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Leseprobe

DARK EMBER

EWA AUKETT

1

Saint Louis, Missouri, River Des Peres Park

Es ist dunkel und ungemütlich an diesem kalten, verregneten Aprilmorgen. Die ersten Pendler sind dort unterwegs, wo die Old Route 66 und der River Des Peres Boulevard sich kreuzen. Am Straßenrand unmittelbar neben dem Park stehen ein knappes Dutzend Einsatzfahrzeuge der örtlichen Sicherheitsbehörden, und der Bereich um die Baumgruppe ist weiträumig abgesperrt. Das Trommeln des Regens auf den Wagendächern könnte eine fast schon einschläfernde Wirkung haben, wenn da nicht die Signalleuchten wären, die ihre beunruhigenden blauen und roten Lichtreflexe auf die Umgebung werfen.

Einer der Beamten läuft mit hochgezogenen Schultern zwischen den Autos hindurch und zerrt den nach oben geschlagenen Kragen seines Mantels noch ein bisschen enger um den Hals. Rasch nähert er sich seinem Partner, der unter dem hastig aufgestellten Pavillon steht und sich Notizen macht, während er dem vor ihm am Boden hockenden Kollegen der Spurensicherung lauscht.

»… auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Dr. Emery meinte, das Opfer sei seit weniger als vierundzwanzig Stunden tot. Genaueres kann sie aber erst nach der Obduktion sagen.« Der Beamte am Boden blickt sich um. Ärger und Frustration zeigen sich deutlich auf seinem Gesicht, dann schüttelt er den Kopf. »Es ist das gleiche Bild wie die letzten vier Mal. Die Kollegen suchen bereits die Umgebung ab.«

Detective Vincent Santini wendet den Kopf, schaut sich kurz um und sieht wieder zu seinem Partner hinüber. Montana bedeutet ihm mit einem knappen Nicken, dass er gleich zu ihm kommt, dankt dem Kollegen und ist mit wenigen Schritten bei Santini.

»Wir haben Nummer fünf«, stellt er fest und spart sich die Begrüßung.

»Scheiße!« Santini geht zur äußeren Ecke des Pavillons, greift in die Jackentasche und zieht eine Packung Kaugummi heraus, um sich eins davon in den Mund zu stecken. Seit er mit dem Rauchen aufgehört hat, ist er geradezu süchtig nach dem Zeug. »Identität unbekannt, nehme ich an?«

»Ja.« Sein Partner nickt. »Die Kollegen suchen noch in der Nähe nach Anhaltspunkten.«

Santini presst die Lippen fest aufeinander. Alles wie immer also, genau wie bei den anderen vier Fällen. »Details zum Opfer?«

Der Kollege blickt auf den Notizblock in seinen Fingern. »Doc Emery schätzt sie auf Anfang, Mitte vierzig. Weiß, mittelgroß, keine auffälligen Merkmale – abgesehen von dem Tattoo! Sie wurde stranguliert und ist nackt … bis ins Detail die gleiche Vorgehensweise.« Er seufzt tief und lässt die Hand mit dem Block darin sinken. »Ehrlich, welches kranke Schwein tut Frauen so was an.«

»Eins, das wir dringend dingfest machen müssen«, murmelt Santini. Er weiß genau, was Montana fühlt oder der Kollege von der Spurensicherung. Ihnen geht es allen so – Ärger, weil sie den Täter nicht finden können, und Frustration, weil ein fünftes Opfer vielleicht vermeidbar gewesen wäre. Es wird noch schlimmer werden, spätestens wenn die Presse antanzt und die Öffentlichkeit erfährt, was passiert ist … schon wieder. Der Druck, der auf ihnen allen lastet, steigt von Tag zu Tag, und die kritischen Stimmen werden stetig lauter, weil die Polizei kaum neue Erkenntnisse liefert. Der Chief wird ganz sicher toben, wenn die lokalen TV-Sender in den Morgennachrichten die nächste Tote verkünden.

»Wer hat sie gefunden?«

Montana blättert durch seinen Block. »Ein Jogger. James Lewis, Bankangestellter, dreiunddreißig Jahre. Kein Eintrag, ich hab ihn schon gecheckt. Er wohnt ein paar Blocks von hier entfernt. Er war auf der üblichen Morgenroute unterwegs, dann ist sein Hund plötzlich zwischen den Bäumen verschwunden und begann zu bellen. Als Lewis die Leiche entdeckt hat, dachte er im ersten Moment, es wäre eine Schaufensterpuppe, und wollte schon weiterlaufen. Erst bei näherem Hinsehen hat er gemerkt, dass es ein toter Mensch ist. Die Sanitäter versorgen ihn noch, er steht unter Schock.«

»Das ist die fünfte Leiche, und wir tappen immer noch im Dunkeln.« Santinis Miene verfinstert sich weiter. Seine Hände graben sich tief in die Taschen seines Mantels, während er mit leerem Blick in Richtung der Spurensicherung starrt und wütend auf seinem Kaugummi herumkaut. »Es ist zum Kotzen … und statt voranzukommen, werden uns weiter Leute abgezogen.«

Als Montana etwas sagen will, werden sie für einen kurzen Augenblick von grellen Scheinwerferkegeln geblendet. In unmittelbarer Nähe parkt eine große, dunkle Limousine. Das ist ganz sicher nicht die lokale Presse, die kommt, um über die Story der Woche zu berichten.

»Das FBI ist da«, stellt Montana unnötigerweise fest. Er klingt fast ein bisschen erleichtert. Eine Erleichterung, die Santini nicht teilt. Seit gut fünf Monaten rennen sie einem Schatten hinterher, der ihnen ständig einen Schritt voraus zu sein scheint. Natürlich können sie jede Hilfe brauchen, die sie kriegen können. Allerdings hatte er bei einem ähnlichen Fall vor gut fünf Jahren schon mal das Vergnügen, mit dieser Bundesbehörde zusammenzuarbeiten, und das hat leider nicht nur gute Erinnerungen zurückgelassen. Andererseits haben sie keine große Wahl, besonders, wenn sie verhindern wollen, dass noch mehr Frauen sterben.

