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In Berlin hatte ich einen guten Bekannten, der stammte aus Rumänien, seine Vorfahren aus Deutschland, was ihm einen privilegierten Platz in der Schlange, wo die begehrten Austrittskarten aus Ceaucescus Arbeiter- und Bauernparadies auslagen, sicherte.
Aus Rumänien hatte er zwei Vorlieben mitgebracht. Die eine betraf Autos, die andere mit Kummer umzugehen. Erstere erklärte sich von selbst, dafür musste man nur mal sein Beifahrer geworden und soweit mit Autotypen vertraut sein, dass man einen Renault 12 erkannte, wenn man vor einem stand. In meiner Berliner Zeit verbrauchte er mehrere dieser in Deutschland so wohlfeil erhältlichen, nicht ganz unschnittigen Vehikel. Nicht ganz unschnittig sage ich deshalb, weil sich meine persönlichen Erfahrungen auf Renaults beschränken, die es in der internen Modellhierarchie nicht über die Ziffer 4 hinausgeschafft haben. Zwischen 4 und 12 liegen etliche evolutionäre Zwischenschritte, ganze Generationen von in Windkanälen geglätteten Karosserien, warum man leicht versteht, dass er nicht alles daran setzte ausgerechnet einen Renault 1 zu fahren, der, falls es ihn je gegeben hat, wahrscheinlich das automobilistische Äquivalent zu einem Backstein darstellt.

Einmal sprach ich ihn auf seinen Spleen an, schließlich hielt Renault ja auch noch jenseits der 12 Typen parat. Warum so bescheiden? Es hatte damit zu tun, dass dieses Modell bei Dacia, der einzigen rumänischen Autofabrik, in Lizenz gefertigt wurde und somit in seiner alten Heimat als das begehrteste Fahrzeug schlechthin galt. Glücklich, wer einen Dacia sein eigen nannte, sehr glücklich. Weniger Glückliche fuhren Lada oder Trabant. Den Allermeisten war Fortuna natürlich noch in weit geringerem Maße zugeneigt, die benutzten den ÖPNV oder denen stellte die Securitate nach. Ich glaube, einem Exilrumänen, kommt er nach Deutschland, geht es in Autodingen kaum anders als einem verdrucksten Kiffer ohne einschlägige Kontakte zu Bezugsquellen, wenn er zum ersten Mal in Amsterdam einen Coffee-Shop betritt.

Auf sein zweites rumänisches Erbe stieß ich eher zufällig. Einmal bot ich ihm einen Wodka an und wählte dafür die hierzulande gebräuchliche Portionsgröße, das Schnapsglas. Worauf er mir von der Irritation berichtete die ihn befiel, als er einmal zur Bekämpfung eines heftigen Herzeleids in einer Kneipe Wodka bestellte und dabei feststellen musste, in welch unzureichenden Behältnissen man den hier ausschenkt. Einen Waldbrand löscht man ja auch nicht mit einem simplen Eimer Wasser. Also hatte er ein normales Trinkglas verlangt, sich dieses randvoll mit dem slawischen Lebenselixier füllen lassen und damit der unerfahrenen Tresenkraft eine nachhaltige Lektion in puncto Trinksitten fremder Länder erteilt. Ich verstand den Wink und brachte größere Gläser.

Mein rumänischer Bekannter, er hieß übrigens Konrad, residierte in Steglitz. Noch heute durchströmt mich ein Gefühl von Trost und Behaglichkeit, wenn ich nur an diesen Stadtteil denke, vergleichbar vielleicht mit jenen Regungen, die Thomas Mann erfüllten, als er seinen Zauberberg schrieb. Für einen Neuköllner stellt Steglitz der reinste Luftkurort dar, zumindest war es damals so. Aber was war das auch immer für ein Pesthauch, der durch Neukölln waberte. Besonders im Winter war es schlimm. Da war schon ein unverbesserlicher Lokalpatriotismus nötig, um auch nur ansatzweise Lust zu verspüren der Heimat die Treue zu halten und nicht der Fahnenflucht das Wort zu reden. Für den eigenen Beitrag am Smog, verursacht durch die heimischen Ofenheizungen, hätte man ja noch Verständnis aufgebracht, aber dass das ZK in Ostberlin beschlossen hatte, ihre Kohlekraftwerke so zu postieren, dass die Winde deren Schwaden ausgerechnet in den altehrwürdigen Arbeiterbezirk bliesen, wertete man allgemein als grobe Unsportlichkeit. Mit der DDR könnte es irgendwas auf sich haben, eine solche irrige Vorstellung verflüchtigte sich spätestens nach einem ersten Winter in Neukölln.

Einen ähnlich horizonterweiternden Effekt zeitigte mein erster Abstecher nach Steglitz. Er öffnete mir die Augen, desgleichen die Bronchien, und belehrte mich, der ich immer geglaubt hatte, Standortfragen wären ein abstraktes Problem aus BWL-Büchern, eines besseren. Konrads Überlegenheit in den praktischen Dingen des Lebens war unübersehbar, sein Weltschliff viele Zacken schärfer als meiner. Schließlich hatte er nicht einem grotesk ungerechten Staatswesen getrotzt, um sich jetzt durch eine falsche Wohnortwahl die Gesundheit ruinieren zu lassen. Dafür berappte er natürlich deutlich mehr Miete und genoss nicht die, für snobistische Zuzügler aus dem Westen so geschätzte Nähe zum angesagten Kreuzberg. Coolness erwarb man sich anscheinend nur im Doppelpack mit Pseudokrupp, so die Erkenntnis, aber wenigstens waren die Kiezgrenzen durchlässig.

Dass sich Steglitz noch steigern ließ, blieb einem sporadischen FU-Seminarteilnehmer wie mir natürlich nicht lange verborgen. Deren Hauptgebäude, das Epizentrum der Gelehrsamkeit, die sogenannte Rostlaube, lag idyllisch in Dahlem und dahinter begann gleich der Grunewald. Man musste nur beide Stadtteile miteinander vergleichen und kam zu dem Schluss, Steglitz erreichte lediglich den Rang einer Ouvertüre in dieser Symphonie á la Großstadt, wobei das Attribut „krönender Hauptsatz“ unzweideutig dem Grunewald zustand (in dieses Gleichnis fügt sich Neukölln mit den Geräuschen ein, die auf den Toilettenanlagen des Konzerthauses erzeugt werden).

Jenseits einer gültigen Immatrikulation gab es für Neuköllner also wenig Gründe im Nobelbezirk aufzukreuzen, es sei denn man hatte das Bedürfnis auf empirische Studien zum Thema Klassenneid. Aus der Bredouille der Zaungastperspektive befreite mich eines Tages Konrad, indem er sowohl mich als auch unseren gemeinsamen Kumpel Tito zu einer Gartenparty einlud. Von irgendwelchen Studienfreunden ausgerichtet, sollte die in einer echten Grunewald-Villa über die Bühne gehen.

Frühzeitiges Erscheinen war erwünscht, weshalb ich mich zu ungewohnter Nachmittagsstunde, zwecks gemeinsamer Anreise, bei besagtem Tito einfand. In dessen Wohnung stieß ich auf ein weiteres bekanntes Gesicht: Bertie. Der war ein eifriger Hansdampf in den mannigfaltigen Gassen der Geldbeschaffung, zumindest in jenen, wo einem andere Lösungen als profane Arbeit nahegelegt werden. Anders ausgedrückt handelte es sich bei ihm um einen veritablen Schnorrer und von jeder Begegnung mit dem Wahnsinnsknaben gingen höchste Gefahren auf den Erfolg der eigenen Haushaltsplanung aus.
Ich bemerkte wie sein frisch geschnittenes, nach oben toupiertes Haar in hellstem Wasserstoffblond erstrahlte und begriff, wohin mein aus unserem letzten Zusammentreffen resultierender finanzieller Aderlass geflossen war. Leicht vergrätzt setzte ich mich dazu.
„Hm, ihr seid also heute bei den Bonzen eingeladen“, sagte Bertie träumerisch. Wahrscheinlich dachte er an die sagenhaften Möglichkeiten, die gerade für einen Mann mit geringer Selbstachtung eine solche Situation eröffneten.
„Kommst du auch mit?“ fragte ich ihn.
Sein Anpumptalent hätte mit den Geldbörsen der Partygäste dasselbe bewirkt, wie einst Ali Babas Zauberspruch mit dem Sesam.
„Nö, keine Zeit.“
Erleichtert schaute ich mich um. Seit meinem letzten Besuch hatte sich nicht viel verändert. Dieselben großformatigen Bilder verteilten sich mehrschichtig über die Räumlichkeiten und das eine, dass Tito gerade in der Mache hatte, lehnte immer noch an derselben Stelle, schräg gegenüber an der Wand. Für einen Expressionisten, der vorzugsweise den groben Pinsel schwang, kam er nur langsam voran. Aber wenn schon nicht beim Werk, so gab es doch beim Künstler Anzeichen für jüngst stattgefundenen Fortschritt. Während er uns vor einem halbblinden Spiegel hockend seine Rückansicht darbot, erkannte ich, dass nach etlichen farblichen Experimenten seine Haarpracht zum klassischen Schwarz zurückgekehrt war. Man kann sagen, Titos Ehrgeiz sich in Sachen Phasenvielfalt mit Picasso zu messen, spielte sich weniger an der Staffelei als beim Frisör ab.

