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Kapitel 1

Dante

 

Im Schatten der Nacht saß ich in dem mir immer vertrauter werdenden Zimmer. Meine neue Zuflucht, wenn die Kälte des Todes mich einhüllte. Dieses zerbrechliche Geschöpf, von dem ich nicht loskam, strahlte den Frieden aus, nach dem ich mich seit Jahrzehnten sehnte. Obwohl ich bis jetzt kein Wort mit ihr gesprochen hatte, war es beruhigend, in der Nähe dieses Mädchens zu sein. Ich wachte über sie, wie ich es einst über die verlorenen Seelen getan hatte. Doch von dem einstigen Wächter war nicht mehr viel übrig.

Schwer atmend wälzte sie sich hin und her. Ich wünschte, ihre Träume wären für mich lesbar. Dann wüsste ich, was sie so beschäftigte.

Ich beobachtete sie schon seit einer Weile. Es reichte mir nicht, nur ein Geist zu sein, den sie glaubte zu fühlen. Ich sann danach, mehr über sie zu erfahren. Es war wie ein Zwang, dem ich oblag.

 

Sara

 

Nach Luft schnappend wachte ich auf. Mein Herz klopfte wie wild. Ich setzte mich auf und sah in die Dunkelheit des Zimmers. Kein Geräusch war zu hören. Eine Stille, die mich frieren ließ. Mein Verlangen, etwas zu sagen, wurde von Nacht zu Nacht größer. Nichts deutete darauf hin, dass ich nicht allein war. Dennoch wusste ich, er war da. Es war dasselbe Gefühl wie die letzten Male.

»Ich weiß, dass du da bist«, sagte ich leise, mit dem Wissen, dass es verrückt war zu denken, dass sich außer mir noch jemand in meinem Schlafzimmer aufhielt. Ich wünschte, ich hätte einen Beweis, dass ich nicht den Verstand verloren hatte.

Jedes Mal, kurz vor Mom’s Todestag, schlief ich unruhig. Dieses Jahr war heftiger als die letzten zwei. Seit über einer Woche hatte ich keine Nacht durchgeschlafen. Meinem Vater hatte ich nie davon erzählt. Er würde sich sorgen und mich zu einem Psychologen schicken. Aber ich brauchte niemanden, der mir sagte, dass sie mir fehlte. Das wusste ich selbst.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, es war mitten in der Nacht. Ich drehte mich auf den Bauch und versuchte wieder einzuschlafen, wenn auch nicht für lange. Um sieben würde der Wecker läuten und mich aus dem Schlaf holen.

 

Plötzlich zog mir jemand die Decke vom Körper. Reflexartig rollte ich mich wie eine Schnecke zusammen. Ich wollte nicht aufstehen. Es konnte nicht Morgen sein.

»Ich will nicht. Kannst du mich nicht schlafen lassen, Dad?«, fragte ich schlaftrunken und drückte mein Gesicht ins Kissen.

Ich hörte ein Kichern. Das konnte nicht Dad sein. Wann würde der schon kichern? Ich war froh, wenn er überhaupt lächelte. Seit Jahren hatte ich ihn nicht mehr richtig lachen gehört.

»Dein Dad würde dich noch weniger weiterschlafen lassen als ich«, sagte Keira und zog die Vorhänge auf. »Na komm schon, steh’ endlich auf. Wie kann man nur so ein Morgenmuffel sein?«

Fragte sie mich das ernsthaft? Nach so vielen Jahren der Freundschaft sollte sie sich daran gewöhnt haben. Ich nahm das Kissen unter meinem Kopf und warf es nach ihr. Leider verfehlte es sie knapp.

»Wenn du nicht meine beste Freundin wärst, würde ich dich aus der Wohnung werfen.«

Sie lachte los. »Ach ja, als ob du dazu imstande wärest«, sagte sie spöttisch.

»Na warte.« Ich sprang aus dem Bett. Etwas zu schnell, denn ich musste mich kurz abstützen, um nicht der Länge nach hinzufallen.

Mit ihren großen Rehaugen schaute sie mich an und strahlte übers ganze Gesicht. »Siehst du, ich weiß, wie man dich herausholt.«

Sie trug ein schwarzes Kleid mit roten Strumpfhosen. Ihre schulterlangen, dunklen Locken wippten, als sie sich umdrehte und mir meine Jeans zuwarf, die auf dem braunen Ledersessel lag.

»Los, Sara, zieh dich an. Wenn wir wieder zu spät kommen, lässt uns dein Dad nachsitzen.«

»Ich gehe nur kurz ins Bad. Warte unten in der Küche. Mit leerem Magen kann ich nicht los.«

»Beeil dich!«, ermahnte sie mich erneut.

 

Nachdem ich mich angezogen hatte, holte ich einen Schal aus der Kommode. Da entdeckte ich ein Stückchen Papier, das darauf lag.

Bei genauerer Betrachtung las ich meinen Namen. Zögerlich, aber mit Neugier, faltete ich es langsam auseinander. Mein Herz schlug sogleich schneller.

In einer wunderschönen Schrift stand geschrieben:

 

Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.

 

Mit aufgerissenen Augen starrte ich das Blatt Papier in meiner Hand an. Meine Hände wurden kalt, als würde das Blut aus meinem Körper weichen. Dies bestätigte, dass ich nicht geisteskrank war. Obwohl eine Nachricht von einem Geist zu erhalten nicht weniger merkwürdig war, als nur zu denken, es gäbe einen.

Oder hatte ich es mir selbst geschrieben? War ich so weit, etwas derart Durchgedrehtes zu tun? Ich sah mir den Zettel genauer an. Nein. Das war eindeutig nicht meine Schrift. Zum Glück. Ich hätte mich sonst selbst einweisen müssen. Immer mehr Fragen kamen in mir hoch und wollten ausgesprochen werden. Seltsamerweise spürte ich keine Angst, obwohl ich mich panisch im Badezimmer einschließen sollte oder es wenigstens Keira darüber informieren sollte, was vor sich ging. Ich musste meine Gedanken erst einmal sortieren. Den Zettel packte ich weg, ließ ihn aber noch davor durch meine Finger gleiten, um sicher zu gehen, dass er da war.

Wer war mein nächtlicher Besucher? Was war er? Was wollte er? Und warum rannte ich nicht schreiend durch die Gegend? Verfiel ich dem Wahnsinn, weil ich nicht schlafen konnte? Alles war denkbar.

Ein letzter Blick in den Spiegel und ich versicherte mir, dass ich den Schock verarbeitet hatte oder zumindest redete ich es mir ein. Ich hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, also rückte ich alles gerade Erlebte in die letzte Ecke meines Bewusstseins. Zu spät im Unterricht zu erscheinen, war keine Option. Die Tochter des Schuldirektors zu sein, war anstrengend. Der Wahnsinn, wenn dein Dad rund um die Uhr ein Auge auf dich hat.

In der Küche saß Keira mit Dolores am Tisch. Es standen zwei Brote mit Schinken und ein Glas Milch für mich bereit.

Mit einem Lächeln begrüßte ich unsere Haushälterin Dolores.

»Du solltest dich beeilen. Dein Vater ist vor einer halben Stunde zur Schule gefahren«, informierte sie mich.

»Muss ich denn auch so versessen wie er sein, so viel Zeit in diesem alten Gebäude zu verbringen?«

»Und trotzdem werden wir bestraft, wenn wir wieder zu spät kommen«, sagte Keira ungeduldig. »Also iss.«

Hastig schlang ich mein Frühstück hinunter, bevor wir aus der Wohnung stürmten.

