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Leseprobe

No risk, no fun

Kati Blum ermittelt - Band 6

Birgit Gruber

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Dies ist ein Roman.

 

Die Namen der behandelten Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden (lebenden oder toten) Menschen wären reiner Zufall.

 

 

Alle Bände der Reihe „Kati Blum ermittelt“ sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

 

Prolog

 

 

»Und hier in der Friedrichstraße Nummer fünf hat sich Jean Paul achtzehnhundertdreizehn für den Rest seines Lebens einquartiert. Der leider etwas in Vergessenheit geratene Schriftsteller hat siebenmal in seiner Wahlheimat Bayreuth die Wohnung gewechselt, bevor er in diesem Haus sesshaft geworden ist.« Der Nachtwächter in seiner historischen schwarzen Kutte zeigte zu einer Tafel, die an dem alten Sandsteinhaus als Huldigung angebracht worden war.

Frederike gähnte und zog ihren Mantel fester zusammen. Es hatte zu nieseln begonnen. Außerdem war es kalt und duster.

Doch was hatte sie erwartet, als sie zugestimmt hatte, mit ihrer alten Bekannten aus ihrer Zeit am Bodensee an einer Stadtführung teilzunehmen? Nun ja, dass es sich dabei um eine Nachtwächterführung handeln würde, damit hatte sie weniger gerechnet. Aber Juliane wollte einen Reiseführer schreiben, der sogenannte ›Geheimtipps‹ enthielt. Als ob es sowas nicht schon längst gab! Spätestens seit dem Internet fand doch jedermann, was ihn besonders interessierte. Doch es war nicht ihre Aufgabe, ihre Bekannte davon in Kenntnis zu setzen. Zumal sich Juliane selbst gerne als extrem schlau bezeichnete. Und solange sie ihr sogar Geld dafür bezahlte, dass sie sie in ihrer Geburtsstadt Bayreuth herumführte, war ihr im Grunde alles recht. Es war ja nicht so, als müsste sie sich ein Bein dafür ausreißen, und ein bisschen Bares konnte sie gerade jetzt gut gebrauchen. Waren doch alle ihre schönen Pläne zerplatzt wie Seifenblasen.

Der Nachtwächter ging weiter, und die Gruppe von circa fünfundzwanzig Personen folgte ihm. Während Juliane ganz vorne dabei war, um auch ja kein Wort zu verpassen, ließ sich Frederike absichtlich zurückfallen.

Ihr war nicht nach Geschichten aus der Vergangenheit und Sightseeing. Das meiste davon wusste oder kannte sie eh schon. Schließlich war sie in Bayreuth groß geworden, auch wenn sie den längsten Teil ihres späteren Lebens am Bodensee verbracht hatte. Dort hatte es ihr gefallen, und während ihrer Ehe hatte es ihr an nichts gefehlt. Nur Kinder waren ihr nicht vergönnt gewesen, weshalb sie irgendwann begonnen hatte sich die freie Zeit in Lindau zu vertreiben. Dort hatte sie die perfekte Kombination aus Spaß, Abwechslung und Urlaubsflair gefunden, während ihre Freundinnen ihren Nachwuchs hüteten.

Damals hatte sie Juliane kennengelernt. Eine aufstrebende Journalistin war sie gewesen, doch auch bei ihr schien über die Jahre nicht alles so gelaufen zu sein, wie sie seinerzeit erwartet hatte. Den Audi TT, den sie ihr damals über ihr gut laufendes Autohaus verkauft hatte, nutzte sie jedenfalls nicht mehr. Andererseits war das schon lange her und somit wenig aussagekräftig.

Ein vorbeifahrender Wagen brachte die Gruppe vor ihr zum Stehen, als sie den Jean-Paul-Platz überquerten.

»Was Sie hier vor uns eingehüllt sehen, ist die Stadthalle«, hörte sie den Nachtwächter sagen. »Sie wurde zwischen siebzehnhundertachtundvierzig und siebzehnhundertneunundvierzig vom Hofarchitekten Joseph Saint-Pierre erbaut, der im Übrigen auch für den Bau der Spitalkirche, die wir vorhin gesehen haben, verantwortlich war, und ebenfalls für das Markgräfliche Opernhaus und das Neue Schloss. Aber dorthin kommen wir erst noch. Die heutige Stadthalle wurde von Friedrich dem Dritten, Wilhelmines Ehemann, als Reithalle errichtet. Damals waren dort der Paradeplatz und das westliche Ende der Rennbahn …«

Sie liefen an dem mit Bauplanen verhängten und eingerüsteten Gebäude entlang. Unter anderen Umständen wäre der Nachtwächter vermutlich stehen geblieben, doch aktuell gab es hier nichts Sehenswertes. Die Stadthalle wurde saniert und würde nach Beendigung sogar einen neuen Namen erhalten.

Für einen Moment blieb Frederike stehen und überlegte, ob sie sich einfach von der Gruppe abseilen sollte. Gleich neben der historischen Baustelle führte ein Weg in den angrenzenden Hofgarten, hinter dem sich ihr Haus befand.

Ihre Hände waren kalt, und Juliane würde sie ohnehin nicht vermissen. Sie hatten lediglich zusammen die Führung gestartet. Seitdem hing ihre Freundin dem Nachtwächter an den Lippen und bemerkte gar nicht, dass Frederike sich zurückgezogen hatte. Eine Tasse heißen Kakao mit Schuss wäre jetzt perfekt, dachte sie und beschloss den Heimweg anzutreten.

Beherzt bog sie ab und betrat den Fußweg in den Park, als sie etwas hörte.

»Frederike? Frederike sind Sie das?«, fragte eine Stimme wiederholt.

Überrascht sah sie sich um. Da der Hofgarten nur mäßig mit Laternen am Wegesrand ausgestattet war, konnte sie im Halbdunkel schwerlich etwas erkennen. Doch dann entdeckte sie eine Gestalt, die seitlich, nahe der Baustellenzufahrt der Stadthalle stand und ihr zuwinkte.

