das Würgen nach.
„So, das gefällt Ihnen sicher besser.“
Auch die Hitze war plötzlich verschwunden. Die Flugzeuge klebten wieder an ihren Tafeln, ebenso das schweißnasse Hemd an meinem Körper und ich fühlte mich, trotz des Fröstelns in der klimatisierten Luft, mit einemmal pudelwohl.
„Dabei ist das gar nicht nötig“, betrachtete er munter seine Hand, „dieser Mumpitz, schnippen und auf jemanden zeigen, so -“
„Bitte nicht!“ Wieder zielte sein ausgestreckter Zeigefinger auf mich. Aber diesmal geschah nichts, der teuflische Klammergriff unterblieb. Statt dessen wieder sein Hohngelächter.
„Keine Sorge, Sie sind ja mein Freund, Sie und Ihr Amulett, mio amigos.“
Keine Einwänder meinerseits.
„Allerdings ab sofort Freunde auf Distanz, verstanden?“
„Si, es verdad!“
„Muy bien. Me voy. Adios.”
Breitbeinig ging er fort. Ich schaute ihm nicht hinterher.
In Hartmanns Vorzimmer, wohin ich mich nach einigen Minuten der Sammlung begab, hieß es, der Chef könne mich heute nicht empfangen. Er würde sich telefonisch mit mir in Verbindung setzen, in der Zwischenzeit würde sich der Pressesprecher meiner annehmen. Ich setzte mich auf den zugewiesenen Freischwinger und meine Augen verfingen sich in einem über die Starbahn rollenden Jumbojet. Nachdem er abgehoben hatte, ging die Tür und eine Stimme sprach mich mit Namen an.
„Oh, Herr P.“, war ich überrascht, dass sich mir der Mann näherte, den anzurufen ich versäumt hatte.
„So sieht man sich wieder“, sagte das Grinsegesicht.
„Tut mir leid, ich ...“
„Sofort“, wehrte er ab, „gehen wir erst mal was trinken.“
Er wäre in der nächsten halben Stunde in der Coffee-Bar zu finden, machte er sich bei der Sekräterin wichtig.
„Wenn was ist, einfach anpiepen, okay?“
Erst im Aufzug zeigte er wieder Redebereitschaft.
„Sie sehen ziemlich blass aus.“
Ich hätte schlecht geschlafen, darauf er: „Tja, der Föhn.“
Auch seiner Gardarobe war eine deutliche Aufwertung widerfahren. Statt Lederblouson umflatterte ein modischer Einreiher den Schlacks. Nur die grellbunte Krawatte mit Walt-Disney-Motiven zeugte von gewissen Anpassungsschwierigkeiten beim Rollenwechsel.
„Ich habe Sie gleich zurückgerufen, aber Sie waren schon weg“, kam ich wieder auf die leidige Angelegenheit von gestern zu sprechen. Einen mit den textilen Insignien des beruflichen Aufstiegs Ausgestatteten versetzt man nicht so leicht wie einen Blousonträger.
„Meine Frau hat es mir ausgerichtet“, sagte er
„Worum ging es also?“
„Nicht mehr wichtig, hat sich erledigt.“
Wir erreichten unser Stockwerk, er ließ mir wieder den Vortritt.
Zur Coffee-Bar bekam man nur mit entsprechender Berechtigung Zutritt. Über die glaubte ich zu verfügen, aber mein Bagde bewirkte nichts. Herr P. schob sich von hinter heran: „Sie erlauben.“ Seine Hand schwebte kurz über dem Sensor, die Karte darin hatte ihn gar nicht berührt und trotzdem gaben die gläsernen Flügel in selbstverständlicher Eintracht den Weg frei.
„Das erinnert mich“, sagte er, „ich soll Sie darum bitten, ihren Passepartout zurückzugeben.“
„So?“
„Na ja, den brauchen Sie jetzt ja nicht mehr.“
„Ach nein?“
„Ich werd´s Ihnen erklären, aber setzen wir uns erst.“
Einer der Vorzüge der Coffee-Bar bestand darin, dass man bedient wurde. Hartmann hatte mir erklärt, die Örtlichkeit diene vorzugsweise der Herstellung eines angenehmen Rahmens bei Kundengesprächen. Nicht weniger Anteil hatte sie offenbar daran, das Bedürfnis der höheren Kader nach Erquickung und Erholung zu befriedigen. Fast bis auf den letzten Platz belegt, zudem mit fröhlichem Geplapper erfüllt, war schwer vorstellbar, hier würden in erster Linie schwierige Vertragsverhandlungen geführt.
Wir ergatterten einen gerade frei gewordenen Fensterplatz. Schon war eine Kellnerin zur Stelle. Herr P. übernahm die Bestellung, als hätte er seinen Lebtag nichts anderes getan.
„Was finden Sie so amüsant?“ fragte er mich, nachdem die Bedienung gegangen war.
„Also, ich wundere mich nur. Waren Sie gestern nicht noch Journalist?“
„Freier journalistischer Mitarbeiter. Frei und ungebunden.“
„Deshalb der fliegende Wechsel.“
„Gewiss. Heutzutage muss man schnell reagieren, wenn sich einem eine Chance bietet. Flexibilität und Kompetenz, beides ist nötig.“
„Jetzt sind Sie also der Pressesprecher der Flughafengesellschaft.“
„Nicht ganz. Vorläufig dessen Assistent. Wissen Sie, es wird eine neue Untergesellschaft gegründet, in der die Pressestelle zu leiten man mir angetragen hat.“
Ich beglückwünschte ihn dazu und er behauptete, an dem Zustandekommen der neuen Firma einen gewissen Anteil zu haben.
„Ein ganz neues Geschäftsmodell. Sehr innovativ.“
Neue Arbeitsplätze würden entstehen, neuer Umsatz generiert, der Standort gestärkt, das käme der ganzen Region zugute.
„Gerade in der Krise braucht man neue Ideen.“
In Deutschland wäre man sich zu wenig bewusst, dass wir uns mitten im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft befänden. Und unsere Abhängigkeit von der Güterproduktion sei, jetzt wo die Auslandsnachfrage nachlässt, erst richtig spürbar.
Kaffee und Kuchen wurden aufgetragen, zumindest hier traf das Angebot auf eine rege Binnennachfrage. Er unterbrach seinen Vortrag. Ich sagte, bei mir wären die Veränderungen längst angekommen.
„Ich bin schon lange im Dienstleistungsgewerbe, aber anscheinend braucht man gerade hier meine Dienste nicht mehr.“
Er nickte mit vollem Mund: „Moment, darauf komme ich gleich.“
Ich bediente mich ebenfalls, während er noch kaute. Dann nahm er einen Schluck Kaffee und ich war einigermaßen gespannt auf das, was folgen würde.
„Also, die Angelegenheit, derentwillen Sie hinzugezogen wurden, hat sich aufgeklärt.“
„Das will ich meinen.“
Er lächelte verkniffen und schaute an mir vorbei.
„Um es vorweg zu nehmen, wir sind Ihnen natürlich sehr dankbar.“
Wir? Für jemanden, der eben erst eingestellt worden war, ging ihm dieses Wir überraschend leicht über die Lippen.
„Aber stellen Sie sich vor, die ganze leidige Angelegenheit beruht auf einer Panne in der EDV. Lediglich ein Softwareproblem.“ Obwohl er auch das flüssig herausbrachte, schien er im Lügen etwas weniger routiniert. Um hier den Anforderungen seines Tätigkeitsprofils gerecht zu werden, musste er erst lernen das verräterische Zwinkern in den Griff zu bekommen.
„Wie bitte?“ Der Kuchenboden besaß die Konsistenz von Pappkarton, es kostete Mühe Stücke abzutrennen. „Das ist nicht Ihr Ernst.“
„Doch, doch. Die Flüge sind sozusagen nur virtuell verschwunden, nur im Computersystem, aber nicht in der Wirklichkeit.“
„Also alles nur eine Sinnestäuschung?“
„So was kann es geben, bei der heutigen Abhängigkeit von der IT“, versuchte sich der Schmierenkomödiant an einem Ausdruck echter Zerknirschtheit, „man vertraut viel zu blind der Elektronik.“
„Soso ...“
„Sie ersetzen uns Augen und Ohren, da kann so etwas schon mal passieren.“
„Verstehe. Und Ihre neue Anstellung hat damit also nichts zu tun.“
„Nein.“
„Auch nicht Senor Raoul, dem ich vorhin in der Chefetage begegnet bin.“
„Nein, überhaupt nicht.“ Jetzt konnte er nicht verhindern, rot anzulaufen.
„Na schön“, schaute ich zur Seite.
„Wie gesagt, uns tut es leid, Sie ganz umsonst bemüht zu haben.“ Er lachte: „Das heißt, Sie werden feststellen, dass Ihr Scheck äußerst großzügig ausfallen wird. So gesehen waren Ihr Bemühen absolut nicht umsonst.“
„Freut mich zu hören.“
Er erging sich in weiteren Dankesbekundungen, erleichtert die Sache hinter sich gebracht zu haben.
„Und diese neue Geschäftsidee, was hat es denn konkret damit auf sich?“ fuhr ich ihm in die Parade. Darauf winkte er die Bedienung heran: „Zahlen bitte.“
Und an mich gewandt meinte er, dass er darüber einstweilen nichts verlauten lassen dürfe.
„Reines business to business, für Privatleute wie Sie und mich vollkommen uninteressant.”
So was Ähnliches hatte ich erwartet.
Nachdem er es sich nicht hatte nehmen lassen, die Rechnung für uns beide zu begleichen, sagte er: „Ach so, dürfte ich Sie jetzt bitten?“ Ich händigte ihm meinen behelfsmäßigen Pass und den Bagde aus. Unter großem Tamtam wurde ich hinausbegleitet. Am Ausgang zur Abfertigungshalle folgte noch eine Abschiedsszene, die eines nahen Verwandten würdig gewesen wäre. Eines Verwandten, dessen man sich glücklich entledigt hatte.
Über das unwürdige Schauspiel halfen mir drei Tage später zwei Couverts hinweg. Unabhängig voneinander abgeschickt, beinhaltete das eine die Abrechnung über mein reguläres Honorar, ausgestellt von der Buchhaltung, im anderen befand sich neben einem persönlichen Schreiben Hartmanns ein Barscheck, an dem ein Flugticket angeheftet war.
Es heißt, jeder Mensch hat seinen Preis. Allerdings gelangen nur die wenigsten in die vorteilhafte Lage diesen jemals in Erfahrung zu bringen. Nachdem ich eine geschlagene Viertelstunde das unscheinbare Schriftstück begafft hatte, wusste ich endlich, in welchen Regionen der meine angesiedelt war. Mich zu kaufen gehörte demnach zu der Art von Vergnügen, allein jenen vorbehalten, die eine Mercedes-Filiale ebenso gelassen betreten wie unsereiner das Lotto-Kiosk um die Ecke. In dem Begleitbrief dankte mir Hartmann meinen Einsatz und bedauerte die sich dabei herausgestellte Nutzlosigkeit desselben. Aber nichtsdestotrotz hätte er mich als hochqualifizierte, engagierte Fachkraft erlebt, wofür er nicht umhin käme in entsprechender finanzieller Form Anerkennung zu zollen. Der zusätzlich gewährten Bonus wäre absolut berechtigt, er ginge nicht über die Bücher und unerliege somit nicht der steuerlichen Deklarierungspflicht. Ferner wurde ich an das von mir unterzeichnete Schweigeabkommen erinnert und mit den besten Wünschen für meinen weiteren Lebensweg endete das Schreiben. Kein Wort zu Raoul. Ich hatte es eigentlich auch nicht erwartet. Angesichts des überraschenden Vermögenszuwachs war das Manko verschmerzlich. Mehr als verschmerzlich, geradezu amüsant. Auch weil ich wenige Tage zuvor gedacht hatte, mich für meinen pekuniäre Lösungsansatz vor Hartmann schämen zu müssen.
Ein gelber Zettel mit der handschriftlichen Notiz, dass ich ab sofort über das stattliche Konto von 40.000 Flugmeilen verfügte, klebte an dem beiliegenden Flugticket. „Einmal um die ganze Welt“, hatte Hartmann salopp dazugedichtet. Selbiges Ticket war auf meinen Namen ausgestellt und ein roter Aufdruck vermerkte: Nicht übertragbar!
Ich begab mich schnurstraks zu meinem Aktenvernichter und sah zu, wie es in den Schlitz eingezogen und zu Schnippseln atomisiert wurde. Danach war mir wohler.
Wer immer sich fragt, was die Reichen dazu teibt, ständig noch mehr Geld anzuhäufen, obwohl sich der persönliche Lebensluxus kaum noch steigern lässt, der muss nur einmal über einem fetten Barscheck meditieren. Von einer nackten Zahl kann eine eigentümliche Faszination ausgehen, vorausgesetzt sie bezieht sich bilanztechnisch auf die Habenseite jenes Bankkontos, über das man die alleinige Verfügungsgwalt ausübt. Man fühlt sich in Kindheitstage entführt, wenn man die lange Abfolge von Ziffern betrachtet und darin plötzlich etwas entdeckt, das in Form und Gestalt an eine Miniatureisenbahn erinnert. Das ist die Minitrix-Leidenschaft der Bonzen. Die ersten Stellen symbolisieren das kraftvolle Lokomotiventandem, das mit der ausgedehnten Reihe unterschiedlichster Chiffren-Wagons leichtes Spiel hat. Stand einem als Dreikäsehoch nur der Märklin-Starterpack zur Verfügung, erlebt man es wie eine späte Wiedergutmachung für die vormals erduldete Knappheit.