Es war Ende Januar und die Kälte durchfuhr mich. Die Straßen waren vereist. Die Autos rutschten mehr, als dass sie fuhren.

Keira und ich hielten uns aneinander fest, um nicht auf die Nase zu fallen. Der Wind war so eisig, dass mir bald das ganze Gesicht brannte. Wir konnten von Glück reden, dass die Kennedy nur zehn Minuten von unserer Wohnung entfernt war. Wenn ich noch früher aufstehen müsste, um durch die halbe Stadt zu fahren, würde ich wahnsinnig werden.

Ich hatte nie eine andere Wahl, als die Kennedy-High-School gehabt. Das Sprungbrett für die Juilliard, eine der besten Privatschulen für Musik und Tanz in New York City.

Seit ich mit vier Jahren die erste Geige bekommen hatte, war meine Zukunft beschlossene Sache. Und ich sollte wie die meisten meiner Mitschüler eine Aufnahme an der Juilliard anstreben. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wollte oder ob es der Wille meines Vaters war. Ihn zu enttäuschen, war keine Option.

Ich fror erbärmlich und war froh, als wir die Schule betraten. Wir rannten die Treppe hinauf und eine Minute vor Unterrichtsbeginn stolperten wir in die Klasse.

»Schön, dass ihr uns auch noch mit eurer Anwesenheit beehrt. Setzt euch!«, sagte Mr. Williams, der Mathelehrer.

Wir setzten uns ohne einen Kommentar an unseren Tisch.

Zu meinem Vorteil war Keira ein Ass. Aber nicht nur im Zahlen jonglieren, meine beste Freundin war Balletttänzerin. Sie tanzte seit ihrem fünften Lebensjahr. Ihr großer Traum war das Royal Ballett. Für diesen arbeitete sie hart, auch nach der Schule. Fast jeden Tag zusätzlich zwei, manchmal drei Stunden. Wann immer ich Zeit hatte, sah ich ihr zu.

 

In der Mittagspause saßen meine Freunde und ich stets zusammen. Sam war schon dort, als wir in die Cafeteria kamen. Wir waren eng befreundet. Ein Charmeur, dem die Frauenherzen nur so zuflogen. Mit der Musik wickelte er die Mädchen reihenweise um den Finger. Sein Aussehen tat den Rest. Die Optik hatte er eindeutig von seinem Dad. Groß, dunkelhaarig, sportlich, ein Lächeln, das einen blendete und dazu gab er den Mädchen das Gefühl, dass jede von ihnen die Einzige war. Manchmal taten sie mir leid. Ich hatte nie erlebt, dass er echte Empfindungen für eine von ihnen hatte. Unter all seinen Wesenszügen war dieser derjenige, den ich am wenigsten an ihm mochte.

Aber wer war ich, dass ich über ihn richten durfte?

Bei Paul Foster bestand da keine Gefahr. Nicht, dass er unattraktiv war. Er war ganz süß. Blonde, halblange Haare und Sommersprossen. Vielleicht ein bisschen tollpatschig. Nicht mein Typ. Aber definitiv Hillarys.

Maria saß heute bei Kevin und flirtete hemmungslos. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, warf sich dabei das lange schwarze Haar nach hinten, während sie über einen seiner Witze lachte. Sie war so berechnend. Der arme Junge wusste gar nicht, worauf er sich da einließ.

»Isst noch jemand von deinem Teller, Sara?«, fragte mich Sam mit einem unterdrückten Lächeln, als ich mit meiner Portion Spaghetti an den Tisch kam.

»Nein, ich habe Hunger. Soll mir das was sagen?«

»Ähm … nein, natürlich nicht«, antwortete er und hob die Hände, um sich vor einem eventuellen Angriff zu schützen.

»Solche Andeutungen könnten dazu führen, dass es dir im Schritt wehtut«, ermahnte Keira ihn mit erhobenem Zeigefinger.

»Wir drei könnten dich locker verprügeln«, sagte Hillary lachend.

»Ja, schon gut. Ich habe es verstanden. Nie wieder ein Kommentar zu deinen Essensgewohnheiten. Versprochen.« Er zwinkerte mir zu.

Er setzte dazu an einen weiteren Satz zu sagen, da warf Keira ein Stück Brot nach ihm.

 

Auf dem Weg in den Unterricht unterhielt ich mich mit Keira.

»Hast du Miguel Esteban heute gesehen?«, fragte sie.

»Ja habe ich. Er hat dich wie jeden Mittag angestarrt. Ich weiß nicht, warum ihr euch nicht endlich verabredet.«

»Das ist doch offensichtlich.«

»Was ist daran offensichtlich?« Mit gerunzelter Stirn sah ich sie fragend an. »Es kann ja nicht so schwer sein. Du magst ihn, er mag dich, was deutlich zu sehen ist. Sonst bist du auch nicht die Schüchternheit in Person.«

»Woher soll ich wissen, dass er mich tatsächlich mag? Stän­dig umschwirren ihn diese Mädchen wie Ameisen ihren Hü­gel. Da komme ich nicht in seine Nähe. Und er sieht so ver­dammt gut aus. Diese schwarzen Haare, die Augen wie Kara­mell. Oh … «

»Du tanzt doch mit ihm, oder?«

»Ja, und?«

»Na, wo könntest du ihn besser fragen, als in seinen Ar­men«, sagte ich lächelnd.

»Wie soll ich das denn bewerkstelligen?«, fragte sie mich hilflos. »Ich fange schon an zu zittern, wenn ich daran denke, dass er mich berührt. Ich kann mich nur mit Mühe zusam­menreißen.«

»Du machst es einem nicht leicht, dir zu helfen«, sagte ich und rollte mit den Augen. Während wir die Treppe hinaufgingen, hörte ich Musik. Jemand spielte Klavier, auf eine Art und Weise, die mich verzauberte. »Hörst du das, Keira?«, fragte ich lauschend.

»Ja, wunderschön, nicht wahr?«

»Das ist es.«

Wir liefen an einem der Musikzimmer vorbei, von wo aus die Melodie kam. Kurz schaute ich durch das kleine Fenster der Tür. Ohne zu überlegen, öffnete ich diese und blieb im Türrahmen stehen, während Keira ein Stückchen weiter vorne auf mich wartete.

Am Klavier saß ein Junge mit schwarzen Haaren, die Augen geschlossen. Er trug dunkle Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein blaues aufgeknöpftes Hemd. Es fühlte sich an, als wäre nichts anderes im Raum, außer den Tönen, welche er spielte. Blind ließ er seine Finger über die Tasten gleiten, mit einer Leichtigkeit, als hätte er nie etwas anderes im Leben getan.

Plötzlich hörte er auf.

»Nein, bitte spiel weiter«, rutschte es mir heraus. Peinlich berührt, hielt ich mir die Hand vor den Mund.

Der unbekannte Junge sah zur Tür. Was mich dann traf, kam ohne Vorwarnung. Ich schaute in diese blauen Augen. Alles herum schien zu verschwinden. Jedes Geräusch verstummte, bis nur noch Stille herrschte. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt wie diesen einen Augenblick, der endlos schien, als sei die Zeit stehen geblieben. Ein Gefühl der Vertrautheit umgab ihn.

Wieso schlug mein Herz bloß so laut?

Er machte keine Anstalten, den Blick von mir zu wenden und mich aus der peinlichen Situation zu erlösen. Ich schaffte es, die Augen zu schließen, um wieder klar denken zu können. Um überhaupt denken zu können.

