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Zwergenkind

 

Er stürmte vor Freude kreischend das elterliche Schlafzimmer. Und sie beobachtete mit noch müden Augen, wie sein kleiner Kopf sich, von den unbeholfenen Schritten wackelnd, am großen Doppelbett vorbeibewegte.

Ihr Mann drehte sich seufzend zu ihr herum und lugte blinzelnd zu ihr herüber. Während der Kleine das Bett umrandete und nun auf ihr Kopfende zustürmte...

Sie sah ihm dabei zu, sah die auffällig kurzen Beinchen und Ärmchen, die in ihr den Begriff Stummel hervorriefen.

Dann sah sie seine freudig leuchtenden Augen und das glückliche Lachen auf seinem Gesicht und ein glühendheißer Speer fuhr ihr durchs Herz.

Der Kleine streckte nun seine Ärmchen aus und brabbelte laut immer wieder:

„Mama, Mama...“

Er wollte zu ihr aufs Bett gehoben werden und mit ihnen kuscheln. Vor allem mit ihr kuscheln...

Sie rang sich ein Lächeln ab, weil er das brauchte und verdiente und ergriff den kleinen Oberkörper. Dann hob sie ihn hoch, er war sehr leicht, und legte ihn mit Schwung, der ihm ein jauchzendes Lachen entlockte, neben sich in die Mitte des Bettes.

Sie setzte sich etwas auf und blickte zu ihm herunter. Im nächsten Moment sagte sie grinsend und wollte es niedlich klingen lassen:

„Na mein Zwergenkind...“

Für einen winzigen Augenblick verschwand alles glücklich Lachende aus dem Gesicht ihres Sohnes. Es war vielleicht nur ein Wimpernschlag, bevor er wieder lächelte wie zuvor und sich dann dicht an sie heranschmiegte. Doch sie hatte es gesehen! Wieder dieser glühendheiße Speer mitten durch ihr Herz.

„Warum tust du das?“, dachte sie wütend auf sich selbst. „Du bist seine Mutter, du solltest ihn einfach lieben können, so wie er ist!“

Wieder bemühte sie sich um ein liebevolles Lächeln und legte dann ihren Arm um seine schmalen Schultern. Sofort strahlte er glücklich zu ihr herauf. Das rührte sie und ließ ihr Lächeln echt und warm werden.

Er konnte nichts dafür, dass er so geworden war, nein, auf die Welt gekommen war...

Aber sie hatten sich so lange, sechs Jahre, ein Kind gewünscht. Ein Jahr lang hatten sie es immer wieder drauf angelegt. Doch nichts war passiert!

Unzählige Schwangerschaftstests und enttäuschte Tränen später dann das Ergebnis der Untersuchungen. Niederschmetternd und unfassbar!

Sechs Jahre zwischen Hoffen und Bangen.

Hormone, Untersuchungen, schmerzhafte Eingriffe, alles um dieses Kind auf die Welt zu bekommen! Alles um eine kleine Familie zu werden.

Und dann war sie tatsächlich schwanger geworden!

Nun kam eine neue Angst über sie, die Angst das Kind vorzeitig zu verlieren...

Aber alles ging gut und endlich stand fest: sie würden ein Baby bekommen!

Die Freude war unbeschreiblich!

Ein wahrer Cocktail aus Glückshormonen und Freudestaumel!

Nie, so glaubte sie zu jener Zeit, war sie glücklicher gewesen...

Dann, beim Abmessen, während eines Ultraschalls, der erste Schreck!

Diese merwürdige Frage: „Gab es in ihrer Familie schon Fälle von Kleinwuchs?“

Sie schluckte, bei der Erinnerung an diesen Moment und betrachtete wieder ihren Sohn, der sie mit solch selbstverständlicher Liebe ansah...

Wieder dieses Zwicken in ihrem Inneren. Warum konnte sie ihn nicht genauso leicht wiederlieben?

Der Kleine schmiegte sein Köpfchen an ihren Arm und kuschelte sich eng an sie, als wollte er sagen: „Ich will bei dir sein, egal was du tust oder sagst!

Als sie es erfahren hatten, erfahren hatten das ihr Wunschkind, auf das sie Jahre gewartet hatten, diese Behinderung haben würde, hatte man ihnen nahe gelegt, dass die Möglichkeit eines Abbruchs bestand. Doch als sie seine Bewegungen auf dem Ultraschall gesehen, und sie das erste Strampeln ihres Kindes gespürt hatten, war ihnen diese Möglichkeit unfassbar erschienen!

Also war der Kleine zur Welt gekommen. Ein gesunder, starker kleiner Kerl. Nur eben zu klein...

Von ihren eigenen Gedanken beschämt, strich sie ihm fahrig durch das volle, glänzende Haar.

Ach, wenn sie doch nur eine bessere Mutter sein könnte!

Warum war sie nicht in der Lage ihn so zu sehen, wie es eine Mutter tat?

Ganz einfach als ihr Kind...

Sie ertrug es nicht mehr! Ertrug ihre eigenen Gedanken und Empfindungen nicht mehr.

Also erhob sie sich brüsk, sodass der Kleine erschrocken den Kopf hob und sie benommen ansah.