Ich glaube, all die Superreichen gebieten über das Talent, sich allein an den astronomischen Additionen auf ihren Kontoauszügen zu ergötzen. Was Geld vermag, einem in dieser Welt das Leben bequem zu gestalten, das besitzen sie ja längst. Was bringen weitere Millionen, wenn die bereits vorhandenen alles erkauften, was die Märkte an Gütern und Dienstleistungen so hervorbringen? Wieviel randvoll gefüllte Teller braucht es, den Hunger eines einzigen Mund zu stillen? Warum setzen sie sich also nicht zur Ruhe? Weshalb der ganze Stress? Irgendwie irrational, zumindest aus der uneingeweihten Warte des Habenichts, der nichts ahnt von der Lust an dem völlig abstrakten Vorgang der Geldvermehrung an sich. Glück bedeutet Fortschritt. Aufgeschichtete Zahlenkolonnen, die sich akkumulieren, wöchentlich oder täglich hochschrauben in immer waghalsigere Dimensionen, das zu verfolgen, davon muss ein unglaublicher Rausch ausgehen.
Auch wenn, wie bei jeder Sucht, dabei die Seele vor die Hunde geht, wenn totaler Reichtum die totale Verarmung von Imagination und Empathie bedeutet. Der Drogeriekettentbetreiber bezahlt für seine Gier mit einem veritablen Dachschaden, auf eine andere Art, aber nicht weniger, die einsame Angestellte, die in dessen schäbiger Filiale in ständiger Angst vor Überwachung und der latenten Gefahr des Überfallen-werdens ausharrt. Beide wären zu retten, wenn der Kapitalist nur seine Phobie vor Subtraktionen, vor geringerem Wachstum oder finanzieller Stagnation überwinden könnte. Die Gründung einer Selbsthilfeorganisation der Anonymen Ausbeuter wäre dazu vielleicht der erste Schritt.
Den Abend verbrachte ich bei Wassilij mit reichlich Sekt. Nicht mit dem süßen Gesöff, das in schweren Flaschen, die sich jeder Mörder für die Ausübung seines Handwerks wünscht, die Krim verlässt, sondern mit der kultivierteren Variante unserer französischen Nachbarn. Entweder erstickte die hohe Qualität derselben jeglichen patriotischen Einwand seitens des Gastgebers im Keim, oder es lag an meinen Schilderungen, weshalb keine Klagen kamen. Natürlich verletzte ich dabei mein Schweigegelübte in jeder erdenklichen Hinsicht, aber Wassilij war ja ohnehin schon hinlänglich orientiert. Außerdem, der russischen Seele kann man viel vorwerfen, nicht aber, dass sie zur Geschwätzigkeit und zum Vertrauensbruch neigt. Eher darf sich der des Trostes Bedürftige von ihr Zustimmung erhoffen.
„Mein Lieber, das war knapp. Gut, dass du dich zurückgezogen hast“, ließ der nicht lange auf sich warten. Aber wie jeder Feigling, wollte ich es noch genauer wissen.
„Ich komm mir so schäbig vor“, versetzte mich der Alkohol in einen Zustand heuchlerischer Selbstanklage. „Da ist doch eine Riesenschweinerei im Gange und ich werde das Gefühl nicht los, zuwenig dagegen unternommen zu haben.“
Er grinste: „Um genau zu sein, hast du die Dinge erst ins Laufen gebracht.“
Komisch, wird man von Dritten bezichtigt, fühlt sich Masochismus lange nicht mehr so gut an. Zwischen „Ich bin ein Schwein“ und „Du bist ein Schwein“ klafft eine Lücke, groß genug um eine Galaxie hindurchzuschleusen.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ jammerte ich drauflos.
„Nichts.“
„Was hättest du getan?“
„Weniger als das. Was meinst du, warum ich mich aus der Hauptkampflinie des Okkulten zurückgezogen habe?“
Das stimmte. Wassilij hatte sich längst auf das Terrain der Wunderheilung verlegt. Offiziell firmierte er als Magnetist, wirkte ausschießlich von seiner sicheren Heimstatt aus und das mit einigem Erfolg.
„Schwarze Magie, Geisterbeschwörung und das alles ist gefährlich und es bringt nichts. Das Böse ist auf dem Vormarsch und ganz egal wer seine aktuellen Protagonisten sind, ob sie Raoul heißen oder wie auch immer, du und ich, wir haben dem nichts entgegenzusetzen. Jedenfalls nicht in einer Welt, die alles unternimmt sein Wachstum so zu fördern, wie eine mit Nährlösung bestrichene Petrischale das von widerlicher Mikroben.“
Er sprach leise, über den Tisch gebeugt. Regen prasselte aufs Dach und um die Gruselstimmung perfekt zu machen, wurde das Haus von wütenden Böen durchgeschüttelt. Ich füllte mein Glas und versuchte mit einem verächtlichen Lachen das Unbehagen niederzuringen.
„Nee, mein Lieber, da kämpf ich lieber gegen Krankheiten“, schwadronierte Wassilij. „Das sind zwar Unterabteilungen derselben Macht, aber verhältnismäßig schwache. So schwach, dass sie sich nicht wie Pilzflechten über Städte, Länder oder ganze Kontinente ausbreiten, sondern lediglich in den Körpern armer Kreaturen Nistplätze suchen. Dagegen lässt sich was ausrichten“, zog er endlich ein versöhnliches Zwischenfazit.
„Mit höherrangigen Dämonen, als der hiesigen Ärzteschaft, leg ich mich nicht mehr an.“
Damit spielte er auf den Umstand an, dass man seine Erfolge in gewissen Milieus nicht eben gerne sah. Die Schulmedizin wertet es als grobe Unsportlichkeit, wenn einer, der sich weder Numerus Clausus noch Physikum stellte, ihre Prognosen hinsichtlich der Lebenserwartung austherapierter Patienten regelmäßig Lügen straft. Wen aus promoviertem Mund das Verdikt ereilt, der hat verdammt nochmal auch zu sterben. Alles andere wäre doch unfair.
Aber Wassilij ging nicht weiter darauf ein. Einen freudig begonnenen Abend mit Medizinerschelte zu verbringen, hieße ihn entscheidend abzuwerten. Also schenkten wir uns beide noch etwas nach, stießen an und brachten die Kelche zum klingen.
„Was ist“, wiegte er die leere Flasche in der Hand, „köpfen wir noch eine?“
Später gingen wir zu Wodka über und wie gewohnt bezahlte ich das lustige Gelage mit einer wenig erquicklichen Nachtruhe. Als ich am frühen Nachmittag daraus erwachte, lag mir nur wenig daran mein Traumtagebuch auf den neusten Stand zu bringen. So verblassten die Szenen und Bilder von Raoul, Hartmann, Herrn P. und komischerweise meiner Mutter, die sich immer wieder mit erhobenem Zeigefinger in das Geschehen drängte, mir Vorhaltungen wegen meiner Berufswahl machend, ohne festgehalten zu werden. Aber die Botschaft war angekommen: Ich brauchte dringend etwas Distanz. Also begab ich mich eiligst zur Bank, löste den Scheck ein und achtete dabei nicht unter die Räder zu kommen.
Danach widmete ich mich dem Telefon, verschob Termine oder sagte sie gleich ganz ab.
Mein Aufbruch vollzog sich noch am selben Abend. Natürlich nicht per Flugzeug, auch die Bahn schien mir ungeeignet. Seit dort die neue Zeit Einzug hielt, man sich neuerdings vor dem Information-Point einreiht, anstatt der Fahrauskunft, hat das Unternehmen nicht nur an Charme verloren, sondern wurde gleichsam zu einer Ursuppe, bestens dazu geeignet, ganze Heerscharen von Raoul-Mutanten hervorzubringen. Mochten sie sich auch Hartmut, Walter und Fritz nennen und über keinen Migrationshintergrund verfügen, lieber als einen dieser schlecht gewarteten Hochgeschwindigkeitszüge bestieg ich meinen altgedienten Gebrauchtwagen. Der hatte in all den Jahren bewiesen, dass sich am Tag seines Enstehens alle Dämonen gerade in der Gegenschicht befanden. Und Benzinpreise mussten mich nicht schrecken, dafür sorgte schon Hartmanns Scheck.
Dieser war noch lange nicht aufgebraucht, als ich ungefähr vier Wochen später von einer Reise zurückkehrte, die mich über ausgedehnte Aufenthalte in noblen Hotels bis nach Granada geführt hatte. Neben etlichen neuen Kilometern auf der Tachouhr verfügte der Wagen jetzt auch über so manches Neuteil und ich über neue Sprachkenntnisse. Wer nie mit einem Gebrauchtwagen auf Tour geht, in dessen Wortschatz kursieren keine französischen Fachbegriffe wie „joint de culasse“, oder der weiß auch nicht was man in Spanien verlangen muss, um einen löchrigen Auspuffendtopf ersetzen zu lassen.
An einem Regentag war ich abgefahren, mittlerweile hatten die Vorboten des Sommers auch Deutschland erreicht. Zuletzt die doch schon reichlich glutofenartigen Temperaturen in Spanien als unangenehm wahrnehmend, freute ich mich über die hiesigen Verhältnisse einer moderaten Wärme bei leichter Bewölkung. Meine im Ausland völlig unnütze, sichtbehindernd im rechten Winkel der Windschutzscheibe klebende Wohnortsparkberechtigungsplakette, ergab mit einemmal wieder Sinn. Ich steuerte die nächstbeste Lücke an und dachte, egal wie marode die eigene Karre auch sein mochte, weder in Frankreich noch in Spanien musste der Reisende nach einer linguistische Entsprechung für dieses bürokratische Wortungetüm suchen.
In beiden Ländern wurde nach Herzenslust geparkt und trotzdem blieb der Wildwuchs aus. Im Gegensatz zu hier, hatte ich mich weder in St. Etienne noch in Valencia über frech auf Gehsteigen abgestellte Prachtkarossen ärgern müssen. Ja, selbst der jedes ästhetische Gefühl beleidigende Anblick dieser in Blech und Chrome gefassten Zeugnisse unverhohlenen Besitzerstolzes, war mir zumeist erspart geblieben. Der Glaube, arrogant-aggresive Autoschnauzen, Stückpreis Hunderttausend Euro, könnten die Bedeutung ihrer Lenker nachhaltig aufwerten, beschränkte sich dort scheinbar auf Personengruppen, die entweder mittel- oder unmittelbar etwas mit dem Rotlichtgewerbe zu schaffen hatten. Na ja, kamen mir beim Entlanggehen des sauberen Trottoirs die Haufen halbvergammelten Mülls in den Sinn, auf die man gerade in Spanien in hübscher Regelmäßigkeit stieß. Nirgendwo ist alles besser. Überall lauert der Verfall, er drückt sich nur anders aus.
Vor der Tür stapelten sich die Zeitungen, der Briefkasten floss über von Post und dem Anrufbeantworter ging es kaum besser. Er begrüßte mich mit wildem Synchronblinken seiner beiden Lämpchen, so ungestüm, dass ich jeden Moment erwartete, er würde an mir hochspringen und anfangen, mir das Gesicht abzulecken. Meine lange Abwesenheit hatte offenbar seinem Datenspeicher nicht gut bekommen - ich sollte ihm unbedingt durch Betätigen der Löschtaste Linderung verschaffen, erklärte die Schrift im Sichtfenster seine Wiedersehensfreude.
Er hatte es bis jetzt ausgehalten, also widmete ich mich zuerst den zahlreichen Couverts. Dabei begleitete mich das ungute Gefühl, gleich einem Exemplar zu begegnen, auf dem das Flughafenlogo prangte. In Studententagen hatte man mit ähnlich beschleunigtem Puls die Morgenpost gesichtet, wenn am Quartalsende die Abrechnung der Gas- und Elektizitätswerke rausgingen. Auch heute waren haufenweise Rechungen dabei, aber die waren mir geradezu willkommen, solange mir nur Hartmann und Konsorten nichts mitzuteilen hätten. Es sah ganz danach aus. Und mit dem letzten Schrieb, ohne Flughafenbezug, war die erleichternde Gewissheit hergestellt, dass man dort unsere Geschäftsbeziehung als endgültig abgeschlossen betrachtete. Wie hatte sich Raoul ausgedrückt, Freunde auf Distanz? An mir sollte der Vorsatz nicht scheitern. Distanz schafft Nähe? Nicht in diesem Fall.
Doch es kam anders. Kaum eine Minute später wurde mein Plan von einem von Flughafenkümmernissen unbelasten Leben durch meine diesbezüglich immer noch höchst intakte, selektive Wahrnehmung sabotiert. Beim Durchblättern der aktuellen Zeitung stach mir nämlich gleich ein Artikel ins Auge, der sich mit der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung jenes für mich so unschön konotierten Unternehmens befasste.