»Tut mir leid … ich wollte … nicht … «, stammelte ich zusammenhangslos.

Als ich das Gefühl hatte, wieder bei Verstand zu sein, suchte ich seinen Blick. Und als ich das leicht amüsierte Lächeln bemerkte, das so anziehend wirkte, als würde es nach mir rufen, ließ ich beinahe den Geigenkoffer fallen.

»Hat es dir gefallen?«, fragte er mit einer sanften, klangvollen Stimme und wandte sich in meine Richtung.

»Ja, es war, wie soll ich sagen, einfach unbeschreiblich«, antwortete ich ehrlich.

Er lächelte leicht und sah zu Boden.

Hör auf ihn anzustarren. Hör endlich auf ihn anzustarren, dachte ich.

»Es freut mich, dass es dir gefallen hat.« Sein Blick war noch intensiver als vorhin.

Hastig zog mich Keira am Arm. »Hallooo! Sara, wenn du vorhast, rechtzeitig zum Unterricht zu kommen, sollten wir los.« Sie zog mich erneut am Arm. »Na, komm schon. Du kannst ihm ja morgen wieder zuhören.«

»Mach`s gut, Sara«, verabschiedete sich der Junge.

»Ähm, ja, du auch«, murmelte ich.

»Was ist denn mit dir los gewesen?«, fragte mich Keira.

Wir liefen schnell, um pünktlich in der Stunde zu sein. Mein Vater duldete keine Verspätungen.

»Oh Gott, Keira. Ich habe mich bis auf die Knochen blamiert«, sagte ich und hielt mir die Hand an die Stirn.

Sie lachte. »Was hast du ihm denn gesagt, das so peinlich war?«

»Keine Ahnung mehr. Ich habe nur irgendwas zusammen gestottert. Ist er neu an der Schule? Kennst du ihn? Wie heißt er?«, überschüttete ich sie mit Fragen. »Bitte sag mir nicht, dass er ein neuer Lehrer ist. Ich bete, dass er ein Schüler ist.«

Keira lachte. »Er ist der Neue, von dem ich gehört habe. Er heißt Dante. Also bis später.« Sie winkte mir zu, als sie durch die Tür im Klassenzimmer verschwand.

 

Dante

 

Ich musste lächeln, weil ich nicht mit Saras Reaktion auf mich gerechnet hatte. Jetzt war ich mir sicher. Hier zu sein, bei ihr, war richtig. Meine Seele und die ihre waren gleich. Ich spürte es in jeder Zelle meines Körpers. Nach so langer Zeit war es ein Mensch, eine Sterbliche, nach der ich mich sehnte. Deshalb hatte ich keinen Plan, wie sie in meine Welt und ich in die ihre passen könnte. Aber eins war sicher, sie wird mein sein. Denn ich war verloren, seit ich ihr das erste Mal in die Augen geblickt hatte. Die Schule war ein Ärgernis, das ich in Kauf nehmen musste, um ihr näherzukommen. Für die Anmeldung musste ich einige Dokumente fälschen. Was zum Glück für mich kein Problem darstellte. Dennoch ist mein Bleiben nicht von Dauer, denn ich werde nach wenigen Monaten gehen. Langfristig würde sich meine Familie fragen, warum ich die Schule so lange besuchte. Nötig hatte ich es nicht. Ich erklärte meine Anmeldung mit Langeweile. Für den Augenblick reichte das.

Alle zehn Jahre wohnten wir für ein Jahr bei unseren Eltern, oder zumindest in ihrer Nähe. Das war der Wunsch meiner Mutter. Und wie könnten wir der Frau, die uns das Leben geschenkt hatte, diesen verwehren. Genau in dem Jahr, in dem ich wie ein Teenager bei den Eltern lebte, begegnete ich Sara. Welch Ironie.

 

Sara

 

Die nächsten zwei Stunden hatte ich Musikunterricht. Durch die Musik konnte ich mich schon immer von allem befreien, was um mich herum geschah. Als meine Mutter vor drei Jahren starb, spielte ich Tag und Nacht. Um meine Gedanken nicht zu hören, um die Realität nicht wahrnehmen zu müssen. Dad wusste nicht, was er machen sollte. Er war völlig hilflos. Er hatte seine Frau verloren, mit der er seit siebzehn Jahren verheiratet war. Jetzt hatte er nur mich. Einen Teenager, der anscheinend durchdrehte. Er sah keine andere Möglichkeit, als meine Großmutter zu bitten, bei uns einzuziehen. Das war die beste Entscheidung, die er hätte treffen können.

Großmutter Mary brachte mich immer zum Lachen. Sie hatte unzählige Geschichten zu erzählen. Bei einem verstorbenen Ehemann, einer gescheiterten Ehe und den vielen Liebschaften, die sie danach hatte, war es kein Wunder. Früher spielte sie am Broadway. Sie muss unglaublich gewesen sein. Zu gerne würde ich sie auf der Bühne sehen.

Dad hatte ihr verboten, mir von ihren Eskapaden, wie er es nannte, zu erzählen. Aber sie hielt sich nicht daran. Großmutter tat nie, was man ihr sagte. Erst recht nicht, wenn es von einem Mann kam. Deshalb war ihre zweite Ehe gescheitert. Der Einzige, der wusste, wie man mit ihr umging, war Dad‘s Vater. Mein verstorbener Großvater Josef. »Es gibt nur einmal im Leben die Liebe, für die man alles aufgeben würde«, hatte sie mir einst gesagt. Josef war ihre gewesen. Sein Bild stand immer noch auf ihrem Nachttisch. Leider hatte ich ihn nie kennengelernt. Er starb, als Dad zwölf war. Mein Vater und ich verloren fast im selben Alter ein Elternteil. Wir liebten die Musik, waren stur und eigensinnig. Ich war ihm auf so viele Arten ähnlich, auch wenn ich mich schwertat, es zuzugeben. Trotzdem fiel es uns nicht leicht, einen Draht zueinanderzufinden. Gespräche über Gefühle gab es bei uns nicht. Alles hatte sich geändert, seit Mom gestorben war. Die Fröhlichkeit in seinen Augen war verschwunden.

Die zwei Stunden waren rasch um. Dennoch entfloh mir ein leichter Seufzer der Erleichterung, weil ich nicht wirklich anwesend war.

 

Gedankenverloren kritzelte ich in mein Heft. Ich wartete darauf, dass die Geschichtsstunde begann. Als es plötzlich viel zu still wurde.

»Hmm, süß der Neue«, sagte Maria, »Oder?« Sie lächelte.

Ohne nachzudenken, schaute ich zur Seite, als Dante, bei dem ich mich heute Mittag so peinlich verhalten hatte, an mir vorbeiging. Ich spürte, wie ich rot anlief. Er setzte sich direkt hinter mich. Neugierig sah ich zurück. Er lächelte mich an. Verlegen erwiderte ich es und wandte meinen Blick sogleich nach vorn. Ich war froh, dass er mein errötetes Gesicht nicht sehen konnte. Nervös zappelte ich unter meinem Tisch mit dem Bein. So stark, dass es sogar Maria auffiel.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie flüsternd.

»Nichts. Mir geht es gut«, antwortete ich knapp.

»Na, dann hör auf herumzuzappeln, du machst mich kribbelig«, sagte sie ein wenig bissig.