Derweil blubberte Bertie vor sich hin, unterbrochen wurde sein Vortrag nur von gelegentlichen Anfragen, ihm doch bitte mit einer Zigarette aushelfen zu wollen. Bruchstückhaft erschloss sich mir, was es mit seiner Anwesenheit auf sich hatte, dass er selber Besuch erwartete, den er aus für mich unerfindlichen Gründen zu Tito bestellt hatte. Eine Freundin aus unserer Wessiheimat sollte demnächst hier anrücken und mit ihr das lang ersehnte, dringend für die Komplettierung seines Hausstandes benötigte Mobiliar. Jene Freundin war mir bekannt, intern firmierte sie unter dem Namen Trümmerweib, was mit ihrer etwas rustikalen Optik zu tun hatte.
„Ach die“, sagte ich, den Fachbegriff vermeidend, da es Bertie nicht gern hatte, wenn man respektlos von der Frau sprach, die er zärtlich seine Matratze nannte. Die Überführung seines Plunders trat deshalb in eine entscheidende Phase, führte er weiter aus, weil es Trümmerweib/Matratze endlich gelungen sei, jemanden mit einem Transporter aufzutreiben und dem glaubhaft vorzugaukeln, so ein kleiner Ausflug nach Berlin wäre die reinste Sause.

Nicht lange und die fiese Türglocke schrillte. Wie immer zuckten alle zusammen. Abermals schrillte es.
„Himmel!“
Kein unpassender Ausdruck. Dass dereinst die armen Sünder von einer ähnlich durchsetzungsfähigen akustischen Apparatur zum jüngsten Gericht gerufen würden, lag durchaus im Bereich des Möglichen.
Tito sprang auf. Seine Absätze knallten in schneller Folge über die Planken, entfernten sich, hallten weiter ohne dass das Erreichen der Haustür unmittelbar bevorstand, denn seine Wohnung ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Korridor. Der war L-förmig, und der Hausherr hatte gerade das lange Ende hinter sich gebracht, als sich von den weitläufigen geografischen Verhältnissen seiner Behausung unwissende Finger auch noch ein drittes Mal genötigt sahen, Druck auf den Klingelknopf auszuüben.
„Jaja, ich komm ja schon!“
Nur ein Bewohner wie Jesse Owens hätte den Türsprint in weniger als drei Glockenintervallen zurückgelegt, und auch der nur an einem guten Tag.

Als das Getrampel zurückkehrte, hatte es Zuwachs bekommen. Trümmerweib bog mit Tito um die Ecke. Bertie erhob sich, um seiner Madame Matratze in die Arme zu fallen. In dem nun anbrechenden Tumult ging ein entscheidendes Detail unter. Erst als eine seltsam brummige Stimme nach einem Getränk verlangte, wurde ich mir einer weiteren Person bewusst, die sich da in mein Gesichtsfeld geschoben hatte und keine Anstalten machte, die allgemeine Wiedersehensfreude auf sich zu beziehen. Was kaum verwunderte, denn dieser Zweibeiner, dem ich verdutzt ins Schnauzbartgesicht starrte, war kein anderer als Funke. Wer Funke sieht und sich freut, hat entweder einen unheilbaren Dachschaden oder ist seine Mutter. Keine der beiden Parteien hatten heute Emissäre entsandt, folglich stand Funke wie einer im Zimmer, der nicht erwartet, dass ihm zu Ehren irgendwelche Jubelarien angestimmt werden.
Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, jede Reaktion, freundlicher als ein schreiendes Davonrennen, war ein gottverdammtes Zugeständnis an diesen Kerl. Komischerweise unterdrückten die anderen den Fluchtreflex und blieben ziemlich gelassen. Es war, als wäre im Radio gerade der dritte Weltkrieg verkündet worden und niemand nahm davon Notiz.
Weshalb der vom Durst geplagte seinem Wunsch nach etwas Trinkbarem erst Nachdruck verleihen musste, ehe Tito in die Küche ging um kurz darauf mit einem Glas Wasser zu erscheinen. Das war sein berühmter Künstler-Drink, weder gerührt noch geschüttelt, sondern nur eingelassen, aber, der gehobenen Lebensart wegen, mit Eiswürfeln verfeinert. Während Funke missmutig trank, konnte ich immer noch nicht begreifen, wie es mit allen Teufel hatte zugehen können, dass sich seine sterbliche, in tausend Kilometer Entfernung sicher gewähnte Hülle hier so unvermittelt hatte materialisieren können. Es waren nicht zuletzt Quälgeister wie er, derentwillen ich mich fürs Exil entschieden hatte.
Des Rätsels Lösung, als Kleinunternehmer besaß er einen Leichttransporter und als Blödmann die Hirnverbranntheit zu glauben, wenn man ihn zu einer Reise aufforderte, geschähe dies aus erhabeneren Gründen als denen tiefsten Eigennutzes. Nahm man noch hinzu, dass Trümmerweib irgendwie Umgang mit ihm pflegte, Bertie seit Jahren nach einer Gratisbeförderung für seinen verlotterten Hausrat Ausschau hielt, stellte sich die Sache plötzlich gar nicht mehr so abwegig dar. Wünschenswert wurde sie dadurch noch lange nicht.

Mit seinem Glas setzte sich der Überraschungsgast vor den Fernseher und schaltete ihn ein. Kaum flimmerte Derrick über den Bildschirm, da ging auch schon das Gemäkel los. Funke hielt sich für einen Techniker, betrieb einen kleinen Laden für HiFi-Kram, weshalb er sich berufen fühlte, fachmännische Urteile über alles abzugeben, wodurch nur ein Mikroampere Strom floss.
„Die Kathodenröhre liegt in den letzten Zügen“, ließ er verlauten. In der Turteltaubenfraktion nahm man es wie einen Witz. Auch Tito schmunzelte geschmeichelt. Für jemanden der den Heroin-Schick für sich entdeckt hatte, kam eine solche Aussage einem Ritterschlag gleich.

Dann ließ Bertie verlauten: „Also, wir hauen mal ab.“ Ein unumwunden begrüßenswerter Vorschlag, hätte sich der Abgang nur etwas geschlossener vollzogen. Da sich aber nur Romeo und Julia entfernten, blieb das Unternehmen meines Erachtens Stückwerk.
He, wollte ich rufen, ihr habt was vergessen, was ist mit eurem Anhang, der kann doch unmöglich hier bleiben. Hätte es sich um einen Hund gehandelt, ich hätte nicht gezögert, aber Funke war doch ein menschliches Wesen (gab zumindest sein Pass Auskunft) und da verbaten sich Äußerungen des Inhalts, nehmt gefälligst euer Zottelviech mit, wenn ihr euch verzieht. Durch mein Taktgefühl gehemmt, starrte ich bloß eindringlich zu dem von Derricks Ermittlungen Davongetragenen und hoffte, der würde selber die entsprechenden Schritte in die Wege leiten.
„Ähm, ähm.“
Ein lauter Rums verriet, dass eben die Tür ins Schloss gefallen war. Noch war es nicht zu spät. Zwei Verliebte spielen tempomäßig nicht in derselben Liga wie ein Haufen aufgeschreckter Wiesel, wenn sich Funke ranhielt, konnte er leicht zum Spitzenfeld aufschließen. Entsprechender Wille vorausgesetzt. Davon war aber nichts zu spüren und als sich im Innenhof das Nageln eines Diesels erhob, hätte nicht einmal mehr der was gebracht. Mir dämmerte, soeben dem Verstreichen einer wertvollen Gelegenheit tatenlos beigewohnt zu haben.