Neugierig trat sie näher.

1

 

 

Vorsichtig steckte ich den Kopf durch die Hintertür. In der Küche der Blumschen Villa wirkte alles wie immer. Maria, die Haushälterin, stand vor dampfenden Töpfen, und der Tisch war bereits gedeckt. Ich senkte meine Lider und schnüffelte.

»Kati! Was treibst du denn da?«, störte Maria meine Bemühungen, herauszufinden, welches Gericht sie uns heute vorsetzen würde.

Ich riss die Augen auf und fühlte mich ertappt.

»Seit wann schleichst du dich denn so an?«, fragte sie weiter, und ich trat ein. Nicht jedoch, ohne misstrauisch zur Küchentür zu schauen, die in den Hauseingang der Villa führte, auf deren anderer Seite sich der Salon befand – Ankes Reich.

Maria folgte meinem Blick. »Hab ich irgendwas verpasst?«

Ich zuckte mit den Achseln und ließ meine Tasche auf einen der Stühle gleiten. »Ich habe eine SMS von Anke bekommen. Sie hat mich eingeladen!«

»Ist nicht wahr!?« Maria blinzelte mit offenstehendem Mund.

Ich nickte, teils auch, um mich selbst zu bestätigen. Ich konnte es ebenso wenig glauben. »Doch!«

 

Um zu wissen, weshalb dieser Umstand so unfassbar war, sollte ich mich vielleicht zuerst einmal vorstellen.

Hallo, ich bin Kati, Anfang bis Mitte dreißig und keineswegs eine gebürtige Blum. In diese altehrwürdige Juweliersfamilie schlitterte ich durch die spontane Heirat mit deren einzigem Sohn Thorsten. Anke Blum ist somit meine Schwiegermutter, was womöglich schon einiges erklärt. Aber man muss auch wissen, dass sie in ihrem Wesen, sagen wir einmal, ziemlich speziell ist. Konkret ist Anke Blum überheblich und herrisch. Sie hat mich von Anfang nicht sonderlich gemocht und war noch weniger begeistert davon, dass ich auch nach dem plötzlichen und viel zu frühen Ableben meines Ehemanns vorhatte zu bleiben. Aber nachdem ich vier gemeinsame Jahre mit Thorsten hier gelebt hatte, fühlte ich mich als ›Zugeraste‹ in Bayreuth und am Blumschen Anwesen inzwischen heimisch. Ursprünglich stamme ich nämlich aus dem Harz.

Ich habe im Laufe der Zeit Bayreuth, die Regierungsstadt von Oberfranken, lieben gelernt. Neben unzähligen kulturellen Sehenswürdigkeiten, die überwiegend auf die Markgrafenzeit zurückzuführen sind, gibt es eine tolle Uni und das weltweit bekannte Festspielhaus, in dem jährlich Richard Wagners Opern neu interpretiert aufgeführt werden. Aber das waren natürlich nicht die Gründe, warum ich nicht mehr von hier wegwollte. Es waren mein Umfeld und die Menschen.

Ich habe hier Nina gefunden, die beste Freundin, die man sich vorstellen kann! Sie ist zwar etwas wild und ungestüm, liebt das Leben und die Männer und wechselt ständig ihre Haarfarbe – wie praktisch, dass sie Frisörin ist! –, aber wir passen perfekt zusammen. Denn auch ich habe durchaus eine verrückte Seite an mir.

Besonders dann, wenn es um Mord und Totschlag geht … Das wird Lars – seines Zeichens Kriminalhauptkommissar – sicherlich gern bestätigen. Obwohl ihm meine Schnüffelei ziemlich auf die Nerven geht, sind wir seit geraumer Zeit ein Paar. Und auch wenn er es nicht gerne zugibt, können wir doch ein richtig gutes Team sein. Privat ebenso wie beim Aufklären von Mordfällen.

Dass ich für knifflige Angelegenheiten durchaus den richtigen Riecher besitze, habe ich herausgefunden, als Marias Mann Richard verschwand. Aber das ist eine andere Geschichte. Maria ist die gute Seele der Blumschen Villa und ebenfalls ein Grund, warum ich mich hier so heimisch fühle. Sie ist für mich eine mütterliche Freundin geworden, die immer für mich da ist und uns regelmäßig mit Essen versorgt. Wie auch heute.

Mit ›uns‹ meine ich übrigens mich und Erik. Der gehört nämlich ebenso zu meiner zusammengewürfelten Familie im Blumschen Reich. Erik ist etwas jünger als ich, groß, gutgebaut und besitzt langes blondes Haar, das er in der Regel als Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Nicht nur sein Name erinnert somit zwangsläufig an einen Wikinger. Nach Richards Tod hat er dessen Platz am Anwesen eingenommen und kümmert sich seitdem um sämtliche handwerkliche Arbeiten, die anfallen.

Das Blumsche Anwesen umfasst nämlich mehrere tausend Quadratmeter, obwohl es mitten in Bayreuth liegt. Neben der hochherrschaftlichen Villa gibt es noch das kleine Kutscherhäuschen, in dem oben Maria wohnt, in der Kellerwohnung Erik. Und dann befindet sich gleich neben der Einfahrt mein Baumhaus, wie Thorsten und ich unsere kleine Wohnung liebevoll getauft haben. Sie liegt über der Doppelgarage und ist zu ihrem Namen gekommen, weil direkt gegenüber eine große alte Eiche steht, die mit ihren Ästen und Blättern hin und wieder meine Fenster kitzelt.

 

Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, und ich kam gerade von meiner Arbeit als Frühstücksfee im Hotel Zur Sonne zurück. Der Begriff gefiel mir besser als ›Kellnerin‹ oder ›Bedienung‹. Ich hatte mir den Job gesucht, da ich als freie Mitarbeiterin bei der örtlichen Tageszeitung nicht genug zum Leben verdiente.