Es machte mich völlig unruhig, dass er hinter mir saß. Ich war froh, als Mrs. Shapard den Unterricht eröffnete. Jeglicher Versuch, mich darauf zu konzentrieren, scheiterte. Mein Verlangen mich umzudrehen und in diese stechend blauen Augen zu sehen, wurde von Minute zu Minute größer. Als es klingelte, packte ich meine Schulbücher ein und verließ, so schnell ich konnte, das Klassenzimmer. Draußen schloss ich die Augen, holte einmal tief Luft und ging in einen der Proberäume. Fest entschlossen ihn aus meinen Gedanken zu verdrängen, stellte ich den Koffer hin und packte die Geige aus. Gerade als ich angefangen hatte zu spielen, klopfte jemand an der Tür. Ich unterbrach meine musikalische Einlage.

Da stand er. Der Junge, der mich und meine Gefühlswelt auf den Kopf gestellt hatte. Dante hatte nicht vor, es mir leicht zu machen. Mit den Händen in den Taschen seiner tief sitzenden Jeans lehnte er im Türrahmen. Sein Gesicht hatte einen freundlichen, offenen und neugierigen Ausdruck und um seine wunderschönen Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns.

»Hallo«, hörte ich seine ruhige, sanfte Stimme sagen. »Du warst vorhin so schnell weg, da kam ich nicht mehr dazu, mich vorzustellen. Ich bin Dante Craven. Übrigens spielst du auch sehr gut.«

»Oh, danke«, antwortete ich verlegen.

»Du bist also Sara?«, fragte er und kam auf mich zu.

»Woher weißt du, dass ich Sara heiße?«, stammelte ich.

Er lachte leise und hinreißend, während er sich neben mich auf einen Stuhl setzte.

Von Nahem sah er noch besser aus. Ein markantes Kinn, stechend blaue Augen mit einem leichten grauen Schimmer und zu all dem das unordentliche Haar. Es ließ ihn aussehen, als sei er gerade den Laken entstiegen.

War das gerecht, dass ein so talentierter Mensch auch noch so ein Aussehen besaß? Auf seinen perfekten Lippen lag ein Lächeln. Bestürzt sah ich weg, weil ich ihn wieder angestarrt hatte.

»Es war nicht zu überhören, als dich deine Freundin von der Tür wegriss.«

Ich verzog das Gesicht. Ich hatte meinen peinlichen, kleinen Auftritt noch nicht verdaut. »Ach«, sagte ich und rollte mit den Augen. »Ja, ich bin Sara Davis. Freut mich, dich kennenzulernen, Dante.« Ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Du spielst fantastisch«, sagte ich mit Begeisterung.

»Oh, danke. Ich hatte eine Menge Zeit zum Üben.« Er lächelte erneut. Und wieder glotzte ich ihn nur idiotisch an. »Ich hatte gedacht, dass du eine der Tänzerinnen bist.«

»Was? Ich?«, fragte ich überrascht. Ich hatte ein paar Stunden mit Keira getanzt, aber nicht annähernd genug, um dabei so eine gute Figur zu machen, wie eine Balletttänzerin.

»Du gehst wie eine Tänzerin. Elegant. Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Oh nein, das hast du nicht.« Verlegen schaute ich weg.

»Wohnst du lange in New York?«, fragte er und legte seinen Kopf schief, um mir in die Augen zu schauen.

Ich hob den Blick und sah ihn an. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Was war denn los mit mir? Konnte es wirklich sein, dass dieser fremde Junge mich dermaßen durcheinanderbrachte? Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Seine Mimik nahm mich gefangen. Ich war nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sara, rede endlich.

»Ja, mein ganzes Leben.«

»Du bist eine echte New Yorkerin«, stellte er fest.

»Das bin ich. Nur das Wetter könnte mehr wie an der Westküste sein.«

»Der Schnee hat seine Vorteile. Ich bin von Los Angeles hergezogen. Sonnenschein nervt auf Dauer.«

»Dort müsste ich nicht frieren.«

»Aber dafür schwitzen.«

Wir lachten beide.

Obwohl ich ihn nicht kannte, strahlte er eine Vertrautheit aus, zu der ich mich hingezogen fühlte. Ich wollte mehr über ihn wissen.

»Warum seid ihr hergezogen?«

»Wegen Dads Job.«

»Was macht er denn?« Oh Gott, mir war bewusst, dass ich zu neugierig war, aber ich konnte es nicht lassen.

»Er ist Professor für Geschichte an der NYU.« Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als wolle er ein Lächeln unterdrücken.

»Wenigstens ist dein Dad nicht der Rektor deiner Schule.«

»Ach ja? Du bist die Tochter des Schuldirektors?«

»Bin ich. Zumindest muss ich nicht fürchten, hier wegzuziehen. Außer ich gehe freiwillig. Dad liebt seinen Job.«

»Der Umzug ist nicht schlimm. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wird immer besser«, sagte er mit einem Funkeln in den Augen.

Dantes Lippen formten sich zu einem Lächeln. Für einen kurzen Augenblick fühlte es sich an wie ein Flirt.

»New York ist großartig. Die Stadt wird dir gefallen.«

»Du könntest mir ja bei Gelegenheit ein wenig mehr davon zeigen. Wenn du Lust hast?«

Mein Herz fing an zu flattern. »Na klar.« Meine Wangen wurden rot. »Hier gibt es aber keinen Strand, wo hübsche, leicht bekleidete Mädchen liegen.« Ich versuchte, die Nervosität mit dieser spitzen Bemerkung zu überspielen.

»Man kann nicht alles haben, nicht wahr?«

Ich wollte lachen, aber dann fiel mein Blick auf mein Handgelenk und auf das Armband von Mom.

»Leider nicht.« Meine Stimme klang traurig, selbst mir fiel das auf. Übermorgen war ihr Todestag. Ich wünschte, ich könnte alles haben. Wenn das möglich wäre, würde ich zurückreisen an den Tag vor drei Jahren und sie daran hindern, aus dem Haus zu gehen.

Dante bemerkte meine Stimmung, beugte sich zu mir und sah mich durch seine langen Wimpern entschuldigend an. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein Dante. Es ist nur ... ach, vergiss es«, sagte ich mit einem etwas gezwungenen Lächeln.

»Ich bin ein verdammt guter Zuhörer.« Da war es wieder, dieses charmante Lächeln. Er strich sich durch seine Haare und stützte sich mit dem Ellbogen am Tisch ab.

»Es ist eine lange Geschichte. Ein paar Minuten reichen nicht aus, um sie zu erzählen. Und heute ist mir nicht danach.«

»Morgen ist auch noch ein Tag.« Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich habe  Zeit«, sagte er mit einem Ausdruck, den ich nicht so recht deuten konnte.

Ich lächelte. Ein paar Sekunden der Stille vergingen.

»Spielst du Klavier?«

»Ein wenig. Nicht annähernd so wie du«, sagte ich bewundernd.

Unerwartet stand er auf, setzte sich ans Klavier und streckte mir seine Hand entgegen. »Komm. Bei mir zu Hause will nie jemand mit mir zusammenspielen. Ich wäre zu pedantisch.«

»Ich bin nicht gut, Dante.« Die wenigen Klavierstunden, die ich bei meinem Vater hatte, reichten dafür nicht aus.

Dad war ein toller Pianist. Seit Mom’s Tod hatte er nie wieder gespielt. Als wäre die Musik, die er früher so liebte, mit ihr gestorben. Der Flügel, der bei uns im Salon stand, war verstummt.