Während Montana zum Auto der Neuankömmlinge hinüberläuft, um die Bundesbeamten zu begrüßen, dreht Santini ihnen den Rücken zu und lässt seinen Blick über den Fundort streichen. Fünf Monate! Das ist die Zeit, die vergangen ist, seit sie die erste tote, kahlköpfige Frau in Saint Louis gefunden haben. Nicht, dass Leichen in dieser Stadt so ungewöhnlich wären – immerhin findet sich Saint Louis jährlich auf der Liste der gefährlichsten Städte der USA wieder. Aber einen Serienkiller, der seine weiblichen Opfer jeden Monat kurz nach Vollmond geradezu öffentlich drapiert, damit sie gefunden werden, nachdem er ihnen zuvor Dinge angetan hat, die ihm als Vater von drei Töchtern die Wut durch die Eingeweide treiben, das gab es lange nicht. Die meisten Details hat die Polizei der Öffentlichkeit vorenthalten, um keine Nachahmungstäter zu weiteren Verbrechen zu animieren. Doch die aktuelle Entwicklung ist besorgniserregend genug.

Mit einem Seufzer streicht der Detective sich über den Bart und atmet tief durch. Ein halbes Jahr bis zur Rente. Er hatte letztes Jahr noch gehofft, dass nicht kurz vor Ende seiner Dienstzeit noch irgendein durchgeknallter Psycho meint, seine kranken Fantasien ausleben zu müssen. Doch seit dem Jahreswechsel sieht die Sache leider anders aus.

»Detective Santini.«

Nur zögernd dreht er sich um, als er Montanas Stimme hinter sich hört. Neben seinem Partner stehen eine Frau und zwei Männer – einen von ihnen hat er noch lebhaft in Erinnerung. Einen Typen, dessen Schultern gefühlt genauso breit sind wie er groß ist, und der ihm mit unbeweglicher Miene entgegenblickt: Supervisory Special Agent Sage Morgan. Bitterkeit schwappt über Santini hinweg. Jeder Muskel in seinem Gesicht fühlt sich an, als wäre er eingefroren. Hätten sie nicht jemand anderen finden können als dieses arrogante Arschloch? Montana rattert Santinis Namen und Dienstgrad herunter, um ihn vorzustellen, doch der kann nur unverwandt den Mann anstarren, der ihm schräg gegenübersteht.

»Special Agent Morgan ist –«

»Wir kennen uns bereits«, unterbricht Santini seinen Partner mit eisiger Stimme. Der zweite Bundesbeamte tritt vor, zwischen die Männer und reicht Santini die Hand. Er ignoriert sie geflissentlich, doch der Fremde zuckt nur kaum sichtbar mit den Schultern und lässt den Arm sinken.

»Supervisory Special Agent James Reimann«, stellt er sich vor. »Detective Montana war so freundlich, uns über den aktuellen Stand der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen. Die andere Hälfte unseres Teams ist bereits zum Revier gefahren, um dort die Beweise zu sichten und unsere Einsatzzentrale einzurichten.«

»Schön für Sie«, entgegnet Santini kühl und bemüht sich um Professionalität. Seine persönlichen Aversionen gegen Agent Morgan haben bei diesem Fall nichts zu suchen. Davon darf er sich nicht beeinflussen lassen, aber verflucht … er würde diesem abgebrühten Arschloch so gern die Fresse polieren. Zähneknirschend konzentriert er sich auf den Mann vor ihm. »Wir hatten Sie früher erwartet. Wenn Sie sich mit Ihrem Auftauchen nicht noch einen weiteren Monat Zeit gelassen hätten, wäre ein fünftes Opfer vielleicht vermeidbar gewesen.«

Reimanns Miene bleibt unbewegt und kühl. »Niemand bedauert das mehr als wir. Leider machen die Sparmaßnahmen des Kongresses auch vor unserer Behörde nicht halt. Ich muss Ihnen kaum erzählen, wie viele Kollegen in den letzten drei Jahren aus diversen Gründen aus dem Dienst geschieden sind … und wie schwierig es ist, neue, zuverlässige Leute zu bekommen. Bedauerlicherweise passt sich die Zahl der Delikte und Auseinandersetzungen nicht dem Level der schwindenden Belegschaft an.«

Santini mustert sein Gegenüber flüchtig, wirft einen letzten angesäuerten Blick in Morgans Richtung und wendet sich dann ab. Natürlich weiß er, wie das ist. Ob FBI oder örtliche Polizei – sie alle leiden unter dem immer größer werdenden Personalmangel. Wer Glück hat, scheidet aus, weil er das entsprechende Alter erreicht hat und in Pension geht. Viele Kollegen sind jedoch arbeitsunfähig aufgrund der Belastung, der sie tagtäglich ausgesetzt sind, physisch wie psychisch. Oder sie erscheinen am nächsten Tag nicht mehr zum Dienst, weil sie in irgendeinem 24/7-Shop hinterrücks abgestochen oder niedergeschossen werden.

Neue Leute sind zunehmend schwieriger zu bekommen, obwohl die Bezahlung beim FBI sicher besser ist als beim Police Departement. Es sei denn, man drückt beide Augen zu, was die persönlichen Kontakte einiger Anwerber in Bezug auf ihre Verbindungen zu diversen radikalisierten Vereinigungen betrifft. Aber Polizist zu sein, ist scheinbar kein erstrebenswerter Job mehr – das Risiko für Leib und Leben zu groß, die Bezahlung zu schlecht, und als Mensch wird man entweder zum Fußabtreter der Gesellschaft oder dreht irgendwann durch. Wer schlau ist, sucht sich einen Job in der Wirtschaft oder Politik. Dort, wo man nur ein paar Unterschriften setzen muss, richtig abkassieren kann und sich die Finger nicht schmutzig macht. Niemand will mehr gute alte Polizeiarbeit machen oder seinen Arsch für andere Menschen riskieren, genauso wenig wie noch irgendwer Handwerker werden möchte. Es ist wie eine stetig enger werdende Spirale, die nach unten führt. Die guten, aufrichtigen Leute, die ihren Job einfach nur machen und für die Allgemeinheit arbeiten, werden zunehmend weniger … oder so beschissen bezahlt, dass davon einfach niemand leben kann – dafür wächst die Zahl der Arschlöcher und Vollidioten jeden Tag weiter an.