Passend zur nihilistischen Situation erschien jetzt Tito in eine Art Kettenhemd gewandet, breit übers ganze No-Future-Gesicht grinsend.
„Als Accessoire würde ich eine Streitaxt empfehlen“, meinte ich verstimmt, denn langsam festigte sich bei mir der Verdacht, dass er mit Bertie irgendwelche Verabredungen getroffen hatte, eventuell sogar mit einem aufstockenden Effekt auf den Umfang unserer Gartenparty-Besuchergruppe. Als er neuerlich in die ihm das Badezimmer ersetzende Küche wechselte, folgte ich seinen Spuren. Funke war außer Hörweite, Tacheles war angesagt.
„Menschenskind, was wird hier eigentlich gespielt?“
Er mühte sich ab, gegen alle Vernunft einer ausgewrungenen Tube Schuhcreme noch ein paar Moleküle abzutrotzen.
„Willst du vielleicht Funke unbeaufsichtigt in deiner Wohnung zurücklassen?“ Bezogen auf diese Möglichkeit war meine Empörung nur gespielt. Damit gedachte ich bei ihm den Widerspruchsgeist zu wecken und erwartete, er würde gleich zu einem, na klar, warum auch nicht, ausholen.
„Nein, den nehmen wir mit zur Party“, sagte er stattdessen.
„Ja, spinnst denn du? Wir können doch nicht ...“
„Mach dich mal locker“, betrachtete er gutgelaunt seine wider Erwarten zum Glänzen gebrachten Stiefelspitzen.
„Konrad wird das nicht gefallen.“
„Der ist doch Psychologe, dem macht das nichts aus.“
„Student der Psychologie. Meines Wissens drittes Semester.“
„Na, dann wird er sich ja freuen, ein lebendiges Studienobjekt frei Haus geliefert zu bekommen.“
„Für einen wie Funke sollte man aber mindestens schon im Hauptstudium sein.“
Mit einem Ausdruck des Bedauern wandte er sich ab.
„Männo!“ fiel ich derweil in den Zungenschlag eines Dreikäsehochs zurück, dem jemand sein schönstes Lego-Bauwerk zerdeppert hat.

Nebenan nutzte das Objekt der fruchtlosen Beratung den Werbeblock um Titos Stereoanlage zu inspizieren. Er sah mich kommen, richtete sich auf und nahm eine anklägerische Haltung ein. All das, was ein musikliebendes Herz trotz pekuniärer Härten über die Jahre zusammen getragen hat, verengte sich in Funkes Beurteilung zu einem Wort: Schrott!
Dann wollte er wissen, wo hier die Toiletten seien. In Neuköllner Mietskasernen eine Frage mit einiger Berechtigung und nicht immer leicht zu beantworten. Meist geht damit die unerfreuliche Erkenntnis einher, dass für die erwünschte Befriedigung des Bedürfnisses erst das Etablissement verlassen werden muss. Doch Funke hatte Glück, ausgerechnet bei Tito herrschten in puncto Abortdichte sagenhafte Zustände, zumindest theoretisch. Während nämlich der normale Mietsknecht im Regelfall über eine halbe Toilette verfügte, zudem im zugigen Treppenhaus gelegen, gebot Tito über deren zwei. Sozusagen als Entschädigung, in einem als Wohnung getarnten Korridor hausen zu müssen. Beide Örtchen lagen an den jeweiligen Enden desselben, in größtmöglicher Distanz zueinander, was sicherstellte, dass man sich in der Mittelzone nicht ständig ein Erfrischungstuch auf die Nase pressen musste.
Nach kurzem Überlegen deutete ich nach Westen und gab Funke den Tipp, immer dem Geruch nach. Wie schon vor ihm Millionen von Siedlern trottete er los.
Wenig später kehrte er zurück und da er dabei ein Gesicht machte, das, wie ich mittlerweile wusste, gewöhnlich seinen gepfefferten Kommentaren zu der Unterhaltungselektronik irgendwelcher unfreiwilligen Gastgeber vorausging, fuhr ich ihm in die angedachte Parade, indem ich meinte, Händewaschen wäre in der Küche möglich. Ungerührt entledigte er sich seiner hygienischen Pflichten.

Tja, mag angesichts dieser überraschenden Wendung mancher denken, dieser Bursche, auf dem hier ständig rumgehackt wird, ist vielleicht doch kein so übler Charakter. Wer nach dem Toilettengang ohne zu murren seine Pfoten in einem kühlen Wasserbad reinigt, der weiß was sich gehört, der kann nicht von Grund auf schlecht sein. Vielleicht etwas verschroben, aber findet man das nicht häufig bei Menschen, die sich durch ein besonderes Talent auszeichnen, die sich beispielsweise, wie bereits angedeutet, der Elektrotechnik verschrieben haben? Wem sozusagen der Sinn nach Höherem steht, dem muss man doch nachsehen, wenn er den Niederungen der sozialen Gepflogenheiten, den schnöden Konventionen, hin und wieder die gebotene Aufmerksamkeit versagt. Ist das nicht das Privileg der großen Geister?
Doch, doch, jenen sei es wohl gestattet. Aber leider tummeln sich im Dunstkreis echten Kennertums auch allerhand Scharlatane, ohne begründetes Anrecht auf eine Vorzugsbehandlung. Weshalb man sich vor vorschnellen Urteilen und unzulässigen Verallgemeinerungen hüten sollte. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, dafür ist oft persönliche Erfahrung nötig. Mir blieb sie nicht erspart, denn auch ich erlag zunächst dem bei Funke naheliegenden Grantler-Genie-Schwindel. Auch ich dachte, wer so offenbar der Unhöflichkeit frönt und damit durchkommt, dem hat die zum Ausgleich neigende Natur einen vollen Sack an Sekundärtugenden mit auf den Weg gegeben, ansonsten er ja wohl schon längst vom wütenden Mob gesteinigt worden wäre.
Also trug auch ich eines lange vergangenen Tages eine defekte Lautsprecherbox in seinen Laden, wie vor mir schon hundert andere und hoffte, wenn schon keine freundliche Ansprache, so würde doch wenigstens hochentwickelte Expertise meiner harren. Bezogen auf den ersten Teil meiner Annahme behielt ich recht. Kaum eingetreten, ging auch schon eine Standpauke auf mich nieder, wie ich sie in dieser Intensität eigentlich nicht vor dem Tag meiner Musterung erwartet hatte. Und nicht dem Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung verdankte ich sie, sondern lediglich dem Umstand, ein nach Funkes Auffassung völlig indiskutablen Boxen-Hersteller mein Jawort gegeben zu haben. Wer so was kauft (zumal nicht in seinem Laden), der verdient es nicht besser, dem widerfährt Gerechtigkeit, wenn er mit einem kaputten Hochtöner dasteht, so das Fazit. Da ich zu dem Zeitpunkt noch oben genannten Irrglauben der Licht- und Schatten-Theorie anhing, verleugnete ich meinen Stolz und ließ mich kalt lächelnd anschnauzen. Für die erduldete Pein würde ich ja bald mit einer wieder in ihren Urzustand zurückversetzte Box entschädigt, dachte ich. Außerdem gab es im Laden noch einen Angestellten, der Funke jedes Mal, schickte sich dieser an, neue, noch gewagtere Gipfel der Grobheit zu erstürmen, mit Engelsworten vom Äußersten abhielt und man den Gedanken, auf dem Absatz kehrt zu machen und bei der Polizei eine Beleidigungsklage einzureichen, einstweilen wieder verwarf.
Und als sich der Wutschnaubende endlich mit dem Corpus delicti ins Hinterzimmer verdrückte, war die Atmosphäre so jäh von jedem Missklang bereinigt, dass man hinsichtlich der vorangegangenen Unverschämtheiten der unglaublichen Art sofort gewillt war anzunehmen, man hätte sich einfach nur verhört.
Damals wusste ich es noch nicht, aber wenn Funke überhaupt über ein verborgenes Talent verfügte, dann das, bei der Wahl seines Angestellten unerwartete Hellsicht an den Tag gelegt zu haben. Nur ein Mitarbeiter, gegen dessen lammfrommes Wesen sogar Mutter Theresa wie eine verhaltensauffällige Psychopathin gewirkt hätte, konnte Funkes eigene Übellaunigkeit einigermaßen neutralisieren. Ohne das Gegengewicht des guten Verkäufers, wäre er, als der böse Verkäufer, höchste Gefahr gelaufen seine Kundschaft auf der Stelle zu verprellen, und zwar noch bevor diese durch Beispiele seiner lausigen Arbeit in die Lage versetzt worden wäre, empirisch herauszufinden, dass es mit seinen vermeintlich hochentwickelten elektrotechnischen Fähigkeiten gar nicht so weit her war.
Dass es sich tatsächlich so verhielt, dafür lieferte die frecherweise als repariert deklarierte Box schlagende Beweise. Zwar zum Wucherpreis mit einem neuen Hochtöner bestückt, kündete, sobald man die Bereiche des Flüstertons verließ, fortan ein nervendes Knirschen im Gehäuse davon, dass dem Klangkörper keine allzu sorgfältige und fachkundige Pflege widerfahren war. Natürlich wies Funke alle Vorwürfe zurück und schnell war klar, wenn schon nicht als Physicus, so spielte er doch als Reklamationenabschmetterer in der Oberklasse. Aber an der verpfuschten Box gab es nichts zu deuteln, nicht mal der von Bedauern und Mitleid überfließende Blick seines Spießgesellen konnte darüber hinwegtäuschen.