»So schlecht kann es nicht sein, glaub mir. Du hast meine Mutter nie gehört«, sagte er breit grinsend. »Außerdem sollst du Geige spielen und ich Klavier. Ich habe aus reiner Neugier gefragt, ob du es kannst.«

»Ähm. Tun wir‘s«, sagte ich zögerlich. Samt meiner Geige stellte ich mich neben das Klavier. »Und was?«, fragte ich.

»Ich fange an und du steigst ein.«

Mit seinen Fingern glitt er über die Tasten. Ich wartete und lauschte, um zu hören, was er spielte. Es war Ludovico Einaudis Primavera. Eines meiner Lieblingsstücke. Ich war sichtlich überrascht, dass er genau diese Komposition ausgewählt hatte. Ich sagte nichts und stieg mit ein. Die Melodie durchströmte mich. Jede Note floss durch mich hindurch. Ich verlor mich darin. Schloss die Augen und genoss den Moment des Friedens.

»Ich glaube, da wartet jemand auf dich«, bemerkte Dante, und die Musik verstummte.

Keira stand in der Tür, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

»Dann werde ich mal gehen«, sagte ich ein wenig enttäuscht. Ich setzte meine Geige ab, während ich etwas verloren dastand.

Dante erhob sich und blickte mich mit einem derart umwerfenden Lächeln an. Mein Herz machte einen Sprung. »Bis morgen, Sara.« An der Tür drehte er sich kurz um.

»Ja, bis morgen«, stammelte ich zurück.

Ich zog meinen Mantel an, legte den Schal um den Hals, packte die Geige ein und nahm die Tasche mit den Büchern. Keiras Blick nach zu urteilen, platzte sie vor Spannung.

»Was schaust du so?«, fragte ich.

»Ich habe gesehen, dass der Neue mit dir geredet hat. Worüber habt ihr gesprochen?« Sie starrte mich an, mit ihren großen Augen.

»Belangloses. Gehen wir.«

»Ich bin deine beste Freundin. Ein heißer Typ flirtet mit dir und du willst mir nichts darüber erzählen. So was geht nicht.«

»Er hat nicht mit mir geflirtet. Wir haben … uns nur über Musik unterhalten«, sagte ich stotternd. Ich zog sie am Ärmel weiter.

»Klar, was denn sonst. Du hast immer einen so roten Kopf, wenn du dich über Musik unterhältst«, gab sie zurück. Keira unterdrückte ein Lachen, was man ihr deutlich ansah, während wir die Tür ansteuerten.

Draußen warf ich einen Blick auf den Parkplatz. Ich erblickte Dante, der locker und cool gegen ein Auto lehnte und sich dabei mit einem Jungen unterhielt. Wie konnte man nur so gut in einer schwarzen Lederjacke aussehen. Das sollte verboten werden. Ich hatte meine Hormone nicht mehr im Griff. Seine Lippen gingen mir nicht aus dem Kopf. Seine perfekt geformten Lippen.

»Wen starrst du denn an?«, fragte Keira und sah rüber auf den Parkplatz.

»Um ehrlich zu sein, den Neuen«, gab ich zu.

»Der ist echt süß«, sagte sie kichernd. »Nicht so wie Miguel, aber süß.«

»Ja, das ist er. Leider etwas zu sehr. Er wirkt nicht, als wäre er in unserem Alter.«

»Er wird deinem Charme verfallen. Wie jedes andere männliche Wesen in deiner Nähe.«

»Ich breche am laufenden Band Herzen«, scherzte ich. »Deshalb bin ich wohl noch Jungfrau. Keiner traut sich, mich nach einem Date zu fragen.«

Dad wusste, wie er mir die Jungs vom Hals halten konnte. Wer möchte sich schon mit dem Rektor anlegen? Nachdem er mich küssend mit Peter Bischof vor der Wohnungstür erwischt hatte, gab es für mich keine Dates mehr. Er hatte den armen Jungen so verängstigt, dass er allen an der Schule davon erzählt hatte.

»Ich weiß. Du solltest dich außerhalb der Schule umsehen.«

»Das erlaubt er mir nie. Du kennst seine Strenge. Wenn ich studiere, habe ich genug Zeit, um jemand passenden kennenzulernen. Hat er gesagt. Jetzt sei ich noch ein Kind. Ich würde meine Zukunft gefährden, wenn ich mich ablenken lasse.«

»In einem Jahr sind wir achtzehn. Dann können sie uns nichts mehr. Und wenn du Glück hast, kannst du dich danach ausleben«, sagte sie lachend.

Ich schubste sie leicht. »Du wieder.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen zog ich Keira an der Hand die Treppe herunter. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Wir wohnten beide im gleichen Gebäude, somit hatten wir den selben Weg.

 

Im Lift sah sie mich mit einem kleinen teuflischen Lächeln an. Irgendetwas hatte sie vor.

»Was?«, fragte ich vorsichtig.

»Soll ich mich mal umhören?«

»Weswegen denn?«

»Dante natürlich. Du möchtest doch sicher mehr über ihn erfahren«, sie grinste übers ganze Gesicht.

»Nein, will ich nicht«, sagte ich entschlossen.

Enttäuscht senkte sie ihren Kopf und sah zu Boden.

»Na ja, eigentlich will ich es schon«, gab ich verlegen zu. Ich wollte alles über diesen zu perfekt scheinenden Jungen wissen, der in seiner schwarzen Lederjacke so sexy aussah, dass es mir schier den Atem raubte.

»Ich hab`s doch gewusst.« Sie hob ihren Zeigefinger. Der Lift hielt an. »Bis morgen, sagte sie und verschwand im Flur ihres Stockwerks.

Ich war froh, die Wohnung für mich zu haben. Ich öffnete die Tür, legte meine Schlüssel auf die Kommode und hing den Mantel an den Kleiderständer.

In der Küche nahm ich mir einen Becher und machte mir einen Tee, den ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher trank. Unter meiner Wolldecke war es so angenehm warm, dass mir langsam die Augen zufielen. Ich legte mich hin und schlief sofort ein. Die durchwachten Nächte zehrten an meinem Körper. Immer öfters fühlte ich mich ausgelaugt, erschöpft, müde.

Leicht verwirrt sah ich mich um.

Ich stand im Flur und beobachtete, wie Mom mir half, meine rote Jacke anzuziehen, die sie mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr Lächeln war so bezaubernd. Sie trug ihren schwarzen Mantel und darunter einen grau gestreiften Hosenanzug. Das Letzte worin ich sie gesehen hatte.

Ich wollte sie festhalten, damit sie nicht hinausging, aber ich konnte nicht. Ich stand nur dabei und sah zu, wie meine Mutter die Tür öffnete, die sie ihrem Tod näherbrachte. Mein ganzes Schreien und Flehen half nicht. Sie hörte meine Rufe nicht.

Wir gingen in den Lift und plötzlich befand ich mich auf der Straße vor unserer Wohnung. Die Autos fuhren durch mich hindurch. Es schneite so heftig, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Mit einem T-Shirt und Jeans war ich in der Kälte, doch ich fror nicht, ich spürte gar nichts. Ich blickte auf die Eingangstür, die sich gleich öffnen würde. Mr. Garner hielt sie uns auf. Mom lachte, strich mir durchs Haar und gab mir einen Kuss auf die Stirn, bevor ich in Richtung Schule losging.

Das letzte Mal, dass ich sie glücklich sah, sie lachen hörte, ihr Parfüm roch und ihr sagte, dass ich sie lieb hatte. So vieles, was ich an diesem Morgen das letzte Mal getan hatte.

Mein früheres Ich drehte sich blitzartig um, als ich die Bremsen und die Schreie vernahm.