»… in Saint Louis nicht die einzigen Opfer des Täters sind.«

Zugegeben, er hat SSA Reimann nicht weiter zugehört, aber dieser letzte Teil des Satzes

lässt Santini stutzig werden und sich wieder zu dem Agent umdrehen.

»Was sagen Sie?«

Ein Hauch von Herablassung huscht über Reimanns Miene und verschwindet so schnell wieder, dass Santini nicht sicher ist, ob er sich das nur eingebildet hat. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass es weitere Opfer gibt … außerhalb von Missouri.«

»Special Agent Kirkwood.« Er blickt zu der Kollegin hinüber, die bisher still neben Morgan gestanden hat und nun das Wort ergreift. »Die Kollegen prüfen noch ein paar ungeklärte Fälle. Sicher ist aber, dass wir den Täter nachweislich mit mindestens einem Fall in Washington in Verbindung bringen können.«

»In Washington?« Santini runzelt die Stirn. »Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Es gibt ein paar auffällige Parallelen«, stellt Reimann fest. Sein Blick gleitet in die Richtung, wo in diesem Moment die ersten Transporter der lokalen Nachrichtensender eintreffen. »Wir würden das allerdings gern auf dem Revier mit Ihnen erläutern – in einem vertraulicheren Rahmen.«

»Sicher, aber eine Frage müssen Sie mir vorher noch beantworten«, entgegnet Santini mit Nachdruck. Reimann nickt. »Wieso haben wir bisher keine Kenntnis von einem sechsten Opfer? Wenn er schon auf ähnliche Weise getötet hat, hätten wir darüber nicht spätestens nach unserer Anfrage ans FBI die passenden Informationen bekommen müssen? Wir haben die nationalen Datenbanken mehrfach durchsucht, aber darüber nie eine Meldung erhalten.« Er sieht, wie die drei Agents ein paar stumme Blicke austauschen.

Dann tritt ausgerechnet Morgan vor und stellt sich dem durchdringenden Blick des Detectives. »Es ist ein interner Fall. Die Untersuchung war bislang unter Verschluss.«

Er weiß, was diese Worte bedeuten. Santini schaut zu Montana hinüber, wohlwissend, dass ihnen das Gleiche durch den Kopf geht: Unter Verschluss = Regierungsangelegenheit. Sein Kollege signalisiert ihm noch etwas anderes: Frag nicht weiter nach! Santini will es trotzdem wissen: »Inwieweit hat sich die Lage jetzt geändert?«

Wieder dieser Blickkontakt untereinander. Er sieht, wie Morgans Kieferknochen sich hin- und herschieben, während er mit den Zähnen knirscht. »Sie war vermutlich sein erstes Opfer … und sie gehörte zum inneren Kreis.«

Santini starrt Morgan sekundenlang stumm an. Er fühlt sich wie gelähmt. Jemand aus dem Umfeld des Präsidenten? Wieso ist darüber nie berichtet worden? Sein Mund wird trocken und der Hals eng. »Wann?«

»Im letzten Sommer.«

Wut wallt in ihm auf. Doch ehe er fragen kann, warum zur Hölle niemand früher reagiert hat, kommt einer der Officers zu ihnen und hält eine Tüte zur Beweissicherung in die Höhe, um sie dem Detective zu übergeben. »Wir haben ihre Handtasche gefunden.«

Santini ruft sich selbst zur Ruhe, seine Stimme klingt ruppig, als er fragt: »Brieftasche?«

»Ist alles da. Der Name ist Sophie Walker.« In der gleichen Sekunde, als er Santini den Beutel reichen will, fängt darin ein Handy an zu klingeln.

Santini öffnet ihn und fischt ein in einer Plastiktüte gesichertes Smartphone heraus. Das Display ist hell erleuchtet, der Name darauf klar und deutlich zu lesen. Mit finsterem Gesicht nimmt er den Anruf entgegen und hält das Telefon im Kunststoffbeutel ans Ohr. »Wer sind Sie, Lauren?«

Für eine Sekunde bleibt es still am anderen Ende, dann hört er eine Frauenstimme. »Was zum … Wer sind Sie

»Detective Santini vom Saint Louis Police Departement.«

Er hört sie scharf Luft holen. »Oh mein Gott. Was … was ist mit Sophie?«

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn Sie mir verraten, in welchem Verhältnis Sie zu ihr stehen.«

»Sie ist meine Schwester!«

2

Lauren

»Lauren?«

Blinzelnd hebe ich den Kopf und werfe einen irritierten Blick auf den Mann, der mir gegenübersteht: Thomas. Sein schwarzer Rollkragenpullover lässt ihn strenger aussehen, als das erste Telefonat gestern hätte vermuten lassen. Strenger als er in Wirklichkeit ist. Er lächelt mich an, verständnisvoll und aufmunternd. »Wenn du möchtest, können wir loslegen.«

Ich hole tief Luft. Meine Kehle ist eng, und ich spüre den Druck in meinem Bauch. Statt mich zu rühren, starre ich auf einen imaginären Punkt, irgendwo auf halber Höhe, wage es kaum, in die Gesichter zu sehen, die um mich herum sind. Es kostet mich große Überwindung, tatsächlich aufzustehen und die Stimme zu erheben. Ich bin normalerweise nicht schüchtern. Doch das hier ist eine Ausnahmesituation für mich.

»Hallo. Mein Name ist Lauren.«

»Hallo Lauren«, werde ich im Chor begrüßt.