Einen stumm vor sich hin lamentierenden Anrufbeantworter schaffte ich zu ignorieren, bei dem fast die gesamte Seite beherrschenden Artikel gab ich mich geschlagen. Sofort war ich in den Sessel gesunken und hatte mich festgelesen. Immer wieder wanderten meine Augen zwischen Text und der eingeschobenen Fotografie hin und her. In der fröhlich lächelnden Gruppe der Abgebildeten erkannte ich Hartmann, seinen Chef, den Präsidenten der Flughafengesellschaft und auch den dritte Mann hatte ich schon mal gesehen. Es handelte sich um den Agenten der Versicherung, sozusagen Herr Kaiser, der offensichtlich die Seiten gewechselt hatte. Wie es in der Bildunterschrift hieß, leitete er jetzt in der neugegründeten Untergesellschaft New Cargo Solutions das Ressort der Öffentlichkeitsarbeit.
Komisch, wo war Herr P., dem nach eigenem Bekunden genau dieses Amt zugesichert worden war? Der Text gab keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Ebensowenig fand Raoul Erwähnung, was mich natürlich nicht verwunderte. Eingedenk seines vermuteten Beitrags bestand Herr Kaisers vordringlichste Aufgabe wohl eher darin, ihn nach Kräften aus den Schlagzeilen rauszuhalten als umgekehrt.
Trotz Krise und abnehmender Passagierzahlen, war zu lesen, stemmte man sich erfolgreich gegen den Abwärtstrend. Mehr noch, im Gegensatz zu anderen Standorten entwickelte sich der hiesige Betrieb sogar erstaunlich positiv. Nicht zuletzt aufgrund der Eroberung neuer Geschäftsfelder, was seinen Niederschlag unter anderem in der New Cargo Solutions fand. Worin das Angebot konkret bestand, darauf ging der Artikel nicht ein. Halbsatzweise sprach er von einem Geschäft im B2B-Bereich, lobte hingegen ausführlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze und belegte das Angesprochene mit etwas Statistik. Als jemand mit soziologischer Vorbildung weiß ich um die Aussagekraft von diesen, gemeinhin leichtsinnigerweise als nackt gescholtenen Zahlen. Ein Text kann sich bedeckt halten, durch die Nebelkerzen schöner Formulierungen verschleiern, aber Zahlen, sofern authentisch, spiegeln Tatsachen wider. Man muss sie nur richtig deuten. Dazu ging ich sofort über. Und genauso schnell hatte ich sie gefunden, die Diskrepanz, die, da unkommentiert, den meisten wohl durchs kognitive Netz geschlüpft wäre. Natürlich neigen Statistiken nicht zwangsläufig dazu ausgeglichen zu sein. Überschüsse in der Handelsbilanz sind normal und erwünscht. Aber im Luftverkehr, bei den Starts und Landungen, sollte doch in etwa ein Ausgleich stattfinden. Genau hier wies der Flughafen ein signifikantes Defizit auf und zwar bei den Landungen.
Es waren weniger Flugzeuge angekommen als abgeflogen.
Noch fehlte den Indizien jegliche Beweiskraft. Zur Untermauerung meines Verdachts waren Vergleichszahlen nötig. So verstrich die nächste Stunde mit Internet-Recherchen. Keine Ahnung warum ich mich derart ins Zeug legte, nur um einem fiktiven Staatsanwalt zuzuarbeiten, der nie mit den berühmten Worten „J´accuse“ einem Richter gegenüber treten würde. Aber wahre Wissenschaft fordert keinen höheren Lohn, als den des Gewinns purer Erkenntnis.
Somit stöberte ich durch alle im WWW verfügbaren Wirtschaftberichte der einschlägigen Branche, löste dabei Schale um Schale von der Zwiebel genannt Wahrheit und stellte schließlich fest, dass sich gewöhnlich die Zahl der Abflüge mit der der Landungen zu decken pflegte. So ist es alter Herren Sitte, zumindest seit das Flugwesen anfing, sich durch geeignete Maßnahmen in eine Spitzenposition unter den als sicher geltenden Verkehrsträgern hochzuarbeiten. Lediglich eine kasachische Fluglinie konnte mit einer ähnlich unausgeglichenen Bilanz aufwarten, wie die im Artikel vorliegende. Aber dort durften wohl natürliche Gründe der Materialermüdung als Ursache für die Unterdeckung vorausgesetzt werden. Verschwindet eine alte Illjuschin vom Radarschirm, dann löst sie sich halt nicht in Luft auf, sondern höchstens in ihre Einzelteile, wenn sie sich unsanft ins Erdreich bohrt. Eine böse Sache, aber immerhin in Einklang mit den Vorstellungen und Werten aller recht und billig denkenden Menschen.
Was erklärte hingegen den Schwund in Hartmanns Betrieb? Seit mich vor knapp zwei Monaten sein verzweifelter Anruf ereilte, hatte sich dort die Lage offenbar nicht geändert. Wobei, das stimmte nur zur Häfte. Ich betrachtete sein fröhliches Gesicht auf dem Foto, gedachte des gardarobenmäßig deutlich aufgewerteten Raouls im Flur der Direktion und kam zu dem Schluss, dass im Gegensatz zu damals die Vorgänge jetzt auf die entschiedene Billigung der Geschäftsleitung stießen. Welchen konkreten Nutzen sie daraus zogen, war mir zwar immer noch schleierhaft, aber ein paar Vermutungen stellten sich schon ein. Die meisten so ungeheuerlich, dass ich meinem vergetativen System keinen Vorwurf machen konnte, als es meine gesamte Körperbehaarung in eine ungemütlichen Hab-acht-Stellung nötigte.
Auch außerhalb religiöser Vereinigungen ist es manchmal sinnvoll nach bestimmten Regeln zu leben. Das alte Testament hielt ich zwar nur partiell für mich zuständig, aber mit dem Gebot, beneide nicht deines nächsten Hab und Gut, war plötzlich etwas anzufangen. Besonders wenn man den Wortlaut in eine aktuellere Sprache überführte: Schau nicht hin und kümmere dich um deinen eigenen Kram. Damit zerknüllte ich die Zeitung.
Den Finger auf der Löschtaste verstrich ein Moment des Zögerns. Ich verstärkte den Druck, es piepste und damit hatte sich auch das nervtötende Geflacker erledigt. Immer hübsch loslassen. Ein halbherziger Neuanfang ist ungefähr so vielversprechend wie der Antritt einer Kneippkur in Gummistiefeln.
*
„Hallo, hier ist Klara“, lautete die fernmündliche Begrüßung.
Den ganzen Morgen über hatte das Telefon geläutet. Ernsthaft Interessierte erwarten nicht, dass sie zurückgerufen werden. Im Gegenteil, ein leicht erreichbarer Spezialist würde sich in den Augen seiner Kundschaft nur abwerten.
„Klara?“
Wollte mich hier jemand gleichsam mit dem Erstanruf auf meine telepathischen Fähigkeiten abklopfen? Sowas kommt tatsächlich vor. Nach dem Motto, ich nenn ihm meinen Vornamen und wenn er dann nicht von selbst mit Nachnamen, Adresse und Familienstand herausrückt, dann kann er ja nicht viel drauf haben. Manche versteigen sich sogar darauf, Teil meiner Aufgabe sei es, dem Anrufer die Motive seines Anrufs zu erklären. Derartige Ansinnen gilt es zurückzuweisen, solche Kunden sind Garanten für Ärger. Man belässt sie besser im Glauben, nicht der Geeignete für ihren Fall zu sein.
All das stand hier allerdings nicht zu befürchten, wie ich sogleich erfuhr.
„Klara - die Freundin von Wassilij. Du erinnerst dich doch?“
„Klara Zetkin, natürlich, tut mir leid.“
Zetkin war selbstredend nur hinzugedichtet. Ihren Familiennamen kannte ich gar nicht. Aber eine Klara, die etwas mit Wassilij zu schaffen hatte, konnte nach meinem lustigen Dafürhalten gar nicht anders als Zetkin heißen. Die meisten Menschen leben in der festen Überzeugung, einen fabelhaften Sinn für Humor zu besitzen. Ich bin da leider keine Ausnahme.
Wie immer fiel die Freude über meinen Scherz auch diesmal eher verhalten aus. „Das ist aber schön, dass du anrufst“, verlegte ich mich deshalb auf das bewährte Feld konventioneller Höflichkeit. Wer über echtes Talent zum Standup-Comedien verfügt, dem übermittelt die Welt zur rechten Zeit eindeutige Signale. In meinem Fall war diesbezüglich bisher wenig Aufmunterndes eingegangen, noch nicht mal ein schwaches Hüsteln.
„Ich versuche dich schon seit Wochen zu erreichen. Hab wohl ein Dutzend Mal auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Du rufst wohl nie zurück?“ Glücklicherweise war das Schweigen durch meinen Abstecher ins Touristische schnell erklärt.
„Ach herrje, dann weißt du ja gar nicht was passiert ist“, sagte sie. Nicht die Zetkin-Sache hatte sie verstimmt, offenbar gab es dafür gewichtigere Gründe. Das Unheilschwangere erfasste jetzt auch mich.
„Was ist denn passiert?“
„Wassilij ist tot.“
„Wassilij ist tot?“
„Schon seit einem Monat.“
Der Tod, das letzte große Rätsel. Besonders wenn er derart unvermittelt erscheint, sich jemanden greift, der bei der letzten Begegnung noch so vital war wie Wassilij.
„Das gibt´s doch nicht.“
„Es ist leider wahr.“
Wie kann ein vertrauter Mensch so einfach verschwinden und man davon gänzlich unberührt bleiben? Gerade in meinem Gewerbe kommen da zum Verlust noch quälende Gefühle der Unzulänglichkeit.
„So plötzlich, er war doch nicht krank, hatte er einen Unfall?“
„Eigentlich beides“, erwiderte Klara ziemlich gefasst. Ich dachte an den Altersunterschied und daran, dass Klara die dritte Frau gewesen war, die mir Wassilij in den zwei Jahren unserer Freundschaft als seine Herzallerliebste vorgestellt hatte. Jede hätte seine Tochter sein können, demzufolge den Beziehungen auch nie Dauerhaftigkeit beschieden war. Wassilij war sich dessen bewusst und nahm es sportlich. Sowohl bei der Anbahnung (was zum Teil seinen Erfolg erklärte), als auch bei der Trennung (weshalb ihm die Damen gewöhnlich freundschaftlich verbunden blieben). Jedenfalls erreichten die Gefühle auf beiden Seiten nie wirklich schiffbare Gewässer, versandeten aber auch nicht im Seichten und besaßen dadurch doch noch Tiefe, zumindest eine philosophische.
Klaras Sachlichkeit, in der sie jetzt anfing mir die genauen Umstände von Wassilijs Ableben zu schildern, war wohl eher der zeitlichen Distanz geschuldet als einem Mangel an Zartgefühl. Für sie lag der Schrecken bereits in der Vergangenheit, für mich war er frisch, aber ich war ja auch nur ein guter Bekannter, kein naher Angehöriger, dem man die Dinge schonend beibringen musste.
In einem bestimmten Punkt beruhigten mich ihre Worte sogar. Auch wenn eine Verkettung von tragischen Umständen Wassilijs Tod verursacht hatte, so war offenbar auszuschließen, irgendetwas davon hätte mit mir zu tun. Im Nachhinein fröstelte es mich bei dem Gedanken, Wassilij großer Gefahr ausgesetzt zu haben, indem ich ihn leichtfertig zum Mitwisser meiner Erlebnisse um den Flughafen-Auftrag stempelte. Sowie ich erfahren hatte, Wassilijs Ende habe sich fernab des Reiseverkehrssektors abgespielt, fühlte ich mich trotz der traurigen Nachricht einigermaßen erleichtert.
Folgendes war geschehen: Eines Abends, nach üppigem Mahl, fühlte sich Wassilij sehr unwohl. Als sich sein Zustand verschlechterte, sah sich Klara gezwungen die Ambulanz zu rufen. Die Diagnose lautete akute Blinddarmreizung, weshalb man sich entschloss, ihn sofort in die nächstgelegene Klinik zu verbringen. Wassilij sei zu dem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar gewesen, ansonsten er wohl darauf bestanden hätte, in ein anderes Krankenhaus eingeliefert zu werden. Denn was Klara nicht wusste, in eben jener Anstalt, wohin seine letzte Reise führte, waren in Gestalt dreier Chefärzte seine ärgsten Kritiker und Widersacher am wirken. Ausgerechnet diesen wurde Wassilij also ausgeliefert.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Klara, „du etwa?“
„Nur dass er in gewissen Milieus nicht gerade wohlgelitten war. Er hat manchmal davon gesprochen, aber ich hielt es für einen Scherz oder zumindest übertrieben.“
„Nicht wahr, ich auch. All das Gerede, die seien eifersüchtig auf ihn und seine Erfolge, würden ihn gerne unschädlich machen, das konnte man doch nicht ernst nehmen. Männliches Renommiergehabe, dachte ich.“ Eine Pause entstand in der ich nochmal den lebendigen Wassilij über die Weißkittel herziehen sah.
„Wer rechnet denn mit sowas“, sagte sie in der Zwischenzeit.
Wassilijs Paranoia war eine Sache, die Realität eine andere. Ich muss zugeben, mein Verstand weigerte sich zwischen den Anschuldigungen und seinem Ableben eine Verbindung herzustellen. Selbst wenn er ihnen wie ein Wilderer in ihren ureigensten Jagdgründen vorkam, so würden Mediziner doch nie zu den von Klara angedeuteten Methoden greifen, um sich einer unliebsamen Konkurrenz zu entledigen. Nicht in Deutschland. Wahrscheinlich ging es hier eher um eine psychologische Projektion, als Folge eines tief verwurzelten Schuldkomplexes.