Mom lag blutend am Boden. Immer wieder schrie ich: »Mom, Mom! Mommy!«, während ich über die Straße rannte, ausrutschte und mir dabei die Handflächen aufschürfte.

Eine Menschenmenge hatte sich um sie geschart. Ich schob und stieß, bis ich endlich zu ihr durchkam. Mein Herz schlug so schnell, das Blut rauschte mir in den Ohren.

Ich hielt sie in meinen Armen, ihr Gesicht war blutverschmiert. Mit den Händen versuchte ich, es wegzuwischen, damit sie atmen konnte. Die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten, ich schluchzte und schrie. Mein Kinn bebte. »Ruft einen Krankenwagen. Das ist meine Mutter. Ruft endlich jemand einen Krankenwagen«, brüllte ich in die Menge. »Es ist einer unterwegs«, sagte jemand. »Mom, halt durch, halt durch«, bat ich sie immer wieder. »Du schaffst das, ich weiß es. Ein Krankenwagen ist unterwegs. Bitte Mom, bitte«, flehte ich und wiegte sie hin und her, so wie sie es mit mir als Kind tat, wenn ich einen Albtraum hatte. Die Tränen vernebelten mir die Sicht. Sie waren kaum aufzuhalten.

Ich wollte hingehen, ihr helfen, mir selbst helfen. Doch ich war nur als Zuschauer da.

Warum? Weshalb war ich erneut dort? Sollte ich nochmals den ganzen verzweifelten Schmerz, die Hilflosigkeit spüren, wie an diesem Tag vor drei Jahren.

Was hatte ich getan, um diese Grausamkeit erneut durchleben zu müssen.

Ich sank neben ihr auf die vereiste, mit Schnee bedeckte Straße. Der Schnee um uns herum färbte sich rot. Mom spuckte Blut.

Sie hob ihre Hand und strich mir durchs Haar, dann setzte ihre Atmung aus. Ich schüttelte sie und rief immer wieder nach ihr, doch sie war tot. Vor Verzweiflung schrie ich nach Dad. Ich wollte das nicht. Wach auf, Sara, wach endlich auf!

Etwas orientierungslos erwachte ich aus meinem Albtraum.

Der Film war schon längst vorbei. Die Uhr zeigte halb sieben. Ich setzte mich auf und hob die Decke vom Boden, die ich im Schlaf heruntergeworfen hatte. Mein Kopf brummte und der Magen knurrte.

Großmutter und Dad waren bestimmt schon zu Hause.

Um die Gedanken in meinem Kopf zu verdrängen, atmete ich tief ein, stand auf und ging mit meiner Tasse in die Küche, wo Granny kochte. Dad saß am Tisch und las die New York Times.

Kurz sah er über den Rand der Zeitung, als ich in die Küche betrat. Mit seiner Lesebrille sah er so witzig aus, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. »Guten Abend, Schlafmütze«, begrüßte er mich. Er faltete die Zeitung zusammen.

»Ich habe gar nicht gehört, dass ihr nach Hause gekommen seid. Ihr hättet mich wecken können.«

»Zum Abendessen hätten wir dich schon gerufen«, sagte Dad.

Er stand auf, nahm seine Tasse Tee vom Tisch, und im Vorbeigehen gab er mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich sehe mir die Nachrichten an. Ruft mich doch bitte, wenn das Essen fertig ist.«

»Machen wir«, sagte Großmutter.

Mit dem Kochlöffel in der Hand drehte sie sich zu mir um. Sogar mit einer Kochschürze sah sie elegant aus. Ich kannte niemanden in ihrem Alter, der sich so gekonnt in Schale werfen konnte. Ihr schulterlanges, langsam grau werdendes Haar saß wie immer perfekt. Keiner würde sie auf 67 schätzen.

»Wie war dein Tag, mein Schatz?«, fragte sie mit einem leichten Lächeln.

Ich setzte mich an den Tisch. »Wie immer, nichts Besonderes.« Mir huschte ein Lächeln über die Lippen.

»Weshalb schaust du dann so?«

Granny wusste immer, wenn ich log. Ich war eine schlechte Lügnerin. Nur Dad, fiel das nicht auf. Vielleicht wollte er es auch nicht wahrnehmen.

Verlegen sah ich sie an und kicherte albern. »Wenn ich ehrlich bin, wir haben einen neuen Schüler und der ist ein Ausnahmetalent.«

»Ist das alles?«, fragte sie, während sie die Soße umrührte.

»Er ist süß. Er würde dir gefallen«, antwortete ich mit einem breiten Grinsen.

»Vielleicht, wenn ich 40 Jahre jünger wäre«, scherzte sie und nahm die Nudeln vom Herd. »Wie heißt er denn?«

»Dante Craven. Er ist Pianist. Ich habe nie jemanden so spielen gehört«, schwärmte ich. »Er ist, es ist ... ich kann es gar nicht in Worte fassen. Er ist faszinierend.«

Sie lachte. »Habt ihr euch verabredet?«

»Ich kenne ihn einen Tag, da gehen wir nicht gleich aus und du weißt, wie Dad ist. Er würde es mir sowieso nicht erlauben«, sagte ich mit gesenktem Kopf.

Sie gab mir die Teller und das Besteck in die Hand, die ich auf dem Tisch verteilte.

»Lass deinen Vater meine Sorge sein. Ich werde ihn bearbeiten. Man glaubt kaum, dass er mein Sohn ist. Weißt du, zu meiner Zeit habe ich den Männern ständig den Kopf verdreht«, sagte sie und vollführte eine kleine Pirouette. »Da du meine Enkeltochter bist, wird dieser Dante keine Chance haben, deinem Charme zu widerstehen.« Sie strich mir über die Wange. »Ruf doch bitte deinen Vater zum Essen.«

 

Nach dem Essen verschwand ich im Zimmer. Ich war müde und ein wenig schlapp. Bevor ich mich ins Bett legte, um ein bisschen zu lesen, zog ich mir eine Jogginghose und ein T-Shirt an, in dem ich schlief. Nach einer Stunde fielen mir fast die Augen zu. »Bitte, wenn du kannst, lass mich heute Nacht schlafen«, sagte ich in die Dunkelheit, mit dem Wissen, dass ich keine Antwort bekäme. Doch ich spürte seine Präsenz wie einen Magneten, der meine Aufmerksamkeit in genau die Zimmerecke zog, in der er sich befand. Auf eine gewisse Art war es beruhigend, nicht allein zu sein. Und mir war vollkommen egal, ob es verrückt war, an einen Geist zu glauben. Jeder Trost war mir mehr als willkommen.

 

Dante

 

Das Licht der Nachttischlampe schimmerte in ihren grünen Augen, während sie vom Bett aus auf den Sessel starrte, wo ich saß. Sie sah mich nicht, dennoch spürte sie meine Anwesenheit. Nach einigen Sekunden legte sie das Buch in ihren Händen weg, schaltete das Licht aus und schlief. Ich würde ihrer Bitte, sie durchschlafen zu lassen, gerne nachkommen, aber es lag nicht in meiner Macht.

Dieses Mädchen faszinierte mich. So sehr, dass ich in ihrem Zimmer saß, während sie schlief und mir die Langeweile der Schule antat. Vielleicht weil sie wusste, dass ich da war. Es war weder rational noch vernünftig. Dieses Gefühl von Vertrautheit, das sie mir gegenüber ausstrahlte, machte mich wehrlos. Ich wollte sie berühren, sie küssen, ihr nah sein. Doch dafür war es zu früh. Für sie war ich ein Fremder.