»Hm. Was gibt´s denn heute?« Die Hintertür öffnete sich, und Erik trat schnuppernd ein. Zeitgleich hörten wir durch das gekippte Küchenfenster die Kirchturmuhr läuten. Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich auf seinen angestammten Stuhl fallen.

»Riecht man das nicht?«, meinte Maria und schwang den Kochlöffel.

Ich hielt ebenfalls nochmals die Nase in die Höhe. Mein Magen knurrte.

»Um ehrlich zu sein: Nein«, erwiderte ich mit gerunzelter Stirn.

»Das ist Gulasch!« Unwirsch schüttelte sie den Kopf.

»Ehrlich?«, fragten Erik und ich wie aus einem Mund.

»Also …!« Maria schnappte nach Luft.

Entschuldigend sah ich sie an.

»Na ja, vielleicht muss noch ein bisschen nachgewürzt werden. Mir fehlt heute irgendwie der richtige Geschmackssinn«, räumte sie schließlich ein.

Mir fiel auf, dass ihre Wangen übermäßig gefärbt waren und ihre Augen etwas glasig wirkten. »Sag mal, geht´s dir gut?«

Sie räusperte sich. »Ja. Wieso? Es gibt eben so Tage …«

»Aber du hast auch ein ganz schön rotes Gesicht.«

Mit der linken Hand fuhr sie sich über die Stirn. »Das kommt vom Kochen. Steh du mal dauernd vorm Herd«, brummte sie und drückte mir den Kochlöffel in die Hand. »Hier. Du darfst das Gulasch gerne verfeinern.«

»Okay. Kein Problem. Aber du setzt dich und machst eine Pause«, forderte ich und schob sie sanft auf den nächstbesten Stuhl. Bei der Berührung merkte ich, dass sie sich ziemlich warm anfühlte.

Ich schaute Erik an. Auch seine Wangen verfärbten sich rot, was aber darauf zurückzuführen war, dass er den Vormittag mit Laubrechen in der Novemberkälte verbracht hatte.

»Heute ist es wirklich kühl draußen«, bestätigte er, rieb sich die Hände und fügte mit Blick auf Maria hinzu: »Richtiges Erkältungswetter.«

Die Lippen der Haushälterin bildeten einen Strich. Sie wusste, dass wir es wussten. Sie war krank! Ob ihr das nun passte oder nicht. Und es passte ihr überhaupt nicht! Denn Maria war in sehr vielem gut. Sie konnte kochen, waschen, putzen. Sie war eine wahre Perle im Haushalt und hielt den gehobenen Standard, der in der Blumschen Villa von Anke erwartet wurde, zu jeder Zeit aufrecht. Was sie seit Jahrzehnten tat. Inzwischen näherte sie sich dem Rentenalter, aber ich glaubte nicht, dass sie gewillt war, ihren Job aufzugeben. Das hier war ihr Leben! Das Einzige, was ihr nur schwerlich gelang, war es, stillzusitzen und untätig zu sein. Von dieser Seite betrachtet war sie wirklich geschaffen für ihre Tätigkeit bei der Queen, wie wir meine Schwiegermutter heimlich nannten. Denn Arbeitszeitregelungen waren ihr unbekannt. Ihre Angestellten erhielten ein Festgehalt, darüber hinaus freie Kost und Logis, dafür mussten sie jederzeit abrufbereit sein.

»Kati! Kannst du nicht warten, bis serviert ist? Was sind denn das für Manieren?«, drang in diesem Moment Ankes Stimme schrill an mein Ohr. Wenn man vom Teufel sprach …

Vor Schreck ließ ich um Haaresbreite den Esslöffel in den Topf fallen. Da ich mit dem Rücken zur Tür stand, den Kopf über das blubbernde Gulasch gebeugt, hatte ich sie nicht hereinkommen sehen.

Bis ich mich zu ihr umdrehte, hatte ich mich aber wieder gesammelt. Die Starallüren der Queen waren mir über die Jahre hinweg nur allzu gut bekannt. Nichtsdestotrotz beschlich mich ein Gefühl wie damals zu Schulzeiten, wenn der Lehrer geschimpft hatte.

Hochherrschaftlich stand sie da, die Arme vor der Brust verschränkt, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem stechenden Blick.

Ich schluckte mein Unbehagen hinunter und leckte mir stattdessen den Soßenrest von den Lippen.

»Ich nasche nicht, ich sorge nur für den letzten Pfiff«, erklärte ich dann.

Ankes Stirn legte sich in tiefe Falten. »Dafür ist Maria zuständig!«

»Heute nicht. Sie fühlt sich nicht wohl. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«, fragte ich übertrieben freundlich.

»Ach so?« Nur widerwillig löste sie ihren Blick von mir und schaute zu meiner mütterlichen Freundin.

Die schüttelte lahm den Kopf. Doch bevor sie Einspruch erheben konnte, plapperte ich schnell weiter. »Du magst es doch scharf, hoffe ich?«

Schon griff ich nach dem Pfeffer und ließ etwas von dem schwarzen Pulver in den Topf rieseln.

»Spinnst du?«, quiekte die Queen.

»Traust du mir etwa nicht?« Ich gebe zu, ich koche äußerst selten. Es ist nicht unbedingt meine Berufung, was aber nicht bedeutet, dass ich es nicht kann.

Mit einem Satz war Anke neben mir und stieß mich versehentlich am Arm. Das Gewürzgläschen glitt mir aus der Hand und plumpste in die rotbraune Soße.

»Ups.«

»Ups???«, zischte Schwiegermama.

Mit spitzen Fingern angelte ich nach dem verschmierten Gefäß und schätzte den übrig gebliebenen Inhalt ab. »Da fehlt gar nicht sooo viel.«

Ankes Augäpfel traten unschön hervor.

Schockiert wollte Maria sich erheben, aber Erik verhinderte es.

»Kati macht das schon«, schenkte er mir sein vollstes Vertrauen.

Meine Schwiegermutter hingegen war nicht so zuversichtlich. »Das soll ich noch essen?!«

»Wir. Wir alle wollen das Gulasch essen«, verbesserte ich sie. Wie immer schien sich ihr Universum einzig und allein um sie zu drehen.