Ich hebe das Kinn ein bisschen weiter und sehe ein paar freundliche Gesichter, die mir mitfühlend zunicken. Jeder Blick, der mich trifft, vermittelt mir die gleiche Botschaft: Hab keine Angst, wir haben das alle gemacht, wir sitzen hier im gleichen Boot. Ich muss mich nicht fürchten, nichts muss mir unangenehm sein. Meine Finger zittern leicht, als ich weiterrede: »Ich bin … verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite in der städtischen Bibliothek von Philadelphia.« Sie klopfen auf ihre Stuhllehnen, um mir zu zeigen, dass sie gutheißen, wie ich mich schlage. »Meine Schwester … Sophie, sie wurde …« Mir bricht die Stimme weg. Ich räuspere mich, sammle mich sekundenlang und bin froh, dass sie mir die Zeit geben, ohne mich zu unterbrechen. »Sie wurde … vor etwas mehr als zwei Wochen gefunden.« Es folgt ein mehrstimmiges Hmhm, das mich fast erleichtert aufatmen lässt, und ich weiß nicht mal, wieso. »Sie war bisher das letzte Opfer, sagen sie.«

In das Nicken mischen sich Anteilnahme, Trauer und etwas, das ich nicht benennen will, nicht benennen kann, weil ich sonst wieder in Tränen ausbreche. Wir mögen alle im gleichen Boot sitzen, aber ich will trotzdem nicht vor diesen Leuten heulen. Sie sind mir einfach fremd. Ich öffne die Lippen, will noch irgendwas sagen, aber mein Kopf ist plötzlich leer, und ich klappe den Mund wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich will nichts mehr, als mich in irgendein Loch zu verkriechen. Ein kleiner Teil von mir möchte nach meiner Tasche greifen und zur Tür rausstürmen. Weg von hier, weg von all diesen Menschen.

»Das war sehr gut«, stellt Thomas fest, der offenbar gemerkt hat, dass ich nicht in der Lage bin, weiterzureden. »Du kannst dich gern wieder setzen, Lauren.«

Ich nicke hastig und sacke erleichtert auf meinen Stuhl zurück.

»Habt ihr euch nahegestanden, du und Sophie?«

Oh nein! Ich dachte, es wäre vorbei. Mühsam versuche ich den Rest um mich herum auszublenden, konzentriere mich auf Thomas‘ Kinn. Bloß niemandem in die Augen sehen und irgendwelche Gefühle darin erkennen. Ich mache eine selbst für mich seltsame Geste, irgendwas zwischen einem halbherzigen Nicken und dem Hochziehen der Schultern.

»Ja, schon. Als Teenager hatten wir natürlich die üblichen Probleme unter Schwestern, aber je älter wir wurden, desto besser verstanden wir uns. Wir haben sogar eine Weile zusammengelebt – bis ich geheiratet habe.« Meine Unterlippe zittert, und ich versuche sie zu kontrollieren, indem ich darauf herumbeiße. »Sophie war ein großer Halt für mich. Nach dem Tod unserer Mutter … ohne sie – ich weiß nicht …« Mir bricht die Stimme weg.

»Schon gut, Lauren, schon gut.« Thomas hebt beruhigend eine Hand. »Wir verstehen alle deinen Schmerz.«

Ich nicke bedrückt, flüstere nur ein leises »Danke«.

Er nickt mir zu, lächelt sacht und löst ein warmes Gefühl in mir aus. Es ist schön, dass jemand Verständnis für mich aufbringt in dieser Situation … und unter diesen Umständen. Ob Thomas verheiratet ist? Oder eine Freundin hat? Gott! Was geht mir da durch den Kopf? Ich bin nicht hier, weil ich verzweifelt auf der Suche nach einem Kerl bin! Zum Glück wendet sich seine Aufmerksamkeit den anderen zu. Er hebt die Hände.

»Möchte jemand von euch sprechen?« Er deutet auf eine Person am anderen Ende des Stuhlkreises. »Was ist mit dir, Kyle? Du bist heute auch zum ersten Mal dabei.«

»Ja, sicher.« Ein Mann erhebt sich langsam. Zu ausgeblichenen Jeans trägt er ein enges, dunkelblaues T-Shirt, unter dem sich ein beeindruckend muskulöser Oberkörper abzeichnet. Im Gegensatz dazu wirkt die Brille mit dem Horngestell auf seiner Nase geradezu altmodisch. Explizit für jemanden, der schätzungsweise erst um die dreißig ist. Als hätte Clark Kent vergessen sein Superman-Outfit abzulegen.

»Hi, mein Name ist Kyle.« Ich mag den Klang seiner Stimme auf Anhieb.

»Hallo Kyle«, begrüßen ihn alle im Chor.

Als sich mein Blick auf sein Gesicht heftet, schaut er mich an. Mir wird warm. Einer seiner Mundwinkel zuckt für einen winzigen Moment einen kaum wahrnehmbaren Millimeter nach oben, und Unruhe macht sich in mir breit. Ich bin nicht sicher, wie ich das einordnen soll – vermutlich will er mir einfach nur sein Mitgefühl ausdrücken, und ich interpretiere zu viel hinein, aber irgendwie … fühle ich mich seltsam.

Kyle atmet hörbar ein. »Meine Tante war das vorletzte Opfer. Sie haben sie vor nicht ganz sieben Wochen gefunden.« Er schiebt die Brille auf der Nase nach oben, während er sich umschaut. »Mein Vater ist eigentlich immer zu diesen Treffen gekommen. Vor zwei Wochen hat er sich das Bein gebrochen und soll jetzt erst mal wieder gesund werden. Er hat mich gebeten ihn hier eine Weile zu vertreten, bis es ihm besser geht.«

Zustimmendes Gemurmel und leises Klopfen folgen. Ich klopfe zögernd mit.

»Du lebst mit ihm zusammen?«, will Thomas wissen.