*

Tito war nun endlich ausgehfertig. Wir begaben uns zur Straße, fanden dort seinen alten Ford Capri mit der praktischen, weil den Rostfraß kaschierenden kupferfarbenen Lackierung. Obwohl die Betriebserlaubnis längst abgelaufen und entzogen war, hatte dessen grundsätzliche Fahrtüchtigkeit weiterhin Bestand, weshalb es dem Halter sehr unvernünftig erschienen wäre, auf die Dienste des treuen Gefährts zu verzichten. Er behauptete, Kennzeichen mit gültigen Zulassungsstempeln würden in unserer Gesellschaft hoffnungslos überschätzt (leere Formeln einer untergehenden Gesellschaft), so auch all der andere bürokratische Schnickschnack, von dem sich die Menschen das Leben vergällen lassen. Oft sprach er davon, wie wir ach so aufgeklärten Westler über den Aberglauben der sogenannten Primitiven lachen, über deren Angst vor dem bösen Blick oder dass sie glauben die Seele zu verlieren, wenn jemand die Kamera auf sie richtet und abdrückt. Dabei verhalten wir uns weit irrationaler, z.B. indem wir einem entwerteten Kennzeichen einen geradezu blasphemischen Respekt zollen, gerade so als besäße die Plakette reinste Zauberkraft. Wie auch immer, dass sich sein Capri auch ohne das hoheitliche Symbol im Vollbesitz seiner Power befand, war ihm als Schlaumeier jedenfalls nicht entgangen. Zur Wahrung des Anscheins fungierten zwei verbeulte, rote Überführungskennzeichen.
Die wurden schleunigst montiert. „Gib dem Kaiser was des Kaisers ist! Bitte darum einzusteigen“, meinte er im Tonfall eines Arsene Lupins beim Aushecken eines besonders perfekten Verbrechens. Anders als bei besagtem Meisterdieb sollten Titos Schelmenstücke, wären sie denn je in Druck gegangen, keinen Umfang von 40 Bände erreichen. Die Annahme, von seinen Schwindelschildern würde die Zauberkraft einer Tarnkappe ausgehen, entpuppte sich bald schon als reines Wunschdenken, aber zumindest an jenem Abend täuschten sie die Ordnungsmacht und dem Fahrer verliehen sie das Gefühl todesverächtlicher Sicherheit.
Wie immer zeigte sich Tito als Autofahrer von seiner besten Seite, so dass man nicht umhin kam, den Entzug einer Betriebserlaubnis gerade in seinem Fall als schreiende Ungerechtigkeit zu empfinden. Bald schon kreuzten wir in ungewohnten Gefilden, die Augen wurde größer und größer, angesichts der Pracht, die sich ihnen vermittelte. Überall Villen, großbürgerliche Behaglichkeit ausstrahlend und wir berechtigtermaßen mittendrin, da ausgestattet mit einer Einladung. Zumindest galt das für 66 Prozent der Anwesenden.

Am Straßenrand kam ein abgestellter Renault 12 in Sicht, worauf Tito das Tempo verlangsamte und nach einer Parklücke Ausschau hielt. In kürzester Zeit wurde er fündig. Mir erschien der zwischen zwei Karossen klaffende Spalt freien Pflastersteinuntergrunds zwar weit zu beengt, um es auch nur ansatzweise mit einem langschnäuzigen Vehikel vom Kaliber eines Capris aufzunehmen, aber Tito bugsierte die Karre so elegant und trocken hinein, als würde er in direkter Linie von Houdini abstammen. Wäre er als Maler nur halbwegs so geschickt wie als Einparker, durchblitzte mich spontane Erkenntnis, die Nationalgalerie hätte ihm zu Ehren längst eine eigene Abteilung eingerichtet. Und falls sich für die hohe Kunst, langgezogene Coupes in unzureichend dimensioniert erscheinende Lücken zu zwängen, irgendwann ein entsprechender Markt der Connaisseure bildet, hätte Deutschland mit Tito einen potentiellen Weltmeister am Start. So aber blühte sein Talent im Verborgenen, oder fast, denn ich wusste seine Leistung zu schätzen und spendete kräftig Applaus, derweil Funke keinen Schimmer hatte, gerade einen Michelangelo der Parkraumbeschaffung in Aktion erlebt zu haben. Einigermaßen zerknittert kam er aus dem Youngtimer hervorgekrochen, straffte sich zu nicht eben beeindruckender Größe und schickte kritische Blicke in die Umgebung, in die ihn die Vorsehung geführt hatte.
„So, hier wohnen also die Großkopferten von Berlin.“
Irgendwie wurde ich den Verdacht nicht los, Funke hätte im Religionsunterricht, da wo von gottgefälliger Demut die Sprache war, nur mit halbem Ohr zugehört. Doch einen Grantelhuber ignoriert man am besten, alles andere ermutigt ihn nur, weshalb ich mich lieber an den aufgekratzten Tito hielt, der auf ein schmiedeeisernes, von Strauchwerk eingefasstes Gartentor zusteuerte. Leider war auch in Funke der Herdentrieb genetisch angelegt, was die Chancen sich seiner so ganz nebenbei zu entledigen in theoretische Bereiche drückte.

Seitlich waren Geräusche zu hören, typischer Partylärm, und hinter der Hauskante erwartete uns die dazu passende Optik mit reichlich bunten Glühbirnen, diversen Stehtischen und im Zentrum einem Grill, um den sich der Großteil der Festgemeinde scharte.
Konrad war die Unaufgeregtheit in Person. Warum auch nicht? Schließlich parkte draußen ein properer R 12 und auch Herzeleid stand nicht zu befürchten, wie ich erkannte als er uns die Gastgeberin vorstellte. Mit der sensiblen Blondine, der Tochter des Hauses, verband ihn offensichtlich mehr als reine Kameradschaft. Der Wodka würde also heute nicht in Strömen fließen, ja wahrscheinlich nicht einmal maßvoll dosiert ausgeschenkt, dafür wurde hier zu deutlich auf Kultiviertheit gesetzt. Wogegen ich rein gar nichts einzuwenden hatte. An einem Feldversuch, was starke geistige Getränke mit einem schwachen Gehirn der Marke Funke anstellen, war mir nicht gelegen und auch der anwesende Psychologentrupp hätte einen solchen bestimmt lieber unter kontrollierten Laborbedingungen durchgeführt.
Nicht selten entscheidet vorausschauende Getränkeplanung über den Erfolg eines Festes, besonders wenn gewisse Gäste zu Eigenmächtigkeiten neigen, wie jetzt ruchbar wurde, als Tito beiläufig auf den Mann zu sprechen kam, der dank Eintritt merkwürdiger Umstände zu unserer Entourage gehörte. Doch Konrad blieb cool und auch die eigentliche Veranstalterin nutzte die Gelegenheit für eine Demonstration jener souveränen Gelassenheit, die ihre Klasse auszeichnet.
„Klar, kein Problem – herzlich willkommen“, schüttelte Konrad die Hand unseres nach wie vor düster dreinblickenden Mitbringsels.
„Fühlt euch wie zuhause“, setzte das blonde Wesen noch einen drauf, was mir als Kenner von Funkes Vorstellungen zu Fragen des häuslichen Benimms, fast etwas zu weit ging. Dann widmeten sich beide ihren Gastgeberpflichten und wir lümmelten zwischenzeitlich etwas verloren in der Gegend rum. Aber nur kurz, denn nachdem er es nicht versäumt hatte, mich mit einem triumphierenden Blick des fortgesetzten Bedenkenträgertums zu verspotten, mischte sich Tito unters vorwiegend eher spießig anmutende Volk. Eine bessere Bühne konnte es für einen wie ihn gar nicht geben. In seinen angestammten Kreisen eine Augenbraue dazu zu bewegen, dass sie sich anerkennend hob, gestaltete sich angesichts der dort vorherrschenden Konkurrenz recht schwierig, aber hier war er als Bürgerschreck allein auf weiter Flur und der Alleinvertretungsanspruch sicherte ihm die volle Aufmerksamkeit. Ich bemerkte, wie sich hie und da schlanke Hälse höherer Töchter nach dem Kerl verdrehten, den das Flair von Abenteuer und Künstlertum umgab, und wie dieser begann, die Planung der nächsten Stunden auf dieses Entgegenkommen abzustimmen.