»Nun … Ihr könnt euch gerne daran gütlich tun. Ich denke, ich werde heute auswärts zum Lunch gehen«, sagte sie erhaben und reckte ihr Kinn hervor.

Ich zuckte mit den Schultern und rührte emsig in der Fleischsoße herum, in der auch Zwiebeln und Paprikastücke schwammen.

»Vielleicht hat Klaus Lust, sich mit mir zu treffen«, brabbelte die Queen vor sich hin und zückte ihr Handy. Wieder musste ich ein Grinsen unterdrücken. Mein Schwiegervater verbrachte sehr viel Zeit in seinem Juweliergeschäft. Mehr als nötig, hatte ich oftmals das Gefühl. Weshalb ich vermutete, es war seine Art, seiner anstrengenden Frau aus dem Weg zu gehen und somit für den Erhalt ihrer vorbildlichen Ehe zu sorgen. Demzufolge würde er sich sicherlich wahnsinnig über ein gemeinsames Mittagessen freuen …

»Hm. Mailbox«, hörte ich Anke grummeln, als ich gerade einen Löffel zum Kosten in den Mund schob.

»Und?«, krächzte Maria. Angestrengt musterte sie mich.

Ohne eine Miene zu verziehen, drehte ich mich zu ihr um, obwohl ich eine kleine Explosion in meinem Gaumen verspürte.

»Würzig«, erklärte ich leicht keuchend.

Maria stöhnte. »Glaube ich sofort.«

Ich sah Erik an, wie sein Vertrauen in mich dahinschmolz.

»Keine Sorge, das bekomme ich schon wieder hin.« Sofort griff ich in den Kühlschrank, um einen Becher Sahne herauszuholen. Des Weiteren brauchte ich mehr von dem Tomatenmark.

Während ich die rote Pampe aus der Tube einrührte, schielte Anke verkniffen auf meine Hände. Unbeeindruckt goss ich die weiße Flüssigkeit in den Topf.

»Sahne? Im Gulasch?«, jaulte sie. Ihr Vorhaben, auswärtig zu essen, schien sie schon wieder vergessen zu haben.

»Klar. Sahne mildert die Schärfe ab. Nicht wahr?« Bestätigungssuchend guckte ich über die Schulter zu Maria.

Die nickte schwach. Sei es, weil es ihr zunehmend schlechter ging oder weil sie selbst eine andere Lösung vorgezogen hätte, um das Essen zu retten. Ich war mir nicht sicher, gab mich aber mit ihrer Reaktion zufrieden.

Ein klackerndes Geräusch auf dem Fliesenboden unterbrach die kurzfristige Stille. Dann tauchte Susi, Ankes Deutsche Dogge, neben mir auf und wedelte freudig mit ihrem Schwanz. Interessiert schaute sie zu den Töpfen auf dem Herd.

»Also, der Hund findet, dass es hier gut duftet«, erklärte ich zufrieden und zwinkerte Susi verschwörerisch zu.

»Ja dann … ist wohl alles bestens! Oder wie?« Die Queen warf theatralisch die Arme in die Höhe. »Susi frisst Wildragout aus der Dose!«

»Hört sich auch nicht schlecht an. Notfalls kannst du heute doch mit ihr tauschen?«, schlug ich geradeheraus vor. Wieder mal war meine Zunge schneller als mein Kopf.

Prompt verformten sich die Augen der Queen zu Schlitzen. »Jetzt werd nicht frech!«

Sie sah aus, als würde sie mich gleich erwürgen wollen.

»Sag mal, aus welchem Grund wolltest du mich eigentlich sprechen?«, wechselte ich schnell das Thema.

Einen Moment schaute meine Schwiegermutter verdattert drein, dann schien sie sich an die SMS zu erinnern.

»Ach so, ja …«, erwiderte sie, bevor sich ein professionelles Lächeln über ihre Lippen legte. Es fiel ihr eindeutig nicht leicht, auf Freundlichkeit umzuschalten, was nur eins bedeuten konnte: Sie wollte etwas von mir!

»Und?«, hakte ich nach. Dabei war ich mir gar nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Denn die Anliegen oder Aufträge der Queen waren meist nicht nach meinem Geschmack. Aber eins war mir klar, ich hatte plötzlich Oberwasser bekommen.

»Also …« Sie räusperte sich.

Ich probierte meine Gulaschkreation und fand sie gar nicht so übel.

»Etwas pfeffrig, aber wenigstens nicht versalzen«, verkündete ich.

Anke setzte erneut an. »Kati, ich wollte …«

»Du wolltest mir sagen, dass ich eben das Salz in deiner Suppe bin. Richtig?«, vollendete ich ihren Satz übermütig und musste mich bemühen, nicht loszuprusten. Erik erging es ähnlich, wie ich aus dem Augenwinkel wahrnahm.

»Hmpf. Wie wahr!« Anke stöhnte und schaute indigniert zu, wie ich den Topf Gulasch auf den Küchentisch stellte. Dabei fiel mir ein, dass die Queen ihren ›Lunch‹ wie immer im Salon – andere Leute sagten schlicht ›Wohnzimmer‹ dazu – einnahm. In der Küche aßen nur wir drei – das Blumsche Fußvolk. Flugs angelte ich nach dem Teller, den Maria schon bereitgestellt hatte, und schöpfte einen großzügigen Klecks des pfeffrigen ungarischen Gerichts hinein.

Breit grinsend schob ich mich an ihr vorbei, um ihn drüben zu servieren, so wie Maria es üblicherweise tat. Ich kam dabei nicht umhin, zu bemerken, wie Anke schluckte und nach Beherrschung rang.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und folgte mir. Was auch immer sie von mir wollte, es musste ihr wirklich wichtig sein.

»Bon Appétit«, säuselte ich und überlegte, ob ich noch einen Hofknicks hinzufügen sollte.

Schwiegermama klammerte sich an ihrer Stuhllehne fest.