Kyle schüttelt den Kopf. »Nein. Ich wohne normalerweise in Columbia. Ich bin hergekommen, um ihn und meinen Bruder ein wenig zu unterstützen.«

»Das ist nett von dir.« Thomas lächelt in die Runde. »Dein Dad hat erzählt, dein Bruder ist krank!?«

Mir entgeht nicht, dass Kyles Nasenflügel sich kurz aufblähen. »Doug ist nicht krank. Er ist eingeschränkt, was seine Kommunikationsfähigkeiten und die zwischenmenschlichen Interaktionen betrifft. Aber er arbeitet daran und führt ein weitgehend selbstständiges Leben mit der Hilfe unseres Vaters.«

»Oh, natürlich. Das ist großartig, wir brauchen mehr solcher Menschen.« Thomas nickt Kyle wohlwollend zu, und Superman ist anzusehen, dass er erleichtert ist, sich wieder setzen zu können. In den nächsten Minuten hält der Gruppenleiter mit sanfter, warmer Stimme eine Ansprache an uns alle.

Meine Aufmerksamkeit verirrt sich erneut in Kyles Richtung, und wieder treffen sich unsere Blicke. Er lächelt mich an, aufmunternd, als wollte er mir stumm kommunizieren, dass ihn das hier auch nervt, aber er genauso wenig eine Wahl hatte wie ich. Meine Mundwinkel heben sich sacht. Ehrlich gesagt bin ich freiwillig hergekommen, weil ich hoffte, hier Trost zu finden und nicht länger das Gefühl zu haben, allein zu sein, aber schon als ich vor einer Viertelstunde durch die Tür des Gemeindehauses getreten bin, hätte ich am liebsten wieder kehrtgemacht. Ich bin keine Einsiedlerin. Ich komme normalerweise gut mit anderen Menschen klar und habe wenig Probleme, auf sie zuzugehen, aber wir alle sind hier, weil wir Angehörige eines Mordopfers sind … Das ist keine Selbsthilfegruppe, die gemeinsam was gegen ihre Rückenschmerzen unternehmen will und sich zum kollektiven Turnen trifft. Ich bin auch bloß hier, weil Detective Santini vom Saint Louis Police Departement mir den Rat gegeben hat, mich vielleicht der Runde der Hinterbliebenen anzuschließen, um darin Kraft zu finden. Wenn ich jedoch ehrlich bin, finde ich nur Kyle wirklich sympathisch. Er gibt mir Grimassen schneidend zu verstehen, dass wir wohl weiter zuhören müssen, und ich nicke kaum wahrnehmbar.

Thomas spricht darüber, dass es okay ist, nicht nur die Trauer zu durchleben, sondern auch die Wut zuzulassen, die uns innewohnt. Wir alle haben eine Schwester, Mutter, Tante, Grandma oder sogar Tochter verloren. Wir alle sind ohnmächtig vor Enttäuschung, weil der Täter immer noch dort draußen frei herumläuft und die Polizei wie gelähmt zu sein scheint. Eine der anderen Frauen schluchzt plötzlich auf, als er uns bittet, uns an ihre Gesichter zu erinnern, an all die wunderbaren Momente, wenn wir an unsere gemeinsame Vergangenheit denken. Dieses Geräusch ist wie ein Messerstich, der mir durch den ganzen Leib fährt – und auch wenn ich mich mit jeder Faser dagegen wehre, es ihr gleichzutun, kann ich nicht völlig verhindern, dass mein Blick verschwimmt. Ich lasse das Kinn auf die Brust sinken und starre vor mich hin. Der Teil in mir, der meine tote Schwester vermisst und immer noch nicht richtig begreifen will, dass wir nie wieder telefonieren oder uns in die Arme schließen können, zieht hektisch die imaginäre Mauer um mich herum nach oben, hinter der ich mich seit einer Weile verschanze, sobald ich in eine emotional überfordernde Situation gerate. Ich weiß, wenn ich nachher allein bin, bricht alles aus mir heraus. Aber hier will ich diesen Gefühlen keinen Raum geben. Stattdessen beuge ich mich vor, stütze die Ellbogen auf den Knien ab und versuche ein neutrales Gesicht aufzusetzen.

Ich muss nicht in mich hineinhorchen, um zu wissen, dass ich traurig und unglücklich bin. Sophies Verlust ist so viel schlimmer, als ich es vor mir selbst zugeben will. Ich werde vermutlich für den Rest meines Lebens nicht diesen Augenblick vergessen, in dem ich sie anrufen wollte und stattdessen Detective Santini am Telefon hatte. Doch bei allem Kummer bin ich in erster Linie zornig. Zornig auf dieses Monster, das frei herumläuft und unschuldigen Frauen auflauert, um sie zu kidnappen, zu missbrauchen und sie anschließend nackt und mit kahlgeschorenem Kopf irgendwo abzuladen, als wollte er sie dem beschissenen Vollmond opfern. Ich will, dass sie diesen Wichser finden, irgendwer ihm eine Knarre an den Kopf hält und sein beschissenes krankes Hirn über dem Asphalt verteilt. ›Hass‹ ist ein viel zu kleines Wort für das, was ich empfinde. Ich will Rache!

Aufgewühlt schließe ich die Augen und atme tief ein und aus. Minuten ziehen an mir vorüber, ohne dass ich Thomas‘ Worten noch Gehör schenke, und werden zu einer gefühlten Ewigkeit. Ich kann gerade noch einen erleichterten Seufzer unterdrücken, als er verkündet, dass die Zeit vorbei ist und wir uns melden sollen, wenn wir Hilfe brauchen. Stühle werden gerückt und Hände geschüttelt. Ich schlüpfe in meine Jacke, verabschiede mich hastig und beeile mich nach draußen zu kommen. Ich brauche dringend frische Luft.

Vor der Tür des Gemeindehauses bleibe ich abrupt stehen. Es regnet in Strömen. Ich kann sehen, wie der Himmel in der Ferne aufleuchtet, weil ein Gewitter aufzieht.

Scheiße! Ich will jetzt nicht zurück zum Haus fahren.

Mein Blick irrt über die nassen Straßen voller Autos, die an mir vorbeihastenden Menschen, die sich mit einem letzten Winken verabschieden und zu ihren geparkten Wagen eilen, und schließlich hinüber zu dem hellerleuchteten Einkaufszentrum. ›Wie ein Licht in finsterer Nacht‹ … Wieso ich ausgerechnet jetzt Sophies spöttische Stimme höre, hinterfrage ich lieber nicht.

