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Expressionismus als verlorenes Expressgut ?

 

 

 

Der antibürgerliche Im- und Expressionismus ist tot, der bürgerliche Im- und Export floriert. Der künstlerische Aufstand um 1910-1920 gerierte sich als ödipaler Aufschrei von Bürgerkindern gegen ihre Bürgerväter, der im Geschrei der heutigen Massenmedien erstickte. Die sozialkritisch aufsässigen Rebellen haben längst die vorgewärmten Posten ihrer Eltern übernommen. Der expressionistische Vatermord hat sein Ziel erreicht in den homosexualisierten Spaßgesellschaften ein Jahrhundert später. Edvard Munchs geller Schrei aus grellen Farben verstummte im Gekreisch flackernder Popsongs.

 

 Zwischen Naturalismus und Neuer Sachlichkeit verarbeitete der ekstatische Expressionist seine Emotionen zu kreativer Resignation. Die "Menschheitsdaemmerung" von Pinthus versammelte die Poeten dieses neuen Sturm und Drang. Expressionistische Musik der Zweiten Wiener Schule will so wenig beschrieben werden wie expressionistische Malerei des "Blauen Reiters": Wir werden als Literaten uns auf Literatur beschraenken.

 

Laut Symbolphilosoph Ernst Cassirer befreit ein symbolischer Ausdruck vom bedrückenden Druck des Eindrucks. Der Expressionist begnügt sich nicht mit naturgetreuem Foto-Realismus der Oberflächen oder dem pointillistischen Geflirre beeindruckender Lichtreize, sondern explodiert vor Ekel, Angst und Wut im hässlichen Angesicht der modernen Großstadt und ihrer kapitalen Profithektik. Der Fleiß stampfender Industriemaschinen brachte Arbeitslosenheere statt eine Traumwelt ohne Schufterei. Kurze Zeit versprach der Erste Weltkrieg Ausbruch aus pfahlbürgerlichem Arbeitsfrieden und ewigem Fortschrittsglauben, bis Georg Trakl im drogenzugedröhnten Grauen der Materialschlacht von „Grodek“ unterging, von Georg Heyms Gedicht „Der Krieg“ formvollendet vorausgeahnt.

 

Die romantische Wahrheit des Expressionismus wurde der Surrealismus und Dadaismus, der nicht mehr an Realität, Humanismus und Vernunft glaubte. Jüdische Ratio endete in industrieller Rationalisierung und Phantasie in Fantasy-Comics. Die romantische Ironie von Novalis bis Thomas Mann landete im Schwachsinn der angedrehten Spaßgesellschaft und ihrem modischen Getue voll exzentrischem Narzissmus, wie mein Bekannter M. zu klagen pflegt. Die angepriesenen Lebenserleichterungen werden von ihrem humanen Wucherpreis aufgefressen. Laut Walter Benjamin ist der naturwissenschaftlich-technisch-industrielle Fortschritt genau jene Katastrophe selbst, die er verhindern will, und seine Umbrüche  lassen sich sozial längst nicht mehr friedlich integrieren.

 

Für Hegel war schon vor 200 Jahren die Kunst seit der Romantik nicht mehr die höchste Form der Wahrheit. Heute ist sie nur noch Kunstgewerbe der Kulturindustrien und webt am ideologischen Gesellschaftsschleier mit. Heutzutage nimmt bei Becketts Landstreicherclowns das expressionistisch prophezeite "Weltende" (von Hoddis) kein Ende mehr.

 

Postmoderne Kunst posiert inzwischen den Ausdruck der Ausdruckslosigkeit und lässt sich durch nichts mehr ausdrücklich beeindrucken. Einst wollte Kunst Anwalt der Natur gegen die Zivilisationsschäden sein. Seit uns Maschinenwelten aber zur zweiten Natur wurden, rettet Umweltschutz nicht mehr das Blümchen am Straßenrand, sondern bereitet nur die nächste technologische Wende in ökologistischer Ideologie vor, „sanftere Industrie 3.0“, in Stichworten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Der expressionistische Schreihals war der bukolische Idylliker vor einem Jahrhundert. Der Weltuntergang prosperiert, der Hochindustrialismus triumphiert nur als Dauerkrise, und ohne diese Krisenpermanenz ginge die Welt wirklich unter.

 

Der wahre Expressionist aber war weder der Fetzen dichtende August Stramm oder der klinisch kalte Nihilist Gottfried Benn mit seiner „Morgue-Lyrik“, sondern ein Franz Kafka, der nur ausdruckslos schrie und zwischen Expressionist und Surrealist fürchterlichste Dinge wie ruhige Selbstverständlichkeiten sagte. Max Brod missachtete seine testamentarische Nachlassvernichtung und lieferte seinen Freund dadurch erst all den Missverständnissen aus, die er gerade verhueten wollte. „Das Rätsel Kafka“, zu Lebzeiten unterschätzt und heute weltweit überschätzt als ein duesterer Existenzialist avant la lettre, wurde von unzähligen Interpretationen seither eher zugeschüttet. (Stichworte : Sinnlosigkeit, Entfremdung, Undurchsichtigkeit, Orientierungslosigkeit, Bürokratismus, Anonymität, Absurdität des Daseins , Vorwegnahme der KZ-Gräuel etc.) Wird bei ihm der lautstarke Expressionismus als eiliges Expressgut zum defätistischen, gar sadomasochistischen Depressionismus eines Schuldneurotikers?

Ich habe Kafka immer für vielleicht schizophren gehalten.

Aber der Expressionismus hat den zwangsjackenfreien Wahnsinn ja angehimmelt.

 

„Man darf die Welt nicht um ihren Sieg bringen.“ („Zürauer Aphorismen“, 1917, aus der „glücklichsten Zeit“ seines Lebens bei Schwester Ottla).  Dieser privat angepasste und gut integrierte Jurist glaubte, sich weder vorm Jüngsten Gericht noch vor der Gesellschaft rechtfertigen zu können. Kafka gab der Welt schockierend vorbehaltlos Recht, wo sie ihn zum Tode verurteilte – als unnütze „Zwirnspule Odradek" oder Mistkäfer Gregor Samsa. Er vollstreckte selbst das Urteil der „verwalteten Welt“ (Horkheimer) über ihn, ohne zu klagen oder anzuklagen oder gar Einspruch zu erheben und zu rebellieren. Ihm genügte das Glück, das zu erkennen und nächtens aufzuschreiben, ohne es Lesern zu überliefern, und siehe, es wirkt bis heute verstörender als alle pathetischen Kollektivaufschreie „Oh Mensch!“ in Waldens Zeitschrift „Sturm“ oder Pfemferts „Aktion“.

(Wollte er wie der kongeniale Autor Robert Walser durch Selbstverkleinerung den Fangnetzen der Menschenfischer entgehen?)

 

Der heutige Expressionist nimmt nur noch seinen Zwerg-Espresso beim Italiener.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 02.03.2024

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