Zwar siedelten meine Erwartungen in wesentlich bescheideneren Bereichen, doch den einen oder anderen Schwatz herbeizuführen, das mochte selbst einem Wischiwaschitypen wie mir gelingen. Das Gespräch bildet ja schließlich die Grundlage jenes Berufszweigs, von dessen Eleven heute Abend dieser Wiesengrund überfloss. Die Chancen auf Interaktion hätten also kaum verheißungsvoller sein können. Damit zuckelte ich los, versorgte mich unterwegs mit einer Bierflasche und hatte dabei das Gefühl, mein Schatten hätte sich plötzlich zu ungekannter Stofflichkeit verdichtet. Jeder Schritt, jede Bewegung schien sich in ihm nicht nur nachzuformen, sondern zu wiederholen, mit zeitverzögerter Geräuschkulisse. Ein Blick über die Schulter belehrte mich, dass dem Klettengefühl nichts Übersinnliches anhaftete. Lediglich Funke, der sich aus unerfindlichen Gründen aufgefordert sah, mir auf Schritt und Tritt zu folgen und dies keineswegs unauffällig.
Die Anerkennung als Führungspersönlichkeit, begriff ich, stellt offensichtlich keinen absoluten Wert an sich dar. Sind Leute wie Funke die Adepten, geht wenig Glanz von der Rolle aus. Applaus aus dem falschen Lager, das hat schon so manchen vergrätzt. Wie viele Künstler haben wohl schon den Abschied von der Bühne genommen, nur weil sich ihnen ein völlig unakzeptables Publikum zuwandte. In der kritischen Selbstbetrachtung erleidet das Werk eine empfindliche Abwertung, feiert man damit ausgerechnet bei Idioten Erfolge. Solange sich dieser in monetärer Zuwendung ausdrückt, mag es ja noch angehen, aber in meinem Fall fiel dieser einzig sinnstiftende Nutzen einer fehlgeleiteten Bewunderung flach. Ich hatte Funke an der Backe und in dem Deal steckte höchstens altruistisches Kapital.
Warum war er nicht Tito hinterher gedackelt? Dessen Persönlichkeit besaß doch entschieden mehr Potential mitreissend zu sein. Ich dachte darüber nach und verstand, genau in diesem Punkt lag der Hund begraben - Titos Strahlkraft war zu stark. Blinde sprechen wahrscheinlich eher auf Einäugige an, als auf einen, der über die volle Sehkraft gebietet. Makelbehaftete lassen sich von Makellosigkeit einschüchtern, sie scharen sich lieber um die Fahne eines Semigottes als eines echten Messias. Aber vielleicht war das auch alles viel zu weit gegriffen. Schließlich stellte ich für Funke nur eine aus der Not geborene gesellschaftliche Zwischenlösung dar. Wir hatten, nüchtern betrachtet, wenig gemein. Einmal hatte ich ihm eine Box zum Reparieren übergeben. Davon ließ sich nichts ableiten, was eine lebenslange Freundschaft rechtfertigte. Umso mehr, wenn man sich das Ergebnis seiner Bemühungen ins Gedächtnis rief.

Also stellte ich das Grübeln ein und lenkte meine Schritte zum Grill. Dort war die Braterei in vollem Gange. Im Pulk der Herumstehenden würde sich bestimmt einer befinden, der Funkes psychografischem Profil besser entsprach als ich. Irgendein wirrer Technikfreak (so einen gibt es auf jeder Party), der mich bald von der Last seiner Anhänglichkeit befreien würde. Sobald das entsprechende Stichwort fiel, würden sich die Seelenbrüder erkennen und anfangen, miteinander in einen regen Gedankenaustausch zu treten. Um die Sache zu beschleunigen überlegte ich, ob es vielleicht hilfreich wäre, einfach mal Transistor in die Runde zu rufen. Aber so eine Eröffnung hätte bei den normal gestrickten Gästen Irritation hervorgerufen und mich nicht gerade ins beste Licht gerückt. Deshalb beließ ich es bei einer konventionellen Begrüßung, wünschte allerseits einen schönen Abend, worauf die in vertrautem Geplauder Vertieften ihre Reihen öffneten und mich, leider auch Funke, zu sich hineinließen.
Mittlerweile war die Nacht über das Gartengrundstück hereingebrochen und das Szenario, mit dem Schimmer der Glut auf den Gesichtern, wirkte recht schemenhaft. Auch die bunten Birnen änderte daran wenig. Für mich im wahrsten Wortsinn ein Blind-Date, denn nicht nur waren mir die Anwesenden unbekannt, sondern dank Düsternis und Kurzsichtigkeit bekam das Ganze irgendwie den Charakter einer Radioveranstaltung. Wortbeiträgen floss dadurch ungeahnte Bedeutung zu. Weshalb die Unterhaltung etwas stockte, seit ich mit Funke am Grill aufgetaucht war. Na ja, so ist das ja immer, wenn man als Neuzugang auf ein eingespieltes Team trifft. Das Mädchen neben mir brach das Eis.
„Woher kennt ihr denn den Konrad?“ sprach sie mich an. Alle spitzten die Ohren, auf dem Grill brutzelten die Würste.
„Oh, ich bin der Präsident des hiesigen Renault 12 Fanclubs“, wechselte ich ins Fach des Spaßvogels. Wie üblich mit durchwachsenem Erfolg.
„Ach so?“
„Du kennst doch seine bevorzugte Strategie bei der Fahrzeugbeschaffung?“
„Fahrzeugbeschaffung? Ich fürchte, da komm ich nicht ganz mit.“
Einige machten sich daran das Grillgut umzuschichten. Die reinsten Übersprungshandlungen.
„Na ja, es lässt sich ja kaum verheimlichen, dass Konrad große Stücke auf französische Ingenieurskunst hält. Immer nur Renault 12, na du weißt schon.“
„Nein, ist mir noch nie aufgefallen.“
„Studierst du nicht auch Psychologie?“
„Ja, wir sind alle Kommilitonen“, stellte sie fest. Ich wollte einwenden, dann sei es aber komisch, dass ihr Konrads Fixierung der automobilstischen Art nicht aufgefallen sei. Ließ es aber aus Gründen der Räson bleiben. Außerdem kam gerade der vorbei, dessen Spleen beinahe zum Objekt der wissenschaftlichen Erörterung geworden wäre.
„Ist hier etwa von mir die Rede?“ meinte er aufgekratzt, was der Stimmung gut tat. Schnell war aufgeklärt, was es mit meinen Anspielungen auf sich hatte.
„Mit dem Modell bin ich so vertraut, das reparier ich mit verbundenen Augen“, gestand er.
Damit war alles Wissenswerte zu dem Thema ausgesprochen und die Spekulationen über die richtigen Garzeiten von Grillgut beherrschten die Agenda. Ein weites Feld und die Meinungen dazu waren klassenunabhängig, was für eine ungezwungene Diskussion sorgte. Selbst Tito, der sich unterdessen ebenfalls eingefunden hatte, vertrat dazu gemäßigte Ansichten. Bei allen Grillpartys steht am Anfang diese kommunikative Aufwärmrunde, eventuell noch mit sanften Anklängen zu Fragen des Vegetariertums, aber immer im Bemühen, einen gewissen Grundkonsens unter den Beteiligten herzustellen. Der ließ auch hier nicht lange auf sich warten. Danach verselbständigten sich die Gespräche. Zwei Frauen tauschten sich über die Marotten eines Profs aus, Tito fesselte eine ganze Gruppe mit Berichten aus dem Underground und Konrad erübrigte für jeden ein paar nette Worte.
„Habt ihr leicht hergefunden?“ fragte er mich.
„Kein Problem.“
„Man hat mir übrigens einen GS angeboten.“
„Wirklich? Einen Citroen?“
„Genau“, schmunzelte er.
„Soll das heißen, ich muss auf meine alten Tage etwa umdenken?“
Er lachte und sagte, es täte ihm Leid vom Erwartungsschema abzuweichen.
„Aber so radikal ist der Paradigmenwechsel nun auch wieder nicht, stimmt´s?“
„Wie man´s nimmt. Selber reparieren gehört dann aber der Vergangenheit an“, gab ich zu Bedenken.
„Ist nicht gesagt. Außerdem, nur ein notorischer Pessimist denkt bei einem Autokauf zunächst ans Reparieren.“ Ein freundschaftlicher Klaps auf meine Schulter schloss sich an. Ich fühlte mich ertappt und faselte etwas von realistischer Weltsicht, wobei er lachend das Weite suchte. Wahrscheinlich hatte er recht. Also beschloss ich, meiner Neigung zur Schwarzmalerei mal eine Pause zu gönnen. Es ließ sich ja mittlerweile ganz gut an. Wo man hinsah fröhliche Gesichter und noch erfreulicher, offenbar gab es hier keine Defizite bei der Frauenquote. Psychologie schien aus vielerlei Gründen gar kein so übler Studiengang zu sein. Man erfuhr etwas über seine Macken und feierte Feten im Kreise des schönen Geschlechts. Und das alles ohne Numerus Clausus. Vielleicht fehlte es dem Milieu etwas am Punk-Appeal, aber flotte Sommerkleider stellten eigentlich gar keine so unwillkommene Abwechslung dar, besonders wenn man Trümmerweibs burschikosen Aufzug als Vergleichgrundlage heranzog. Ich betrachtete die unter kurzen Röcken hervorlugenden Damenbeine und fand es höchst angenehm, dass ich mich in einer Umgebung befand, in der Bundeswehrhosen der modische Durchbruch bislang versagt blieben.