»Kein sehr einladendes Wetter«, erklingt Kyles dunkles Timbre neben mir. Ein wenig erschrocken wende ich mein Gesicht in seine Richtung. Er ist einen guten Kopf größer als ich und sieht mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf mich herab. Ich schüttle den Kopf, während er den Reißverschluss seiner Lederjacke hochzieht.

»Nein, ist es nicht.«

»Kann ich dich mitnehmen?«, will er wissen. Mein Blick fällt auf den Helm, der lässig über seinem rechten Arm hängt.

Ich runzle die Stirn. »Willst du bei dem Regen ernsthaft mit dem Motorrad fahren?«

»Nein, eigentlich wollte ich rüber ins Diner. Die anderen haben alle abgelehnt.« Er deutet in Richtung Einkaufszentrum. »Du hast nicht zufällig Lust auf einen Kaffee und ein bisschen Ablenkung?«

Es ist die Wahl zwischen dem gemeinsamen Getränk mit einem völligen Fremden und der Einsamkeit in Sophies leerem Haus – ich muss nicht lang nachdenken und ringe mir ein dünnes Lächeln ab. »Doch, hab ich.«

3

Lauren

Wir müssen rennen, denn natürlich habe ich meinen Schirm im Auto liegen lassen. Die Haare kleben nicht nur mir nass am Kopf, als wir in die hellerleuchtete Mall treten. Kyle zaubert ein frisches Stofftaschentuch aus seiner Jacke. Ich bin irritiert. So was habe ich zuletzt bei meinem Großvater gesehen, und der ist schon lange tot. Er reicht es mir, damit ich mir das Gesicht abtupfen und die Haare notdürftig trocknen kann.

»Ganz schön altmodisch«, stelle ich fest.

Sein Mundwinkel zuckt nach oben, und ich bemerke, dass er ein Grübchen hat. Das ist irgendwie … süß, obwohl ich ihn mit diesem Attribut sonst eher nicht beschreiben würde. Seine Schultern sehen immer noch aus, als würde er durch keine Tür passen.

»Deutlich nachhaltiger als Bäume für Papiertaschentücher zu fällen«, erwidert er mit einem Zwinkern.

Ich reiche ihm das durchweichte Stofftuch zurück und ziehe eine Braue nach oben. »Ich hätte dich nicht für einen Umweltaktivisten gehalten.«

»Das höre ich öfter«, bemerkt er, rubbelt sich das kurze dunkle Haar trocken und gibt mir mit stummer Geste zu verstehen, ihm zu folgen. Das Diner befindet sich auf der linken Seite des Einkaufszentrums und ist nur spärlich besucht. Wir bekommen einen Tisch in der Fensterreihe, die Richtung Parkplatz zeigt. Während wir über das Wetter und belanglose Dinge plaudern, nimmt der Kellner unsere Bestellung auf, bringt uns zwei Kaffee und lässt uns allein. Kyle zieht seine Lederjacke aus, und ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich seine beeindruckenden Muskeln anstarre. Sie sind nicht extrem definiert wie bei einem Bodybuilder, aber man sieht ihm doch an, dass er Krafttraining macht und sich fit hält … Im Gegensatz zu mir ist er wirklich gut in Form.

»Wie fühlst du dich?«, will Kyle wissen. Seine Miene ist ernst, fast ein wenig besorgt.

Es ist seltsam, dass er mir diese Frage stellt und ich sekundenlang das Bedürfnis habe, mich über mein gesamtes Leben bei ihm auszukotzen. Dabei will er nur nett sein, weil er vermutlich erkannt hat, dass mir das Gerede über Sophie vorhin ziemlich naheging. »Ganz okay, denke ich.«

»Es ist noch ziemlich frisch für dich«, bemerkt er, zieht einen Zahnstocher aus dem Spender am Tischrand und spielt damit herum. »Seine Schwester zu verlieren ist sicher ähnlich schlimm wie ein Elternteil zu verlieren.«

Mein Blick richtet sich auf meine Hände, und ich zucke sacht mit einer Schulter. »Ja, das ist durchaus vergleichbar.«

Ich kann hören, wie er scharf Luft holt. »Entschuldige, das war gedankenlos von mir. Du hast ja vorhin erzählt, dass ihr auch eure Mom schon verloren habt.«

»Das ist lang her, fast dreißig Jahre.«

»Dann warst du noch ein Kind?«

»Nicht ganz.« Ich zwinge mich ihm in die Augen zu sehen. »Was ist mit dir? Stand dir deine Tante nah?«

Seine Brauen biegen sich ein Stück nach oben, während er mit dem Holzstäbchen zwischen seinen Fingern herumspielt. »Wir haben in der gleichen Stadt gelebt, als ich noch ein kleiner Junge war. Trotzdem haben wir uns nur etwa einmal im Jahr gesehen. Weihnachten hat sie uns früher immer besucht, aber die restlichen Tage hat jeder sein eigenes Leben gelebt. Wir waren uns nicht so nah wie du und deine Schwester. Ihr Verlust hat uns nicht völlig aus der Bahn geworfen, aber zu wissen, dass sie einfach … nicht mehr da ist …«

Er stockt und starrt vor sich hin.

»Ich weiß, was du meinst«, werfe ich ein, ehe er weiterreden kann. »Ihr Tod ist so sinnlos – und unfair.«

Kyle nickt. »Ja, das trifft es ziemlich genau.«

»Ich wollte das vorhin nicht sagen, in der Gruppensitzung und mit den anderen um mich rum, auch wenn es uns vermutlich allen so geht.« Ich atme tief ein. »Aber ich bin echt wütend, weißt du? Ich will, dass sie diesen Scheißkerl drankriegen für das, was er getan hat.«

»Was das betrifft, empfinden wir vermutlich das Gleiche.«

Aufgewühlt starre ich in die Tasse zwischen meinen Fingern. »Ich will nicht nur, dass sie ihn einbuchten. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass irgendwas Schlimmes passiert und er dabei draufgeht.«

Als ich das Kinn hebe, begegne ich dem intensivsten Blick, mit dem mich jemals jemand angeschaut hat – als würde er direkt in meine Seele starren. Dann nickt er langsam. »Verständlich.«

Die Sandwiches, die wir bestellt haben, werden gebracht, und der kurze unangenehme Moment, in dem ich schon befürchte, er steht gleich auf und geht, verfliegt.