„Mach dir mal keine Vorwürfe“, sagte ich.
Darauf sie: „Die haben ihn kaltlächelnd umgebracht.“
„Zugegeben, bei unserer Apparatemedizin stellt sich so ein Eindruck schon mal ein.“
„Nein, wörtlich. Sie haben ihn umgebracht. Er hat es selbst gesagt.“
Die Operation an sich wäre erfolgreich verlaufen, angesichts des Routineeingriffs auch nicht verwunderlich. Aber dann hätte sich eine Sepsis eingestellt, darauf Verlegung auf die Intensivstation, schließlich Lungenentzündung.
„Aber daran stribt man doch nicht“, warf ich ein.
„Du hast keinen Schimmer. Jährlich sterben Tausende, nicht an den Folgen ihrer Krankheit sondern durch die mangelnde Hygiene in unseren Kliniken. Bei Wassilij wurde natürlich nachgeholfen.“
Es klang nach Schauermärchen, aber ich wurde langsam hellhörig.
„Lässt sich natürlich nicht beweisen. Das übliche Risiko bei Operationen, in einem von hundert Fällen gibt es Komplikationen. Ha! Komplikationen – klingt schöner als Hoppla, wir haben Mist gebaut.“
Mir waren unsere Gespräche über den Tod in wacher Erinnerung. Im Gegensatz zu mir entbehrte für Wassilij dem Thema jegliche Abstraktheit. Er war ihm persönlich begegnet, hatte Gevatter Hein sozusagen mehrfach ins kühlblitzende Auge geblickt, jedesmal wenn sie auf ihren Patroullieflügen in Aghanistan den sogenannten Mujdshahedin begegneten. Wobei die natürlich nichts unversucht ließen, um den Sichtkontakt zu vermeiden. Ihre Anwesenheit bezeugten eher plötzlich heranbrandete Geschosss-Salven als von Turbanen beschattete Augenhöhlen. Jeder, sagte er, der als Mitglied einer Helikopterbesatzung die spätere Phase überstand, als die Gotteskrieger aus den Händen der Ungläubigen zu den M1-Gewehren auch noch Boden-Luft-Raketen erhielten, befand sich hernach in dem festen Glauben, ihn würde ein langes Leben erwarten. Wen einmal eine Stinger verfehlte, mit dem hat es der Tod nicht eilig, der stribt lachend als hochbetagter Mann im Bett, so der allgemeine Tenor unter den davongekommenen Rotarmisten.
„Ja, im Bett ist er gestorben, sogar lachend, soweit behielt er recht. Nur halt nicht gerade hochtbetagt“, parierte Klara meinem Ausflug ins Anektodische.
„Er hat gelacht?“
„Denk nur, die Ironie seines Endes hat ihn amüsiert. Was sind die Götter doch für Sapßvögel, hinter dem großen Perlenvorhang erwartet mich bestimmt eine Sause.“
Komisch, wer die Liebe leicht nimmt, der verfügt auch über die richtige Einstellung zum Tod.
„Richtig gesorgt hat er sich eigentlich nur um seine Kundschaft – seine Patienten“, sagte Klara. „Er hat mir eingeschärft, dir auszurichten, du müsstest seine Arbeit fortsetzen.“
„Ich? Davon verstehe ich nichts.“
„Er hat Aufzeichnung hinterlassen. Eine regelrechte Gebrauchsanleitung.“
„Eine Gebrauchsanleitung zum Heilen? Na, ich weiß nicht.“
„Das war sozusagen sein letzter Wille.“
Ihre Pflicht sei es, mir alles auszuhändigen. Also verabredeten wir uns für den nächsten Tag und beendeten das Gespräch.
Seit ich mich in dieser Stadt niederließ, war ich nie in die Verlegenheit geraten zu einem der Friedhöfe rausfahren zu müssen. Richtig angekommen ist man wohl erst, wenn sich dafür eine Notwendigkeit ergibt. Klara dirigierte mich durch den nachmittäglichen Verkehr und die Fahrt vollzog sich in der typisch heiteren Stimmung, wie sie sich gewöhnlich nur aus traurigen Anlässen so spielerisch leicht entwickelt. Eine Gärtnerei kündigte die Nähe des Bestimmungsortes an.
„Ich sollte vielleicht ein paar Blumen besorgen“, meinte ich.
Sie winkte entschieden ab und wir ließen den Laden links liegen. So weit ich es beurteilen konnte, war es der erste richtig heiße Tag des Jahres. Auf dem weitläufigen Parkplatz nahm mich die Suche nach einem schattigen Plätzchen derart in Beschlag, dass ich darüber den eigentlichen Grund des Besuchs vergaß. Erst als wir ausstiegen erinnerte mich die ungewohnte Zweier-Konstellation wieder daran, dass etwas nicht stimmte. Bislang war diese schlanke Frau für mich ein Fortsatz von Wassilij gewesen. Wo sie war, war auch er nicht weit und auf eine grausame Weise traf das im Moment sogar wieder zu.
Dann das schmiedeiserne Tor zur Begräbnisstätte. Ich finde, nur pietätlose Menschen lassen sich von Friedhöfen einschüchtern. Das sind die, die erfurchtsvoll in Museen die Stimme dämpfen, oder glauben, Fasching wäre lustig. Wem echtes Feingefühl abgeht, für den hält die Welt passende Einrichtungen parat, um ihm über den Mangel hinwegzuhelfen. Auch Gräber sind nur Symbole und es hat nichts mit Verrohung zu tun, wenn man bei ihrem Anblick nicht in Ehrfurcht erstarrt. Trauer ist weder an Ort noch Stunde gebunden, weshalb mich an dem frisch aufgehäuften Erdhügel, zu dem wir schließlich gelangten, zunächst am meisten beschäftigte, dass er über und über mit Gärtnereierzeugnissen bedeckt war.
„Siehst du“, lächelte Klara, „weiteres Grünzeug ist unnötig, der Bedarf hält sich in Grenzen.“
„Oder in Kränzen“, ging ich vor den Gebilden in PKW-Reifengröße in die Knie, um die Aufschriften auf den Bändern lesen zu können.
„Seine Kunden“, erklärte sie.
Dass er einen so umfangreichen Patientenstamm betreut hatte, überraschte mich. Zudem, wie die dankesvollen Worte belegten, einen überaus zufriedenen.
„Das sollten die Quacksalber mal sehen“, sagte ich.
„Hör mir bloß mit denen auf. Bringt die Mafia einen unter die Erde, schicken die wenigstens einen letzten Gruss. Die Ärzteschaft hüllt sich in Schweigen. Mistkerle!“
Ich lachte, obwohl mich die Sache ziemlich wurmte. An Wassilijs Dahinscheiden gab es jetzt nichts mehr zu rütteln. Die Schuldfrage war erst mal zweitrangig. Sich diesbezüglich allzusehr reinzusteigern, nutzte weder Klara noch mir. Also lenkte ich das Augenmerk auf die praktischen Aspekte, die sich aus der Situation ergaben. Begräbniskosten, Auflösung des Hausstands, Erbschaftsfragen, all die unerquicklichen organisatorischen und bürokratischen Begleiterscheinungen des Todes, denen selbst die Hinterbliebenen von Menschen nicht entgehen, die zeitlebens alles daran setzten, ein möglichst unauffälliges Dasein zu fristen. Zuletzt sorgt halt auch noch der Bescheidenste und Zurückhaltenste für einen ziemlichen Wirbel. Da, wie ich erfuhr, keine Verwandten aufzutreiben gewesen seien, hatte sich Klara um alles kümmern müssen.
„Finanziell ist alles geregelt, zum Glück“, beantwortete sie meine Frage, ob irgendwelche Rechnungen offen geblieben wären.
Ich meinte, der Tod verlöre einen Großteil seines Schreckens, würde nur der Verwesungsprozess nicht so viel Zeit für sich beanspruchen. Würden wir uns nach Eintritt des Exitus augenblicklich in Luft auflösen, gäbe es diesen ganzen Totenkult nicht, kurz die Welt wäre ein besserer Ort. Die Vorstellung von Privateigentum entwickelte sich letztlich aus dem Zwang zur Erdbestattung und daraus wiederum all die unseligen Konflikte um vermeintliche Landrechte. Man zieht in den Krieg um Land zu verteidigen, nur weil dort zufälligerwiese unsere Vorfahren verscharrt worden sind. Jedenfalls, schlug ich den Bogen zu meinen Ausgangsgedanken, gruseln wir uns nicht am Tod, sondern lediglich an den Leichen. Wie langweilige Partygäste verderben sie den anderen den Spaß.
Während ich so vor mich hin plapperte, zupfte Klara verwelkte Blumen vom Grab und kicherte über meine abstrusen Ansichten.
„Dann müsste es aber auch eine Instantgeburt geben, ohne vorangegangene Schwangerschaft“, sagte sie, „da es aber nicht so ist, kann man nicht erwarten, dass das Ende unkomplizierter verläuft als der Anfang.“
„Guter Einwand“, erwiderte ich.
Meine Augen lösten sich von der Erdbeule menschlicher Lebenskürze, erfassten den schon in einer ganz anderen Liga der Beständigkeit spielenden Waldsaum und gelangten schließlich zu der, das alles überspannenden Schicht, wo Jahrhunderte als Nanosekunden verticken. Ein einsamer Kondensstreifen zog sich über das makellose Himmelsblau. Vom ausgefransten Ende bis zur silbernen, auf die Sonne zustrebenden Spitze, wirkte er wie der flüchtige Strich unter einer ewig gültigen mathematischen Gleichung. Ich musste an Raoul denken. Für ihn standen an der Tafel, wo mich die kosmische Arithmetik nur in Form blendender Lichtquanten erreichte, womöglich konkrete Zahlen.
„... oder was meinst Du?“
„Äh, was?“
„Den Grabstein suchen wir doch gemeinsam aus, nicht wahr?“
„Claro Chica.“
Ich sah in das Gesicht mit der klobigen Jackie-Onassis-Sonnenbrille.
„Dabei kann es ja nicht bleiben“, deutete sie auf das schlichte Holzkreuz, das in unseren Breiten bestatungstechnisch offenbar zur Erstausstattung gehört.
„Vielleicht fällt dir ja ein passender Grabspruch ein?“
Dann ging sie los, um einem erstarrten Strauß verdorrten Grünzeugs als Bestaterin zu dienen. Ihre Schuhe knirschten über den Kiesweg und ihr Hosenanzug behauptete auch unter frühsommerlichen Lichtverhältnissen sein tiefes Schwarz. Er schien ganz neu und sie verstand ihn zu tragen. Manche Menschen genießen den Vorzug, noch den tristesten Anlass zu ihrem Vorteil ummünzen zu können.
Hierin unterschied sich etwas später das Paar, das uns ungefähr auf der Höhe der modernen Einsegnungshalle, unweit des Ausgangs, entgegenkam. Eine alte Frau, offensichtlich daran gewöhnt, ihr Tempo an das ihrer jungen, an Krücken humpelnden Begleiterin anzupassen. Ein trauriger Anblick, weit erschütternder als die friedvoll in der Sonne liegenden Ruhestätten. Ein garstiger Geselle ist Gevatter Hein, wenn er anfängt mit den Lebenden zu spielen, sie erst quält, bevor er zum Hauptschlag ausholt. Wie ein Kätzchen, das die Maus zwischen den Prankenhieben immer wieder mal etwas entkommen lässt. So gesehen hätte es Wassilij schlechter treffen können. Seinem Ableben war wenigstens keine jahrelange Agonie vorausgegangen.
Oft, wenn unsere Aufmerksamkeit aus der Ferne erregt wird, dauert es nicht lange und auf mysteriöse Weise ergibt sich eine Gelegenheit, Details aus nächster Nähe zu erfahren. So auch hier. Klara verlangsamte den Schritt und ehe ich mich versah, stand sie schon bei den Zweien und tauschte Höflichkeiten aus. Man kannte sich. Und mich kannte man auch.
„Wir sind uns mal im Treppenhaus begegnet“, sagte die alte Frau und die junge lächelte dazu. Ich reichte ersterer die Hand und begriff, es mit Wassilijs Hauswirtin zu tun zu haben. Es macht einen immer etwas verlegen, geben uns Leute zu verstehen, dass wir in ihrer Wirklichkeit eine gewisse Rolle spielen, während man selber doch ziemlich ahnungslos ist.
„Natürlich, ich erinnere mich“, aktivierte ich die Kräfte der Selbstsuggestion.
Sie erwiderte: „Aber bestimmt nicht an meine Tochter.“
Meine Vorstellungskraft hätte mir auch das einreden können, ich war aber froh, bei der Wahrheit bleiben zu können, denn jene, hieß es, habe die Wohnung praktisch nie verlassen.
„Erst seit ein paar Monaten ist sie dazu in der Lage – dank ihres Freundes!“
Die Krücken unter die Achseln geklemmt, schaffte es die Angesprochene ihr dünnes Ärmchen weit genug abzuspreizen, um es wie eine Aufforderung zum Händeschütteln scheinen zu lassen. Wenn Krankheit auf Wohlergehen trifft, obliegt es dem Gesunden, nicht aus der Rolle zu fallen. Mit dem in solchen Situationen üblichen Gestus, dass alles in bester Ordnung sei, brachte ich das Ritual hinter mich. Einem schüchternen Vögelchen gleich, das eben mal seinen Lieblingsast verlassen hat, flatterte ihre Hand nach der flüchtigen Berührung sofort zurück und schloss sich wieder um den Haltegriff der Stange. Dazu war sie da, weniger um einer Begrüßung den letzten Schliff zu verleihen, deshalb auch die Knochigkeit.