»Nun?«, fragte ich erwartungsvoll.

Kurz schaute sie mich wie versteinert an.

»Kati, ich brauche deine Hilfe. Ich möchte dich engagieren«, sagte sie dann, setzte sich hoheitsvoll und strich ihren Rock glatt.

Irritiert sah ich auf sie hinab und überlegte. Ich hatte gehört, was sie gesagt hatte, aber wusste nicht wirklich etwas damit anzufangen. Gerade als ich mich nachdenklich hinterm Ohr kratzte, hob sie ihren Blick.

Ich hielt in der Bewegung inne.

»Ach ja? Das ist … schön?«, erwiderte ich krächzend, weil ich somit in Zugzwang kam. Die Queen hatte mich noch nie engagiert. Wenn ich etwas für sie erledigen sollte, befahl sie es! Ich gehörte zur Familie, da wurde man für keinerlei Arbeit bezahlt.

Ich nahm die Andeutung eines Schulterzuckens wahr, bevor sie den Stuhl zu ihrer Rechten hervorschob und mir bedeutete, darauf Platz zu nehmen.

»Es ist so. Meine gute Freundin Frederike Fender – du kennst sie doch?«

»Du meinst die lange Hagere, die aussieht, als wäre sie gerne zehn bis zwanzig Jahre jünger?«

Schwiegermama rollte mit den Augen, nickte jedoch. »Ganz so drastisch ist es nun auch wieder nicht. Aber ja, sie versucht ihre Jugend zu erhalten …«

Unwillkürlich strich sie sich mit dem Zeigefinger über die Wange bis hinauf zu ihren Lachfältchen. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie sie zu denen gekommen war. Denn man sah die Queen eigentlich nie herzhaft lachen, wenn dann eher lächeln, und auch das war oft nur angedeutet und erreichte ihre Augen nicht. Lachte Anke etwa heimlich? Vielleicht im Keller? Kam daher der Spruch ›Die geht zum Lachen in den Keller‹? Hatte diese Redensart ihren Ursprung in der Familie Blum?

Ein Geistesblitz jagte den nächsten durch meinen Kopf. Dass ich selbst grinste, bemerkte ich gar nicht.

»Du weißt also, von wem die Rede ist«, holte Anke mich wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Ich blinzelte. »Hm-hm. Und was ist mit der Frau?«

»Frederike. Ihr Name ist Frederike Fender, und sie ist eine gute Freundin«, betonte meine Schwiegermutter.

»Das sagtest du bereits. Um ehrlich zu sein, ich wusste gar nicht, dass du richtige Freundinnen hast«, sprudelte es aus mir hervor. Erst als mich Ankes verschnupfter Blick traf, wurde mir meine Taktlosigkeit bewusst. Manchmal war ich einfach viel zu ehrlich. »Ich meine, das ist schön …«, fügte ich deshalb schnell hinzu.

Pikiert nippte sie an ihrem Wasserglas. »Natürlich habe ich Freundinnen! Frederike kenne ich bereits seit Schulzeiten. Wir haben uns ein Zimmer im Internat geteilt.«

Interessiert hob ich die Brauen. Meine Schwiegermutter hatte ihre Jugend in einem Internat verbracht?

»Lass mich raten. Es war ein reines Mädcheninternat und wurde von Nonnen geführt?«

Als sie meine Vermutung bestätigte, war ich platt.

»Das war damals so üblich.«

Und erklärte so einiges. Ihr steifes Wesen, den erhabenen Gang. Vielleicht sogar ihre Art, die Menschen von oben herab zu behandeln? Besonders fromm war sie allerdings nicht. Obwohl … Zum Sonntagsgottesdienst begab sie sich regelmäßig. Wobei ich immer angenommen hatte, dass sie das als gesellschaftliche Pflicht sah. Es ging um das ›Gesehenwerden‹ und die Pläuschchen mit anderen Gemeindemitgliedern im Anschluss. Die Queen war jederzeit bestens informiert über alles, was in Bayreuth geschah. Nichts passierte ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung.

»Jedenfalls ist Frederike verschwunden«, kam sie auf ihr Anliegen zurück und besaß damit sofort meine volle Aufmerksamkeit.

»Wie meinst du das, sie ist verschwunden?«

»Sie geht nicht ans Telefon. Ich kann sie seit Tagen nicht erreichen.«

Nun … Das könnte verschiedene Gründe haben, dachte ich bei mir. Zum Beispiel, dass sie versuchte, Anke aus dem Weg zu gehen, weil die ihr auf die Nerven fiel? Denn meine Schwiegermutter war ein ziemlich anstrengender Mensch. Womit wir wieder bei der Bezeichnung ›Freundin‹ angekommen wären und dem Nonneninternat.

Ich rief mir Frederike ins Gedächtnis. Sie war ungefähr genauso groß wie meine Schwiegermutter, also knapp eins achtzig. Ähnlich war auch die Figur. Beide waren lang und schlank. Aber in ihrem Kleidungsstil unterschieden sich die Frauen erheblich. Während die Queen stets gepflegt und vornehm herumlief, zog Frederike es vor, ›hipp‹ zu wirken. Zumindest versuchte sie es. Mal sah man sie in sportlichem Outfit, mal in Jeans oder Röcken, die die Designer mit Gewissheit in Gedanken an meine Altersklasse entworfen hatten. Die Nonnenschule schien diesbezüglich bei Frau Fender jeglichen Einfluss verloren zu haben. Oder die Dame hatte schlichtweg Nachholbedarf.

Im Hinblick darauf fragte ich Anke: »Passiert das denn öfters, dass sie abtaucht?«

»Nein. Eben nicht! Warum auch?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin ihr nur ein paarmal begegnet. Aber sie sieht nach einer Frau aus, die gerne Spaß hat.«

»Schon möglich. Doch sie war noch nie wie vom Erdboden verschluckt.«

»Bist du dir denn wirklich sicher? Ich meine, könnte es sein, dass du ein wenig übertreibst?« Wenn die Queen sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann lag es durchaus in ihrem Wesen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Selbst die unwichtigste Kleinigkeit konnte sie derart aufbauschen, dass man am Ende das Gefühl hatte, als würde es sich um einen Staatsvorfall handeln. Das wusste ich aus eigener Erfahrung zur Genüge. Leider!