Dann hieß es plötzlich, der Zeitpunkt für den Imbiss stünde kurz bevor und mancherorts wurde schon nach Papiertellern gegriffen. Konrad kam mit frischen Würsten für den zweiten Durchgang, die Gastgeberin assistierte ihm dabei, kurzum, alles drängte sich um die Feuerstelle. Dazu zwitscherten irgendwelche spätberufenen Amseln, keine Musikberieselung machte lautes Sprechen nötig, desgleichen wenig Aufhebens von sich machte der Straßenverkehr. Von dichtem Buschwerk gedämpft, bekamen selbst die Motorengeräusche der selten vorbeiziehenden Wagen einen Upperclass-Touch.

In einem dieser idyllischen Momente wandte ich mich zu meiner Nachbarin. Sie stand da, ich sah ihr einladendes Lächeln im Profil und wollte gerade zu einer geistreichen Bemerkung ausholen, als mich etwas anstupste. Jeder Mensch ist im Grunde ein Reizbeantwortungsmaschine und als Mutter aller Reize gilt die mechanische Stimulation der Rezeptoren in den höheren Hautschichten. Mich trifft also keine persönliche Schuld, wenn ich meine höheren Ziele kurzfristig aus den Augen verlor und den Kopf in die Richtung schwenkte, von woher der Druck auf meine Rippen ausgegangen war. In dieser an Friedfertigkeit kaum zu überbietenden Atmosphäre durfte man sich gefahrlos spontanen Impulsen anheim geben. Also schaute ich ziemlich arglos nach links und eine ovale Fläche mit Schnauzbartquerbalken, Funkes Gesicht, reckte sich erwartungsvoll zu mir empor.
„Weißt du was?“ brachte er, für einen der sonst die Brummigkeit pflegt, recht schneidig und wohlartikuliert zwischen seinen Lippen hervor. Dabei war verständliche Aussprache gar nicht nötig, befanden wir uns doch in einer jener merkwürdigen Gesprächspausen, die manchmal selbst die angeregtesten Runden einlegen, bevor das Geplapper von neuem losgeht. Sogar die Vogelschar beteiligte sich daran und auch knatternde Auspuffe gehörten im Moment zu den bedrohten Arten. Wer jetzt das Wort erhob, fand zwangsläufig Gehör.
Wie gesagt, war in meinem Bewusstsein die für Funke zuständige Sorgenabteilung zwischenzeitlich dem Schlendrian erlegen, weshalb ich einfach, wie jeder andere ganz ruhig abwartete, was uns der Knabe nun eigentlich mitzuteilen hatte. Dabei beunruhigte mich nicht einmal, dass er weiterhin nur mich fixierte und wir uns wie zwei Schauspieler in einem Zweipersonen-Stück gegenüberstanden.
„Mir ist nämlich aufgefallen“, spannte uns der Leading-Actor nicht lange auf die Folter und dabei trat ein Glühen in sein Gesicht, das nichts mit dem Grill zu tun hatte, „dass die Fotzen in Berlin genauso übel sind, wie die Fotzen bei uns daheim!“
Sprach´s, drehte sich zur Seite und verschmolz so abrupt mit dem Hintergrund, als wäre ein auf ihn gerichteter Scheinwerfer ausgeknipst worden. Ein perfekter Blackout, bis auf den ausbleibenden Applaus. Stattdessen brach ein ziemlich beredtes Schweigen an, eigentlich tosende Stille, wenn es so was gibt. Nur mein inneres Ohr bekam was zu hören, da schepperte und klirrte der eben gefallene, an Hässlichkeit kaum zu überbietende Ausdruck wie ein alter Eimer den man ein steinernes Treppenhaus hinunterkickt. Und die Stockwerke wollten kein Ende nehmen.
Mir wurde bewusst, dass ich in Schreckensstarre immer noch Funke anglotzte. Der führte ungerührt sein Bier zum Mund und nuckelte daran, als wäre nichts geschehen. Vielleicht mag regungsloses Verharren in Reptilienkreisen Erfolge feiern, bei Menschen aber kann der Eintritt eines solchen Zustands nur als Irrläufer der Evolution bezeichnet werden. Denn noch wäre etwas zu retten gewesen.
„Ha, genau“, hätte ein geschmeidigerer Kerl als ich nicht gezögert einzuwerfen, „das ist doch eine Stelle aus einem dieser ätzenden Schock-Gedichte von Gottfried Benn, stimmt´s? Im Fieberwahn, wenn ich mich nicht irre, aus dem Kanon der Irrenstation-Lieder.“
Leider war ich nicht dieser geschmeidige Kerl, die alte Leier, mangelnder Weltschliff, usw. Wenigsten bekam ich stückweise die Kontrolle über grundlegende Körperfunktionen zurück. Ich nutzte sie, indem ich etwas räumlichen Abstand zwischen mich und Funke brachte. An Platz herrschte kein Mangel. Neben mir, das Mädchen, war verschwunden und sie stellte keineswegs einen Einzelfall dar, wie ich anlässlich eines zerknirschten Rundumblicks feststellte. Nur ein paar Hartgesottene, Schwerhörige oder von unaufschiebbarem Hunger Geplagte fanden noch, dieses Stück Rasen sei the place to be. Und als Funke plötzlich herumfuchtelte, auf denjenigen deutete, der sich gerade eine mit Schmauchspuren versehene Thüringer Rostbratwurst vom Grill angelte, dabei zornig ausstieß, „Hallo, die nächste ist aber meine. Nur damit das klar ist“, ließ das auch noch die letzten Ausharrer auseinander strömen.
Das Votum dieser Abstimmung mit den Füßen fiel eindeutig aus. Ich hätte mich gerne daran beteiligt, hatte aber meine Zweifel, ob es dafür nicht schon zu spät sei. Oder ob ich, nach genauem Studium der Indizienlage, überhaupt zu den Wahlberechtigten gehörte. Schließlich hatte sich Funke mit seinem Höllensatz dezidiert an mich gewandt, obendrein waren wir gemeinsam auf der Party erschienen, was ja nur bedeuten konnte, dass wir dicke Kumpels waren, zwei vom selben Schlag. Und von Kumpels weiß man, dass ihre Ansichten und Werte in entscheidenden Punkten übereinstimmen. Das Urteil der zu Recht Empörten schmiedete mich mit Funke zusammen. Ich musste mich nur umschauen und fand dafür reichlich Beweise. Die Blicke, der in die Randbezirke Geflüchteten, sprachen eine unmissverständliche Sprache.
Funke hatte entweder keinen Schimmer, in welche Lage er mich gebracht hatte, oder er machte sich nichts daraus. Ich stand wie gelähmt, er aß mit einigem Appetit. Den Grill hatten wir für uns allein.