»Was ist mit deinem Vater?«, versuche ich das Thema zu wechseln.

Kyle lächelt mich kurz an. »Er verflucht sein Gipsbein, aber da wird er leider durchmüssen.«

»Wie ist das passiert?«

»Na ja, Pa ist fast siebzig. Da reicht es schon, auf der letzten Treppenstufe ins Stolpern zu kommen und zu stürzen. Ich bin froh, dass ihm nicht noch mehr passiert ist.«

»Oh je.« Ich nicke verstehend. »Ich hoffe, er kommt schnell wieder auf die Beine.«

»Der alte Herr ist zäh.«

»Und dein Bruder? Du hast gemeint, er hätte ein … Handicap.«

»Ja, man nennt das HFA, hochfunktionalen Autismus, ähnlich wie Asperger.« Kyle greift sich eine Hälfte seines Sandwiches, beißt hinein und kaut darauf herum, ehe er den Bissen mit einem Schluck Kaffee herunterspült. »Die Experten sind sich nicht ganz einig, inwieweit sich das eine vom anderen unterscheidet.« Er mustert mich. »Ich mag es nicht, wenn man ihn als krank bezeichnet. Doug ist besonders, aber er ist nicht irgendwie gebrechlich, nur weil seine verbale Kommunikation sich später entwickelt hat. Er ist nett und herzlich, auf seine Art … und ich kenne niemanden, der andere so gern zum Lachen bringt wie er.«

Die Art und Weise, wie er über seinen Bruder spricht, berührt mich. Es ist offensichtlich, dass ihm seine Familie sehr wichtig ist. Ich schiebe den Teller mit meinem Sandwich zur Seite und nippe erneut an meinem Kaffee. »Das klingt doch nach einem großartigen Menschen.«

»Ist er, definitiv.«

Während er die Hälfte seines Sandwiches verputzt, starre ich gedankenverloren in meine Tasse. Ich wünschte, meine Familie wäre sich gedanklich nur halb so liebevoll verbunden, wie es bei Kyle offenbar der Fall ist. Stattdessen ist sie in den letzten paar Monaten immer weiter zerbrochen, und ich weiß, ich trage einen großen Teil der Schuld daran.

»Hast du keinen Hunger?«

Überrascht hebe ich den Blick. Er wischt sich den Mund mit einer Serviette ab – es ist offensichtlich, dass er seine Mahlzeit beendet hat.

»Bitte was?«

»Du solltest etwas essen.«

Mein Blick huscht zu dem Sandwich, und Scham wallt in mir auf. »Ja, sicher, gleich.«

»Es ist wirklich köstlich«, bemerkt Kyle. »Erzähl, was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Du hast vorhin gesagt, du bist verheiratet und hast zwei Kinder.« Er nickt mir zu. »Du trägst aber keinen Ring.«

Ich ziehe automatisch meine Hand vom Tisch und versenke sie in meinem Schoß. Meine Schultern sacken nach unten. »Ich … bin geschieden.«

»Oh, entschuldige.«

»Nein, schon gut.« Ich flüchte mich in ein kurzes Auflachen. »Ich sollte da eigentlich offener mit umgehen. Ich meine …« Ich rolle mit den Augen und ziehe eine Grimasse. »Ich bin ja nicht die einzige geschiedene Frau auf diesem Planeten.«

»Ist noch nicht lange her, oder?« Ich sehe ihn an. Sein Blick hat nichts Mitleidiges, wie es sonst so oft passiert. Er ist einfach nur neugierig.

Ich schüttle den Kopf. »Die Scheidung war vor gut einem Monat, aber … wir waren schon viel länger getrennt.«

»Vermisst du ihn?«

Diesmal ist das Auflachen vielleicht ein bisschen zu laut. Ich rufe mich selbst zur Ruhe. »Nein! Nein.« Als wollte ich mir das selbst nochmal klarmachen, schüttle ich erneut den Kopf. »Das mit uns ist vorbei.« Einatmend lehne ich mich zurück. »Ich bin nur genervt von diesem ganzen Theater, das noch hinterhergekommen ist, weißt du? Der Verkauf des gemeinsamen Hauses, die Aufteilung der angeschafften Wertgegenstände. Du verbringst so viele Jahre mit einem anderen Menschen, von dem du denkst, dass er das Gleiche für dich empfindet wie du für ihn, und dann wirst du einfach durch etwas Jüngeres ersetzt.« Ich ziehe die Schultern nach oben und blicke wieder in meine Tasse. »Aber vermutlich hat John recht, und ich bin bloß verbittert.«

»John ist …«

»Oh, mein Sohn. Er meinte, ich solle damit abschließen und einen Strich unter alles ziehen.«

Kyle runzelt die Stirn. »Lebt er bei deinem Ex?«

»Nein. John ist erwachsen.« Ich ziehe den Teller mit dem Essen zu mir und greife mir eine Hälfte des Sandwiches. Es sieht verlockend aus, aber den Anblick begleitet auch ein unangenehmes Gefühl von Scham … Der Puls hämmert mir durch den Hals. »Er führt sein eigenes Leben – und ich glaube, es nervt ihn einfach, dass ich nach über einem Jahr immer noch wütend auf seinen Vater bin.« Ich beiße hinein und lasse mich für einen Moment von dem Geschmack ablenken, den die Verbindung aus weichem Weißbrot, Salatcreme, frischem Gemüse und Aufschnitt in meinem Mund auslöst. Kyle hat recht, es ist köstlich.

»Du hast einen erwachsenen Sohn? Wie alt warst du, als du ihn bekommen hast?«

Verblüfft schaue ich Kyle an, der mich mustert, als wäre ich ein Alien.