Entsprechend fiel ihre Reaktion auf meine Frage aus.

»Ich?! Ich übertreibe nie!«, echauffierte sie sich, nahm den Löffel, füllte ihn im royalen Stil und führte ihn ladylike zum Mund.

»Was sagen denn ihre Verwandten? Ihr Mann, ihre Kinder? Hast du mal versucht, die zu kontaktieren?«, meinte ich indes.

Anke schüttelte den Kopf. »Hat sie nicht.«

Das Klirren des Löffels, als er gegen den Tellerrand fiel, ließ mich zusammenfahren. Es dauerte nur einen Augenschlag, bevor die Queen sich keuchend Luft zufächelte. Ihr Kopf errötete vom Hals aufwärts.

Ich biss mir auf die Lippen. Offenbar besaß das Gulasch nachhaltig ›Pfiff‹.

Meine Schwiegermutter räusperte sich und sprach bemüht weiter. »Frederike lebt allein. Sie war verheiratet, aber ihr Mann ist verstorben. Kinder hat sie keine.«

»Ach so.« Auch ich tat so, als wäre mit dem Essen alles in bester Ordnung. Unter anderen Umständen hätte sie wahrscheinlich getobt. Dass dies heute ausblieb, verdeutlichte mir nochmals, wie ernst ihre Sorge um Frau Fender war. »Ist sie vielleicht in den Urlaub gefahren?«, überlegte ich laut.

Anke schüttelte abermals den Kopf. »Davon hätte sie mir bestimmt erzählt. Außerdem ist man heutzutage doch überall auf der Welt erreichbar …«

»Das ist wahr.«

»Kati, ich möchte, dass du der Sache nachgehst«, meinte meine Schwiegermutter plötzlich in eindringlichem Ton und legte unvermittelt ihre Hand auf meine.

Überrascht schaute ich auf. »Warum gerade ich?«

»Ich weiß, wir sind nicht immer einer Meinung.« Das war die Untertreibung des Jahrhunderts! »Aber ich bin weder blind noch dumm. Ich hab doch mitbekommen, wie du Nina aus der Patsche geholfen hast, als sie des Mordes an ihrer Chefin verdächtigt wurde.« Das hatte ich tatsächlich. Aber dafür waren Freunde schließlich da! Zumal ich ein gewisses Näschen besaß, was Mordermittlungen betraf. Da war es keine Frage gewesen, ob ich meiner besten Freundin helfen würde … »Versteh mich nicht falsch, aber dein Freund Lars, dieser Kommissar, ist doch ziemlich im Dunkeln getappt. Ohne dich säße Nina vermutlich jetzt im Kittchen.«

Okay, jetzt sollte ich ihr widersprechen. Lars war ein Top-Ermittler! Früher war er sogar Teil eines Sondereinsatzkommandos gewesen. Er hätte den wahren Täter auch ohne mich gefunden. Na gut, vielleicht eher später als früher. Ich war jedenfalls schneller auf der richtigen Spur gewesen. Doch ich wollte nicht kleinlich sein! Aber die Worte meiner Schwiegermutter klangen geradezu stolz. Konnte das wirklich der Fall sein? Anke Blum war noch nie zufrieden mit mir gewesen, geschweige denn stolz auf mich?! Ich merkte, wie ich ein paar Zentimeter über mich hinauswuchs.

»Du hast ein Talent zum Schnüffeln«, erklärte die Queen jetzt voller Inbrunst. »Und deshalb musst du das einfach für mich tun. Du wirst Frederike finden. Das weiß ich.«

2

 

 

Ich war immer noch völlig geplättet von Ankes Vertrauen in mich, als ich Nina in ihrem Frisörsalon einen Besuch abstattete. Seitdem sie den Laden übernommen hatte und Chefin war, hatte sie deutlich weniger Zeit als früher. An manchen Tagen kam sie nicht einmal dazu, einkaufen zu gehen, weshalb ich ihr versprochen hatte, die von ihr dringend benötigten Utensilien aus dem Drogeriemarkt zu holen. Da sie persönlicher Natur waren, war ihr das dann doch lieber, als ihren derzeitigen Freund Armin darum zu bitten. Wobei er diese Aufgabe mit Sicherheit gerne für sie erledigt hätte. Denn Armin trug Nina quasi auf Händen.

Die zwei waren inzwischen schon eine Weile zusammen, für Ninas Verhältnisse übermäßig lange. Nina war der beste und liebste Mensch auf der ganzen Welt, für eine feste Beziehung jedoch nicht geschaffen. In aller Regel wurde es ihr nach ein paar Wochen, wenn allmählich der Alltag Einzug hielt, langweilig und zu eng. ›Ich glaube dann nicht mehr atmen zu können‹, hatte sie mir einmal gesagt. Wenn sie dieses Gefühl beschlich, war es meist nicht mehr lange hin bis zu Trennung. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass meine Freundin geradezu süchtig danach war, frisch verliebt zu sein. Das Geturtel, die Schmetterlinge im Bauch, es schien fast, als wäre das ihr Lebenselixier.

Was Armin betraf, so war dieser Punkt für Nina offenbar noch nicht erreicht. Der Glückspilz. Dabei hätte ich niemals gedacht, dass ausgerechnet ein Bänker einmal das Herz meiner Freundin längerfristig würde erobern können. Oder lag es einfach nur daran, dass sie durch ihre neue Stellung als Unternehmerin derart ausgelastet war? Womöglich wurde sie aber auch endlich erwachsen …

Die Zeiten änderten sich eben. Wie hieß es so schön: Nichts ist so beständig wie der Wandel! Das traf offenbar sogar auf meine Schwiegermutter zu. Ein Lob der Queen war es wert, den Tag rot im Kalender anzustreichen. Ihre Bitte (!) um Hilfe – unbeschreiblich.