„Alle Hoffnung hatten wir schon aufgegeben“, meinte die Hauswirtin und ihre Tochter, als Auslöserin des Kummers, verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen.
„Wären wir nur früher zu ihrem Freund gegangen, nicht wahr Brigitte. Hätten wir nur nicht auf die Ärzte gehört, hätten wir uns nur früher dazu entschlossen.“
Brigitte nickte schicksalsergeben. Von Spezialist zu Spezialist seien sie gereist, hätten ein Vermögen rausgeschmissen, nur um immer wieder mit der Erkenntnis abgespeist zu werden, dass dem Kind nicht zu helfen sei. Beziehungsweise, direkt ausgesprochen habe das keiner.
„Immer dieselben Tests, ja in der Diagnostik ist die Schulmedizin wirklich unschlagbar“, redete sich die Wirtin in Rage. „Die finden auf alle Fälle was und haben auch einen schönen Namen dafür. Aber zugeben, dass sie nicht wissen was zu tun ist, dafür fehlt die Größe. Wäre ja auch unprofessionell, deshalb wird halt Kortison verschrieben.“
Parallelen zu meiner eigenen jüngeren beruflichen Praxis wurden deutlich. Das Problem zu erkennen, dazu war ich fähig gewesen, nicht aber gegen Raoul vorzugehen. Selbst wenn es nur die Symptome bekämpft, in meiner Branche hätte man sich über die Einführung eines dem Kortison vergleichbaren Allheilmittels gefreut.
„Und die ganze Zeit wohnt ein Wunderheiler in meinem Haus ...“
„Eigentlich verstand er sich als Magnetist“, erinnerte ich mich an Wassilijs Visitenkarte.
„Na, bei meiner Brigitte hat er schließlich Wunder vollbracht. Jede kleine Verbesserung ist ein Wunder.“
In der Grotte von Lourdes hatte ich die Krücken der Spontangeheilten hängen sehen. Seiner Krücken nicht mehr zu bedürfen, oder sich aus einem Rollstuhl zu erheben, das war der bildhafte Ausdruck eines Wunders. Davon war dieses Mädchen weit entfernt. Sie hielt sich nur mühsam auf den Beinen und diese, durch das unerwartete Zusammentreffen ausgelöste Zwangspause, machte ihr nicht nur wegen der herunterbrennenden Sonne zu schaffen. Wenn ihre Mutter sich berechtigt glaubte, Brigittes aktuellen Zustand als Wunder zu bezeichnen, wie musste es dann davor um sie bestellt gewesen sein?
„Was ist es denn für eine Krankheit?“ fragte ich ganz automatisch, gleichzeitig wissend, dass mir die Antwort nichts nützen würde. Genauso war es, von dem rasch durch meine Gehirnwindungen schlüpfenden Wortungetüm blieb nur Morbus haften. Morbus Irgendwas.
„Ah ja“, sagte ich und das genügte, um bei der Mutter gewisse Erwartungen zu wecken.
„Kennen Sie vielleicht jemanden, der die Therapie fortsetzen könnte?“ kam sie einen Schritt näher. „Sie haben doch mit denselben Dingen zu tun wie Ihr Freund ...“
Ich wandte mich hilfesuchend an Klara. Aber sie machte es nur schlimmer, indem sie einwarf, Wassilij habe mich auf dem Totenbett als seinen Nachfolger bestimmt. Offenkundig keine wirkliche Neuigkeit für die Wirtin. Schon wurde mir angetragen, ich solle doch in die verwaiste Wohnung einziehen. Die sei, wie ich ja wüsste, sehr bequem, die Miete unverhältnismäßig günstig und ohnehin noch auf Monate hinaus bezahlt.
Typisch Wassilij und seine auf Bestandswahrung bedachte Lebensplanung. Um nur bloß nie in wieder in eine wie auch immer geartete Knappheitssituation zu geraten, hatte er Reis, Dosennahrung und sogar Trockenspiritus gehortet und auch dafür gesorgt, dass ihm obdachmäßig nie der Rausschmiss aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses drohte. Eine Haltung, die bei unsicheren Verhältnissenen entronnenen Menschen häufig anzutreffen ist. Mich umgab allerdings zeitlebens der Überfluss, weshalb bei meinen Lebenszielen das Streben nach perfekter Vorratshaltung nicht allerhöchste Priorität genießt.
„Sie finden bestimmt Ersatz. Ich werde mich mal umhören“, wollte ich mich auf nichts einlassen. Verständnisvolles Nicken und dazu Klaras Lächeln. Der ziert sich nur, schien es auszudrücken.
Die Wirtin sagte, ihrer Tochter täte es gut das Grab von Wassilij zu besuchen, sei der Weg dorthin auch noch so beschwerlich. Und dann: „Schauen Sie doch mal bei uns herein, Sie und das Fräulein Klara.“
Das versprach ich, worauf man auseinander ging. Einer sich um ihr krankes Kind kümmernden Frau kann man nichts abschlagen.
Den Rest der Strecke verbrachten wir schweigend. Als ob die dahinter stehenden Bäume die Schattendecke näher an sich herangezogen hätten, war der Wagen quer zu seiner Längsachse in einen dunklen und einen gleißend hellen Teil zerschnitten. Ich schloss Klara die Türe auf und sie sagte: „So still?“
Meine Gedanken kreisten um Wassilijs seltsames Sicherheitsbedürfnis. Insbesondere um den darin angelegten Widerspruch, was seine Partnerwahl betraf. Während ihm sonst an einer langfristigen Versorgung gelegen war, hatte er seine Verhältnisse so angelegt, dass sie bezogen auf den Faktor Zeit die angestrebte Stabilität vermissen ließen. Indem er die Nähe zu deutlich jüngeren Frauen suchte, nahm er billigend in Kauf, früher oder später verlassen zu werden. Dafür sprach die hohe Fluktuation. Ein komplett gefahrloses Leben, so mein Schluss, stellt keinen zufrieden. Irgendetwas in uns verlangt nach dem Risiko. Davon existieren ganze Branchen. Verwaltungsangestellte, denen ein Leben ohne Bausparvertrag unerträglich scheint, entwickeln ein Faible für Extremsportarten, eigentlich der Sanierung von Asbestbauten verschriebene Architekten rasen mit 250 über die Autobahn und Wassilij suchte den Kitzel der Gefahr in asymmetrischen Liebesbeziehungen, anstatt sich an jemanden zu binden, der ihm in Alter, Erfahrungsschatz und Interessenslage entsprach. Um die Theorie nicht zu gefährden, unterließ ich es Klara diesbezüglich einzuweihen.
„Apropos schweigsam“, sagte ich stattdessen, „das kranke Mädchen war auch ziemlich schweigsam.“
„Sie spricht nicht.“
Ich startete den Motor und wir fuhren los.
„Oh, sie kann nicht sprechen?“
„Doch, aber es fällt ihr schwer. Bevor sich Wassilij ihrer annahm, ernährte sie sich ausschließlich von Suppe. Die Krankheit bewirkt eine Verhärtung des Gewebes, also auch der Speißeröhre. Ein schrecklich schleichender Prozess, der Körper erstarrt förmlich zum Panzer.“
„Furchtbar“, wunderte ich mich wieder einmal über Gottes Ideenreichtum.
„Als er sie das erste Mal sah, sei sie praktisch bewegungsunfähig gewesen. Sie lag in ihrem Bett und roch nach Tomatensuppe.“
„Wenigstens musste er für diesen Krankenbesuch keine weiten Wege gehen.“
„Ja, nur ein Stockwerk tiefer.“
Plötzlich wurde mir bewusst, wie oft ich in Wassilijs Wohnung saß, wie wir uns unterhielten, scherzten und es auch mal etwas lauter wurden und zur selben Zeit, in der Wohnung darunter, vegetierte jemand im Kerker seines eigenen Körpers. Und dazu dudelte der Plattenspieler. Mit Unbehagen dachte ich an das knirschende Parkett, wenn ich spätnachts zur Toilette ging um dem reichlichen Tee-, Wein- oder Wodkagenuss Tribut zu zollen.
„Ich hatte ja keine Ahnung“, meinte ich.
„Aber jetzt, du hast es selber gesehen, kann sie wieder gehen, nimmt feste Nahrung zu sich und das alles nach noch nicht einmal einem Jahr.“
„Bei der Vorgeschichte wirklich erstaunlich.“
Zwischenzeitlich hätte Wassilij eine ganze Reihe weiterer Morbus-Irgendwas-Patienten betreut, sogar welche aus dem Ausland, alle mit Erfolg.
„Nun“, sagte ich, „der Placeboeffekt liegt gewöhnlich bei 30 Prozent. Abhängig vom Therapeuten werden Erfolgsquoten von bis zu 70 Prozent gemeldet.“
„Wie auch immer“, machte Klara eine wegwerfende Bewegung, „um die armen Schweine tut´s mir fast am meisten leid. Er hat ihnen geholfen, darauf kommt´s an. Wasslij hinterlässt wirklich eine Lücke, kein Schmu, ganz konkret. Die seinen Tod zu verantworten haben, haben mehr als nur einen umgebracht.“
„Hm, ja, sieht fast so aus ...“
Im anbrechenden Berufsverkehr kamen wir nur langsam voran. Klara drehte sich verstimmt zum heruntergelassenen Seitenfenster. Sie schlug die Beine übereinander und schaute hinaus auf den im Schritttempo vorbeiziehenden Bretterzaun einer Baustelle. Auf der ganzen Länge war der mit Plakaten bevorstehender oder bereits verflossener Veranstaltungen beklebt. Wassilij hätte in dem schrillen Angebot wahrscheinlich kaum Vertrautes entdeckt, ich konnte wenigstens mit einigen der beworbenen Popgruppen etwas anfangen, auch wenn sie mich nicht lockten. Bei den Hinweisen auf die DJ-Großereignisse musste ich mich hingegen ebenfalls komplett geschlagen geben.
Als ich am darauffolgenden Tag an seiner Wohnung klingelte, öffnete mir Klara. Meine Befürchtungen, die Wirtin sei zugegen, erwiesen sich als gegenstandslos.
„Ich habe dir die Papiere rausgelegt“, sagte sie und wir gingen ins Arbeitszimmer oder, wie ich seit gestern wusste, in den Behandlungsraum. Nichts hatte sich verändert. Alles stand an seinem vertrauten Platz. Hinter dem Plattenspieler klemmte wie gewohnt das Cover der Platte, die zuletzt gespielt worden war. Ein Streichquartett von Schubert. So kann es gehen. Eine alltägliche Handlung, durch die endgültige Abwesenheit des Handelnden zur ewigen Abgeschlossenheit erklärt, so wenig umkehrbar wie ein schlechter Zug im Schach. Mir grauste es, mich in den Sessel zu setzen, der aussah, als hätte sich gerade jemand aus ihm erhoben. Sein rechtmäßiger Besitzer hatte in den Polstern das Profil seiner Rückfront hinterlassen.
Also beugte ich mich über den Schreibtisch, stützte mich auf und betrachtete den Stapel mit den Computerausdrucken. Das oberste Blatt hielt ich zunächst für eine Testseite, so wie sie Drucker ausspucken, wenn man sie erstmals in Betrieb nimmt. Aber dann begriff ich, was es mit den kryptischen Buchstabenkolonnen auf sich hatte.
„Ist das etwa russisch?“
„Ja, der Bericht ist in kyrillisch abgefasst.“
„Das kann ich nicht lesen.“
„Ich werde ihn dir übersetzen.“
Meinen überraschten Blick beantwortete der Hinweis, dass sie des Russischen mächtig sei.
„Schon vergessen, ich studiere Slavistik.“
Damit löste sich auch das Rätsel um die Rekrutierung seiner Geliebten. Und warum sie stets Studentinnen gewesen waren. Wassilij hatte sie an der Uni aufgetrieben, mittels Aushang am schwarzen Brett der Jobgesuche. Wie weit es sich hier um einen Vorwand handelte, oder ob er tatsächlich so dringend Übersetzerinnen benötigte, ließ sich nicht bestimmen.
„Slavistik. Da herrscht wohl eine hohe Frauenquote?“
„Kann sein“, sagte sie. Eine männliche Hilfskraft hatte Wassilij meines Wissens jedenfalls nie beschäftigt. So ein Schlitzohr. Ich betrachtete das Konvolut und es erschien mir gar nicht mal so abwegig, es könnte eventuell aus wenig ehrenhaften Motiven entstanden sein. Eros ist eine kaum zu überschätzende Triebkraft.
„Da steht alles drin, Therapiemethoden, die dazugehörigen Patientenberichte, einfach alles. Vielleicht auch aus Diskretionsgründen russisch.“
Ich blätterte durch die Seiten und ein Zettel fiel heraus, darauf handschriftlich drei Namen, auch für mich lesbar. Hinter einem befand sich ein Ausrufezeichen.
„Das hat er auf dem Totenbett geschrieben“, sagte sie.
„Sind das auch Patienten?“
„Nein, das sind die Namen der drei Ärzte, die seinen Tod zu verantworten haben. Der mit dem Ausrufezeichen hat ihn operiert.“
Jetzt identifizierte ich das ulkige Schriftbild als das von Wassilij. Auf einer Urlaubspostkarte war ich ihm zuletzt begegnet. Großbuchstaben, nicht flüssig geschrieben, sondern wie gemalt.