»Ich war zwanzig«, entgegne ich gelassen. »Jetzt bin ich siebenundvierzig.«

Seine Brauen schnellen nach oben, und aus seinem nächsten Blick spricht nicht nur Verblüffung. »Wow! Ich hätte dich niemals älter als Mitte dreißig geschätzt.«

Ein Lächeln zuckt um meine Mundwinkel. »Danke. Das Kompliment kann ich gerade wirklich brauchen.«

»Ich stelle nur Fakten fest. Du bist, wenn ich das so sagen darf, ganz schön heiß.«

Ich spüre, wie meine Wangen warm werden, und senke den Kopf. Als heiß hat mich schon lange niemand mehr bezeichnet. Um genau zu sein, waren es zuletzt eher so Sprüche wie: ›Sei nicht so nachtragend.‹ – ›Du bist so engstirnig und altmodisch.‹ – ›Zeig doch mal Verständnis.‹ – ›Friss nicht wie ein Schwein.‹ – ›Schau, wie du aussiehst.‹ Mir vergeht der Appetit, ich lege das Sandwich zurück auf den Teller.

»Du bist also Bibliothekarin?«

»Ähm, nein, ich arbeite als Aushilfe in der städtischen Bücherei.« Mit einem leisen Seufzen greife ich nach der Kaffeetasse und nehme einen weiteren Schluck. »Ich habe vor einer Ewigkeit mal angefangen Medizin zu studieren, drei Semester. Ich habe mir eingebildet, ich könnte irgendwann die Welt retten.«

»Was ist dazwischengekommen?«

»Ich wurde schwanger. Wir haben geheiratet, unser Sohn wurde geboren.« Nachdenklich schüttle ich den Kopf. »Wir waren noch so jung. Roger … mein Ex, er hat sein Wirtschaftsstudium weitergeführt und ich meins abgebrochen. Wir haben ein Haus gekauft, und zwei Jahre später kam unsere Tochter zur Welt. Ich muss gestehen, ich hab’s genossen, Mutter zu sein.« Ich zucke mit den Schultern und versuche die tiefsitzende Enttäuschung zu verdrängen, die ich fast körperlich spüre. »Als Hausfrau war ich laut Rogers Aussage allerdings eine ziemliche Niete.«

»Ich bin sicher, er ist ein dummes Arschloch, das deine Arbeit für selbstverständlich hielt und dich nicht wertgeschätzt hat«, stellt er trocken fest. Obwohl mir nicht danach ist, lächeln wir uns an. Ich mag Kyle. Ich mag sein Grübchen und wie er den Kopf schief legt, während er mich aufmerksam betrachtet. Mich hat lange niemand mehr angeschaut, als würde ihn interessieren, was ich zu erzählen habe. Und nur deshalb rede ich weiter, weil ich das Gefühl habe, dass ich in seiner Anwesenheit nicht in irgendein stereotypes Rollenmuster verfallen muss.

»Ja, vielleicht hast du sogar recht. Als die Kinder groß genug waren, habe ich mir Halbtagsjobs gesucht, weil ich daheim sein wollte, wenn sie aus der Schule zurückkamen, aber nicht den ganzen Tag damit verbringen wollte, die Bude zu putzen. Ich dachte immer, ich fange wieder an zu studieren, wenn sie alt genug sind. Jetzt sind sie erwachsen, führen ihr eigenes Leben, und ich brauche dringend eine besser bezahlte Arbeit, damit ich mir eine eigene Wohnung leisten kann, sobald ich kein Dach mehr über dem Kopf habe.«

»Würdest du es nochmal tun?«

Verblüfft mustere ich ihn. »Du meinst heiraten und Kinder kriegen?«

»Ja.«

Ich öffne den Mund und will schon automatisch zustimmen, aber dann lasse ich seine Frage erst mal sacken. Ich weiß nicht, ob es am Altersunterschied zwischen uns liegt, dass er die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als ich – oder daran, dass er einer der jüngeren Generationen angehört.

»Ich liebe meine Kinder«, entgegne ich leise. »Auch wenn John und ich im Moment nicht das beste Verhältnis zueinander haben, ist er mein Sohn. Für nichts auf der Welt würde ich die Jahre mit ihm oder seiner Schwester Pam vergessen wollen.«

»Davon spricht auch niemand.«

Ich nicke. »Ich weiß, wenn ich heute nochmal jung wäre und neu anfangen könnte … würde ich mein Medizinstudium weitermachen und Ärztin werden.«

Kyles Lächeln vertieft sich.

»Das Ende von etwas Altem ist auch immer der Anfang für etwas Neues«, bemerkt er. »Du musst das so sehen: Du kannst jetzt tun und lassen, was du willst. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig, trägst keine Verantwortung für irgendwen und bestimmst über dein eigenes Leben. Nimm das Geld, das du für den Hausverkauf bekommst, und wage etwas, das nur dir gehört. Vielleicht studierst du wieder oder reist durch die Welt.«

Irritiert lasse ich meine Tasse sinken und schaue ihn an. »Wie alt bist du?«

»Zweiunddreißig.«

»Du klingst wie diese Lifestyle-Coaches in ihren Vierzigern: ›Starten Sie nochmal richtig durch.‹«

Kyle lacht. Ein schönes Geräusch. Ich mag sein Lachen, seine tollen Zähne und wie dieses Grübchen sich bildet, wenn seine Mundwinkel sich nach oben ziehen. Wenn ich ehrlich bin, mag ich noch viel mehr an ihm, und mir wird gerade mit erschreckender Klarheit bewusst, dass ich Single bin und einem verdammt gutaussehenden, heißen Kerl gegenübersitze. Nur bedauerlich, dass er viel zu jung für mich ist.

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Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Ewa Aukett
Bildmaterialien: Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: Rüdolfs Klintsons/Wirestock
Cover: 100coversforyou
Lektorat: Dagmar K.
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2023
ISBN: 978-3-96714-299-0

Alle Rechte vorbehalten

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