Ich betrat den Salon und wurde sofort von den typischen Geräuschen und dem üblichen Tumult eingehüllt. Föhne summten, Frauenstimmen plapperten, und im Hintergrund dudelte das Radio. Nina entdeckte mich und winkte mir über den großen Spiegel zu, vor dem sie stand und einer älteren adretten Dame das graumelierte Haar stylte. Ich winkte zurück und deutete in Richtung des kleinen Aufenthaltsraums im hinteren Teil des Ladens. Sie nickte und streckte mir fünf Finger hoch, was wohl heißen sollte, dass sie gleich nachkommen würde. Nickend eilte ich weiter und zerrte schon im Laufen an meinem Parka. Der Temperaturunterschied von draußen zu hier drinnen raubte mir schier die Sinne.

Eine halbe Minute später ließ ich den Beutel mit Ninas Einkäufen auf den Tisch, knapp neben halb befüllten Kaffeetassen, fallen und schälte mich aus der Jacke. Dann riss ich mir das dicke Schaltuch vom Hals und war gerade dabei, meine dünnen Handschuhe von den Fingern zu ziehen, als meine Freundin auch schon neben mir auftauchte.

»Hey! Du bist so ein Schatz«, flötete sie und drückte mich im Vorbeigehen, bevor sie nach der Einkaufstüte griff.

»Du lagst sowieso auf meinem Weg.«

»Ach echt? Wo willst du denn hin?«, fragte sie und schaute auf. »Was ist denn mit deinen Händen passiert? Die sind ja ganz rot«, stieß sie dann hervor.

Ich ließ meinen Blick nach unten wandern. Sie hatte recht. Neben den schwarzen Handschuhen, die ich hielt, wirkten meine Finger im milchig-weißen Tageslicht, das durch das Fenster hereindrang, geradezu tomatenrot.

»War vielleicht doch keine gute Idee, mit dem Rad zu fahren«, meinte ich abwesend, während ich meine steifgefrorenen Glieder streckte.

»Du bist geradelt? Bei diesem Wetter? Wir haben Mitte November. Der Winter steht vor der Tür. Was hat dich denn geritten?«

Ich gluckste. »Mich? Niemand. Wenn, dann bin ich auf dem Drahtesel zu dir hergeritten.«

Ich liebte Wortspiele, und normalerweise lagen Nina und ich diesbezüglich auf einer Wellenlänge, doch heute konnte ich ihr nur ein halbes Lächeln entlocken.

»Okay, der Witz war zu flach«, räumte ich ein und rieb mir die Hände.

»Allerdings«, stimmte sie mir zu und schob mir eine dampfende Kaffeetasse hin, an die ich meine Finger legte, um sie zu wärmen.

»Na ja, was soll ich sagen. Als ich losfuhr, hielt ich das für eine gute Idee. Du weißt doch, dass ich nicht gerade ein Sportfan bin. Das Radeln ist eben meine Art der körperlichen Fitness. Dass es nieseln würde, konnte ich schließlich nicht wissen. War eigentlich gar nicht so unangenehm. Nur, dass die Feuchtigkeit auf der Wolle zu Eiskristallen mutiert, damit habe ich nicht gerechnet.« Voller Verachtung betrachtete ich meine klammen Handschuhe auf dem Tisch.

Nina runzelte nur die Stirn und schüttelte bedächtig den Kopf. Ich wusste auch so, was sie dachte. Aber ich liebte mein Hollandrad eben. Es war mir über die Jahre hinweg ein treuer Gefährte. Auch wenn es nicht so toll war wie das neue, das ich mir mal gekauft hatte und das mir kurz darauf gestohlen worden war. Ja, der hellblaue Lack blätterte hier und da ab und förderte kleine Roststellen zu Tage. Anke brachte der Anblick schier zur Weißglut, für sie war das Rad ein Fall für den Sperrmüll. Aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – trat ich mit einem gewissen Stolz in die Pedale des alten Mädchens.

»Und wo willst du sonst noch hin? Mit dem Fahrrad, an diesem wunderschönen Novembertag?«, fragte Nina spitz.

»Das wird dir gefallen, und du errätst es nie.« Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Wie zu erwarten hingen ihre Augen jetzt an meinen Lippen. Nina war mindestens genauso neugierig wie ich. Wobei sie meinte, bei mir wäre das angeboren, bei ihr lediglich eine Berufskrankheit. Vielleicht stimmte das sogar. Als Frisörin musste man sich breitgefächert für viele Dinge interessieren, um die Kundschaft zu unterhalten.

»Nun sag schon. Du weißt, ich hasse diese Ratespielchen«, forderte Nina, als ihr meine Kunstpause zu lange wurde.

»Anke hat mich ›gebeten‹ ihre Freundin zu finden«, platzte ich heraus.

»Wie? Sie hat dich ›gebeten‹? So richtig, also ich meine –«

»Ja. Ganz genau.« Inbrünstig nickte ich. »Sie fand es anerkennenswert – um es mit ihren Worten zu sagen –, wie ich dir geholfen und den Mord an deiner Chefin aufgeklärt habe.«

»Oh ja! Dafür kann ich dir niemals genug danken.« Nina seufzte und drückte meine Hand. Bevor die Situation zu rührselig wurde, fügte sie keck hinzu: »Somit bin also ich dafür verantwortlich, dass du in der Achtung der Queen gestiegen bist. Ich hoffe, das vergisst du nicht.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Meinen herzlichen Glückwunsch! Dann schnüffelst du diesmal im Auftrag ihrer Majestät?«

Wir brachen in schallendes Gelächter aus.

»Seit wann hat deine Schwiegermutter denn Freundinnen?«, fragte Nina, nachdem wir uns wieder halbwegs beruhigt hatten.