Irgendwie fühlte ich mich wie ferngelenkt, als ich den Zettel faltete und in die Innentasche meines Jackets steckte.
Später saßen wir in einer Pizzeria und sprachen über die Abwicklung von Wassilijs Hausstand. Ich entnahm ihren Worten, dass sie als Haupterbin eingesetzt worden war. Für die vorhandenen Geldmittel gab es also einen Abnehmer und das konnte ja wohl nur heißen, dass sich dieser auch um den ganzen Rest zu kümmern hatte.
„Nimm dir was du willst. Bücher, Platten, Möbel, Hausrat – musst es nur sagen“, meinte sie. Ich lehnte dankend ab.
„Die Bücher kann ich nicht lesen, für Schallplatten habe ich lange schon keine Verwendung mehr und überhaupt, aus zweiter Hand zu leben macht nur dann Spaß, wenn einem der Vorbesitzer unbekannt ist.“
Darauf legte sie die Karten auf den Tisch.
„Warum übernimmst du nicht einfach die Wohnung? Wie du weißt, billig und gut“
Ich hatte schon länger den Verdacht, dass es darauf hinauslaufen sollte.
„Ich bin mit meiner ganz zufrieden. Neubau, alles hübsch modern und technisch auf dem neusten Stand.“
Der Gedanke an dünne Wände, war mir allerdings aus mehr als nur Gründen der schwachen Wärmedämmung unerträglich. Wenn ich bei mir die Klosettspülung rauschen hörte, dann war es die eigene. Anteil zu haben an den Darmentleerungsgewohnheiten meiner Nachbarn, oder mich mit ihrem Musikgeschmack auseinandersetzen zu müssen, dies zu vermeiden, stand bei meiner Strategie der Wohnraumbeschaffung an oberster Stelle. Darin war ich pragmatisch. Wer vom Charme des Altbaus spricht, hat entweder exhibitionistische Neigungen, ist Bafög-Empfänger oder dem gebricht es schlicht an Lebenserfahrung.
„Du kannst es dir ja noch überlegen“, spielte sie auf den Umstand an, dass Wassilijs Domizil, dank großzügig geleisteter Vorauszahlungen, noch weitere drei Monate Bestand hatte.
„Zuerst übersetze ich dir den Text“, fügte sie hinzu, „vielleicht änderst du darauf deine Meinung.“
Das hielt ich zwar für unwahrscheinlich, aber damit hatte sich das Thema wenigstens erst mal erledigt. Das Essem kam und wir unterhielten uns über andere Dinge. Zum Beispiel über den kleinen Jungen, der jetzt schon zum wiederholten Mal bei uns aufkreuzte, über die Tischplatte lugte und große Augen machte. Immer wenn er sich anschickte, nach dem Feuerzeug oder der Zigarettenschachtel zu grabschen, ertönte in meinem Rücken der Ruf nach einem gewissen Linus. Danach waren wir für ein paar Minuten der Gegenwart des Kleinen enthoben, bis sich der Blondschopf erneut in Szene setzte.
Als es wieder hieß, „Linus, komm her!“, konnte ich nicht länger widerstehen, ich drehte mich herum. Sie saß ein paar Tische weiter, gab dem Kellner gerade ihre Bestellung auf und ich erkannte in der elegant gekleideten Person die Frau von Herrn P.
Unsere Blicke kreuzten sich, sie machte eine entschuldigende Geste, schaute kurz weg und richtete dann ihre Augen wieder auf mich. Wir waren uns einmal begegnet, auf der Straße und Herr P. hatte gleich ein, seinem Naturell gemäßes Tamtam angestimmt. Linus, obzwar noch im Kinderwagen, besaß schon damals alle Anzeichen eines äußerst lebhaften Kindes.
Jegliches Interesse an meiner Pizza war verflogen. Ich entschuldigte mich bei Klara und bahnte mir den Weg zu meiner Bekannten.
„Na, so ein Zufall“, schien sie sich über unser Wiedersehen zu freuen. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden und gab meiner Verwunderung Ausdruck, wie groß der Filius in der Zwischenzeit geworden sei. Die Antwort fiel ebenso unorginell aus.
„An den Kindern merkt man, wie die Zeit vergeht.“
„Und wie geht´s dem Herrn Gemahl?“
Neuerliches Herumtollen des Knaben lenkte sie ab.
„Was sagten Sie?“
„Ich erkundigte mich nach ihrem Mann. Vor ungefähr sechs Wochen führte ich ein interessantes Gespräch mit ihm, am Flughafen.“
„Ach so, Ludwig. Dem geht´s gut“, kriegte sie ihr Kind am Schlafittchen zu fassen, worauf sie hinzufügte, „vermute ich jedenfalls.“
„Ja, wissen Sie es denn nicht?“
Wieder beanspruchte die Erziehungsarbeit ihre ganze Aufmerksamkeit.
„Linus, jetzt setzt dich doch mal hin. Schau, da kommt deine Fanta.“ Der Kellner spazierte heran, stellte grinsend die Getränke ab und verschwand sogleich. Wahrscheinlich um nicht mitansehen zu müssen, wie Linus mit seinen Straßenschuhen auf die Polster stieg. Sobald ihm das gelungen war, ergriffen beide Händchen das Glas und führten es nicht eben sicher zum Mund. Frau P. und ich beobachteten gespannt, ob es gutgehen würde. Als das Kind mit gierigen Schlucken trank, dabei reichlich Limonade über den Tisch verschüttete, fasste ich nach.
„Meinen Sie, ich könnte ihn mal sprechen? Wann ist er denn am besten zu erreichen, vielleicht abends?“
Ohne lange zu überlegen sagte sie, dass wäre im Augenblick schlecht möglich, denn Ludwig sei verreist.
„Oh, schon lange?“
„Ungefähr seit vier Wochen ... Linus, trink nicht alles aus, sonst hast du nachher keinen Appetit.“
„Wohin ist der denn gereist?“
„Ach, das weiß ich nicht. Irgendwas Geschäftliches.“
„Und noch immer nicht zurück?“
Sie lächelte mich unverständig an, als wären meine Fragen völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
„Hat halt mit seiner neuen Arbeit zu tun, was weiß ich“, sagte sie irgendwie angeödet.
„Ja, und vermissen Sie ihn denn nicht?“
„Ihn vermissen“, lachte sie, „aber warum denn. Früher oder später findet der sich schon wieder ein.“
Mein Amulett trug ich heute nicht. Seit dem beklemmenden Erlebnis mit Raoul überließ ich es gerne dem Gewahrsam meines Wandtresors. Hätte ich es jetzt umgehabt, die Temperatursensoren auf meinem Brustbein hätten was tun gekriegt.
Dann bekamen ihre Augen einen verbindlichen Ausdruck, ich dachte, gleich näheres zu Herrn P. zu erfahren, aber es hieß nur: „Ach, könnten Sie kurz auf den Kleinen aufpassen?“
„Bin kein Kleiner!“ bewies Linus, trotz unbändigen Dursts, regen Anteil an seiner Umwelt zu nehmen.
„Natürlich bist du kein Kleiner“, zwinkerte mir Frau P. komplizenhaft zu. „Wären Sie so freundlich und schauen nach unserem Großen, während ich auf die Toilette gehe“, erhob sie sich und ich willigte freudig ein. Ihr Abgang kam mir gelegen.
Ich nahm bei Linus Platz und wartete bis Frau P. außer Hörweite war. Der machte unterdessen Faxen, patschte mit seinen Händen in den Limonadepfützen herum und ich lächelte dazu, wie zu den frühreifen Artikulationen eines Wunderkindes.
„Sag mal ...“
Er zeigte mir seine klebrigen Handflächen.
„Sag mal, wo ist denn dein Papa hin?“
„Papa ist weg ... so, ätsch!“ wischte er seine Finger an meinem Ärmelstoff ab. Ich dachte an die Chemische Reinigung in meiner Straße und blieb gelassen.
„Schön, dein Papa ist also weg. Aber dann vermisst du ihn doch bestimmt ganz arg?“
Keine Runzel verunzierte die glatte Kinderstirn, obwohl sich dahinter gerade ein kleines Gehirn der Datenverarbeitung stellte.
„Nö“, fiel das Ergebnis bündig aus.
„Er fehlt dir also nicht?“
Anstatt zu antworten drückte er sich die Nase himmelwärts, während die Finger der anderen Hand an seinen Mundwinkeln zerrten.
„Guck mal, kannst du das auch?“
Ich tat ihm den Gefallen und er bekam einen Lachkrampf. So vergingen quälend lange Minuten in denen sich mir ansatzweise die Schwierigkeiten vermittelten, was es heißt, ein Kind bei Laune zu halten.
Endlich kehrte Frau P. zurück. Sie hatte eines der ausliegenden Gratis-Exemplare des populärsten Stadtmagazins dabei.
„Ist er brav gewesen?“
„Natürlich, ein reizendes Kind.“ Meine Einschätzung verstimmte den Knaben. Für einen Vierjährigen gab es Ertrebenswerteres als sich den Idealvorstellungen von tugendhaftem Benehmen anzunähern. Also erinnerte er sich daran, welches Verhalten so eine kleine Rabauke der Welt schuldete, sprang auf und flitzte davon.
„Na, so sind sie halt.“
„Beneidenswert, diese Energie“, erhob ich mich mit einem Blick zu Linus, dessen Agilität dem Vergleich mit den instabilen Teilen eines Uranatoms durchaus gewachsen war. Derweil setzte sich Frau P. und schlug das Magazin auf.
„Also, dann geh ich mal wieder“, sagte ich, „und grüßen Sie mir Ihren Mann.“
„Ja, hat mich gefreut und danke, dass Sie auf Linus aufgepasst haben.“
Im Weggehen konnte ich erkennen, wie sie im hinteren Teil des Magazins, wo sich die Klein- und Kontaktanzeigen befanden, zu schmökern begann.
Nachdem ich Klara an der Uni abgesetzt hatte fuhr ich nach Hause. Mein Wohnblock, nichts als Beton, Stahl und Glas, wirkte trutzig und abweisend, obwohl ein Architekt dafür wahrscheinlich den Begriff sachliche Eleganz gewählt hätte. Unstrittig war aber, er war neu und unkontaminiert. Keine Spuren jahrelangen Gebrauchs, keine knirschenden Dielen und keine Handläufe, die sich unter der Benutzung durch Generationen von Treppensteigern abgeschliffen hatten. Außerdem dominierte hier immer noch der frische Geruch nach Farbe und Baumaterial die Treppenhausluft, in kaum abgeschwächter Konzentration, wie ich ihn beim Erstbesichtigungstermin erschnuppert hatte. Das unkontrollierte Einsickern von Küchengerüchen zu unterbinden, das hatte der Mensch also gelernt. Verwunderlich nur, warum dieser zivilisatorische Durchbruch in den Medien so selten gewürdigt wird.
Wahrscheinlich kann nur ein Parapsychologe den Wert eines Erstbezugs ermessen. Eine jungfräuliche Umgebung vorzufinden, unbelastet von der Tragik vergangener Lebensläufe, bedeutet dem, der über esoterische Sensibilität verfügt, das höchste Glück. Vergleichbar vielleicht mit dem Vergnügen der Entgegennahme eines brandneuen Autos in Wolfsburg. Wer einen Gebrauchtwagen ersteht, ist ebenso dazu verurteilt fremde Sünden abzubüßen, wie der x-te Mieter einer altgedienten Wohnung, nur dass sich da die schlechten Gewohnheiten der Vorbesitzer nicht durch den Einbau einer neuen Kupplung ausmerzen lassen.
Klara wollte bis nächste Woche die Übersetzungsarbeit erledigt haben. Bis dahin verordnete ich meinem Gedenken an Wassilij eine Zwangspause. Für morgen Nachmittag sah mein Kalender einen Kundentermin vor. Indem ich erst mal ein ausführliches Horoskop erstellte, begannen die Vorbereitungen auf den Fall. Der arme Kerl wies reichlich Blockaden im dritten Haus auf, besaß dafür aber zum Ausgleich eine äußerst günstige Venus-Konjugation. Sein regelmäßiges geschäftliches Scheitern hatte ihn zu mir geführt. Man musste ihm irgendwie vermitteln, dass – so wie die Dinge lagen - er kein geborener Geschäftsmann war, wofür ihn aber seine natürliche Attraktivität für das andere Geschlecht ausreichend entschädigen sollte. Ihm würde eine Änderung seiner Prioritäten helfen, eine Korrektur seines Selbstbildes. Endlich mal wieder ein Auftrag nach meinem Geschmack, eine Aufgabe, an deren Ende ein Erfolgserlebnis stehen würde.