Kapitel 2

Sara

 

Als sich die Tür in meinem Zimmer öffnete, war ich im Bad und bürstete die Haare.

»Aufstehen, Miss Davis«, rief mich Keira.

Schnell band ich mir meine hellbraunen Haare lose zu einem Zopf. Leise öffnete ich die Tür. Sie stand neben dem Bett und hob die Bettdecke an.

»Ich bin schon seit einer Weile auf«, sagte ich lächelnd.

»Oh, là, là, wer hätte gedacht, dass ich je erleben würde, dass du angezogen bist, wenn ich dich abhole«, sagte sie und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Ich habe halt hervorragend geschlafen.« Ich nahm meinen Mantel vom Sessel.

»Ach. Ist das so?«, fragte sie mit ihrem teuflischen kleinen Lächeln auf den Lippen. »Hmm … könnte es nicht zufällig an einem bestimmten jungen Mann liegen? Einem, den du gestern vor der Schule schamlos angestarrt hast?« Ihre Stirn legte sich in Falten.

»Vielleicht«, antwortete ich mit unschuldiger Miene.

»Du solltest ihn nach einem Date fragen«, schlug sie vor.

»Was denn sonst. Ich glaube, du hast Fieber, oder?«, fragte ich.

»Mir gehts prima. Die Frage ist nur, wie geht es dir?«, antwortete sie lachend. »Ich bin Craven dankbar, jetzt kommen wir ausnahmsweise mal pünktlich in die Schule«, sagte sie und ging an mir vorbei zur Tür.

Ich funkelte sie böse an. »Wir sind sonst auch nicht zu spät.«

»Nein. Nie«, sagte sie sarkastisch und rollte mit den Augen.

 

Es war eiskalt. Der Wind blies uns um die Ohren. Tief hängender Nebel hüllte die oberen Stockwerke der Häuser ein. New York schlief tatsächlich nie, die Straßen waren rund um die Uhr belebt. Bereits frühmorgens herrschte reges Treiben.

Nicht nur wegen des Wetters konnte ich es kaum erwarten, in die Schule zu kommen. Wenn ich ehrlich war, gab es bloß einen Grund: das Wiedersehen mit Dante. Allerdings sollte ich ihm nach meinem peinlichen Gebrabbel gestern besser aus dem Weg gehen, bevor ich mich noch mehr blamierte. Ihm war sicher nicht entgangen, wie ich ihn angestarrt hatte.

Vor der Treppe der Schule stupste mich Keira mit dem Ellbogen in die Rippen.

»Aua. Was soll denn das?«, beschwerte ich mich.

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Schule. Dante stand mit ein paar anderen Jungs vor dem Gebäude mit den roten Backsteinmauern.

Keira kicherte neben mir.

»Was ist?«, fragte ich bissig.

»Du wirst rot, wenn du ihn siehst.« Wieder kicherte sie. »Was zum Teufel hat er mit dir gemacht in dem Zimmer gestern. Dich verhext.« Ihre Schultern zuckten vor Lachen.

»Ich schwöre dir, wenn du nicht aufhörst, schubse ich dich in eine Pfütze«, warnte ich sie.

»Dafür müsste es aber regnen.«

»Ich warte, bis es das tut. Und dann, wenn du es nicht erwartest, liegst du drin.«

»Das wagst du nicht.«

»Willst du mich herausfordern?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Heute nicht. Du wirkst mir zu entschlossen.«

Wir liefen weiter auf den Eingang zu. Verlegen starrte ich den Boden an, während wir die Treppe hinaufgingen.

»Hallo, Ladys«, hörte ich seine charmante Stimme sagen.

Um nicht unhöflich zu wirken, sah ich hoch. Sein Blick traf mich so unvorbereitet wie gestern. Das Gefühl der Vertrautheit ließ sich nicht abschütteln. Seine Augen verkörperten eine Tür in einen Raum, der mir seltsam bekannt schien, ohne dass ich ihn je betreten hatte.

»Hallo«, murmelte ich. Was war bloß los mit mir? Ich brachte kaum einen Satz zusammen.

»Guten Morgen, Jungs«, sagte Keira in ihrer gewohnt entspannten Art. Der Wind ließ ihre Locken leicht fliegen.

»Keira, wenn du frierst, ich wärme dich gerne«, bot Liam Rubenstein an. Er lächelt verführerisch und zwinkerte ihr zu.

Er sah gut aus, verdammt gut, musste ich zugeben. Liam war nicht allzu groß, aber sein Charme und sein Humor glichen das mehr als aus. Und sein braunes Haar, immer perfekt gestylt. Doch neben Dante schien er mir wie unsichtbar.

»Danke Liam, wenn sich kein anderer finden lässt, komme ich darauf zurück«, antwortete sie, sah zu kurz Miguel und lächelte dann Liam an.

Als sie mich am Arm ins Gebäude zog, konnte ich mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.

 

In der Pause stand ich vor dem Mittagsbuffet.

Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir sagen. »Wie sieht die Essensauswahl aus?«

Ruckartig drehte ich mich zu dieser bekannten Stimme um.

Dante stand lächelnd vor mir.

»Ganz gut«, antwortete ich.

Er lehnte sich vor. Seine Lippen an meinem Ohr. Ich spürte seinen Atem auf der Haut. Mein Puls beschleunigte wie ein Motorboot. Mein Herz schlug so heftig, dass ich befürchtete, er würde meinen verräterischen Herzschlag hören.

»Ich denke, ich werde das nehmen, was du nimmst«, flüsterte er.

 Von der plötzlichen Nähe wurde mir ungewohnt warm.

»Es wird dir bestimmt schmecken. Mir schmeckt es auch.«

Was redete ich da bloß für einen Blödsinn? Etwas Dümmeres ist mir nicht eingefallen.

»Da bin ich sicher«, sagte er leicht amüsiert.

Ich nahm mein Tablett und ging zu unserem Tisch, ohne mich umzudrehen. Ich spürte, wie sein Blick mir folgte.

Abwertend sah Sam zu Dante hinüber, der sich etwas zu essen holte.

»Dieser Angeber«, giftete Sam.

»Was für ein Angeber?«, fragte Paul.

»Der Neue. Dieser Dante Craven. Wie kann man denn nur so heißen?«

Ich verstand seine Aufregung nicht. »Er ist nett. Ich weiß nicht, was du gegen ihn hast. Du könntest etwas von ihm lernen«, sagte ich und aß ein Stück Brot. Ich fühlte mich verpflichtet, ihn zu verteidigen, obwohl er das nicht nötig hatte.

»Ach ja, könnte ich das?«, fragte er spöttisch. »Was hast du denn mit ihm zu tun?«

»Nichts, ich habe ihn spielen gehört und mich kurz mit ihm unterhalten. Wie gesagt, er ist nett.«

»Warum quatschst du mit so einem?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Ist das jetzt verboten, oder was?«, konterte ich giftig. »Muss ich mir zuerst die Erlaubnis von unserem geehrten Mr. Hunter holen?«

»Komm wieder runter, Sara. Habe es ja nicht so gemeint«, sagte er reumütig.

»Du könntest dir zuerst mal die Mühe machen und ihn kennenlernen, bevor du Gift gegen ihn versprühst. Du bist ja schlimmer als Blair«, beendete ich das Gespräch.

»Ein Vergleich mit meiner Schwester war nicht nötig. Ich habe es begriffen«, merkte er leicht verärgert an.