»Ich hab mich auch etwas gewundert. Und ich muss zugeben, dass mir der Gedanke kam, dass die gute Frau womöglich aus verständlichem Grund nicht für Anke erreichbar ist …«

»Na, ich würde mich auch vor ihr verstecken«, meinte Nina kichernd. »Eine Dosis Anke Blum im Monat ist mehr als ausreichend.« Sie spielte damit auf Ankes regelmäßigen Frisörtermin an. »Und was hast du jetzt vor?«

»Ach, nichts Weltbewegendes.« Ich winkte ab. »Ich fahre lediglich mal zu ihrem Haus und guck mich um. Eventuell läuft sie mir ja sogar über den Weg. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es da groß was zu ermitteln gibt. Vielleicht ist diese Freundin einfach für ein paar Tage verreist, ohne Anke Bescheid zu sagen. Sie ist dazu schließlich nicht verpflichtet, auch wenn meine Schwiegermutter glaubt, sie sei der Nabel der Welt.«

»Nina?«, rief Kelly, ihre Angestellte, aus dem Frisiersalon zu uns herein. »Frau Hacker hat eben angerufen und abgesagt!«

»Was? Das war ein Zweieinhalb-Stunden-Termin!«, schnappte meine Freundin zurück, doch Kelly antwortete nicht. Es hätte ohnehin nichts daran geändert.

Es verging eine Schweigeminute, dann schossen Ninas Augenbrauen in die Höhe, und sie klatschte in die Hände.

»Weißt du was? Ich komm mit. Das war mein letzter Termin für heute, und ich kann dringend mal ein bisschen Abwechslung brauchen«, rief sie und sprang auf.

 

***

 

Wir liefen sozusagen querfeldein. Über den Bayreuther Marktplatz, die Sophienstraße entlang. Vorbei an der Plassenberger Hofstatt, einem der ältesten Häuser Bayreuths aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das zu den Burggütern der Stadt zählte. Seinerzeit hatte das sogenannte Freihaus einer lokalen Adelsfamilie gehört, heute beherbergte es ein griechisches Restaurant.

Nina schnupperte. »Hm. Das riecht lecker. Ich glaube, ich schreibe Armin eine Nachricht, ob er nicht Lust hat, mich später zum Essen auszuführen. Ich habe schon ewig keine Calamaris mehr gegessen.«

Ich lachte. »So wie ich deinen Armin kenne, wird er sofort einen Tisch reservieren.«

»Das hoffe ich«, antwortete sie grinsend. »Hey, wir könnten doch auch zu viert hin. Was meinst du? Kommt ihr mit?«

Ich dachte an Lars. Grundsätzlich hatte der immer Hunger. Doch seine Laune war derzeit nicht die beste. Als Kriminalhauptkommissar bearbeitete er Kapitalverbrechen verschiedener Art. Aktuell war er hinter einer Bande her, die Falschgeld in Umlauf brachte, was ihm mangels Hinweisen und echter Spuren den letzten Nerv raubte. Ich weiß, dass man sowas nicht sagt und es auch einer gewissen Ironie nicht entbehrt, aber ich glaube, so ein kleiner Mordfall wäre ihm lieber. Momentan war diesbezüglich jedoch alles ruhig im Raum Bayreuth. Sehr zur Freude des Bürgermeisters, des Tourismusmanagements der Stadt und des Stadtrats inklusive meiner Schwiegermutter.

»Ich kann ihn ja mal fragen«, gab ich zurück und überlegte, dass ein voller Magen ihn womöglich etwas umgänglicher werden ließ.

Nina tippte bereits auf dem Display ihres Handys herum und bekam kaum mit, dass wir in die Friedrichstraße wechselten.

Es dämmerte, was durch das trübgraue Wetter des Tages noch verstärkt wurde. Als die Stadthalle in Sicht kam, schaltete sich wie von Zauberhand die Straßenbeleuchtung ein.

»Die werden mit der Renovierung auch nicht mehr fertig, oder?«, stieß Nina beim Anblick des wuchtigen Gebäudes hervor, das seit Jahren mit Gerüsten und Planen eingedeckt war.

Ich blieb stehen und lehnte mich gegen mein Rad, das ich die ganze Zeit neben mir herschob. »Soweit ich weiß, ist es das derzeit größte Bauprojekt der Stadt.«

»Kann man wohl sagen.« Meine Freundin legte den Kopf in den Nacken, um das Ausmaß besser sehen zu können. »Wann haben die Sanierungsmaßnahmen begonnen? Zweitausendsiebzehn, wenn ich mich recht erinnere, und sie sind noch immer nicht abgeschlossen.«

Ich zählte nach. »Fünf Jahre, immerhin …«

»Ja. Was machen die da? Vergolden sie die Wände?«

»Wer weiß? Wollen wir nachschauen?« Auffordernd wippte ich mit den Brauen.

Nina warf mir einen irritierten Seitenblick zu. »Wie meinst du das?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Na ja. Es ist nach vier. Offenbar haben die Arbeiter bereits Feierabend. Ich sehe jedenfalls niemanden. Und irgendwo gibt es bestimmt einen Eingang.« Die Idee gefiel mir. Sie war verwegen und irgendwie spannend. Offenbar war es schon viel zu lange her, dass ich wegen etwas ermittelt hatte. Warum also nicht zur Abwechslung mal meine Nase in derlei Dinge stecken? Ich setzte mich in Bewegung.

»Du spinnst«, erklärte Nina, beeilte sich aber, Schritt zu halten.

Am Jean-Paul-Platz bogen wir in die Ludwigstraße ein, wo sich das Stadthallengebäude rechterseits ein gutes Stück entlangzog. Die Planen flatterten im kühlen Abendwind. Sie reichten schätzungsweise zwei Meter in die Höhe. Darüber war die Fassade in Baustellenmanier zu erkennen, sowie das mächtige Rundbogentor mit seinen zwei Flügeln. Ich erinnerte mich, dass das historische Gebäude im achtzehnten Jahrhundert

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Birgit Gruber
Cover: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2022
ISBN: 978-3-96714-216-7

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