Eine Weile schaffte ich es die Konzentration aufrecht zu halten, dann mit zunehmender Ermüdung, erwischte ich mich beim neuerlichen Durchspielen der Erlebnisse aus der Pizzeria. Wie ich mich auch bemühte, der Flughafen ließ mich nicht los. Frau P., die sich nicht fragt, wo ihr Mann abgeblieben ist, das Kind, das seinen Vater nicht vermisst. Ich war emotional nicht annähernd so involviert, eigentlich war mir Herr P. sogar regelrecht lästig gewesen, aber jetzt, wo er so unerklärlich und radikal verschwunden war, fühlte ich mich ihm irgendwie verbunden. Auch wenn er nur eine kleine Rolle in meiner Lebenwirklichkeit gespielt hatte, bedeutete sein Abgang einen Verlust mit dem ich mich instinktiv nicht abfinden wollte. Mein Sinn für Gerechtigkeit trieb mich an und natürlich auch ein latenter Schuldkomplex. Er war das Opfer eines Verbrechens, das war klar. Des perfekten Verbrechens, denn die mittelbar Geschädigten zeigten keine Neigung Anzeige zu erstatten. Was rief bei ihnen diese Gleichgültigkeit hervor?
Wir alle schauen gerne weg, wenn das Unrecht sein hässliches Haupt erhebt, aber man empfindet doch Missbehagen dabei. Davon hatte es bei Frau P. nicht die geringsten Anzeichen gegeben. Sie hatte dieselbe Unberührtheit ausgestrahlt, wie damals Hartmann und Konsorten, als ich in ihrer Gesellschaft mein Befremden über die ausbleibende Empörung zu dem Verlust an Menschen artikulierte.
„Der komplette Vorstand eines DAX-Unternehmens ist verschwunden und niemand vermisst die?“
„Nein, warum auch? Die haben doch längst Ersatz“, hatten die Herren geantwortet, als ob sie unter Drogen stünden. Und das taten sie auch. Raoul war der Giftmischer und er brauchte nicht mal ein aufwändiges Verteilernetz um den Stoff an den Mann zu bringen. Ihm reichten offensichtlich die Mittel der Telepathie.
Aber wenn er so mächtig war, weshalb blieb ich dann vom bösen Zauber verschont? Schützte mich etwa eine natürliche Firewall, eine aus hochstehenden Moralbegriffen erwachsene Immunität vor des Dämonen zersetzendem Einfluss? Ich bedachte, wie mich ein Scheck, von jedem Ministerialbeamten für Bestechungszwecke als zu mickrig zurückgewiesen, gekauft hatte und musste mir eingestehen, dass es mit meiner vermeintlichen Tugenhaftigkeit doch nicht so weit her war. Daran lag es nicht, dass sich in mir alles weigerte die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen.
Womöglich war ich einfach nicht als Adressat des kollektiven Vergessens und des Weitermachens, als wäre nichts geschehen, vorgesehen. Das war´s, mein Name stand einfach nicht auf Raouls Verteiler. Wenn er überhaupt irgendwo in seinem teuflischen Intrigenspiel auftauchte, dann auf der Liste der Mitwisser und Komplizen. Kriminelle narzistische Persönlichkeiten, wie Raoul, neigen zu diesem merkwürdigen Bekennertum. Ein Verbrechen ist auch nur eine Leistung und jeder Leistung wohnt der Wunsch nach Beifall und Anerkennung inne. Vormals unfreiwilliger Helfer und kurzeitiger Gegener, erwartete Raoul nun von mir also, dass ich mich einreihte in den erlesenen Zirkel seiner Claqueure. Und komisch, ich spürte eine große Anziehungskraft von dieser Rolle auf mich ausgehen.
Was mich aber nicht hinderte, den Abend vor dem Fernseher ausklingen lassen zu wollen. Seit meiner Rückkehr aus den Ferien hatte ich mich nicht um das aktuelle politische Tagesgeschehen gekümmert, höchste Zeit das Versäumte nachzuholen. Hierzulande haben sich die Medien scheinbar darauf verständigt, Themen und Probleme sequentiell und unisono abzuhandeln (anreißen beschreibt diesen oberflächlichen und nervösen Modus des Umgangs mit Nachrichten natürlich besser). Irgendeine graue Eminenz hebt etwas auf die Agenda und danach geistert der Topos durch alle Redaktionsstuben, bis etwa zwei Wochen später eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird.
Ich wechselte die Kanäle, ein Bild der Vielfalt bot sich mir dadurch nicht. In den zahlreichen Gesprächsrunden ging´s stets um dasselbe. Ich weiß schon gar nicht mehr um was, wahrscheinlich Jugendkriminalität, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, oder alles drei zugleich. Ein gebetsmühlenartiger Austausch ewig gleicher Argumente durch ewig gleiche Akteure. Wir kennen sie alle, diese mediengeilen Politiker, Journalisten und Vertreter irgendwelcher Interessensverbände, ihre Gesichter, Runzeln, Idiome und Frisuren sind uns vertrauter, als die unserer nächsten Angehörigen. Amüsiert nahm ich zur Kenntnis, dass einer aus diesem Heer der gewerbsmäßigen Dampfplauderer seine gekünstelte Empörung zeitgleich auf zwei verschiedenen Programme unters Volk brachte. Entweder werden alle Talkshows in ein und derselben Anstalt produziert, dachte ich, oder diese Typen jetten wie wahnsinnig durchs Land um dieses Wunder an Omnipräsenz Wirklichkeit werden zu lassen.
Nicht von ungefähr liebäugelte ich schon mit dem einzigen Knopf, den wir einer Gesellschaft à la Orwell voraushaben, dem Auschaltknopf, als mich ein sonderbarer Verdacht anhauchte. Vielleicht hatte mich der Begriff des Herumjettens darauf gebracht, dass sich so plötzlich aller Überdruss an dem drögen Geschehen in der Flimmerkiste verflüchtigte. Kurzum, was mich auf so stimulierende Weise irritierte war: Ihn gab es nicht mehr, er war nicht mehr mit von der Partie. Wenn ich hier ein Personalpronomen verwende, dann hat es nichts mit Diskretion zu tun, ich komme einfach nicht auf den Namen jenes redseligen Politikers, der noch, ehe ich meine Auszeit antrat, so obligatorisch zur personellen Grundausstattung fast jeder Gesprächsrunde gehörte wie das Sendersignet im oberen Winkel des Bildschirms. Wie oft hatte ich ihn gesehen, wie sattsam gewöhnt war ich an seine, im Tonfall der rheinischen Frohnatur gehaltene Rhetorik, an seine gönnerhafte Jovialität, die nur schwer zu ertragen war, besonders auf vollen Magen. Mir schien, mit jedem grauen Haar, das seinen ansonsten noch braunen Haarschopf durchzog, Brüderschaft getrunken zu haben, so geläufig war mir sein Anblick.
Aber jetzt, wo war dieser Dauergast nur abgeblieben? Sie kennen ihn, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte (und immer noch nicht einfallen will), Sie kennen ihn bestimmt. Sie könnten auf jeder Polizeiwache eine Personenbeschreibung von ihm abliefern, die noch den langgedientesten Kriminaler in höchstes Erstaunen versetzen würde.
Es ging gegen Mitternacht und auf vier Kanälen wurde aufgeregt diskutiert, stets ohne seine Beteiligung - das war doch schlechterdings unmöglich. Statt seiner, vertraten irgendwelche Milchgesichter die konservative Sache, völlige Novizen, geistig unbeleckt, stilistisch hölzern. Na ja, jeder ist mal unabkömmlich, vielleicht hatte mein Mann gerade besseres zu tun. Vielleicht veranstalteten zeitgleich irgendwelche Lobbyisten einen Empfang, an den er durch strikte Teilnahmepflicht gebunden war.
In den folgenden Tagen konnte ich das Abendprogramm im Fernsehen kaum abwarten. Auf allen Sendern hielt ich nach ihm Ausschau, allein er glänzte durch Abwesenheit. Er war so gründlich vom Antlitz der Medienwelt getilgt, als ob es ihn nie gegeben hätte. Und niemand, der ihn vermisste. Die Damen und Herren Moderatoren richteten ihre Fragen ungerührt an die an seine Stelle gerückten Frischschwafler, keine Silbe erhellte das Rätsel um diesen abrupten Besetzungswechsel. Bis auf sein Fehlen war alles wie gewohnt. Auch die Stoßrichtung der Redebeiträge. Inhaltlich hinterließ sein Abgang keine Lücke.
Und dann traf mich der Blitz der Erkenntnis. Ging es mir etwa anders? Konnte ich, nach reichlichem Erforschen meines Gewissens, ernstlich behaupten, diesen Herrn Politiker zu vermissen? Nein, ehrlich gesagt, war dem absolut nicht so. Weder empfand ich Bedauern, noch Euphorie, sein Schicksal war mir im Grunde völlig egal. Mit seinem Fall verband mich lediglich ein rein akademisches Interesse, so wie sich ein Zehntklässler kurzfristig für die Lösung einer zu anspruchsvollen mathematische Aufgabe interessiert, ehe er einsieht, dass er dem Stoff der Oberstufe noch nicht gewachsen ist.
Frau P., mit ihrem wegwerfenden Achselzucken, der gleichgültige Hartmann und die Direktoren, all das war für mich mit einemmal nachvollziehbar, zumindest auf einer theoretischen Ebene. Ich stellte mir den ehemaligen Dauergast vor, wie er die Gangway emporsteigt, im Kreise der anderen, ebenfalls zum Freiflug geladenen Honoratioren, wie er sich freut und wie ihm gar nichts verdächtig vorkommt, weil er derartige Vorzugsbehandlung erwartet, insgeheim sogar glaubt, sie würde ihm von Rechts wegen zustehen. Und schließlich das Flugzeug, das sich zusammen mit seinem zerbröckelnden Kondensstreifen auf Nimmerwiedersehen im Horizont verliert. Wieder ein Personalproblem gelöst, wieder ein Stuhl freigeworden, auf dem sich jene einquartieren, auf deren Initiative der Trip zustande kam. Zufriedene Kunden von Rauols besonderem Müllbeseitigungsunternehmen.
Raoul, dachte ich, du bist wirklich ein Hund. Aber ich lächelte dabei. Wie gnädig von dir, deine Flugreisen ohne Wiederkehr so anzulegen, dass den Zurückgebliebenen der Frieden des Vergessens geschenkt wird. Wenn du in der Lage bist, zielgerichtet und fallbezogen in des Menschen Geist, sowohl individuell als auch kollektiv, allumfassende Gleichgültigkeit einzupflanzen, dann gebührt dir wirklich Anerkennung. In moralischer Hinsicht blieb es ein Verbrechen, doch die dabei angewandte psychokinetische Expertise verdiente wahrlich das Prädikat epochal.
Frohgemut und unbelastet überantwortete ich mich wieder dem Fernsehprogramm. Ich fühlte die Trauer um Wassilij, der mir wirklich fehlte, aber gleichzeitig freute es mich, für den dem Bewusstsein der Öffentlichkeit entschlüpften Kampfschwätzer nicht dasselbe zu empfinden.
Nach zweimaligem Ertönen des Klingelzeichens wurde abgenommen. Ich nannte meinen Namen und wen ich zu sprechen wünschte. Der Mann von der Flughafenrezeption fragte noch einmal nach, ich wiederholte mein Sprüchlein und wurde durchgestellt. Zwangsweise lauschte ich den Klängen von El Condor passar, in einer Fassung, bei der jeder Hifi-Adept sofort Reißaus genommen hätte.
„New Cargo Solutions, was können wir für Sie tun?“ fand der zweifelhafte Musikgenuss ein abruptes Ende.
„Ist Herr Raoul zu sprechen?“
„Hm, wer möchte ihn denn sprechen?“ erkundigte sich die ziemlich bestimmt klingende Frauensperson weiter.
„Sagen sie ihm einfach, der Mann mit dem Amulett.“
„Der Mann mit dem Amulett?“
„Jawohl.“
„Einen kleinen Moment bitte, ich frag mal nach.“
„Vielen Dank.“
Ich grinste, obwohl sich der krächzende Condor wieder in die Lüfte hob. Raouls Vorzimmerdame schien bereits über einige Routine zu verfügen. Merkwürdige Anrufer mit noch merkwürdigeren Anliegen konnten bei einem solchen Vorgesetzten nicht ausbleiben. Dann, nach dem x-ten Refrain, eine sonore Bassstimme.
„Hola, hombre! Que tal?“
Mein Magen verkrampfte sich, der Puls hämmerte mir in den Ohren, trotz der freundlichen Worten.
„Danke gut. Ihnen hoffentlich auch.“
„Kann nicht klagen.“
„Ähm ...“
Der Schalldruck an meinem Ohr verstärkte sich: „Das soll doch wohl kein fernmündlicher Exorzismusversuch werden?“
Ich spürte wie mir der Schweiß aus den Achselhöhlen rieselte und beeilte mich den Verdacht zu zerstreuen: „Nein, nein, der christliche Mystizismus wird ohnehin überschätzt.“
„Ganz meine Meinung.“ Er lachte und ich begann mich zu entspannen.
Meinem Räuspern folgte ein kleinmütiger Appell: „Sagten Sie nicht, wir seien Freunde?“
„Si, nosotros estan amigos.”