Über der Terrasse, hinter den Panoramascheiben, ging das Licht an. Ich erkannte Konrad im konzentrierten Gedankenaustausch mit seiner Freundin. Das heißt, eigentlich sprach nur sie, er hörte zu. Mehrmals strich er sich nachdenklich übers Kinn. Bei einem abgeklärten Typen wie ihm steckte in der Geste einige Aussagekraft. Selten hatte ich ihn derart die Beherrschung verlieren sehen. Währenddessen überbrückte ich die Zeit mit ziellosem Zigarettenpaffen und gedachte dabei der schlanken Beine, denen mich Funke so nachhaltig entfremdet hatte. Die Kippen schmiss ich nicht auf den Rasen, sondern drückte sie gesittet im nächstgelegenen Aschenbecher aus, als ob das noch etwas geändert hätte.

Von Tito war lange nichts mehr zu sehen gewesen, auch war sein auffälliges Lachen seit dem Vorfall nicht mehr in Erscheinung getreten. Was mich aber nicht daran hinderte einen Entschluss zu fassen. Wie ein Soldat mit einem Marschbefehl, auf dem die Tinte noch nicht trocken ist, verließ ich kurzentschlossen die Lokalität. Klammheimliches Verdrücken schien mir das Beste. Zu einer Verabschiedungsszene unter gegenseitiger Versicherung unserer Wertschätzung wäre es, so wie die Dinge lagen, ohnehin nicht gekommen.
Schnell fielen die auf wenig Ausgelassenheit hindeutenden Festgeräusche hinter mir zurück, nicht aber das komische Echo, das schon früher meine Ortswechsel begleitet hatte. Auf der Straße verdichtete sich die Gemengelage zu folgender ernüchternden Erkenntnis: Einerseits war der Capri verschwunden, andererseits klebte Funke an mir wie ein Preisschild. Umgekehrt wäre es mir zwar lieber gewesen, aber sein Schicksal bekommt man ja höheren Orts aufgebürdet. Ich beschloss das Gesetz des Handelns wieder an mich zu reißen, indem ich mich in Bewegung setzte, ohne gegenüber allfälligen Begleitern Ziele und Absichten zu nennen.

An der U-Bahnstation war Funke aber immer noch gleichauf, auch stieg er in denselben Waggon wie ich, was meine Verschleierungstaktik vollends zum Fehlschlag stempelte. Jetzt konnten mich nur noch die Kontrolleure der BVG von Funkes Gegenwart befreien, denn er hatte keinen Fahrschein gelöst. Selber mit einer gültigen Monatskarte ausgestattet, ersehnte ich zum ersten Mal den Auftritt der blauen Uniformen, doch der unterblieb. Wo war die Ordnungsmacht, wenn man sie mal brauchte? Nach einer wortlos verbrachten Fahrt erreichten wir den Nollendorfplatz. Unnötig zu erwähnen, dass sich Funke anschloss, als ich ausstieg. Auf der Treppe blieb er mir dicht auf den Fersen und wenig später im Café Swing suchte er sich nicht etwa ein abgelegenes Plätzchen, sondern teilte sich wie selbstverständlich mit mir einen Tisch. Ein einträchtigeres Pärchen hatte es seit Pat und Patachon nicht gegeben. Als eine Bedienung aufkreuzte, die schwer an Siouxsie von Siouxsie and the Banshees erinnerte, fand Funke kurzfristig zur Sprache zurück. Er nutzte seine verbalen Fähigkeiten diesmal in gesellschaftlich verträglicher Weise, bestellte ein Bier und unterließ es, an seine Ausführungen zur modernen Frau und deren Stellung in der Welt anzuknüpfen. Eigentlich hatte er dazu ja auch alles gesagt. Ferner stand zu befürchten, dass ihm hier ein Vertreter jener geschmähten Gattung gegenüberstand, der seine kecken Ansichten nicht ganz widerspruchslos hingenommen hätte. Der resoluten Art, wie uns die Flaschen hingeknallt wurden, vermochten sich selbst potentielle Weiberhasser nicht zu entziehen. Die Botschaft kam an. Und als sich Siouxsie mit einem wütenden Blick zurückzog, war sie völlig ahnungslos, dass sie sich gerade im Kampf um die Frauenemanzipation einen Stern verdient hatte.
Danach saßen wir wieder still nebeneinander, wie zwei, lediglich von einer zufälligen Sitzordnung im Wartesaal des Lebens Zusammengewürfelte. Keine ganz unberechtigte Metapher, angesichts des Ambientes und der lahmen Stimmung, die in dem gekachelten Lokal zu so früher Stunde gewöhnlich vorherrschte. Weit entfernt, in einem Grunewalder Garten, lösten sich vermutlich in dieser Minute die Fesseln des Unbehagens. An mangelndem Gesprächsstoff würde es nicht liegen, wenn die Party nicht in Fahrt kam, für den hatten wir schließlich gesorgt.
Und auch ich konnte mich nicht über mangelndes Material für Grübeleien beklagen. Wie ein Mantra wälzte sich Funkes dämlicher Ausspruch durch mein Oberstübchen und den Erklärungsversuchen ging es nicht besser. Was hatte ihn nur zu dieser Wahnsinnstat bewogen, wobei Wahnsinnstaten zeichnen sich selbstverständlich gerade dadurch aus, dass sie sich landläufigen Erklärungsmustern entziehen. Trotzdem wollte ich es wissen. Ich fand, ich hätte einen Anspruch darauf zu erfahren, wodurch die bis dato größte Blamage meines Lebens ausgelöst worden war. Sollte ich Funke direkt darauf ansprechen? Besser nicht. Delinquenten fehlt es nicht selten an der nötigen Schuldeinsicht. Wenn schon kein abwesender Funke, dann war mir ein schweigender das Zweitliebste. Eine Viertelstunde kroch dahin. Dann die Erkenntnis. So plötzlich kam sie über mich, dass ich ein uncooles, gegen die Stirn schlagen nicht unterdrücken konnte. Siouxsie fand wenig Geschmack an solch spießigen Gefühlsausbrüchen, aber den Tiefpunkt in ihrer Achtung hatte ich bereits als Funkes Gefolgsmann erreicht, ein weiteres Absinken war ausgeschlossen.
Na klar, warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht: Nur Trümmerweib kam als Dreh- und Angelpunkt der Affäre in Betracht. Bisher hatte ich immer geglaubt, eine Frau wie sie wäre wohl eher imstande niedrige Begattungsinstinkte im Manne zu wecken, als den Minnesänger aus selbigen hervorzulocken, aber offenbar hatte ich sie da unterschätzt. Zumindest bei Funke schien ihr spröder Charme einige Sprengkraft entwickelt zu haben. Dessen kleines Herz dürstete derart nach Zuwendung der weiblichen Art, dass es, tröpfelten nach langer Dürreperiode endlich mal ein paar freundliche Worte herab, gleich davon ausging, der bevorstehende Frühjahrsregen gälte ihm. Gedüngt werden sollte natürlich nur das Feld mit der Aufschrift „Transporterrequirierung“, aber einen gewissen Streuverlust gibt es ja bei jedem Wolkenbruch, den kalkulierte Trümmerweib sogar ganz bewusst mit ein. Ziemlich fies von ihr. Ich hatte ja nie in den höchsten Tönen von ihr geschwärmt und so wie es aussah, hatte es damit seine Richtigkeit. Daraus ergab sich folgendes Fazit: Blieb mir im Grunewald schon jegliche Rehabilitation versagt, so widerfuhr wenigstens meinen Ressentiments Gerechtigkeit.
Als ich aufstand und auf den Kerl blickte, dessen Gemütsverfassung mir keine Rätsel mehr aufgab, tat er mir fast ein bisschen Leid.
„Ich geh mal rüber ins Metropol.“
„Ich komm mit“, rappelte er sich auf.