Die anderen verkniffen sich das Lachen.

Blair Hunter war das größte Biest der ganzen Stadt. Was Intrigen und Beleidigungen anging, konnte ihr keiner das Wasser reichen. Zu meinem Glück machte sie letztes Jahr ihren Abschluss und studierte jetzt in Boston. Auch wenn sie nicht an der Kennedy zur Schule gegangen war, hatte ich Blair viel zu oft gesehen. Sie hatte mich nie gemocht, nicht einmal, als wir noch Kinder waren. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Sam seine Zeit lieber mit mir verbrachte.

 

Verstohlen blickte ich zu Dante rüber, gleichzeitig schaute er hoch. Seine Augen ließen mich nicht mehr klar denken. Mein Herz flatterte unruhig. Er dachte nicht daran, wegzuschauen. Nein, er machte es schlimmer, indem er ein Lächeln aufsetzte, das wahrscheinlich jedem Mädchen den Atem geraubt hätte.

»Sara! Sara!«, rief Keira nach mir.

Erst jetzt konnte ich meinen Blick von ihm abwenden.

»Hallooo … was ist denn los mit dir? Wir müssen zum Unterricht.«

»Ja … ich komme schon«, murmelte ich.

Ich hatte keine Lust auf eine Standpauke von Dad, weil ich wieder mal zu spät im Unterricht erschienen war. Deswegen packte ich schnell zusammen und folgte Keira.

Wer dachte, als Tochter des Rektors hätte man irgendwelche Privilegien, irrte sich gewaltig. Er behandelte mich strenger als jeden anderen, eben weil ich seine Tochter war.

Breit grinsend hakte ich mich bei Keira ein.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Sam.

»Nichts, warum?«

»Du siehst aus, als hättest du was gewonnen.«

Ohne näher darauf einzugehen, zuckte ich bloß mit den Schultern.

»Hey, Süße«, begrüßte Maria mich. Sie nahm Keiras Platz an meinem Arm ein, nachdem diese in ihrem Klassenzimmer verschwunden war.

»Hey. Wo warst du in der Mittagspause?«

Wir gingen die breite Treppe in den zweiten Stock hoch. Die Schüler begaben sich in die Klassenzimmer.

»Ich habe mit Kevin gegessen.« Sie lächelte mich unschuldig an.

»Hast du mit ihm gegessen oder war er das Essen?«

»Er war das Dessert.«

»Du brichst ihm noch das Herz, Maria.«

»Ach, was, er ist ein großer Junge, er wird es verkraften.«

Sie band sich rasch ihre langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz hoch.

»Wie wäre es mal wieder mit einem reinen Mädchenabend?«, fragte Maria, als wir vor dem Klassenraum ankamen.

»Na klar, warum nicht«, antwortete ich. »Was hast du geplant?«

»Wir könnten uns im Joe`s treffen. Da waren wir schon lange nicht mehr«, sagte sie beim Hineingehen.

Mir war klar, warum Maria ins Joe`s gehen wollte. Sie fand den Kellner so sexy, dass sie ihm jedes Mal schöne Augen machte.

Wir setzten uns auf unsere Plätze.

»Das ist eine super Idee«, sagte ich fröhlich, während ich meine Geige aus dem Koffer nahm.

»Vielleicht wollen Keira und Hillary mitkommen.«

»Sicher kommen sie mit.«

Marias Lachen erfüllte den Raum.

»Miss Coks, Ruhe«, ermahnte sie Mr. Travis.

»Ja, schon gut«, gab sie zickig und mit rollenden Augen zurück.

»Diesen Ton kannst du dir sparen.«

Der Unterricht begann mit Beethovens fünfter Symphonie. In zwei Monaten geben wir ein Konzert für die Eltern und den Schulrat.

»Sehr schön, sehr schön, sehr schön«, wiederholte Mr. Travis immer und immer wieder.

Am liebsten hätte ich ihm meine Geige auf den Kopf gehauen und ihm seine dämliche Brille zerschlagen.

»So und Schluss.«

Die Tür ging auf und mein Herz machte einen Sprung.

»Oh, da bist du ja. Nimm Platz«, sagte der Lehrer und zeigte mit der Hand auf das Klavier. »Wie ihr wisst, steht bald das alljährliche Konzert an. Da ihr meine besten Schüler seid, bin ich davon überzeugt, dass es dieses Jahr grandios wird. Dante wird uns am Klavier begleiten.«

Ich wagte kaum, ihn anzusehen.

»Dante dürfte auch mit mir spielen«, flüsterte Kendra Louise zu.

Sie sollte sich lieber auf ihr Cello konzentrieren, grollte ich.

»Sara, das ist jetzt das dritte Mal, dass du die falsche Note spielst«, ermahnte mich Mr. Travis.

Dante sah von den Tasten des Klaviers hoch. Sein Lächeln galt offensichtlich mir. Was mich unkontrolliert erröten ließ. Kendra funkelte mich verärgert an, als sie merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht ihr galt.

So gut es ging, riss ich mich zusammen, dabei sah ich stur nach vorn zum Lehrer, ohne mir zu gestatten, den Blick abzuwenden. Erleichtert atmete ich aus, als die Stunde um war. Und war dankbar dafür, dass ich keine Gemeinsame mehr mit ihm hatte.

»Wann treffen wir uns? Wäre um sechs vor dem Café recht?«, fragte Maria, als wir zusammenpackten.

»Okay. Ich sage Keira Bescheid und schreib Hillary eine SMS, falls ich sie nicht mehr sehe.«

»Dann bis später, Sara«, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich freue mich.«

 

Auf dem Heimweg war ich ungewöhnlich still. Was Keira nicht entging.

»Alles klar bei dir?«, fragte sie schließlich.

»Ja, mir geht`s prima. Ach, Maria und ich gehen heute Abend ins Joe`s. Kommst du mit? Hillary ist auch dabei.«

»Ja, sicher. Wir haben ewig nichts mehr zu viert unternommen.«

Wir bogen um die Ecke, als es wieder anfing zu schneien.

Der Portier öffnete uns höflich die Tür. »Guten Tag, die Damen.«

»Hallo, Mr. Garner, geht es Ihnen gut?«, fragte Keira mit einem breiten Lächeln.

»Wenn ich Sie sehe, immer, Miss James.«

Wir stiegen in den verspiegelten Lift.

»Wann wollen wir los?«, fragte Keira.

»Um sechs. Wenn wir die U-Bahn nehmen, reicht es, wenn wir um Viertel nach fünf losgehen. Was meinst du?«

»Ich denke auch. Wir sehen uns in einer halben Stunde unten beim Eingang.«

»Bis später.«

Als ich aus dem Lift stieg, roch ich den Duft von Grannys Apfelkuchen.

Ich öffnete die Tür der Wohnung. »Hallo Granny«, rief ich. Mantel und Schal hing ich an den Kleiderständer neben der Tür. Es war schön, aus der Kälte raus zu sein.

»Hallo Sara, ich bin im Wohnzimmer.«

Ich folgte ihrer Stimme.

Gemütlich lag sie auf dem Sofa und las ein Buch. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Wie war dein Tag?«, fragte ich.

»Ich habe den Tag mit Faulenzen verbracht. Wie war deiner?«

»Prima. Was liest du da?«, fragte ich und griff nach dem Buch, um den Titel zu sehen. »Wie bleiben Sie im Alter fit«, las ich laut vor. »Denkst du wirklich, das Buch kann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sandra Todorovic
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2009
ISBN: 978-3-95500-735-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
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