„Ich wende mich als Freund an Sie, mit einem Anliegen.“
„Ich soll Ihnen also helfen, natürlich, warum nicht. Brauchen Sie professionellen Rat, für einen Ihrer Fälle?“
„Nein, es geht um eine rein private Angelegenheit. Um es kurz zu machen, ich möchte die Dienste Ihrer Gesellschaft in Anspruch nehmen.“
„Sie wollen Kunde werden?“
„Falls es möglich ist.“
„O lala! Was wissen Sie denn von unserem Geschäft?“
„Ich hab mir da so etliches zusammengereimt ...“
„Natürlich, verzeihen Sie. Dass Sie kein dummer Mann sind, ist mir bewusst. Sie haben sich sogar sehr intelligent verhalten, ihr Rückzug zum rechten Zeitpunkt beweist es.“
„Es ist keine Schande sich einem überlegenen Mann geschlagen zu geben. Im Vergleich zu Ihnen bin ich nur ein Stümper.“
„Ach, das hat gar nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun. Sie stehen halt auf der falschen Seite, das ist alles.“
„Ja, die dunkle Seite ist mächtiger als ...“
„Moment“, fuhr er mir ins Wort, „hier geht es nicht um einen Kampf Gut gegen Böse. So zu denken ist naiv.“
„Ach so?“
„Sehen Sie, es gibt zwei Sorten Menschen. Die einen, die etwas riskieren und die anderen, die zaudern, grübeln und vor der Entscheidung zurückschrecken. Sie und ihresgleichen, die Inaktiven und Abwarter, verschanzen sich nur hinter der irrigen Vorstellung, Sie verhielten sich moralisch besser. Dabei weiß man doch nie, wie sich etwas auswirkt, ob zum Guten oder Schlechten.“
„Da könnte was dran sein.“
„Nehmen Sie el Socialsmo, die Revolution in meinem Heimatland. Eigentlich eine gute Idee, aber was ist daraus geworden?“
„Tja, traurig, in der Tat.“
„Übel liegt allein in der Passivität, daraus erwächst nie etwas Gutes.“
Ich dachte, das seien die üblichen Schutzbehauptungen eines Verbrechers. Aber irgendwie hatte er schon recht, zumindest teilweise. Jeder der ansatzweise eine humanistische Bildung genossen hat, kennt den Ausspruch von Mephistopheles: Die Kraft, die das Böse will, aber stets das Gute schafft.
Von den neuen Gesichtspunkten leicht verwirrt, entfluschte mir eine mit meinem besonnenen Ich nicht abgesprochene Frage: „Hat nicht vor kurzem, rein zufällig, ein dem deutschen Volk durch seine Fernsehauftritte bestens bekannter Politiker zu Ihren Fluggästen gezählt?“
Wieder erklang sein Lachen, das so ansteckend war, dass ich mich daran beteiligte. Gutgelaunt schickte er hinterher, er sei betreffs seiner Auftraggeber und Kunden zu absolutem Stillschweigen verpflichtet und ich wusste Bescheid. Dergestalt ermutigt, wagte ich es, Herrn P. anzusprechen.
„Nun, Sie sind ja bestens informiert“, spottete Raoul. „Herr P. befindet sich auf einer Dienstreise. Hat er sich selber eingebrockt. Erpresser müssen mit sowas rechnen.“
Ich verstand den Wink.
„Glauben Sie mir, der ist jetzt besser dran.“
Mich fröstelte es bei dem Gedanken an Herrn P.s momentanem Aufenthaltsort. Aber nur kurz. Was hatte ich mit Herrn P. zu schaffen?
„Also ...“
Abermals unterbrach er mich.
„Übrigens, muss ich mich noch bedanken. Meinen Geburtstag mit dem Tag an dem die DDR ihre Götterdämmerung erlebte in Zusammenhang zu bringen, war eine geniale Idee. Das hat Hartmann und die hohen Herren restlos überzeugt.“
„Dann hatten Sie damit gar nichts zu tun?“
„Wo denken sie hin. Doch Hartmann glaubt es wohl. Kam meiner Verhandlungsposition ziemlich zugute, wie Sie sich vorstellen können.“
Ich hatte nichts dagegen, mich mit fremden Federn schmücken zu lassen. Ehrlichkeit ist eine Fliege, die sich in einen spinnwebenüberzogenen Keller verirrt hat. Liegt ihr daran die Sasion zu überstehen, sollte sie sich zu einem zurückhaltenden Umgang mit Flugmanövern entschließen. Gleiches gilt für Bittsteller mit freimütigen Bekenntnissen.
„Man tut was man kann“, sagte ich deshalb. Womit wir beim Thema waren. Jetzt konnte er zeigen, ob er bereit war seiner Dankbarkeit Taten folgen zu lassen.
„Zurück zu ihrem Anliegen, was kann ich also für Sie tun?“ kam es recht verheißungsvoll aus dem Hörer.
Ich sagte, dass ich für den nächsten, von seiner Gesellschaft organisierten Flug ein paar Plätze zu buchen beabsichtigte. Sein sofort losbrechendes Gegacker machte mich ganz verlegen.
„Also wirklich“, brachte er nur stockend hervor, „Sie haben wirklich Nerven. Was versprechen Sie sich denn davon?“
„Na, Sie wissen schon. Ich will auch alles bezahlen.“
„Ach, Ihr Scheck. Der wird wohl kaum ausreichen.“
„Wirklich?“
„Übrigens mein Verdienst. Hartmann hätte Sie mit weit weniger abgespeist. Diese Kapitalisten! Für sich selber scheinen sie kein Maß zu kennen, aber wenn es um die Entlohnung anderer geht, dann wird mit dem spitzen Bleistift gerechnet.“
Meine Dankesbekundung ging in seinen Prahlereien unter, wie er den knickrigen Bastard doch noch dazu brachte, in die Spendierhosen zu steigen.
„Das hätten Sie sehen sollen, ein böser Blick, mein gefürchteter Fingerzeig und husch, husch, war der Scheck ausgestellt, haha!“ freute er sich.
Bei mir zerbröselte derweil der letzte Widerstand, Raoul die ihm zustehende Bewunderung doch noch irgendwie vorenthalten zu wollen. Von mächtigen Männern wird man mitgerissen, umso mehr sie den Anschein erwecken, man wäre ihnen sympathisch. Von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Persönlichkeiten wird überliefert, sie besäßen ein latentes Bedürfnis sich an jeden Hals zu schmeißen, der ihr eigenes schmalbrüstiges Ego aufzumöbeln verspricht. Mir ging es da nicht anders. Kurz, ich heulte mit dem Wolf. Zwar hatte ich schon oft mein solidarisches Mitheulen an vermeintliche Alphatiere verschwendet, die sich hinterher als eher handzahme Schoßhündchen entpuppten, aber hier war ein Irrtum ausgeschlossen. Raoul war vielleicht vieles, aber gewiss kein mickriger Kläffer. Und als er bemerkte, am Finanziellen würde eine alte Freundschaft nicht scheitern, hatte er sich endgültig in einen Spitzenplatz meines persönlichen Helden-Olymps vorgearbeitet.
„Die nächste Maschine ist ohnehin eine 747“, wurde mir mitgeteilt, „die waren bisher nie komplett ausgebucht. Also betrachten Sie drei Plätz für sich reserviert. Ob Schwiegermutter, Vermieter oder Ihr Lieblingsbeamter vom Finanzamt, wen auch immer Sie dazu bestimmen, der geht auf große Fahrt.“
Ganz aufgeregt nannte ich ihm Namen und Adressen meines Reiseteams.
„Oha, lauter Doktores. Ein großer Aderlaß steht der akademischen Welt bevor.“
„Wohl eher das Gegenteil“, fühlte ich einen bislang ungekannten Machtrausch.
„Dacht´ ich mir“, sagte er und dazu spielte mein Gedächnis einen kleinen Film ein, in dem Wassilij am Stiel seines Weinglases dreht und mich mit den nie versiegen wollenden Anektoden aus Afghanistan unterhält. Diejenigen, die den Erzähler zum verstummen brachten, würden bald selber neue und einzigartige Abenteuer erleben und sie ihrem Anekdotenschatz hinzufügen können. Ob sie allerdings je fähig wären, darüber Bericht zu erstatten, war eine Frage, die ich nur zu gern der Metaphysik anheim gab.
Dagegen war die von Raoul tief im Hier und Jetzt verankert: „Handelt es sich um Mediziner?“ Entsprechend leicht ließ sie sich beantworten.
„Na, bitte. Dann tarnen wir das Ganze als Einladung zu einem medizinischen Kongress, ausgesprochen von einem Pharmakonzern, Reiseziel Bahamas.“
Ich war baff.
„Gehört alles zum Service“, sagte er. Herrlich, wenn nur alle Dienstleister mit einer solchen Kundennähe aufwarten könnten.
„Und glauben Sie, die springen auch tatsächlich darauf an“, hemmten jetzt, wo das Grundsätzliche geklärt war, gewisse Restzweifel mein Verlangen in spontanen Jubel auszubrechen.
Raoul blieb gelassen :„Keine Sorge, das haut schon hin.“
„Ihre Fähigkeiten sind zum Niederknien.“
„Bei Kunden mit stark ausgeprägten Standesdünkeln kommen die meist gar nicht zum Einsatz“, relativierte er. „Um die zum Einchecken zu bewegen, reicht die Erwähnung des First-Class-Ressorts of Bahamas und der Zusatz gratis. Tja, deren Pech.“
Das zu hören, wäre sehr erfreulich, sagte ich. Und schön, wenn er seine Kräfte schonen könnte, da die sicher anderenorts gebraucht würden.
„Ich meine, allein schon den Besitzern ihren Kummer über den Verlust sündhaft teurer Flugzeuge zu nehmen, dafür braucht es doch einer Hypnose, die die Sendeleistung eines mittleren Funkturms in den Schatten stellt, nicht wahr?“
Zu meinem Erstaunen verneinte er.
„Sie vergessen, wir arbeiten nach betriebswirtschaftlichen Regeln mit dem Bestreben um möglichst allumfassende Wertschöpfung. Für unser Unternehmen kommen beispielsweise nur Maschinen in Betracht, die am Ende ihres Lebenszyklus stehen und somit komplett abgeschrieben sind. Man bezahlt uns sogar für die Verschrottung und das beste daran, die Umwelt wird nicht belastet.“
Mir schwante, selten zuvor wurde Schrott derart in Einklang mit dem Nachhaltigkeitsgedanken entsorgt.
„Desgleichen beim Flugpersonal. Indem nur die dienstältesten Jahrgänge herangezogen werden, geht jeder unserer Flüge mit einer spürbaren Entlastung irgendeiner Pensionskasse einher.“
„Tja, das nennt man wohl konsequent zuende gedachte Ökonomie“, sagte ich munter, obwohl mich gerade wieder starke Beklemmung überkam. Eine Beklemmung die jeder kennt, der es versäumt, sich durch Ignorieren und Leugnen der allgemein bekannten Produktionsbedingungen in Legebatterien auf sein Frühstück einzustimmen.
„Außerdem, in einem gewissen Rahmen sind Kollateralschäden natürlich unvermeidbar“, bewies Raoul mal wieder sein telephatisches Gespür.
„Natürlich“, wollte ich jetzt nicht noch alles verderben.
„Na bitte. Also dann, drei Tickets wie gewünscht ...“
„Moment. Eine Frage hätte ich noch, wenn ich darf?“
„Schießen Sie los.“
„Ähm, warum erst jetzt?“
„Was meinen Sie?“
Ich war wieder ganz aufgeregt, wieder der Zauberlehrling mit den simplen Kartentricks, dem sich unverhofft die Chance des Gedankenaustausches mit einem auskunftfreudigen Meister bietet, einem Meister, der nicht nur den Elefant, sondern, wenn er will, die gesamte Manege inklusive Publikum zum Verschwinden bringen kann.
„Ich meine, jahrelang haben Sie sich als einfache Arbeitskraft herumgequält. Wieso haben Sie nicht schon früher, ähm, Karriere gemacht? Warum gerade jetzt, warum diese jahrlange Zurückhaltung?“
„Ach so“, sagte er, worauf die Leitung erst mal still blieb.
„Entschuldigung, geht mich natürlich nichts an.“
Hörbares Ausatmen, dann: „Kennen Sie Beethovens erste Symphonie?“
„Äh ja.“
„Und wie klingt die?“
Zum Glück bin ich ein fleißiger Musik-Rezipient, weshalb mir sofort die passende Antwort einfiel: „Die klingt eigentlich sehr nach Mozart.“
„Ach so?“
„Genau. Beethoven konnte nicht anders, als die Eroica erst nach den Werken zu komponieren, die ihn noch nicht auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten zeigten. Meisterschaft dauert seine Zeit, aber dann kommt sie manchmal über Nacht.“
Ich lachte und sagte, mir würde es schon reichen, zu den vergleichsweise schwachen Leistungen eines unreifen Beethovens fähig zu sein. Damit fand unser Gespräch ein recht heiteres Ende.
Nachdem ich mich an einem, trotz der frühen Stunde durchaus vertretbaren, doppelten Whisky gelabt hatte, zog ich mich mit der mittlerweile von Klara übersetzten Niederschrift, Wassilijs opus magnum, in die von Straßenlärm weitgehend verschonte Küche zurück. „Lies selber“, hatte sich das brave Mädchen zu keiner Stellungsnahme hinreißen lassen und so war im Moment noch offen, ob mir die Entdeckung eines Meisterwerkes bevorstand. Ich setzte mich nieder, trällerte dazu eine Melodie, bis mir bewusst wurde, was da so hartnäckig von meinen musikalischen Gedächtnis Besitz ergriffen hatte. Es genügt zu sagen, selten zuvor fand ich Panflöten und Inkatrommeln entbehrlicher. Aber dann, ohne einen kleinen persönlichen Kollateralschaden wäre dieser Vormittag ja wohl auch fast etwas glatt über die Bühne gegangen. Jedenfalls, im Grunde genommen.
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Texte: A. Leyn
Bildmaterialien: A. Leyn
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2012
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