Das Metropol unterhielt seine Gäste heute mit einem besonderen Spektakel. Auf einer Videoleinwand wurden freizügige Musikclips gezeigt. Als wir eintraten, tummelten sich gerade die Stranglers in einer Schar barbusiger Miezen. Es waren schlanke Frauen, Funke würde ihr Anblick also nicht zu nahe gehen, er schwärmte ja eher fürs Barocke.
Nicht lange und eine Bedienung, die wie Annie Lennox aussah (eigentlich sah sie sogar besser aus), scharwenzelte um uns herum. Das heißt, ihr Interesse war natürlich rein professioneller Art und darüber hinaus besaß sie einigen Berufsethos, denn sie hing nicht dem Irrglauben an, das Tätigkeitsprofil der Tresenkraft erfordere zwangsläufig das Herabkanzeln der Gäste. Dieses Wissen hatte sie Siouxsie von gegenüber voraus und für mich, als ausgewiesenem Kenner der Materie, war klar, dieses Mädchen war ein original Berliner Pflänzchen. Nur ehemalige Wessis brachten regelmäßig schroffes Benehmen mit der hohen Kunst der Coolness durcheinander, so wie sie keinen Satz ohne das obligatorische „wa?“ beenden konnten. Vor kurzem wäre da zwar noch ein „gell?“ oder „host mi?“ fällig gewesen, aber Über-Assimilation treibt halt zuweilen seltsame Blüten. Jedenfalls erreichte uns Annies Anfrage, ohne dass es in den Gehirnregionen, wo Spezialisten den Sitz des Minderwertigkeitskomplexes vermuten, zu erhöhten Dopaminausschüttungen gekommen wäre. Einer reibungslosen Transaktion stand nichts im Weg, doch plötzlich regte sich in Funke wieder die mitteilsame Ader.
„Ist das ein Sony?“ deutete er nach vorne, zum Großbildschirm. Anstatt ihm ins Gesicht zu springen blieb die Bedienung freundlich, sagte nur, sie wisse es nicht, er solle den Geschäftsführer fragen. Der befürchtete Eklat blieb aus und als sie kurz darauf mit unserer Bestellung zurückkam, wechselte sie mit Funke ein paar Worte und dabei zielte ihr ausgestreckter Finger auf einen Mann am anderen Ende des Tresens. Ich spürte wie es in Funke arbeitete, wie der Technikfuzzi in ihm die Oberhand gewann und mir war klar, bald würde er zu seiner ersten Solotour aufbrechen. Nach wie vor ergötzte reichlich nacktes Fleisch, dank fernöstlicher Hightech auf Lebensgröße gebracht, das glotzende Publikum und wer da mit einemmal aufstand war nicht etwa ein empörter Kirchenmann, sondern jemand mit einem ganz anderen Anliegen. Der Zeitpunkt des Auswilderns war gekommen.
Irgendjemand hatte mir mal erzählt, indem man einen Veranstaltungsort rückwärts gehend betritt, könne man sich in fast jedes Konzert gratis hineinstehlen (Gedränge und allgemeines Durcheinander vorausgesetzt). Auf den Kontrolleur an der Kasse wirke nur ein vorwärts strebender Hinterkopf verdächtig, solange aber das Gesicht zu sehen sei, selbst ein nach hinten ausweichendes, die Sperren überwindendes Gesicht, würde es dessen selektiver Wahrnehmung entgehen. Solches hatte man mir jedenfalls versichert. Da mir Funke, während er die lange Bar abschritt, ständig nervöse Blicke über die Schulter zuwarf, hielt ich es für naheliegend, ihn im Moment als meinen Kontrolleur zu begreifen. Ohne mich war er aufgeschmissen, war er Strandgut in einer fremden Stadt mit sehr unzuverlässigen Gezeiten. Die Gischt würde ihn nicht automatisch an die richtigen Gestade spülen, dort wo ein treuer Transporter nebst einem untreuen Trümmerweib seiner harrten. Um das Wunder dieser Familienzusammenführung wahr werden zu lassen, dafür bedurfte er meiner Stadtführerdienste. Ich fand, Funke hätte meine Dienste schon etwas über Gebühr beansprucht.
Sowie er beim Geschäftsführer angekommen war, erhob ich mich. Funke beugte sich über den Tresen, ich machte einen Schritt retour. Dann noch einen. Wie erwartet, holte er zu einem letzten Schnüfflerblick aus. Meine unverdächtige Vorderfront vor Augen, fasste er schließlich Vertrauen und trat in einen hastigen Gedankenaustausch mit dem Mann, von dem er sich die ersehnten Informationen versprach. Eine Kehrtwende leitete meinen Abgang ein. Draußen, am Saum des Nollendorfplatzes, reihten sich ein paar Nachtbusse, einer davon startbereit. Auf den hetzte ich zu wie ein verspäteter Besucher von Alcatraz auf die im Nebel glimmenden Lichter der letzten Fähre. Mit einem Sprung rettete ich mich an Bord. Der Fahrer warf den Diesel an. Sogleich teilte sich die Welt in zwei Zonen, in eine freundliche und helle, sich spiegelbildlich über die Scheiben des Innenraums ausbreitend und just dahinter begann die andere, wo Drangsal und Trübsinn herrschten, Funkes exklusives Ressort.

*

Bertie kam hereingetänzelt. Schwarze Lederjacke, schwarze Hosen, schwarze Seele. Na ja, partiell. Er hatte auch seine guten Seiten, auch wenn er damit einen eher sparsamen Umgang pflegte. Seine nur knapp am Basedow vorbeigeschrammten Glotzerchen setzte er hingegen großzügig ein. Nachdem er sie ausgiebig in alle Richtung geschwenkt hatte, Schnorrpotentiale aufspürend, setzte sich der Schlacks in Bewegung. Auf einem Barhocker lehnte ich mit dem Rücken gegen die neonhelle Kuchenvitrine, was meine Anwesenheit, selbst für weniger dem Idealtypus Augenmensch zuneigenden Zeitgenossen, nicht gerade zum bestgehütetsten Geheimnis stempelte. Das letzte Mal waren wir uns in Titos Wohnung begegnet, jetzt trafen wir auf neutralem Boden, im Café Swing, wieder aufeinander.
„Hi.“
„Hm, hallo.“
Trümmerweib und Funke waren längst zu einer Leerfahrt in den Westen aufgebrochen, wenigstens ging ich davon aus. Mein Kontakt zu dieser Bevölkerungsgruppe war damals ja abrupt abgebrochen und dabei konnte es ruhig bleiben.
„Tja, ich komme gerade von drüben, vom Loft. Da haben die TV-Personalities gespielt.“
„Echt?“
„Hähä, bin gratis ins Konzert reingekommen.“ Mir fiel ein, Bertie war mein Gewährsmann in Sachen Ticketerschleichung durch Rückwärtsgehen gewesen.
„Der alte Trick, hähä. Wirklich phänomenal, die reinste psychologische Fehlleistung.“
Ich meinte, ich sei im Bilde.
„Müsste eigentlich mal wissenschaftlich erforscht werden. Verkehrst du nicht in irgendwelchen Psychologenkreisen?“
„Verkehrte.“
„Hm, ach so.“
Das stimmte nur halb. Mit Konrad hatte ich mich zwischenzeitlich wieder getroffen. Aber komisch, den Abend im Grunewald hatte er mit keiner Silbe erwähnt. Für einen angehenden Motivationsforscher neigte er sehr zum Verdrängen.
„Mann, stell dir vor, überm Loft, im Konzertsaal vom Metropol, hat gleichzeitig der Grönemeyer gespielt.“
„Soso.“
„Die Idioten waren so laut, dass sich die halbe Decke gelöst hat und auf uns runterkam.“
„Ahja?“
„Also, die Deckenverkleidung. Lauter Styroporplatten. Ich hab welche mitgenommen, liegen draußen.“ Dabei sah er mich mit seinem Schlangenbeschwörerblick an. Ich sagte, dass sei gewiss ein Ereignis von einiger musiktheoretischen Tragweite, falls er aber glaube, ich würde ihm die Dinger abkaufen, wäre er schief gewickelt.
„Na ja, ich wollte es dich nur wissen lassen.“
Derweil steckte ich mir eine Zigarette an. Bertie verfolgte meine Bewegung mit Interesse.
„Ähm, könntest du vielleicht ...“
„Bedaure, ist meine vorletzte, du verstehst.“ Ich hielt die Packung so, dass ihm ihr halbvoller Inhalt nicht entging.
„Na klar, kein Problem.“
Dann rieb er sich die Hände und sagte, ein Bier wäre nicht schlecht.
„Bin gerade etwas klamm. Du könntest mir nicht aushelfen?“
Ich stellte meine Flasche auf den Tresen und durchwühlte die Hosentaschen. Geklimper, auf reichlich Kleingeld hindeutend, war zu hören.
„Tja, bin scheinbar selber völlig blank.“
Seine Aufgekratztheit verlor an Schwung.
„Oh, da kann man wohl nichts machen.“
„Leider nicht.“
Er blieb neben mir stehen, schleuderte Blicke in die Umgebung und ich saß stumm dabei, nahm gelegentlich einen Schluck aus der Pulle.
„Also, als die Decke runterkam“, schwelgte er plötzlich wieder in schönen Erinnerungen, „da war vielleicht was geboten. Der Typ von den T.V.-Personalities fragte, who´s that fucking guy, Grönemeyer?” Er musste kichern. Für einen Engländer war dieser Name wirklich eine ziemliche Herausforderung.

Impressum

Texte: A. Leyn
Bildmaterialien: A. Leyn
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2009

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