„Mama muss jetzt Frühstück machen. Bleib am Besten noch bei Papa bis ich euch rufe...“, meinte sie kurz angebunden und sie konnte ihre Angespanntheit in ihrer Stimme mitschwingen hören.

Ihr Mann sah sie nur mit diesem Blick an, der irgendwo zwischen Traurigkeit und Unverständnis schwankte.

Und sie? Sie floh vor ihrer kleinen Familie, die doch ihr größter Wunsch gewesen war...

*

Ein paar Tage später war sie allein mit dem Kleinen.

Er schien die Zeit mit ihr zu genießen, lachte und spielte glücklich.

Doch sie wich ihm immer wieder geschickt aus. Natürlich gab sie sich Mühe und wie immer versorgte sie ihn vorbildlich. Aber sobald er die zu kurz geratenen Ärmchen nach ihr ausstreckte, war dieses unwohle Gefühl wieder da...

Widerstrebend hob sie ihn dann zu sich auf und hielt ihn einen Moment lang auf den Armen.

Selbst ihn liebevoll zu wiegen, fiel ihr schwer.

Stattdessen wirkten ihre Bewegungen dabei ungelenk und fahrig auf sie und sofort war da wieder diese innere, vorwurfsvolle Stimme in ihrem Kopf:

„Du bist eine Rabenmutter! Kannst nicht einmal dein einziges Kind richtig lieben! Und warum? Nur weil er nicht ist, wie du ihn wolltest...“

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie diese boshafte Stimme damit abschütteln.

Der Kleine legte liebevoll tatschend seine kleinen Händchen auf ihre Wange und lächelte sie aufmunternd an.

Doch sie ertrug es nicht, nicht in diesem Augenblick...

Mit einer schnellen Bewegung setzte sie ihn auf den Boden seines Zimmers und floh auf den kleinen Flur hinaus und die vier Stufen der hölzernen Wendeltreppe hinab in die Küche.

Sie brauchte jetzt dringend einen Kaffee!

Nur einen Momen für sich allein, dann würde es wieder gehen...

Sie war gerade dabei den Wasserkocher anzustellen, als sie plötzlich vor Schreck erstarrte!

Ohrenbetäubendes Geschrei erklang hinter ihr, unterbrochen von heftigem Schluchzen und Schniefen...

Sie ließ alles stehen und liegen und rannte aus der Küche in Richtung der kleinen Treppe, die zum Kinderzimmer hinaufführte.

Abrupt blieb sie stehen, als ihr Blick auf ihren kleinen Sohn fiel!

Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust und die Gedanken wirbelten völlig zusammenhangslos durch ihren Kopf.

Der Kleine lag am Ende der Treppe auf der Seite. Um sein kleines Köpfchen hatte sich eine Blutlache gebildet und er weinte und schrie ohne Unterlass.

Endlich löste sich die Schreckensstarre und plötzlich war alles was sie noch denken und fühlen konnte, eine rasende Angst um ihr Kind!

Es gab nichts mehr, außer dem Wunsch ihrem Kind helfen zu wollen und es zu trösten...

Sofort war sie bei dem Kleinen und kniete bei ihm nieder. Redete mit tränenerstickter Stimme auf ihn ein und betrachtete vorsichtig die Wunde an seinem Hinterkopf, aus der das Blut rann.

Ganz vorsichtig, indem sie sein Köpfchen stützte, hob sie ihn zu sich auf und drückte ihn an ihre Brust.

Plötzlich schien es ihr so verrückt, dass sie geglaubt hatte ihn nicht lieben zu können!

Sie sah in seine großen, von den Tränen glänzenden Augen und wurde auf einmal von einer Woge warmer Liebe durchflutet.

Und obwohl sie sich entsetzliche Sorgen um ihren kleinen Sohn machte, spürte sie ein unglaubliches Glücksgefühl darüber ihn in diesem Moment im Arm zu halten...

Schnell holte sie ihr Handy und rief den Notarzt.

Auf einmal, als wäre es nie anders gewesen, quoll ihr Herz über vor Liebe zu ihrem kleinen Sohn. In diesem Augenblick sah sie ihn nur mit den Augen einer Mutter, voller Wärme und Zuneigung.

Liebevoll flüsterte sie ihm tröstende Worte zu und wiegte ihn ganz sanft in ihren Armen, während sie nervös auf den Arzt wartete...

Sobald er da war, untersuchte er den Kleinen gründlich, doch außer einer Gehirnerschütterung hatte der Kleine nichts Schlimmes davongetragen!

Unglaublich erleichtert blickte sie auf ihren kleinen Sohn herunter, den sie nun neben sich ins elterliche Ehebett gelegt hatte.

In ihrem Blick stand all die vermisste Liebe einer Mutter, die endlich erwacht war und in diesem Augenblick, als sie das friedliche, pausbackige Gesicht ihres Kindes betrachtete, wusste sie das es nichts mehr geben würde, was diese Mutterliebe mindern konnte!

Und als ihre Hand sanft durch das weiche Haar des Kindes strich, erschien wieder dieses warme, ansteckende Lächeln auf seinen Lippen...

 

Ende

 

 

Impressum

Texte: Die Rechte daran liegen einzig bei mir. Angelique L. Carveau
Bildmaterialien: pixabay lizensfrei
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2017

Alle Rechte vorbehalten

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